Gert Pinkernell

Kleine Geschichte Frankreichs für Romanistikstudenten (1914–2000)

(Wuppertal 2000)

Politik im engeren und weiteren Sinne wirkt erheblich stärker auf die Literatur ein, als Literaturwissenschaftler dies gemeinhin anzunehmen neigen. Diese Einwirkung war in Frankreich besonders intensiv in den bewegten Jahrzehnten ab dem Ersten Weltkrieg bis etwa 1960. Deshalb habe ich die Teilnehmer meiner Seminare zu Autoren wie Giraudoux, Sartre, Camus, Prévert, Anouilh, Vian, Ionesco oder Beckett durch kurzgefasste Merkblätter mit zumindest rudimentärem historischem Hintergrundwissen zu versorgen versucht. Aus diesen Merkblättern sind nach und nach die folgenden Annalen erwachsen, von denen ich hoffe, dass sie in Zukunft nicht nur den Wuppertaler Studenten von Nutzen sein mögen.

(Als Anhang zu der nachfolgenden Kleinen Geschichte Frankreichs finden Sie eine eine ebenfalls tabellarische Darstellung vom Aufstieg und Niedergang des französischen Kolonialreichs)

1914    1. Aug.: Als Reaktion auf das Attentat eines serbischen Nationalisten auf den österreichischen Thronfolger im bosnischen Sarajewo erklärt das Kaiserreich Österreich-Ungarn dem Königreich Serbien den Krieg. Darauf antwortet das mit Serbien verbündete Kaiserreich Russland mit einer Kriegserklärung an Österreich-Ungarn, was wiederum eine Kriegserklärung des mit diesem verbündeten Kaiserreichs Deutschland an Russland auslöst. Hierauf erklären sofort Russlands Verbündete, die Republik Frankreich und das Königreich England, Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg. 1915 tritt gegen diese auch das Königreich Italien in den Krieg ein, 1917 auch die USA, wogegen im selben Jahr das durch die Oktober-Revolution von 1917 erschütterte Russland mit Deutschland und Österreich-Ungarn einen Separatfrieden schließt.

Der Krieg beginnt insbesondere in Deutschland und Frankreich mit einer großen Begeisterung der beiden Bevölkerungen, die schon seit langem von einer militaristischen und nationalistischen Propaganda gegen den jeweiligen "Erbfeind" aufgehetzt sind (in Frankeich z. B. durch den revanchistischen "poète national" Paul Déroulède oder den germanophoben Romancier Maurice Barrès). Als jedoch an der französisch-deutschen Front nach kurzen deutschen Anfangserfolgen der Krieg zum Stellungskrieg mit jahrelang fast stabilem Frontverlauf wird, erstickt der anfängliche Heroismus der französischen und der deutschen Soldaten im Schlamm der Schützengräben, im entnervenden pausenlosen Artilleriefeuer und in den ständigen sinnlosen Angriffen und Gegenangriffen, z. B. rund um die monatelang verbissen umkämpfte Festung Verdun. Millionen meist junger Soldaten finden den Tod (darunter z. B. der junge Romancier Alain-Fournier), andere (wie z. B. der Lyriker Guillaume Apollinaire oder der Romancier und Dramatiker Jean Giraudoux) werden verwundet. Ganze Landstriche in Nordost-Frankreich werden verwüstet, ein immenses Material wird verpulvert. Die Regierungen der kriegsteilnehmenden Staaten häufen enorme Schulden an und vernichten durch die daraus resultierende Inflation große Teile der jeweiligen Volksvermögen. Die speziell in Frankreich und in Deutschland rasch ernüchterte Zivilbevölkerung darbt und lebt mehr schlecht als recht von der Substanz. Frauen müssen auf den Feldern, in den Büros und (wie z. B. die 1914 zur Kriegerwitwe gewordene Mutter von Albert Camus) in den Fabriken die im Krieg befindlichen und die gefallenen Männer ersetzen. Die Sozialstruktur verwirft sich und bröckelt, viele bislang unbestritten geltende Normen und Wertvorstellungen verfallen angesichts des offenkundigen Zynismus der Leute an der Spitze der Staaten, der Wirtschaft und der herrschenden Institutionen. Immerhin entwickeln die Front-Soldaten beider Seiten neben ihrer Wut auf die friedensunfähigen Regierungen und auf Kriegsprofiteure aller Art eine gewisse kameradschaftliche Achtung vor dem Gegner, dem man im Dreck der Schützengräben gegenüberliegt und den man auch von der menschlichen Seite sehen lernt.

1918    11. Nov.: Auf Ersuchen Deutschlands tritt an der Westfront ein Waffenstillstand in Kraft. Zwar hat sich der Frontverlauf noch kaum zu Ungunsten der Deutschen verändert, aber da von Tag zu Tag mehr amerikanische Soldaten und amerikanisches Kriegsmaterial in Frankreich eintreffen, die österreichische Südfront eingebrochen ist und eine mörderische Grippewelle (die insgesamt mehr Todesopfer in Europa fordert als der Krieg!) die geplante Gegenoffensive unmöglich macht, sieht der deutsche Generalstab keine Möglichkeit mehr, den Krieg zu gewinnen, und setzt auf Verhandlungen. Die kurz darauf in Berlin und anderen deutschen Städten ausbrechende November-Revolution lässt allerdings den Waffenstillstand zur De-facto-Kapitulation Deutschlands werden, weil dieses vorübergehend keine handlungsfähige Regierung hat und somit kriegsunfähig ist. Später wird sich deshalb die "Dolchstoßlegende" entwickeln, d. h. die Überzeugung vieler Deutscher, dass der Krieg eigentlich gar nicht verloren gewesen sei (in der Tat hatte ja noch kein fremder Soldat deutschen Boden erreicht), dass vielmehr Sozialisten, Kommunisten und andere "vaterlandslose Gesellen" mit ihrer Revolution der Armee in den Rücken gefallen seien und damit einen Friedensschluss in Ehren, wenn nicht gar den Sieg verschenkt hätten.

1919    Januar–Juni: Friedenskonferenz von Versailles. Der franz. Regierungschef Georges Clemenceau ("le tigre"), der im letzten Kriegsjahr mit harter Hand regiert und alle Reserven mobilisiert hatte, versucht, Frankreich auf Kosten Deutschlands zu stärken, wo immer es geht und so weit die auf ein künftiges Gleichgewicht in Europa bedachten Engländer und Amerikaner es zulassen. Frankreich wird direkt gestärkt durch die Re-Annexion von Elsass-Lothringen (das damals bis auf Metz und Umgebung deutschsprachig ist), durch die Quasi-Annexion des Saarlandes und durch hohe deutsche Reparationszahlungen bzw. Zahlungsverpflichtungen; es wird indirekt gestärkt durch eine kräftige Amputation Deutschlands im Osten zugunsten eines neukonstituierten starken Polens, das aus bisher russisch, deutsch und österreichisch beherrschten, längst nicht immer polnischsprachigen Gebieten zusammengefügt wird und als Juniorpartner Frankreichs ein natürlicher östlicher Gegner Deutschlands sein soll. Clemenceau erreicht weiter, dass bis zur völligen Ableistung der deutschen Reparationszahlungen – also für voraussichtlich sehr lange Zeit – französisches Militär alle linksrheinischen Gebiete von Xanten bis Landau besetzen kann. Die deutsche Armee dagegen wird auf 100.000 Mann reduziert und darf einen breiten Streifen auch rechts des Rheins nicht betreten. In Frankreich werden diese Ergebnisse überwiegend erfreut registriert, nur eine Minderheit von meist linken Politikern und anderen vernünftigen Leuten warnt vor einer zu starken Demütigung Deutschlands. In der Tat wird das "Versailler Diktat" von der Mehrheit der Deutschen als eine Schmach erlebt, die mit allen Mitteln, und sei es Krieg, gerächt werden muss – einer Rache, zu deren Anwalt sich bald lautstark Hitler machen wird.

1919/20 Wie alle am Krieg beteiligten Staaten hat auch Frankreich Schwierigkeiten bei der Umstellung der Wirtschaft von der Kriegsproduktion auf den Friedensbedarf und bei der Wiedereingliederung der Millionen desillusioniert und rebellisch von der Front kommenden Soldaten, die z. B. häufig nicht als Landarbeiter in ihre Dörfer zurück wollen, sondern als besser bezahlte Fabrikarbeiter in die Städte zu gehen versuchen. Die von der enormen Staatsverschuldung gespeiste hohe Inflationsrate, die große Arbeitslosigkeit sowie die Weigerung der politisch rechten Regierung, die im Krieg versprochenen sozialen Reformen zu realisieren, führen zu Streiks und zur Radikalisierung der Arbeiterschaft, aber auch zur Enttäuschung und Unzufriedenheit vieler Kleinbürger und Intellektueller. Die Gewerkschaften und die sozialistische Partei SFIO (Section française de l'Internationale ouvrière) haben Zulauf. Die Politiker der bürgerlichen Rechten igeln sich ein im bloc national. Bei den Wahlen am 16. 11. 1919 erzielt der bloc national einen deutlichen Sieg dank des Mehrheitswahlrechts und aufgrund des wahltaktisch unklugen Alleingangs der SFIO. Diese und die Gewerkschaften antworten mit sozialer Agitation und einem Generalstreik im Mai 1920: Frankreich ist somit, kurz nach Kriegende und trotz des Siegs, innenpolitisch polarisiert und intellektuell zerrissen wie selten zuvor. Die Regierung steht die Krise jedoch durch, die frustrierten Sozialisten dagegen spalten sich auf dem legendären Parteitag in Tours (congrès de Tours, 20.–26. Dez. 1920). Die revolutionär gesonnene, vom Sieg der Russischen Revolution beeindruckte Mehrheit der Parteitagsdelegierten zieht aus und gründet den PCF (Parti communiste français), der sich der von Lenin gesteuerten Kommunistischen Internationale anschließt. Die Minderheit unter Parteichef Léon Blum führt die SFIO weiter. Diese entwickelt sich relativ schnell wieder zur mitgliederstärksten Partei Frankreichs, doch werden die folgenden 15 Jahre französischer Innenpolitik nicht zuletzt bestimmt von einer erbitterten Agitation der "revolutionären" Kommunisten gegen die "reformistischen" Sozialisten. Hierbei gehört die Überzeugung, die besseren Argumente zu haben und die Zukunft zu verkörpern, eher den aktiveren und engagierteren Kommunisten. Ihnen laufen nicht nur viele junge Arbeiter zu, sondern auch junge Intellektuelle und Schriftsteller, wie z. B. die Gruppe der Surrealisten um André Breton, Louis Aragon, Paul Éluard. Aber auch ältere und arrivierte Autoren lassen sich, oft ohne regulär Mitglied zu werden, in den Bann des Kommunismus ziehen und als "Weggenossen" ("compagnons de route") vereinnahmen, so z. B. die Romanciers Romain Rolland und André Gide (der später, nach einer Russlandreise, desillusioniert auf Distanz geht).

1923    Die deutsche Regierung versucht, die kriegsbedingten Staatsschulden mit zusätzlich gedrucktem Geld zu tilgen, verursacht damit aber eine enorme Inflation und gerät mit den Reparationszahlungen in Verzug. Da sie auch sonst wenig kooperativ gegenüber Frankreich ist, lässt der rechte Ministerpräsident Poincaré französische Truppen den Rhein überqueren und das Ruhrgebiet besetzen, was die praktisch waffenlosen Deutschen nicht verhindern können.

