Gert
Pinkernell
Prof. em. an der Uni Wuppertal
Namen, Titel und Daten der französischen Literatur
Ein
chronologisches Repertorium wichtiger Autoren und Werke von 842 bis ca. 1960
3.
Ausgabe als elektronische Publikation der UB Wuppertal (2014)
Gewünschte
Autoren oder Werke (möglichst mit originalem Titel) bitte über die Suchfunktion
im Menü „Bearbeiten“ ansteuern!
Vorbemerkung
Die erste Version des Repertoriums
entstand um 1990 als Begleitskript zu einer Überblicksvorlesung. Es war eine
chronologische Liste von Namen, Titeln und Daten und erfasste, wie die
Vorlesung selbst, nur solche Autoren und Werke, die für die Entwicklung der
französischen Literatur als bedeutsam gelten und potenziell Gegenstand des
Literaturunterrichts französischer Gymnasiasten bzw. deutscher
Französischstudenten sind.
Im Lauf der Jahre hat sich aus der
bloßen Liste eine Sammlung von Artikeln entwickelt. 1998 habe ich sie ins
Internet gestellt und 2003 erstmals als elektronische Publikation der UB
Wuppertal veröffentlicht. Hiernach wurde sie Im Laufe der Jahre um Autoren der
zweiten Reihe vermehrt und vor allem korrigiert, erweitert und verbessert. Auch
wenn das so entstandene Repertorium nicht voll die Kriterien für ein
wissenschaftliches Werk erfüllt (z.B. fehlen Literurangaben und Fußnoten), so
denke ich doch, dass es ein nützliches und in mancher Hinsicht konkurrenzloses
Nachschlagewerk für eine erste Orientierung ist.
Grundlage meiner Artikel sind jeweils
mehrere, ganz überwiegend französischsprachige Quellen, u.a. die meistens
vorzüglichen Einführungen zu Pléiade-Klassikerbänden und zu Taschenbuchausgaben
renommierter Reihen. In erster Linie aber halte ich mich an die
Nachschlagewerke Dictionnaire des littératures
de langue française und Dictionnaire
des œuvres littéraires de langue française von Jean-Pierre de Beaumarchais,
Daniel Couty und Alain Rey (jeweils 4 Bde., Paris: Bordas, 1992 bzw. 1994). Als andere nicht zu verachtende Quelle
diente mir die an französischen Schulen jahrzehntelang benutzte
Literaturgeschichte von André Lagarde und Laurent Michard (6 Bde., Paris 1965
ff.). Auch den Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur von
Erich Köhler (8 Bde., Stuttgart 1983 ff.) verdanke ich viel. Daneben habe ich
natürlich auch das Wikipedia genutzt, wo ich selbst ab 2003 viele Artikel neu
eingestellt oder überarbeitet habe. Auf die Angabe weiterführender Literatur
verzichte ich vor allem deshalb, weil man sie leicht über das Wiki oder den Online-Katalog
der Bonner Uni-Bibliothek erschließen kann, die die Französistik als
Sondersammelgebiet pflegt. Immerhin mochte ich mich nicht enthalten, eigene
Studien anzuführen. Zudem gebe ich, wenn mir Werke aus meiner Lehre und
Forschung besonders vertraut sind, des öfteren eigene Deutungshinweise. Hier
und dort hänge ich auch eigene Studien in toto oder auszugsweise an einzelne
Artikel an.
Ein literarisches Werk ist für die
Leute vom Fach vor allem ein Element innerhalb eines Beziehungsgeflechts von
Werken vor, neben und nach ihm, d.h. Werken, die seinem Autor bekannt waren und
ihm als Vor- oder Gegenbild dienten, und Werken, auf die es seinerseits gewirkt
hat, weil deren Autoren es lasen. Für Nichtfachleute, was ja auch Studenten
noch sind, ist diese „intertextuelle“ Sicht mangels breiteren
literarhistorischen Wissens nur theoretisch nachvollziehbar. Für sie ist ein
Werk vor allem ein Einzelphänomen, nämlich die punktuelle Reaktion des Autors
auf eine bestimmte, oft problematische Situation in seinem Leben und seinem
konkreten historischen Umfeld. Entsprechend finden sie Zugang zum Werk am
ehesten über die Biografie des Autors, die meistens ja auch historisches und
literarhistorisches Wissen vermittelt. Eben diese laiengemäße biografistische
Sicht soll das Markenzeichen meines Repertoriums sein, zumindest ab dem späten
Mittelalter, wo die biografischen Informationen reichlicher sind. Die einzelnen
Artikel könnten also Autor XY: Leben und Schaffen überschrieben sein,
weil sie bemüht sind, Biografie und Werke im Verbund zu sehen. Dass mein
Biographismus nicht dem derzeitigen literaturwissenschaftlichen Mainstream
entspricht, soll mich nicht stören. Den Titel eines „Neopositivisten“, den mir
ein amerikanischer Kollege in einem anderen Kontext scherzhaft zuerkannt hat,
trage ich gern.