1924    Die Inflation in Deutschland wird chaotisch, die deutsche Wirtschaft bricht fast völlig zusammen. Die Regierung in Berlin, die zunächst auf Obstruktion und auf den passiven Widerstand der Bevölkerung an Rhein und Ruhr gesetzt hatte, muss mit Frankreich verhandeln. Sie erreicht aber dank der Unterstützung der Amerikaner und Engländer Zahlungserleichterungen. Da zugleich durch drakonische Maßnahmen die Inflation gebändigt wird und hiernach dank amerikanischer Kredite die deutsche Wirtschaft zu florieren beginnt, erhalten die bisher als "Verzichtler" beschimpften kompromissbereiten Politiker Auftrieb. Hierzu gehört auch der in den nächsten Jahren sehr aktive Außenminister Gustav Stresemann. In Frankreich dagegen hat die Militäraktion im Ruhrgebiet tiefe Löcher in die Staatskasse gerissen, die Inflation galoppiert nun hier, wenn auch weniger dramatisch. Sie schwächt die Kaufkraft der Lohnabhängigen und dezimiert die Vermögen der zahlreichen größeren und kleineren Rentiers, die (wie z. B. die Eltern von Simone de Beauvoir) einen kollektiven sozialen Abstieg erleben. Unzufriedenheit und Frustration greifen überall um sich. Bei den Parlamentswahlen am 11. Mai erringt daraufhin das cartel de gauche, bestehend aus dem die linke Mitte besetzenden Parti radical und der SFIO eine knappe Mehrheit. Der neue, auf Ausgleich mit Deutschland bedachte Außenminister Aristide Briand versucht, ein internationales Vertragswerk zur Friedenssicherung zu schaffen, in das auch Deutschland eingebunden sein soll, das seit 1914 als Welt-Bösewicht ganz isoliert dasteht. Briands Projekt misslingt jedoch aufgrund des Desinteresses der neuen englischen Regierung.

1925    Briand und Stresemann verhandeln direkt in Locarno (Südschweiz) miteinander. Ergebnis: Deutschland erkennt die ihm in Versailles aufgezwungene Westgrenze an und nimmt damit den Franzosen die Angst vor einem Revanche-Krieg um Elsass-Lothringen. Frankreich dagegen akzeptiert, dass Deutschland seine neuen Ostgrenzen weiterhin nicht anerkennt, d. h. es findet sich stillschweigend damit ab, dass Deutschland alle deutschsprachigen Gebiete in den 1919 neugegründeten Staaten Tschechoslowakei, Polen und Litauen wie auch immer zu erwerben versucht und eventuell das deutschsprachige Rest-Österreich annektiert (was alles unter Hitler auch geschehen wird).

1926    Die Regierung des cartel de gauche zerbricht, da sie die Inflation nicht in den Griff bekommt. Dies aber schafft sie vor allem deshalb nicht, weil die französische Finanz- und Geschäftswelt gegen sie operiert. Der rechte Politiker Poincaré bildet schließlich mit übergelaufenen Abgeordneten des Parti Radical einen neuen bloc national. In der Tat meistert er die Finanzkrise, grosso modo auf Kosten aller Franzosen, auch der reichen. Soziale Reformen zugunsten der Arbeiter, wie die Einführung einer Arbeitslosen-, Kranken- und Renten-Versicherung sowie eines besseren Arbeitsrechts, unterbleiben jedoch wieder einmal. Frankreich ist in diesem Punkt nach wie vor ein sehr rückständiges Land. Immerhin bleibt Briand Außenminister und kann die Politik des Ausgleichs mit Deutschland fortsetzen. Beide Länder treten in eine relativ entspannte Phase ihrer Beziehungen: Frankreich räumt 1927 das Ruhrgebiet. Der luxemburgische Industrielle Emil Mayrisch initiiert 1927 ein deutsch-französisch-belgisch-luxemburgisches Stahl-Kartell, das Frankreich halbwegs vor der Konkurrenz der nach dem Krieg neuaufgebauten und deshalb moderneren deutschen Stahlindustrie schützt. Frau Mayrisch bringt deutsche und französische Intellektuelle an einen Tisch.

1928            Eindeutiger Wahlsieg des bloc national des erfolgreichen Poincaré. Dieser kann es sich nun leisten, Deutschland noch weiter entgegenzukommen: Nach der erneuten deutschen Verpflichtung, die französischen Reparationsforderungen zu erfüllen; erklärt sich Frankreich bereit, bis 1930 seine Soldaten auch aus den linksrheinischen Gebieten abzuziehen und die Umtriebe der dortigen profranzösischen Separatisten nicht mehr zu unterstützen. Der internationale Briand-Kellogg-Pakt integriert Deutschland in einen Kreis von Nationen, die den Krieg zu ächten geloben. Die wirtschaftliche Konjunktur in Frankreich ist inzwischen gut, und damit die Stimmung. In Paris z. B. wird die heitere Boulevard-Komödie Amphytrion 38 von Giraudoux beklatscht. Besser noch sind Konjunktur und Stimmung allerdings in Deutschland, das den Großteil des nach Europa fließenden amerikanischen Kapitals absorbiert, kräftig boomt und auch eine kulturelle Blüte erlebt, die Berlin zu einem Zentrum macht, das mit Paris konkurrieren kann.

1929    24. Okt.: In New York purzeln die Börsenkurse zahlloser Aktiengesellschaften, die im Vertrauen auf die gute Konjunktur zu stark expandiert und sich dabei oft auch überschuldet haben. Eine Welle von Pleiten geht durch die USA, viele Amerikaner müssen in Europa investierte Gelder zurückholen und stürzen so die europäische Wirtschaft, besonders die deutsche, ins Chaos. Frankreich, das weniger amerikanische Gelder bekommen hat und weniger in den internationalen Wirtschaftsaustausch eingebunden ist, spürt zunächst kaum etwas von der "Weltwirtschaftskrise". Im Gegenteil: ein starker Franc, eine stabil wirkende Wirtschaft und eine eindrucksvolle Kolonialausstellung (1930) aus Anlass der 100-Jahr-Feier der Eroberung Algiers geben den Franzosen das Gefühl, im Zentrum eines machtvollen Weltreichs, des Empire Français, auf einer Insel der Seligen zu sein. Spätestens nach der Abwertung des englischen Pfundes aber (Sept. 31) erreicht die Krise auch Frankreich. Da Exporte kaum mehr möglich sind, sinkt die Industrieproduktion, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit breiten sich aus, der Kaufkraftverlust der Arbeiter vermindert die Einnahmen der Bauern, der Kaufleute und der Dienstleistungsberufe, dies wiederum vermindert weiter die Nachfrage nach Industrieprodukten: ein circulus vitiosus entsteht.

1932            Während in den USA, aber auch in England und Deutschland schon eine gewisse Aufwärtstendenz der Wirtschaft spürbar wird, bleibt Frankreich in der Talsohle. Bei den Wahlen vom 8. Mai führt die allgemeine Unzufriedenheit zu einer linken Mehrheit im Parlament. Diese findet jedoch auch keine Rezepte zur Ankurbelung der Wirtschaft. Die sich auf wechselnde Koalitionen stützenden Regierungen sind kurzlebig und dadurch ineffizient. In der allgemeinen Rezession wirkt die spektakuläre Bereicherung einiger mit Politikern kungelnder Geschäftemacher besonders skandalös. Im Land wächst links und rechts der Unmut; die nationalistische äußere Rechte, die sich an den scheinbar so erfolgreichen Modellen Mussolinis und bald auch Hitlers orientiert, und die internationalistische äußere Linke, die den scheinbar ebenso erfolgreichen russischen Bolschewismus propagiert, erhalten Zulauf, radikalisieren sich und liefern sich immer häufiger Straßenschlachten in den Städten.

1934    Am 6. Februar versammeln sich ca. 30.000 Anhänger rechtsextremistischer ligues (militante, teils paramilitärische Organisationen) vor dem Palais Bourbon und versuchen eine Parlamentssitzung zu sprengen. Es riecht nach einer Machtergreifung à la Mussolini oder Hitler, die Polizei schießt in die Menge. Die gerade neugebildete (linke) Regierung unter dem Radical Daladier tritt verschreckt zurück, die vereinigten Abgeordneten der gemäßigten bürgerlichen Rechten und ein Teil der Radicaux bilden eine Regierung der Union nationale, die die Ordnung wiederherzustellen verspricht. Die Linke bekommt daraufhin Angst, dass sie ähnlich ins politische Abseits gedrängt wird wie in Italien und Deutschland. Am 12. Februar organisieren deshalb die bisher zerstrittenen sozialistischen und kommunistischen Gewerkschafter gemeinsam einen Generalstreik. Linke Politiker und Intellektuelle aller Couleur werden aktiv und gründen am 27. Juli ein antifaschistisches Bündnis, aus dem weitere antifaschistische Aktionen hervorgehen, z. B. Kongresse linker Schriftsteller (an denen auch erste emigrierte deutsche Autoren teilnehmen, wie z. B. Heinrich Mann).

1935    Die ebenfalls meist kurzlebigen Regierungen der Union nationale finden auch keine Rezepte gegen die Wirtschaftskrise und die leeren Staatskassen. Linke und rechte Franzosen sind gleichermaßen unzufrieden mit ihrem instabilen und ineffizient wirkenden parlamentarischen System. Viele Rechte, und nicht nur Rechtsradikale, schauen neidisch auf das faschistische Italien, das sich trotz der Drohungen Englands anschickt, Äthiopien zu erobern, und auf das rasch erstarkende und immer selbstbewusstere nationalsozialistische Deutschland, dem per Volksabstimmung das Saarland wieder zufällt. Die nicht wenigen und keineswegs marginalen rechten Intellektuellen im Umfeld von Charles Maurras und anderen nationalistischen Vordenkern propagieren ein autoritäres, nach innen und außen starkes Regime auch für Frankreich. Die Linke einschließlich der linken Mitte allerdings reagiert mit Angst auf den Angriff Mussolinis auf Äthiopien und vor allem auf die Aktivitäten Hitlers, der vertragswidrig aufzurüsten beginnt, die allgemeine Wehrpflicht wiedereinführt und ungeniert von einer notfalls kriegerischen Revision des Versailler Vertrags in Hinblick auf die deutschen Westgrenzen redet (was z B. Giraudoux zu seinem pessimistischen Stück La Guerre de Troie n'aura pas lieu inspiriert). Die von dem Radical Pierre Laval geführte Regierung schließt einen Beistandspakt mit der sich ebenfalls von Hitler bedroht fühlenden UdSSR Stalins. Die französischen Kommunisten erhalten nunmehr auch offiziell Anweisung aus Moskau, jegliche Agitation gegen die jahrelang als "sociofascistes" verteufelten Sozialisten und andere nicht-kommunistische Linke einzustellen und alles zu unterlassen, was die französische Verteidigungskraft gegenüber der neuen "Achse" Hitler-Mussolini schwächt. Nach einer gemeinsamen machtvollen Massendemonstration der politischen Linken am 14. Juli schließen Kommunisten, Sozialisten und Radicaux im Hinblick auf die Parlamentswahlen von 1936 ein Wahlbündnis, den Front populaire.

1936    26. April und 2. Mai : Wahlen zur Assemblée nationale. Es siegt der Front populaire nach einem von links und vor allem von rechts mit hohem Propaganda-Aufwand und mit scharfer Polemik geführten Wahlkampf, der das Land bis in die Familien hinein polarisiert (und die Franzosen beinah übersehen lässt, dass Hitler währenddessen die entmilitarisierten linksrheinischen Gebiete besetzt). Besonders spektakulär ist der Stimmenzuwachs für die Kommunisten, während die halblinken Radicaux Einbußen haben. Noch bevor die neue Regierung gebildet werden kann, führt im Mai die allgemeine Freude der Arbeitermassen, des "peuple de gauche", über den Wahlsieg ihrer Parteien zu spontanen Streiks mit Fabrikbesetzungen, die nur mühsam kontrolliert und kanalisiert werden von den Gewerkschaften, die hierbei mehr und mehr unter kommunistischen Einfluss geraten. Das rechte Frankreich ist in Panik und sieht sich schon als Opfer des "homme au couteau entre les dents", d. h. des bolschewistischen Schreckgespenstes der rechten Wahlplakate. Am 4. Juni bildet Léon Blum als Chef der stärksten Partei, der SFIO, eine Regierung aus Sozialisten und Radicaux, die zwar nicht direkt mitgetragen wird, aber unterstützt werden soll von den Kommunisten, die sich ihrerseits mehr auf die ideologische und organisatorische Basisarbeit in Betrieben und Institutionen konzentrieren. Blum vermittelt als erstes zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften Verträge, durch die die Arbeitnehmer eine substantielle Lohnerhöhung und die Gewerkschaften Mitspracherechte in den Betrieben erhalten. Es folgt ein Gesetz zur Einführung der 40-Stunden-Woche (statt der bisher geltenden 48 Stunden) und eines bezahlten Jahresurlaubs von zwei Wochen (was es bis dahin in Frankreich gar nicht gab). Die Hoffnung allerdings, dass die Arbeitszeitverkürzung neue Arbeitsplätze schafft und der Kaufkraftzuwachs die Wirtschaft belebt, währt nur kurz, da die Unternehmer obstruieren und die Kapitalbesitzer ihr Geld ins Ausland schaffen, statt es in Frankreich zu investieren. Das ebenfalls sofort beschlossene gesetzliche Verbot der rechtsradikalen ligues erweist sich als weiterer Schlag ins Wasser, denn es führt zur Gründung von faschistischen Parteien, die enormen Zulauf haben und von denen die stärkste, der Parti social français, bald 800.000 Mitglieder hat, denen nur ein charismatischer Führer vom Schlage Hitlers oder Mussolinis fehlt. Im August attackieren die kommunistischen Abgeordneten erstmals heftig die Regierung Blum, als diese unter dem Druck der Rechten, aber auch der Radicaux (und der englischen Regierung) beschließt, in dem spanischen Bürgerkrieg, der im Juli ausgebrochen ist, die amtierende linke Regierung militärisch nicht zu unterstützen, und zwar um eine Konfrontation mit Deutschland und Italien zu vermeiden, die offen den Aufständischen unter General Franco helfen, und um nicht die Loyalität der hohen französischen Militärs auf die Probe zu stellen, die mit Franco und seiner faschistoiden Falange-Partei sympathisieren. Der Spanische Bürgerkrieg spaltet nicht nur die Nation, so dass viele Franzosen auch Frankreich schon am Rande des Bürgerkriegs sehen, sondern er belastet auch das Volksfront-Bündnis, das tiefe Risse bekommt durch den heftigen Antagonismus zwischen Radicaux und Kommunisten, aber auch durch ständigen Streit innerhalb der SFIO zwischen "linken" und "rechten" Sozialisten (eine Situation, die Giraudoux verschlüsselt in seinem Stück Électre darstellt). Die Aufrüstung in Deutschland zwingt auch Frankreich zu höheren Rüstungsausgaben, was die Staatsfinanzen weiter zerrüttet. Eine andere, von rechts hämisch ausgebeutete Niederlage der Volksfront-Regierung ist im Herbst die dreißigprozentige (!) Abwertung des Franc, die aufgrund vor allem der Kapitalflucht nötig ist, auch wenn viele Linke diese Notwendigkeit nicht einsehen und Blum kritisieren.

1937    Die Regierung Blum steht finanziell mit dem Rücken an der Wand und legt am 13. 2. alle weiteren sozialpolitischen Reformvorhaben auf Eis. Die Linke spricht empört von Kapitulation, die Rechte triumphiert und verstärkt ihren Druck, nicht zuletzt durch eine antisemitische Hetzkampagne gegen den aus einer jüdischen Familie stammenden Blum. Am 16. 3. demonstrieren Kommunisten gegen eine Veranstaltung des faschistischen Parti social français; bei der anschließenden Straßenschlacht und dem sie beendenden Polizei-Einsatz gibt es Tote. Die inzwischen kommunistisch dominierte größte Gewerkschaft CGT (Centrale générale du travail) organisiert daraufhin einen Generalstreik gegen die Regierung, die so zwischen alle Stühle gerät. Am 21. 6. tritt Blum zurück, da ihm die rechte Mehrheit des Sénat (der zweiten Kammer im parlamentarischen System) die Bestätigung der im Parlament beschlossenen außerordentlichen Vollmachten zur Behebung der Finanzkrise verweigert. Die auf Blum folgenden Ministerpräsidenten aus den Reihen der Radicaux erhalten zwar die Vollmachten, bekommen die Krise aber auch nicht in den Griff. Im Dezember rollt eine neue Streikwelle über Frankreich. Das unter Hitler scheinbar geeinte Deutschland dagegen prosperiert und rüstet weiter auf.

1938    Der von Hitler inszenierte "Anschluss" Österreichs am 12. 3. schockt die französische classe politique. Léon Blum als Chef der stärksten Partei im Parlament versucht, eine große Koalition der Union nationale zu bilden, um alle demokratischen Kräfte in Frankreich zu bündeln und die Wirtschafts- und Finanzkrise zu beheben; er scheitert aber. Der Radical Daladier bildet eine Mitte-Rechts-Regierung, die die Krise mit einem Abbau der neuen Sozialgesetze zu meistern versucht und z. B. die 48-Stunden-Woche wieder einführt. Außenpolitisch wird Frankreich weiter in Atem gehalten vom Spanischen Bürgerkrieg (den z. B. Jean-Paul Sartre in seiner Erzählung Le Mur und André Malraux in seinem Roman L'Espoir thematisieren) und vor allem von dem immer selbstbewussteren Hitler, der von der Tschechoslowakei unter Kriegsdrohung die Abtretung der deutschsprachigen Grenzgebiete (Sudetenland) verlangt. England und Frankreich als Schutzmächte der Tschechoslowakei geben Hitler am 29. 9. im Münchner Abkommen freie Hand. Die französische Linke ist empört, die gar nicht wenigen Bewunderer Hitlers klatschen Beifall, die große Mehrheit der Franzosen atmet auf und trägt die Politik des Apeasement mit.

1939    Hitler annektiert im März die "Rest-Tschechei". Danach verlangt er Gebietsabtretungen auch von Polen, insbesondere die Übergabe der rein deutschsprachigen Stadt Danzig. Die englische und die französische Regierung schalten jetzt um und geben Polen eine Garantie seiner Grenzen. Die Franzosen sind gespalten, fast alle fürchten den Krieg ("mourir pour Dantzig?"), auf den das Land schlecht vorbereitet ist. Immerhin kurbeln die nunmehr erheblichen Rüstungsaufträge die Wirtschaft etwas an. Auch scheint das Ende des Spanischen Bürgerkriegs im Mai etwas Luft zu schaffen, wobei jedoch der Sieg von General Franco nur die rechten Franzosen freut. Am 23. Aug. schließt Stalin überraschend einen Nicht-Angriffs-Pakt mit Hitler, der ihm mehr bietet, als Frankreich und England es können, nämlich eine Ausdehnung der UdSSR nach Westen durch die Annexion Finnlands und der jungen baltischen Staaten sowie vor allem durch eine Teilung Polens. Am 1. Sept. lässt Hitler Polen angreifen. Frankreich und England erklären Deutschland den Krieg. Während die überlegenen deutschen Truppen Polen bis zur Teilungslinie spektakulär überrollen und russische Truppen kurz darauf die unverteidigte Osthälfte Polens fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit besetzen, wagt die französische Armee nur ein paar Scharmützel an der gleichwohl fast ungeschützten deutschen Grenze. Ansonsten bleibt man hinter den Befestigungsanlagen der ligne Maginot und wartet ab. Es beginnt la drôle de guerre, ein Krieg, der keiner zu sein scheint. Der PCF, der auf Anweisung Moskaus eine völlige Kehrtwendung vollzogen und Stalins Pakt mit Hitler gerechtfertigt hatte, wird Ende September verboten, nachdem viele über die Kehrtwendung der Parteiführung empörte antifaschistische Mitglieder schon vorher ausgetreten waren. Die kommunistischen Aktivisten tauchen ab in den Untergrund und bauen dort ein Kommunikationsnetz auf, das ihnen später von Nutzen sein wird.

1940    In Frankreich wächst die Bereitschaft zu einer aktiveren Kriegsführung. Am 10. Mai beginnt jedoch der deutsche Angriff, le blitz allemand, der unerwartet schnell vorankommt und Nordost-Frankreich samt der région parisienne in chaotische Zustände stürzt, weil die flüchtende Zivilbevölkerung und die sich zurückziehende Armee gemeinsam alle Verkehrswege verstopfen. Am 5. Juni verlassen die letzten englischen und auch eingekesselte französische Truppen bei Dunkerque Hals über Kopf den Kontinent, am 14. Juni ziehen deutsche Truppen in Paris ein. Die französische Regierung setzt sich ab, erst in die Loire-Schlösser, dann weiter nach Bordeaux. Von dort flüchtet ein Teil der Minister, darunter General de Gaulle, per Schiff oder Flugzeug nach London; der Rest schart sich um den neuernannten Ministerpräsidenten Maréchal Pétain und sucht am 17. Juni um Waffenstillstand nach. Dieser wird am 22. Juni im Wald von Compiègne vereinbart (wo am 11. Nov. 1918 die deutsche Kapitulation unterzeichnet worden war). Frankreich verliert Elsass-Lothringen und wird geteilt in eine zone occupée im Norden und eine zone libre im Süden; ca. 1,5 Mio. französische Kriegsgefangene, die nach und nach als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschafft werden, dienen den Deutschen als Faustpfand gegenüber der französischen Regierung und zugleich dieser als Mittel zur Disziplinierung der eigenen Bürger. Regierungschef Pétain und seine Minister richten sich ein in den Hotels des Heilbads Vichy. Hier lässt sich Pétain am 10. Juli von den mühsam angereisten (und danach rasch wieder fortgeschickten) Abgeordneten und Senatoren Vollmacht geben zur Dekretierung einer neuen Verfassung. Er selber wird mit fast diktatorischen Befugnissen chef des so von ihm geschaffenen neuen État français, der theoretisch ganz Frankreich umfasst, im Norden aber unter strenger, im Süden unter lockerer Kontrolle der Deutschen steht. Pétains designierter Nachfolger und rechte Hand Pierre Laval, ein Ex-Sozialist und Bewunderer Hitlers, arrangiert Ende Oktober ein Treffen zwischen dem 84-jährigen Maréchal und dem 51-jährigen Ex-Gefreiten, die sich nicht sonderlich sympathisch sind. Dennoch akzeptiert Pétain eine vorbehaltlose collaboration d'État, d. h. ein De-facto-Bündnis mit Deutschland. Denn diesem scheint nach seinen eindrucksvollen Siegen die Zukunft in Europa zu gehören, eine Zukunft, an der viele rechte Franzosen, die sich durch den deutschen Einmarsch von der linken Parlamentsmehrheit des Front populaire befreit fühlen, Frankreich zumindest als Juniorpartner beteiligt sehen möchten. (So z. B. denken die Schriftsteller Robert Brasillach oder Pierre Drieu la Rochelle, die von einem faschistischen Europa unter militärisch-wirtschaftlicher Dominanz Deutschlands, aber geistiger Führung Frankreichs träumen.) Die Beziehungen zu England dagegen werden abgebrochen, nachdem im Juli die englische Flotte bei Mers-el-Kébir (heute Algerien) die dort ankernde französische Mittelmeerflotte überfallen und zusammengeschossen hatte. Die Bildung einer französischen Exilregierung unter dem nach London geflüchteten ehemaligen Regierungsmitglied Charles de Gaulle wird von den meisten Franzosen als illoyaler Akt betrachtet, ebenso seine Bemühungen, ein eigenes Heer aufzubauen, die Force de la France libre (FFL). De Gaulles Versuche, die in den französischen Kolonien stationierten Truppen und die dortigen Verwaltungsapparate auf seine Seite zu ziehen, bleiben zunächst fast erfolglos; ein Angriff der FFL auf die Hafenstadt Dakar in Französisch-Westafrika wird von Pétain-treuen Truppen blutig zurückgeschlagen und weckt in Frankreich überwiegend Empörung als Versuch eines "Bruderkriegs".

1941    Pétain, den das Gros der Bevölkerung dankbar als Retter der Nation aus dem Chaos betrachtet, unterzieht Frankreich einer révolution nationale im Sinne der Ideen von Charles Maurras. D. h. unter einem quasi monarchischen Staatschef mit absoluter Macht soll die Katholische Kirche eine sehr konservative Moral predigen, sollen Berufs- und Standesverbände die Gesellschaft gliedern und kontrollieren und soll ein Beamtenheer ohne Profitgier die Wirtschaft dirigieren. Die Bürger sollen gemäß der neuen Staatsdevise patrie – famille – travail pflichtbewusst der Volksgemeinschaft dienen, sich fleißig vermehren, diszipliniert arbeiten und vor allem reumütig dem "relâchement" und dem "esprit de jouissance" abschwören, die Pétain ihnen vorwirft als angeblich in der Volksfrontzeit erworbene schlechte Gewohnheiten und als Ursache der Niederlage des Landes. Die Parteien werden entmachtet (Pétain verhindert sogar die Gründung einer faschistischen Staatspartei), die Gewerkschaften werden aufgelöst, das Parlament durch kleinere Gremien ernannter Mitglieder ersetzt. Die Franzosen sind mit den neuen politischen Verhältnissen, dem "ordre nouveau", ganz überwiegend zufrieden, Widerstand gibt es so gut wie nicht. Normalität stellt sich ein, in der z. B. in Paris nicht nur die Geschäfte florieren, sondern auch ein reges Kulturleben herrscht (u. a. erscheint 1942 Camus' L'Étranger oder 1943 Sartres L'Être et le néant). Die deutschen Besatzer halten sich im Hintergrund, sie kaufen z. B. Frankreich zunächst fast unbemerkt nur mittels des von ihnen festgesetzten günstigen Wechselkurses leer und überlassen alle schmutzige Arbeit, insbesondere die Verhaftung von Juden, der französischen Polizei bzw. neugeschaffenen Milizen, die darüberhinaus Jagd auf alles Linke und Oppositionelle machen. Als Hitler im Juni 41 den Überfall auf Russland befiehlt, erlaubt die französische Regierung dem Faschistenführer Jacques Doriot (einem ehemaligen Kommunisten) die Aufstellung einer Légion de volontaires français contre le bolchevisme, damit Frankreich an der Seite Deutschlands ein bisschen mitsiegen kann. Für die eingefleischten Kommunisten allerdings stimmt nun wieder das antifaschistische Feindbild. Einzelne von ihnen, zunächst meist besonders fanatische jüngere Männer, beginnen schon im August 41 mit Attentaten auf die wenigen in Frankreich verbliebenen deutschen Soldaten und Militär-Einrichtungen, um den Deutschen einen Zwei-Fronten-Krieg aufzuzwingen, der die UdSSR entlastet. Diese Attentäter werden aber nicht nur von Pétain und seiner Regierung als "terroristes" gebrandmarkt und polizeilich verfolgt, sondern stoßen auch bei der breiten Öffentlichkeit lange Zeit auf heftige Ablehnung, weil sie die allgemeine Ruhe stören, das Land polarisieren und die Deutschen zu Repressalien provozieren (ein Thema, das J.-P. Sartre und Jean Anouilh verschlüsselt in ihren im Spätsommer 41 konzipierten Stücken Les Mouches und Antigone behandeln). Wenig Zustimmung auch findet in Frankreich der im Juni mit englischer Hilfe geführte Angriff von de Gaulles FFL auf die Vichy-treuen Truppen in dem französischen Mandatsgebiet Syrien, bei dem einmal mehr Franzosen auf Franzosen schießen.

1942    Laval, der im Dezember 40 von Pétain entlassen worden war, wird im April wieder dessen designierter Nachfolger und erhält das neugeschaffene Amt des Regierungschefs. Die deutsche Kriegsmaschine kommt erstmals im Juni in Nordafrika zum Stehen, dann im Oktober in Russland, wo die Schlacht um Stalingrad beginnt. Am 8. Nov. landen die Engländer und die Amerikaner, denen Hitler nun auch noch den Krieg erklärt hat, in Marokko; die in Nordafrika stationierten französischen Truppen leisten kaum Widerstand, bald stehen die Alliierten in Algerien, wohin de Gaulle mit seinem "Befreiungskomitee" folgt. Um Frankreichs Mittelmeerküste unter Kontrolle zu haben, besetzen am 11. 11. deutsche Truppen überraschend die zone libre. Dies und die ebenso überraschende und demütigende Entwaffnung der ohnehin stark reduzierten französischen Truppen in ihren Kasernen ist ein Schock auch für viele rechtsgesinnte Franzosen; das Vertrauen in den Übervater Pétain beginnt zu wanken. Die Attentate und Sabotageakte von Kommunisten, aber zunehmend auch von nicht-kommunistischen Oppositionellen mehren sich. Die Deutschen reagieren immer öfter mit Geiselerschießungen, und obwohl die französische Polizei und die Anfang 43 geschaffene paramilitärische Légion française des anciens combattants zu diesem Zweck meist Kommunisten und Juden liefern, erhebt sich in Frankreich Groll gegen die Besatzer.

1943            Deutschland mobilisiert nach dem Fall von Stalingrad (2. Februar) alle wehrfähigen Männer als Soldaten im Kampf um die "Festung Europa". Frankreich soll mit Arbeitskräften helfen. Zu diesem Zweck wird der Service de travail obligatoire (STO) für junge Männer dekretiert, Tausende junger Franzosen werden nach Deutschland geschickt, wo sie in Industrie und Landwirtschaft arbeiten – nur wenig privilegiert gegenüber den immer noch dort befindlichen französischen Kriegsfangenen und den Hunderttausenden nach Deutschland verschleppten polnischen, russischen usw. "Fremdarbeitern". Viele STO-ler entziehen sich dem Dienst, tauchen unter und schließen sich der nunmehr wachsenden und sich organisierenden Résistance an, bzw. deren aus Wald- und Bergverstecken heraus operierenden Partisanen-Verbänden, den "maquisards". In Paris werden im Sommer 43 Sartres Les Mouches und Anfang 44 Anouilhs Antigone als oppositionelle Stücke beklatscht.

1944    Die Regierung Pétain führt nur noch ein Schattendasein. Die Résistance erhält immer mehr Zulauf, nunmehr auch von rechts, weil sich in Frankreich die Erkenntnis durchsetzt, dass der Krieg für Deutschland verloren ist und man besser tut, sich den mutmaßlichen Siegern anzuschließen. Die Résistance und ihre Partisanenverbände werden weitgehend angeführt von Kommunisten, die als erste Widerständler einen Erfahrungsvorsprung haben und lange Zeit über das einzige funktionierende Kommunikationsnetz verfügen. Immerhin folgen die Kommunisten der Aufforderung De Gaulles, in dessen Befreiungskomitee einzutreten und sich zu beteiligen an dem am 3. Juni in Algier konstituierten Gouvernement provisoire de la République Française. Die deutschen Armeen sind inzwischen an fast allen Fronten auf dem Rückzug – bald auch in Frankreich, nachdem am 6. Juni englische, amerikanische und auch einige französische Truppenverbände in der Normandie gelandet sind. Diese erreichen am 19. August Paris, das angesichts eines gleichzeitig dort losbrechenden Aufstands von den Deutschen geräumt wird (ohne dass der von Hitler gegebene Befehl zur Zerstörung der Stadt ausgeführt wird). Am 25. August zieht General de Gaulle feierlich in Paris ein und bildet im September mit Vertretern meist kommunistisch und sozialistisch inspirierter Résistance-Gruppen eine erste Regierung. Der ideologische Kitt dieser Regierung ist der gemeinsame Widerstand gegen die Deutschen, an dem – so will es der rasch entstehende Mythos – mehr oder weniger alle Franzosen beteiligt waren, bis auf ein paar Tausend unverbesserliche "collabos", die in Schauprozessen verurteilt und zum Teil sogar hingerichtet werden (wie z. B. der Schriftsteller und Journalist Robert Brasillach). Während die französische Rechte sich beschämt zurückzieht oder die Fahne diskret nach dem neuen Wind hängt, inszenieren sich die Kommunisten stolz als "le parti des cent mille fusillés" und werden mitgliederstärkste Partei Frankreichs (in die auch viele Intellektuelle eintreten). Nicht zuletzt deshalb besteht im Oktober de Gaulle auf der Auflösung der meist kommunistisch geführten Partisanen-Verbände und auf ihrer Integration in die neu konstituierte reguläre französische Armee. Die Partisanen-Chefs fügen sich nur widerwillig und auf Anweisung Moskaus, das zu diesem Zeitpunkt noch im Krieg mit Deutschland steht und deshalb eher ein starkes als ein schwaches Frankreich wünscht und am 10. Dez. mit der Regierung de Gaulle einen Beistandspakt schließt. Gegen Ende des Jahres 44 ist das französische Staatsgebiet frei von deutschen Truppen, die Befreiung, la Libération, ist abgeschlossen. De Gaulle kann sich darauf konzentrieren, Frankreich einen Platz unter den Siegermächten zu verschaffen und ihm bei der in Jalta (Febr. 45) beschlossenen Zerstückelung Deutschlands einen möglichst großen Anteil zu sichern.

1945            Während mit der Libération, mit der Wiederaufnahme Frankreichs in den Kreis der Großmächte und mit dem Hochgefühl des wirtschaftlichen und intellektuellen Neubeginns eine neue Ära für die Nation zu beginnen scheint, brechen Unruhen in Algerien aus, wo die autochtone arabo- und berberophone Bevölkerung merkt, dass entgegen allen Zusagen während des Krieges, das "weiße" Frankreich nicht daran denkt, die sozialen und politischen Rechte der "farbigen" Kolonial-Bevölkerungen zu stärken. Auch auf Madagaskar und in Westafrika gibt es Unruhen, die blutig niedergeschlagen werden. Frankreich muss in den nächsten Jahren erhebliche Mittel und Energien dafür aufwenden, seine im Krieg entglittenen, z. T. sogar verlorenen Kolonialgebiete wieder in den Griff zu bekommen. Das ab 1940 von den Japanern kontrollierte und schließlich besetzte, aber 1945 geräumte und für selbständig erklärte Vietnam muss regelrecht wiedererobert werden, was nur teilweise gelingt und Frankreich nach und nach in einen teuren, letztlich erfolglosen und damit für die Franzosen sehr unbefriedigenden Kolonialkrieg hineinrutschen lässt. Die ersten Nachkriegs-Wahlen am 21. Okt. 45 (erstmals mit Wahlrecht der Frauen!) zu einer Verfassunggebenden Versammlung (Constituante) bringen einen kräftigen Linksrutsch: stärkste Partei ist der Parti communiste (PC) mit 26 %; zweitstärkste das christdemokratische (zunächst durchaus eher linke als rechte) Mouvement des Républicains populaires (MRP) mit 25 % und drittstärkste die sozialistische SFIO mit 24 %. Der vor dem Krieg so einflussreiche gemäßigt linke Parti radical wird nunmehr offenbar als überwiegend rechte Partei wahrgenommen und erhält nur 11 %, die klassische Rechte bekommt zusammengenommen gerade 13 %. Trotz ihrer großen linken Mehrheit wählt die Constituante den eigentlich eher rechten General de Gaulle zum Regierungschef. Dieser lässt eine Präsidialverfassung entwerfen, die seine Vorstellungen von einer starken Exekutive verwirklichen soll.

1946    De Gaulle kann sich mit seinem Verfassungsentwurf nicht durchsetzen (auch seine Hausmacht, der MRP, unterstützt ihn nicht geschlossen), er tritt deshalb im Januar spektakulär zurück. Er wird jedoch auch weiterhin auf seinem Landsitz Colombey-les-deux-Églises (Champagne) und in seinem Pariser Büro regelmäßig Politiker und Militärs empfangen und mit Grundsatzreden sowie dem ständigen Gerücht seiner Rückkehr in die Politik im Hintergrund präsent sein, bis er schließlich 1958 als Retter in der Not tatsächlich an die Macht zurückgerufen wird. In Paris regiert nach de Gaulle eine Drei-Parteien-Koalition (le Tripartisme) aus PC, MRP und SFIO. Mit der Verstaatlichung der Banque de France und anderer Großbanken, des Bergbaus, der Gas- und Elektrizitätswerke, der Ölgesellschaften, der Versicherungen und zahlreicher Konzerne (wie z. B. Renault) steuert die Regierung das Land in eine zentral gelenkte Planwirtschaft gemäß den damaligen kommunistischen und sozialistischen Vorstellungen, die auch von vielen linken Katholiken geteilt werden. Im Oktober wird per Volksabstimmung (nach einem ersten vergeblichen Anlauf im Mai) eine neue Verfassung angenommen: die der Quatrième République. Wichtigster Punkt ist längerfristig, dass das Parlament eine ähnlich starke Stellung im politischen System hat wie in der 1940 untergegangenen Troisième République. Die ersten normalen Parlamentswahlen im Nov. bringen leichte Gewinne für den PC und Verluste für den christdemokratischen MRP, dessen Mitglieder und Mandatsträger nach rechts und links auseinanderzudriften beginnen, d. h. in bürgerlich-konservative Katholiken und sozial engagierte Linkskatholiken. Paris erlebt derweil die hohe Zeit des Existenzialismus (mit Sartre und Camus als maîtres à penser) und ist ein, wenn nicht der kulturelle Mittelpunkt Europas.

1947    De Gaulle gründet im April eine eigene politische "Bewegung": das Rassemblement du Peuple français (RPF), das eigentlich eine überparteiliche Organisation sein soll, aber rasch zum neuen Sammelbecken der rechten (und nicht zuletzt auch der ex-pétainistischen) Kräfte in Frankreich wird. Bei den Gemeinderatswahlen im Oktober erhält der RPF 38 % (!) der Stimmen, vor allem auf Kosten des MRP, der auch im Parlament ausgezehrt wird, weil sich viele MRP-Abgeordnete aus persönlicher Loyalität zu de Gaulle dem RPF anschließen: Die Chance, dass sich in Frankreich eine starke rechtsliberale Partei ähnlich der deutschen CDU/CSU oder der italienischen Democrazia christiana etabliert, ist damit verloren. Inzwischen zeigt sich, dass, obwohl der französische Staat im letzten Krieg weniger Schulden angehäuft hat als im Ersten Weltkrieg, keine Reserven vorhanden sind, um neben dem nötigen Wiederaufbau des Landes zugleich eine offensive Kolonialpolitik (vor allem in Vietnam) zu finanzieren. Entsprechend muss die Steuerschraube angezogen werden. Die Kommunisten wollen nicht mitmachen, zumal Frankreichs Gegner in Vietnam eine kommunistisch orientierte Befreiungsbewegung ist. Die kommunistischen Minister werden deshalb im Mai aus der Regierung entlassen: Ende des Tripartisme, dessen Scheitern auch das Ende der Hoffnungen der französischen Kommunisten auf ein von ihnen dominiertes Frankreich bedeuten. Zugleich beginnt der amerikanische Marshall-Plan zum Wiederaufbau Europas dieses in West und Ost zu teilen, da die UdSSR ihre Satellitenstaaten (und die Sowjetische Besatzungszone in Deutschland) daran hindert, amerikanische Kredite anzunehmen. Es ist der Anfang des "Kalten Krieges" (der für die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands sein Gutes hat, da die USA die englische und vor allem die französische Regierung zwingen, ihre Reparationsforderungen fallenzulassen und sich an die Idee zu gewöhnen, dass ein starkes Westdeutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus nötig ist). Noch ehe der Marshall-Plan in Frankreich greift, führt hier die kriegsbedingte Inflation zu einer Streikwelle, für die die vom PC beherrschte größte Gewerkschaft, die CGT, verantwortlich gemacht wird. Der PC wird daraufhin als angebliches "cheval de Troie" Moskaus (von wo die Partei in der Tat auch Geld bekommt) weitgehend aus dem politischen System Frankreichs hinausgedrängt, "le ghetto des communistes" beginnt. Bis 1981 wird es aufgrund des großen Wählerpotentials des PC (20–25 %) zwar ständig zahlreiche kommunistische Abgeordnete und Senatoren und viele kommunistische Bürgermeister geben, aber keinen kommunistischen Minister. Für viele mit dem Kommunismus sympathisierende Intellektuelle ergibt sich so eine als aussichtslos und frustrierend erlebte Situation. Da zugleich auf der Rechten die starke gaullistische Bewegung eine erbitterte, wenn letztlich auch erfolglose (und ihre Träger ebenfalls frustrierende) Fundamental-Opposition gegen die Regierungen und gegen das Regime der Vierten Republik überhaupt betreibt, stehen die regimetreuen politischen Kräfte zwischen Rechtsaußen und Linksaußen eingeklemmt wie auf Abruf. Die Regierungen der nächsten Jahre müssen sich mühsam mit Koalitionen des verbleibenden Restes im Zentrum des Parteien-Spektrums (euphemistisch la troisième force genannt) durchwursteln und sind dadurch häufig wie gelähmt – eine naturgemäß auch von der "schweigenden Mehrheit" der Franzosen als unbefriedigend und enttäuschend empfundene Situation. Frankreich ist somit, wenige Jahre nach der Aufbruchstimmung, die die Libération bewirkt hatte, geprägt von einer Atmosphäre der Frustration und Desillusion (die sich literarisch in Phänomenen wie dem théâtre de l'absurde oder dem nouveau roman auszudrücken beginnt).

1948            Angesichts des "Kalten Kriegs" (la Guerre froide) schließen die Benelux-Staaten, England und Frankreich ein Verteidigungsbündnis, das zur Keimzelle der Europäischen Union wird. Wenig später, 1949, tritt Frankreich auch dem neugegründeten Atlantikpakt NATO bei (frz. OTAN). Es ist damit Teil des antisowjetischen "Westlichen Lagers", auch wenn dessen Führungsmacht, die USA, bei sehr vielen und zumal bei linken Franzosen weniger Sympathien genießt als die östliche Vormacht, die UdSSR, die anders als in Deutschland in Frankreich keine Ängste auslöst.

1950            Gründung der Montan-Union, die die neugeschaffene Bundesrepublik mit Frankreich und den Benelux-Staaten verbindet, nicht zuletzt natürlich zum Zeck einer besseren Kontrolle der deutschen Kohle- und Stahlindustrie. Der Plan einer westeuropäischen Verteidigungsgemeinschaft unter Einbeziehung der Bundesrepublik entfesselt jedoch ungeahnte Ängste und Aggressionen in Frankreich und scheitert daraufhin an der Unentschlossenheit der französischen Regierung. (Erst fünf Jahre später, als die Bundesrepublik Mitglied der NATO wird, kann die Mehrzahl der Franzosen die Idee einer deutschen Wiederaufrüstung im Rahmen des Bündnisses akzeptieren.)

1951    Der gaullistische RPF wird bei den Wahlen am 17. Juni stärkste Partei (22 %), auf Kosten vor allem des MRP, erzielt aber nicht den Durchbruch, den de Gaulle sich erhofft hatte. Im Dez. gibt es Unruhen in Tunesien und kurz danach auch in Marokko. Die franz. Regierung lehnt es jedoch ab, die beiden Protektorate in die Unabhängigkeit zu entlassen. Gleichwohl ist der Anfang vom Ende eingeläutet: die Unabhängigkeitsbewegungen in beiden Ländern werden von Jahr zu Jahr stärker. Stärker auch wird der Druck auf die franz. Truppen in Indochina, vor allem in Vietnam, wo trotz aller militärischen Anstrengungen Frankreichs das flache Land mehr und mehr von der kommunistischen, durch die UdSSR und nunmehr auch China unterstützten Befreiungsbewegung "Vietminh" kontrolliert wird. Der auf beiden Seiten sehr grausame Kampf geht als "la sale guerre" in das Bewusstsein der Franzosen ein, die sich in einen langen und teuren Krieg verwickelt sehen, den man zwar nicht verlieren möchte, aber auch keine Lust mehr hat zu führen, weil er letztlich doch nicht zu gewinnen ist und nur Frustrationen verursacht.

1953    Ein Großteil der gaullistischen Abgeordneten lässt sich für eine Koalition der rechten Mitte gewinnen und integriert sich damit in das politische System der Vierten Republik. De Gaulle, der eben dieses System für schlecht hält, ist empört und löst "seinen" RPF auf. Zwar bilden sich gaullistische Nachfolgeorganisationen, doch lässt der Druck von Rechtsaußen auf die Regierungen der Vierten Republik etwas nach, zumal auch de Gaulle selbst sich zum Schreiben seiner Memoiren zurückzieht.

1954            Angesichts der hoffnungslos gewordenen Lage der franz. Truppen in Vietnam nach dem Fall der Festung Dien Bien Phu bildet der radical Pierre Mendès-France eine Krisenregierung, die auch von den bisher auf Seiten der Kriegstreiber stehenden Gaullisten mitgetragen wird. Schon nach wenigen Tagen, am 20. Juni, hat er mit den Genfer Verträgen den Krieg für Frankreich beendet. (Bald darauf werden sich die USA ähnlich erfolglos in Vietnam engagieren). Noch im Juli verspricht Mendès-France Tunesien die Unabhängigkeit. Ein gewisser Optimismus breitet sich aus, sowohl was die Zukunft der Kolonien betrifft als auch die Zukunft Frankreichs selbst. Als jedoch am 1. Nov. in Algerien eine Welle von Terror- und Mordanschlägen losbricht und die Franzosen die Existenz einer algerischen Befreiungsbewegung zur Kenntnis nehmen müssen, reagiert die Regierung (Innenminister ist François Mitterand) mit Repression. Allerdings ist Algerien nicht mit Tunesien oder Marokko vergleichbar: Die drei algerischen Départements sind formell Bestandteil Frankreichs, und neben ca. 8 Mio. autochtonen Algeriern mit beschränkten Bürgerrechten leben dort fast eine Million pieds noirs, d. h. die über die französische Staatsbürgerschaft verfügenden Nachkommen von französischen, spanischen und italienischen Einwanderern sowie den naturalisierten einheimischen Juden.

1955    Der relativ beliebte und erfolgreiche Mendès-France wird gestürzt, als er sich vom Parlament Vollmachten geben zu lassen versucht zur Bremsung der erneut ins Galoppieren geratenen Inflation. Im Land wächst wieder mal die Unzufriedenheit. Besonders gebeutelt von der zunehmenden Steuerlast und von den Konzentrationsprozessen in der Wirtschaft fühlt sich das Kleinbürgertum. Es wird zum Mitglieder- und Wählerreservoir der Union pour la défense des commerçants et des artisans des rechten Protestlers Pierre Poujade, der lautstark gegen ziemlich alles ist, was die Regierenden sagen und tun, und der sich zugleich in agressivem Rassismus und chauvinistischem Hurrah-Patriotismus gefällt.

1956    Bei den élections législatives im Januar bekommen die Poujadistes aus dem Stand beachtliche 11,5 %; einer ihrer Abgeordneten in der Assemblée Nationale ist der junge Jean-Marie Le Pen. Die Regierung wird jedoch von einer Koalition aus Sozialisten und radicaux unter Sozialistenchef Guy Mollet gebildet, der von den Kommunisten mitgewählt und danach toleriert wird. Mollet gewährt als erstes den unbeherrschbar gewordenen Protektoraten Tunesien und Marokko Unabhängigkeit (und wird dafür von rechts als "bradeur d'Empire", "Reichsverschleuderer", geschmäht). Da er im Wahlkampf einen sofortigen Frieden in Algerien versprochen hatte, reist er bald nach Amtsantritt zur Information nach Algier. Hier erlebt er eine ihn tief beeindruckende profranzösische Massendemonstration und kehrt als Falke nach Paris zurück. Er lässt sich sofort Sondervollmachten für eine schärfere Repression der Befreiungsbewegung durch die Polizei und vor allem auch die Armee geben. Der so verstärkte Druck verstärkt den Gegendruck, die "événements" in Algerien nehmen nunmehr wirklich Kriegsform an und halten die französische Öffentlichkeit in Atem, zumal die algerische Befreiungsfront mehr und mehr auch in Frankreich selbst mit Attentaten und Terroranschlägen operiert. Ende Oktober überfallen englische und französische Truppen Ägypten, das kurz zuvor den Suez-Kanal verstaatlicht hatte und das in Frankreich als Drahtzieher der algerischen Rebellen gilt. Russische Atombomben-Drohungen gegen England und Frankreich und amerikanischer Druck auf das englische Pfund zwingen zuerst die englische und dann auch die französische Regierung zum Rückzug, was in Frankreich Groll gegen England und Trotz gegenüber dem gesamten Ausland auslöst. Die französische Armee stürzt sich nun ganz auf Algerien, wo die "bataille d'Alger" entfesselt wird, die im Verständnis der rechten und der regierungsoffiziellen Propaganda das Abendland vor Islam und Kommunismus zugleich retten soll.

1957            Während Frankreich einerseits im März die Römischen Verträge unterzeichnet, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründen, macht andererseits in Algerien die Armee hemmungslos und grausam Jagd auf die Mitglieder der Befreiungsfront und ihre tatsächlichen und vermeintlichen Sympathisanten (und empört damit auch die letzten noch frankophilen Algerier). Parallel dazu entwickelt sich in Frankreich selbst ein ungutes Klima, das von irrationalen Ängsten, agressivem Nationalismus, Rassismus, Antiparlamentarismus und einem Verteufeln aller Kritiker und Oppositioneller als Defaitisten bestimmt wird. Ein erschrockener englischer Journalist diagnostiziert den Ausbruch des "National-Molletisme", das Umsichgreifen eines kollektiven rechtsextremistischen Wahns, dem Franzosen aller politischen Couleur verfallen seien (und den Ionesco in der Novelle Rhinocéros und Boris Vian in seinem Stück Les Bâtisseurs d'Empire thematisieren). Es galoppiert zugleich die Inflation aufgrund der wachsenden Militärausgaben in Algerien.

1958    Die von ihrer Erfolglosigkeit frustrierten Generale in Algier suchen die Schuld bei den Regierenden in Paris und putschen am 13. Mai. Nach 16 Tagen politischem Chaos und Druck der Generale, die zusammen mit alten Gaullisten die Rückberufung de Gaulles an die Macht verlangen, ernennt Staatspräsident Coty diesen zum Regierungschef. Das hilflose Parlament stimmt mit breiter Mehrheit zu, gewährt de Gaulle außerordentliche Vollmachten und vertagt sich sine die, d. h. es löst sich praktisch auf. De Gaulle lässt sofort einen Verfassungsentwurf ausarbeiten, der gemäß seinen Vorstellungen ein schwaches Parlament und einen starken Präsidenten vorsieht. Diese Verfassung wird durch Volksabstimmung (référendum) am 28. Sept. mit rd. 80 % Zustimmung angenommen: Es ist der Beginn der Cinquième République, die dem Land ein relativ stabiles System bescheren wird, zunächst allerdings von vielen Leuten als mögliche Vorstufe einer Diktatur gefürchtet wird – wenn auch nicht gleich à la Hitler oder Mussolini, so doch à la Franco (der 20 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs in Spanien dort immer noch regiert). Im Okt. akzeptiert de Gaulle die Gründung einer neuen, als staatstragend gedachten Partei, die Union pour la Nouvelle République (UNR), die erfolgreich einen Großteil der franz. Rechten (z. B. auch der Poujadisten) in das neue Regime integriert. Im Dezember lässt er sich von Assemblée Nationale und Sénat zum Staatspräsidenten (auf 7 Jahre) wählen.

1959    De Gaulle stabilisiert durch drakonische Maßnahmen und einen Währungsschnitt von 1 : 100 den Franc. Er erkennt sehr rasch die Unhaltbarkeit Algeriens als jener Algérie française, von der immer noch diejenigen träumen, die ihn an die Macht zurückgeholt haben. Entgegen deren Erwartungen tastet er nach Möglichkeiten, Algerien einen neuen Status zu geben, und bietet der Befreiungsfront verschiedene Modelle für die Zukunft an: "intégration" (von der er weiß, dass sie für Frankreich unbezahlbar ist, aber auch bei der Befreiungsfront nicht auf Gegenliebe stossen wird), "association" (d. h. der Bildung eines Staatenbundes, der er selbst wohl zuneigt) oder Trennung. Was die eigentlichen Kolonien betrifft, d. h. die westafrikanischen Territorien, Madagaskar, Laos und Kambodscha, so werden sie im September zu de jure unabhängigen Mitgliedern einer neugegründeten Communauté Française ernannt und können wählen, ob sie dies bleiben wollen oder nicht. (Nur das westafrikanische Ghana, das einen kommunistisch orientierten Präsidenten hat, tritt sofort aus.)

1960    Unter den Algerienfranzosen wächst die Angst, dass Frankreich Algerien aufgibt und sie in Stich lässt. Extremisten gründen die OAS (Organisation de l'armée secrète), die in Algerien und in Frankreich Terroranschläge und Attentate unternimmt, darunter auch auf de Gaulle. Dieser lässt sich aber nicht beirren, zumal das Gros der Franzosen die Lust an Algerien mehr und mehr verliert. Im Jan. 61 erhält er per référendum freie Hand für seine Algerienpolitik, im März 62 wird Algerien unabhängig. Die dort lebenden etwa 1 Mio. Personen mit französischer Staatsangehörigkeit (darunter auch die weitgehend französisierten einheimischen Juden) strömen trotz der ihnen gewährten Garantien fluchtartig nach Frankreich, obwohl dieses für die meisten von ihnen ein praktisch fremdes Land darstellt. Das Gros lässt sich in Südfrankreich und Korsika nieder, wo sie dank des nun ebenfalls endlich einsetzenden französischen Wirtschaftswunders fast problemlos integriert werden. Auch sonst sind die nächsten Jahre politisch eher ruhig, die Diktatur-Ängste der Opposition verfliegen. 1965 wird de Gaulle – erstmals durch die neueingeführte direkte Wahl – für ein neues septennat im Präsidentenamt bestätigt, wobei das nur mäßig gute Wahlergebnis eine gewisse Abnutzung seines Charismas sichtbar macht.

1968    Mit den schlechten Studienbedingungen unzufriedene Studenten in der überfüllten neuen Universität Paris-Nanterre setzen am 13. Mai die "événements de mai" in Gang, eine Art Jugendrevolte, die von den geburtenstarken Jahrgängen der späten Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre getragen wird. Es folgen Studenten-Demonstrationen, Straßenschlachten mit der Polizei und bald auch Streiks und Fabrikbesetzungen der Arbeiter. Während Premierminister Pompidou erfolgreich mit den Gewerkschaften verhandelt und so die Arbeiter zufriedenstellt, ist de Gaulle tagelang verschwunden. Als er wie ein Deus ex machina wiederauftaucht (er war inzwischen beim Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Deutschland), verkündet er Neuwahlen zur Assemblée Nationale für Ende Juni Diese bringen aufgrund der Angst vieler Franzosen vor einem wirklichen Umsturz und dank dem Ruhebedürfnis der großen Mehrheit, die mit den herrschenden Verhältnissen weitgehend zufrieden ist, einen überwältigenden Sieg für die gaullistische Partei. De Gaulle kann also weitermachen. Er meint aber, die Zeichen der Zeit verstanden zu haben und tiefgreifende Reformen durchführen zu müssen, darunter vor allem eine stärkere Dezentralisierung bzw. Regionalisierung des gar zu zentralistischen französischen Staates sowie eine Neubestimmung der Funktion und eine Änderung der Wahlmodalitäten der zweiten Kammer des Parlaments, des Sénat (der alle drei Jahre zu einem Drittel durch indirekte Wahlen neu besetzt wird). Das entsprechende réferendum im April 1969 bringt jedoch keine Mehrheit, obwohl oder vielleicht gerade weil de Gaulle im Fall einer Ablehnung zurückzutreten gedroht hatte. In der Tat tritt er zurück und stirbt wenig später. Eine Ära ist zu Ende. De Gaulles Nachfolger, der "Gaullist" Georges Pompidou, ist bezeichnenderweise ein Politiker, der seine politische Karriere schon ganz in der Nachkriegszeit absolviert hat.

1971            François Mitterand schafft es auf dem legendären "congrès d'Épinal", die nicht-kommunistische Linke (SFIO, PSU und linke "clubs") zu einer neuen Partei zu vereinen, dem Parti socialiste. Dieser schließt 1972 ein Wahlbündnis mit dem PC, der damit erstmals aus seiner Isolation herauskommt. Die élections législatives von 1973 bringen zwar keinen Sieg, aber deutliche Stimmengewinne der vereinigten Linken, zu der sich auch die linke Fraktion des inzwischen arg geschrumpften und gespaltenen Parti radical gesellt hat, das Mouvement des radicaux de gauche (MRG). Bei den vorzeitigen Präsidentschaftswahlen (élections présidentielles), die 1974 durch den Tod im Amt von G. Pompidou erforderlich sind, unterliegt Mitterand nur knapp dem rechten Kandidaten Valéry Giscard d'Estaing. Dieser versucht nun seinerseits, die französische Rechte neu zu ordnen und eine große Volkspartei ähnlich der deutschen CDU/CSU zu kreieren. Er scheitert aber und bringt 1978 nur die UDF (Union pour la Démocratie française) zustande, einen Zusammenschluss seiner eigenen Partei, des Parti républicain, mit Resten des Parti radical, des MRP und anderer gemäßigt rechter Kleingruppen. Der stärkste rechte Block, die sich als Erben de Gaulles definierenden Gaullistes, sind nämlich schon 1976 neu formiert worden als Rassemblement pour la République (RPR) durch einen jungen Intimfeind Giscards, Jacques Chirac. Auf Seiten der Linken läuft inzwischen ein Umschichtungsprozess weg von dem zunehmend erstarrenden PC und hin zum neugegründeten PS; spätestens ab 1974 ist nicht mehr der PC die stärkste Linkspartei, sondern der PS. Insgesamt etabliert sich so in den siebziger Jahren ein Vier-Parteien-System: links der PC und der PS (die gemeinsam ungefähr dieselben ideologischen Positionen vertreten wie in Deutschland die SPD), rechts die UDF (deren Positionen ungefähr denen von von FDP und CDU entsprechen) und der RPR (der in vielen seiner Positionen der CSU ähnelt). Dieses Vier-Parteien-System wird Frankreich fast zwanzig Jahre lang, bis in die neunziger, beherrschen. De Gaulles Pläne einer Dezentralisierung sind übrigens von seinen Nachfolgern Pompidou und Giscard d'Estaing nur halbherzig fortgeführt worden.

1981            Eindeutiger Wahlsieg François Mitterands bei den Präsidentschaftswahlen (présidentielles) im Mai. Mitterand versucht, den Linksruck im Land zu nutzen, und löst sofort die Assemblée Nationale auf. Die législatives im Juni machen den PS mit 38 % der Wählerstimmen zur stärksten politischen Kraft und verschaffen ihm dank dem Mehrheitswahlrecht der Cinquième République eine satte Mehrheit der Mandate. Vermutlich um das Potential der Kommunisten noch mehr auszusaugen, holt Mitterand dennoch auch einige kommunistische Minister in die Regierung. Seine Rechnung geht auf: tatsächlich schrumpft in den achtziger Jahren der PC zu einer Partei, die maximal 10 % der Stimmen erhält und so zu der Funktion absinkt, Protestwähler auf der Linken zu binden und damit eine Art Gegengewicht zu bilden gegen den nach 1981 wachsenden Front national des ehemaligen Poujadisten Jean-Marie Le Pen auf der äußeren Rechten. Zugleich hat sich mit den beiden linken Wahlsiegen und dem Machtwechsel (alternance) von rechts nach links die Cinquième République als fähig erwiesen zu friedlichen Wechseln. Frankreich ist nun endlich eine normale moderne Demokratie wie die USA, England oder – inzwischen – Deutschland. Die föderale Struktur der Bundesrepublik steht Pate bei der von Mitterand nun relativ energisch vorangetriebenen régionalisation, bei der je ca. 5 der knapp 100 départements zusammengelegt werden zu knapp 20 régions, die allerdings längst nicht so viel Selbständigkeit erhalten wie die deutschen Bundesländer. Als ein Anachronismus dagegen erscheint die Wirtschaftspolitik der neuen sozialistisch-kommunistischen Regierung, die durch die Verstaatlichung (nationalisation) von Banken und einigen größeren Konzernen sowie durch Schuldenmachen zum Zweck des Ankurbelns der französischen Wirtschaft dem im übrigen westlichen Europa herrschenden Trend entgegenarbeitet. Tatsächlich erweist sich diese Politik rasch als Fehlschlag, und das stark vergrößerte Staatsdefizit zwingt die Regierung zu drastischen Schuldenbegrenzungsversuchen. Der Staat wird in Zukunft auch in Frankreich bestrebt sein, sich aus der Wirtschaft zurückzuziehen. Dennoch bleibt der staatliche Anteil im Produktions- und Dienstleistungsbereich bis in die Gegenwart hinein erheblich größer als in vergleichbaren europäischen Ländern.

1988    Nicht zuletzt aufgrund der immer noch unbefriedigenden wirtschaftlichen Situation in Frankreich erhalten bei den législatives RPR und UDF die Mehrheit der Abgeordnetensitze (mandats). Mitterand beruft nach einigem Zögern den RPR-Chef Chirac als Premierminister, der eine rechte Koalitionsregierung bildet. Unter allgemeinem Erstaunen stellt Frankreich fest, dass neben der neuerlichen alternance von links nach rechts auch eine cohabitation möglich ist, d. h. das Zusammenwirken eines linken Präsidenten und eines rechten Regierungschefs sowie der ihn tragenden rechten Parlamentsmehrheit. Allerdings gerät das herrschende politische System nach 1990 langsam unter Druck durch das Wachstum des Front National, dessen Chef Le Pen ein gewisses Talent hat "zu sagen, was die Franzosen denken", und der nicht mehr nur rechte Protestwähler an sich bindet, sondern zunehmend auch ehemals linke, denen der PC nicht mehr radikal genug ist. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts gelingt es dem FN bei den législatives von 1993 allerdings noch nicht, Abgeordnete in die Assemblée Nationale zu entsenden.

1995    Ende der vierzehnjährigen Präsidentschaft (ein bisher unerreichter Rekord!) des Sozialisten François Mitterand. Um seine Nachfolge ringen, neben einigen völlig aussichtslosen Kandidaten, der Kommunist Robert Hue, der Sozialist Lionel Jospin, der eigentlich dem RPR angehörende, aber von der UDF gestützte amtierende Premierminister Balladur, der RPR-Chef Jacques Chirac und der FN-Chef Jean-Marie Le Pen. Die Stichwahl im nötigen zweiten Wahlgang findet statt zwischen Jospin und Chirac, der schließlich gewinnt und den bisherigen Außenminister Alain Juppé mit der Bildung einer Regierung aus RPR und UDF beauftragt, d. h den beiden Parteien, die die majorité in der Assemblée Nationale (sowie übrigens auch im Sénat) stellen. Der lange Zeit nur außerhalb der demokratischen Institutionen operierende FN hat inzwischen begonnen, Einzug in die unteren Stufen des parlamentarischen Systems zu halten, d. h. in die conseils municipaux (Gemeinde- und Stadträte), conseils généraux (Départementsräte) und conseils régionaux (Regionalparlamente), da bei deren Wahlen ein Verhältniswahlrecht gilt. Es verursacht jedoch erhebliche Ratlosigkeit bei den Politikern der etablierten Parteien, als der FN erste Bürgermeisterposten besetzt und 1997 sogar eine absolute Mehrheit in einem südfranzösischen Stadtrat erringt.

1997            Staatspräsident Chirac löst gegen den Rat vieler politischer Freunde ohne Not die Assemblée Nationale schon nach vier Jahren auf, d. h. ein Jahr vor dem eigentlichen Ende der Legislaturperiode. Bei den Neuwahlen ergibt sich, nicht zuletzt aufgrund gut funktionierender Wahlabsprachen auf Seiten der linken Parteien, eine linke Mehrheit aus PS, PC und écologistes (Grünen), die als "majorité plurielle" eine Koalitionsregierung unter dem Sozialistenchef Lionel Jospin bilden. Der 1988 noch als ganz absonderlich empfundene Zustand der cohabitation zwischen linkem oder rechtem Président und rechtem oder linkem Premier ministre ist damit erneut eingetreten und etabliert sich in der politischen Praxis der Cinquième République als eine Normalität, die von vielen Franzosen als geradezu wünschenswert empfunden wird, obwohl sich Präsident und Premierminister bei grundlegenderen Reformvorhaben meistens gegenseitig blockieren. Der FN, der keine Partner für Wahlabsprachen gefunden hat (und daraufhin beim zweiten Wahlgang seinen Wählern die Wahl linker Kandidaten nahegelegt hat!), schafft nur ein einziges Mandat. Er vergrößert aber mit rd. 15 % der Stimmen einmal mehr sein Wählerpotential, was auch außerhalb des FN Überlegungen laut werden lässt, ob nicht eine Wahlrechtsänderung angebracht wäre, die ihm eine angemessenere Repräsentanz auf nationaler Ebene ermöglicht.

1998    Die Regionalparlamentswahlen (élections régionales) im März bringen der linken "majorité plurielle" zwar Stimmenzuwachs, aber keinen spektakulären Durchbruch. Der FN erreicht wiederum im Schnitt um die 15 % und bildet in mehreren Regionalparlamenten (conseils régionaux) das Zünglein an der Wage bei der Wahl der jeweiligen présidents. Die meisten der mit den Stimmen des FN zum président gewählten UDF- oder RPR-Politiker treten auf Druck der Pariser Parteizentralen wieder zurück, andere bleiben gegen diesen Druck im Amt: einer von ihnen gründet sogar eine neue Rechtspartei zwischen UDF und RPR einerseits und dem FN andererseits. Die gemäßigte Rechte, die droite républicaine, gerät in eine Krise, die sie im April auch in die Assemblée nationale hineinträgt, als dort über die Einführung des Euro abgestimmt wird und ihre Abgeordneten teils dafür, teils dagegen sind. Die im Herbst 98 unternommenen Versuche einiger namhafter UDF- und RPR-Politiker, eine gemeinsame Partei zu gründen oder wenigstens gemeinsame Organisationsstrukturen zu entwickeln, schlagen fehl. (Erst 2001 wird im Vorfeld der élection présidentielle und der élections législatives von 2002 die Gründung einer übergreifenderen Rechtspartei gelingen, der UMP = Union pour la majorité présidentielle.)

1999    Der Front National zerbricht in zwei Teile, als sich der bisherige Stellvertreter von Le Pen, Bruno Mégret, durch eine Art parteiinternen Putsch an die Spitze zu setzen versucht, Le Pen jedoch die Oberhand behält und Mégret seine eigene Partei, das Mouvement national pour la France, gründet. Mit dieser Spaltung des FN, die von den meisten Mitgliedern als Katastrophe erlebt wird und die Sympathisanten und Wähler verunsichert, lässt der Druck von rechtsaußen auf die gemäßigte Rechte, die droite républicaine spürbar nach. Anlässlich der Wahlen zum Europaparlament im Juni spaltet sich jedoch die bisher größte Rechtspartei, der RPR, in einen proeuropäisch-liberalen und einen antieuropäisch-konservativen Flügel, die getrennte Kandidatenlisten aufstellen und nach der Wahl auch organisatorisch getrennte Wege zu gehen beginnen. Eine andere Folge der Europawahlen ist die weitere Schwächung des PC (ca. 6 % !) und eine Stärkung der Verts (ca. 10 %), die erstmals besser dastehen als die deutschen Grünen. Der PS dagegen wird in seiner Position als derzeit dominierende politische Kraft bestätigt, die Regierung des bisher relativ geschickt agierenden Lionel Jospin blickt optimistisch in die Zukunft. Da die deutschen Sozialdemokraten bei den Europawahlen starke Stimmenverluste erleiden und auch die deutschen Konjunkturdaten schlechter aussehen als die französischen, fühlt man sich erstmals seit langer Zeit den Deutschen überlegen.

2000    Die "classe politique" wird beherrscht von der Diskussion, ob die Amtszeit des Präsidenten von 7 auf 5 Jahre verkürzt werden soll (was schließlich, wenn letztlich auch ohne rechte Begeisterung, von der Mehrheit als vernünftig akzeptiert wird) und ob die Präsidentschaftswahlen (les présidentielles) vor oder nach den Parlamentswahlen (les législatives) stattfinden sollen (eine Frage, die sowohl die Opposition als auch die Regierungskoalition in je zwei Lager spaltet und Ende 2000 noch nicht entschieden ist). Auf der EU-Konferenz von Nizza werden unter Frankreichs Vorsitz und aufgrund des Widerstands vor allem Frankreichs die deutschen Pläne abgeblockt, die Stimmenverteilung im Ministerrat zugunsten Deutschlands zu verändern. Die vielbeschworene deutsch-französische Freundschaft wird auf die Probe gestellt.

Aufstieg und Ende des Empire Français

1534        Erste Entdeckungsreise von Jacques Cartier, der eine nördliche Umfahrung Amerikas in Richtung Indien suchen soll. 1542 fährt Cartier in den kanadischen St. Lorenz-Strom (Saint-Laurent) ein und gründet das jetzige Montréal.

1562-68   Vergebliche französische Versuche einer Niederlassung im damals spanischen Florida.

1635   Neue Kolonialaktivitäten unter Kardinal Richelieu, dem allmächtigen Minister von König Louis XIII. Annektierung der vorher spanischen Antilleninseln Guadeloupe, Martinique und (nur die Westhälfte) Santo-Domingo. Niederlassung im südamerikanischen Cayenne (= Guyane).

1665        Wieder neue Aktivitäten unter König Louis XIV und seinem Minister Colbert. Ausdehnung der Besitzungen in Kanada (Québec, Neufundland), Gründung von Niederlassungen im Mississipibecken (Louisiana), im Indischen Ozean (Ile Bourbon = La Réunion), in Indien (Pondichéry) und in Afrika (Senegal).

1688        Mit dem englisch-spanischen Seekrieg und der Vernichtung der spanischen Flotte (der "Armada") vor England endet die Rolle Spaniens als expansiver Kolonialmacht und beginnt die koloniale Rivalität zwischen England und Frankreich, die bis gegen Ende des 19. Jh. andauern wird.

1756-63        Siebenjähriger Krieg zwischen Preußen/England und Österreich/Frankreich. England nutzt das Gebundensein Frankreichs auf dem Kriegsschauplatz Deutschland und erobert die französischen Kolonien in Kanada und Indien. Frankreich behält nur Louisiana (mit New Orleans) und die Antilleninseln.

1791        Erster Versuch der Selbstbefreiung einer Kolonie: Sklavenaufstand auf der Antilleninsel Saint-Domingue (heute Haïti). Zur Revolutionszeit (1789-1799) und zur Zeit Napoleons (1799-1815), wo die Franzosen mit sich selbst sowie mit Kriegen in Mitteleuropa beschäftigt sind, verliert Frankreich weitere Kolonien und muss nach 1815 neu beginnen.

1829        Gründung eines Kolonialministeriums

1830        Eroberung von Algier. Bis 1860 wird die französische Herrschaft über das ganze jetzige Algerien ausgedehnt. Hierbei kommen von den 1830 ca. 2,5 Mio. "Eingeborenen" (Arabophone und Berberophone) etwa 2 Mio. um, teils durch Gewalt, teils durch von den Franzosen eingeschleppte Krankheiten. Algerien, das ab 1848 verfassungsmäßig sogar französisches Staatsgebiet ist, wird die einzige französische Kolonie mit einer nennenswerten europäischen Einwanderung (Franzosen, aber auch viele Spanier, Italiener und Malteser).

1840        Ein Teile Madagaskars beherrschender König schließt ein Bündnis mit Frankreich und dehnt mit französischer Unterstützung seine Herrschaft über die ganze Insel aus. Diese wird später (1885) zum Protektorat und 1895 zur Kolonie erklärt.

1848        Mit der neuen Verfassung der Zweiten Republik wird die Sklaverei (esclavage) in den Kolonien abgeschafft. Die auf den Antilleninseln lebenden, einst aus Westafrika importierten Neger, aber auch die "Eingeborenen" (indigènes) der neu hinzukommenden Kolonien werden jedoch nur als Menschen zweiter Klasse und als naturgegebenes Reservoir billiger, praktisch rechtloser Arbeitskräfte betrachtet.

1853        Annexion der Pazifik-Insel Tahiti. Konfrontation mit England, das in derselben Region als Kolonialmacht aktiv ist. Frankreich, dessen Flotte der englischen unterlegen ist, muss zurückstecken und sich mit England arrangieren.

1859        Die verstreuten westafrikanischen Niederlassungen werden zu einem einheitlichen Kolonialgebiet zusammengefaßt. Der größte Teil Westafrikas ist damit französisch.

1864        Niederlassung auf der südpazifischen Insel Neu-Kaledonien.

1867        Französisches Protektorat über Kambodscha, Laos und Vietnam (La Cochinchine = Indochina). Versuche eines französischen Eindringens auch nach China scheitern.

1870        Niederlage Frankreichs gegen Preußen/Deutschland. Nach der Überwindung des Schocks vermehrt Frankreich seine kolonialen Aktivitäten. Es versucht zugleich, die vorhandenen Kolonien zu erweitern und zu verküpfen, besser zu durchdringen und intensiver auszubeuten.

1881        Tunesien wird französisches Protektorat.

1884/85        Konferenz von Berlin. Versuch eines Interessenausgleichs zwischen den alten Kolonialmächten England und Frankreich sowie der neuen Kolonialmacht Deutschland, das auch "einen Platz an der Sonne" verlangt.

1898        Neue Konfrontation England-Frankreich bei der Stadt Fachoda im Sudan, wo aus Zentralafrika kommende französische Truppen mit nilaufwärts von Norden kommenden englischen Truppen zusammenstoßen. Frankreich zieht sich einmal mehr zurück. Danach aber erfolgt eine endgültige Absteckung der englisch-französischen Kolonialgrenzen in Afrika und auch anderswo. Beginn einer De facto-Allianz, der "Entente cordiale", gegen das unzufriedene Deutschland.

1912        Trotz des massiven Widerstands Deutschlands, das selber Interessen dort hat und drohend Kriegsschiffe auffahren lässt, wird Marokko als Protektorat annektiert.

1918        Ende des Ersten Weltkriegs. Frankreich übernimmt von Deutschland die Kolonien Kamerun und Togo in Westafrika und von der Türkei Syrien (einschließlich Libanon). Das Empire Français erreicht seine größte Ausdehnung.

1930        Kolonialausstellung in Paris. Frankreich scheint auf dem Höhepunkt seiner Expansion und seiner Macht.

1936        Ein Gesetz, das wenigstens den akkulturierten autochthonen Eliten in Algerien französische Bürgerrechte gewähren soll, scheitert in der Nationalversammlung. Offenbar ist für die große Mehrheit der Franzosen die Vorstellung einer Gewährung der Bürgerrechte an "Eingeborene" unvorstellbar. Dennoch beginnen überall in den Kolonien Ideen von Freiheit und Selbständigkeit gegenüber den weißen Herrschern Verbreitung zu finden. Beschleunigend wirkt hierbei die von Moskau ferngesteuerte antiimperialistische und antikapitalistische Propaganda der französischen Kommunisten.

1940        Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Deutschland. Etablierung des Etat Français (des sog. Vichy-Regimes) unter Marschall Pétain in Frankreich und einer Exilregierung (der sog. France libre) unter General de Gaulle in London. Der größte Teil des Empire bleibt zunächst Pétain treu, in Westafrika wird 1940 ein Angriff von De Gaulle-Truppen von Vichy-Truppen zurückgeschlagen, 1941 in Syrien behalten die de Gaulle-Truppen die Oberhand. Dank der englischen Seeherrschaft schafft es de Gaulle nach und nach, zahlreiche Kolonien, d. h. den jeweiligen Verwaltungsapparat und die Kolonialtruppen hinter sich zu bringen. Indochina wird nach dem Eintritt Japans in den Weltkrieg (1941) praktisch von Japan kontrolliert, Anfang 1945 sogar kurzfristig erobert.

1945        Rückzug der Japaner nach ihrer Niederlage gegen die USA. Frankreich, das dank der Hartnäckigkeit des neuen Regierungschefs de Gaulle einen Platz am Tisch der Siegermächte erhalten hat, hat dennoch große Mühe, die Kontrolle über Indochina zurückzugewinnen. Probleme macht insbesondere Vietnam, wo sich unter dem Kommunistenführer Ho Chi-Minh eine gut organisierte, bald von der UdSSR und China unterstützte Befreiungsbewegung gebildet hat.

1946        Umbenennung des Empire Français in Union Française. Frankreich macht zumindest verbale Konzessionen an seine Kolonialvölker. Die Verhandlungen mit Ho Chi- Minh über mehr Freiheit und Bürgerrechte allerdings scheitern, es beginnt "la sale guerre" in Vietnam. Dieser Krieg wird zwar nur von der Kolonialarmee geführt, kostet aber immenses Geld (das für den Wiederaufbau Frankreichs selber fehlt) und trägt so zu einer permanenten Destabilisierung des politischen Lebens in der eben gegründeten Vierten Republik bei. Immer mehr Franzosen erscheint das Halten der fernen ostasiatischen Kolonie als sinnlos, andere wollen den Sieg um jeden Preis.

1947        In Madagaskar und in Algerien brechen "nationalistische" Unruhen aus. Bald darauf entwickeln sich auch ständig zunehmende Unruhen in den offiziell ja selbständigen Protektoraten Tunesien und Marokko. Frankreich taktiert hier mit allen politischen Mitteln, scheut aber auch nicht vor polizeilicher und militärischer Repression zurück.

1954        Der neuen Regierung unter Pierre Mendès-France gelingt es, durch eine Teilung Vietnams den Krieg dort zumindest für Frankreich zu beenden; die meisten Franzosen atmen auf, andere allerdings schmähen Mendès-France als "bradeur d'Empire" (Reichsverschleuderer), zumal er auch Laos und Kambodscha in die formale Unabhängigkeit entläßt. Im Herbst verspricht Mendès-France Marokko und Tunesien zumindest die innere Unabhängigkeit. Am 1. November beginnt mit einer Serie von Terroranschlägen der Befreiungskampf des algerischen Front National de Libération, der rasch bürgerkriegsähnliche Formen annimmt.

1955        Bei den Wahlen im Januar hat die extreme Rechte unter Pierre Poujade enormen Zulauf (12,5 % der Stimmen). Die Regierung wird jedoch von den Sozialisten unter Guy Mollet und den Radicaux unter Mendès-France (mit Unterstützung der Kommunisten) gebildet. Mollet verspricht Frieden durch Verhandlungen in Algerien und entläßt Marokko und Tunesien in die staatliche Unabhängigkeit. Im Frühjahr wird ein Rahmengesetz zur Einführung innerer Unabhängigkeit in den Kolonien beschlossen. Im Sommer aber radikalisiert sich die Situation in Algerien, wo die Regierung Mollet die Polizei verstärkt und Truppen einsetzt. Anfang November startet ein französisch-englischer Versuch einer Rückeroberung des Suezkanals, den Ägypten (unter Entschädigung der englisch-französischen Kanalgesellschaft) im Frühjahr verstaatlicht hatte. Nach wenigen Tagen erfolgt ein kläglicher Rückzug aufgrund des heftigen Drucks, den sowohl die USA als auch die UdSSR auf England und Frankreich ausüben, deren Rolle als Großmächte für alle Welt erkennbar nunmehr ausgespielt ist. Frankreich konzentriert sich jetzt auf Algerien, das ja de jure als Teil des Mutterlandes selber gilt. 500.000 französische Soldaten führen im Winter 56/57 die sog. "bataille d'Alger", während der Jagd auf alles Verdächtige gemacht wird, Einsperrungen, Folterungen und Erschießungen an der Tagesordnung sind. Der Freiheitskampf, der anfangs nur von einer aktiven Minderheit geführt wurde, wird zunehmend von der Mehrheit der autochthonen Algerier mitgetragen.

1956        Die Ereignisse in Algerien polarisieren das politische Leben in Frankreich, die eigentlich linke, von Sozialisten und Radicaux gestellte Regierung Mollet ergreift repressive Maßnahmen gegen kritische Intellektuelle und andere "Defätisten", muß aber im Juni zurücktreten, da sie von einem Teil der eigenen Abgeordneten als zu autoritär, d. h. zu "rechts" betrachtet wird. Die öffentliche Meinung dagegen radikalisiert sich und fordert hartes Durchgreifen in Algerien und auch gegen die in Frankreich lebenden algerischen Arbeiter. Die noch verbliebenen Anhänger des Generals de Gaulle agitieren für seine Rückkehr an die Macht.

1958        Am 13. Mai verlangen die Generale der französischen Truppen in Algerien den Rücktritt der gerade eben neu gebildeten Regierung und die Übergabe der Macht an de Gaulle. Dieser wird in der Tat am 1. Juni vom Parlament zum Regierungschef gewählt und mit großen Vollmachten ausgestattet, darunter der zum Erarbeiten einer neuen Verfassung. Das Parlament vertagt sich auf unbestimmte Zeit; de Gaulle ist de facto Diktator, was naturgemäß viele Franzosen ängstigt, die ihn zwar als Retter des Vaterlandes im Zweiten Weltkrieg kennen, aber auch als Ex-Chef der weit rechts stehenden, kurzlebigen Partei Rassemblement du Peuple français (1947-53). De Gaulle erweist sich jedoch als passabler Demokrat. Er stellt am 28. September die neue Verfassung zur Abstimmung (80 % Ja-Stimmen) und wandelt die Union Française um in die den Kolonien mehr Rechte gewährende Communauté Française. Sein wieder enormes Prestige erlaubt es ihm sogar, die Leute, die ihn an die Macht geholt hatten, zu enttäuschen und in den nächsten Jahren die meisten Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen (décolonisation) sowie auch für Algerien nach neuen Wegen zu suchen.

1962        Nach Geheimverhandlungen mit dem Front National de Libération werden die Verträge von Evian geschlossen, aufgrund derer auch Algerien unabhängig wird. Fast die Gesamtheit der knapp 1 Mio. Algerienfranzosen verlassen in den nächsten Monaten ihre Heimat trotz der ihnen zugesicherten Besitzstandsgarantien und siedeln sich meist in Südfrankreich an. Frankreich ist nun, bis auf wenige Reste (die sog. DOM-TOM, d. h. Départements d'outre-mer und Territoires d'outre-mer), keine Kolonialmacht mehr, die Franzosen gewöhnen sich daran, ein europäisches Volk unter anderen zu sein. Allerdings ist der wirtschaftliche und auch der kulturelle Einfluß Frankreichs auf viele der ehemaligen Kolonien und Protektorate, zumal die afrikanischen, nach wie vor groß. Das Französische ist Verwaltungs-, Verkehrs- und Literatursprache, z. T. auch Muttersprache, in weiten Teilen West- und Äquatorialafrikas, es bleibt Verkehrssprache im ganzen Maghreb (Nordafrika). Umgekehrt zieht Frankreich viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien an, und zwar nicht nur ungelernte Arbeitskräfte, sondern auch Intellektuelle.