P.S. 1: Überflüssig zu sagen, dass mit
„Autor“ auch Autorinnen gemeint sind. Ich habe es mit „AutorIn“ versucht, fand
dies aber wegen der vielen dann nötigen „der/die“, „sein/ihr“ usw. zu
schwerfällig.
P.S.: 2: Da ich annehme, dass die
meisten Benutzer meines Repertoriums zumindest rudimentäre Französisch- und
Frankreichkenntnisse haben, nenne ich Institutionen und historische Figuren mit
ihren französischen Namen und führe ich Werktitel im Original an. Wenn es
hierzu gängige deutsche Versionen gibt, füge ich sie häufig in Schrägdruck
hinzu, z.B. La Chanson de Roland / Rolandslied; eigene, möglichst
wortgetreue Übersetzungen von Titeln setze ich in Klammern, z.B. Le Livre du trésor (= das Buch vom Schatz).
Zur
Vorgeschichte der französischen Literatur
Bevor wir uns mit
dem Beginn der französischen Literatur beschäftigen, gehen wir erst einmal
zurück zu dem, was davor war. Und da wiederum springen wir zurück zum Ende der
Antike, d. h. zum Untergang des westlichen, lateinisch sprechenden
Teilstücks des Römischen Reiches. Denn das östliche, griechisch sprechende
Teilreich mit der Hauptstadt Byzanz oder Konstantinopel (dem heutigen Istanbul)
hat sich ja noch viele Jahrhunderte relativ stabil gehalten und ist endgültig
erst 1453 unter dem Ansturm der Türken gefallen.
Doch warum eigentlich ist das
weströmische Reich mit dem Zentrum Rom "untergegangen", wie man so
sagt? Hierzu sind im Laufe der Jahrhunderte zahllose Hypothesen aufgestellt
worden. Früher wurden meist geistige oder moralische Ursachen vermutet. So
meinte man, die alten Römertugenden wie Bürgersinn, Opferbereitschaft,
Disziplin, Mäßigkeit usw. seien verlorengegangen, die Römer seien dekadent
geworden, verweichlicht und kraftlos. Heute sucht man eher nach materiellen
Faktoren, und da kommt natürlich schnell eine Vermutung zur anderen. Darunter
sind zum Teil sehr skurrile, z. B. die Vermutung, die spätrömische
Herrschaftselite habe wegen der schönen bleiernen Wasserleitungen in ihren
Villen und Palästen unter chronischer Bleivergiftung gelitten und hätte deshalb
keine Energie mehr zum Regieren oder gar zum Erobern gehabt.
Aber
selbstverständlich gibt es auch plausiblere Vermutungen über die Ursachen. Die
wichtigste darunter ist die, dass irgendwann das gesamtrömische Reich als Organisationsstruktur
an seine Kommunikationsgrenzen gestoßen ist, nachdem im Westen mit dem
Atlantik, im Süden mit der menschenleeren Sahara und im Norden mit den fast
menschenleeren mitteleuropäischen Wald- und Sumpfgebieten die geographischen
Grenzen einer lohnenden Ausdehnung ohnehin schon lange erreicht worden waren.
D. h. der für weitere Eroberungen einzig interessante mittlere Orient, also
grosso modo der jetzige Irak, Iran und Pakistan rückte für die Hauptstadt Rom
in so weite Fernen, dass die Kommunikation dahin fast unmöglich wurde. Und
Gebiete, von denen man praktisch keine Nachrichten mehr erhält, sind zwar
vielleicht noch zu erobern, aber anschließend kaum mehr zu beherrschen und zu
verwalten. Um 330 reagierte Kaiser Konstantin auf diese Situation, indem er die
Befehlszentrale des Reiches weiter nach Osten verlegte, eben nach
Konstantinopel, das heutige Istanbul. Dies war für Rom der Anfang vom Ende.
Zwar wurde Rom bei der anschließenden Zweiteilung des Gesamtreichs zumindest
wieder Teilhauptstadt, aber eben nur für das in mehr oder weniger feste Grenzen
eingezwängte Westreich. Das jedoch war insofern tödlich, als jahrhundertelang
die Wirtschaft in und um die Millionenstadt Rom auf Sklavenarbeit beruht hatte,
d. h. auf ständig neu in Eroberungskriegen gefangenen und nach Rom geschafften
Arbeitskräften. Als dieser Sklavennachschub ausblieb, weil das Westreich ja
kaum mehr Eroberungskriege führte, ging es mit der Wirtschaftskraft der Stadt
und Mittelitaliens bergab. Der Mangel an billigen Arbeitskräften und die
nachlassende Wirtschaftskraft waren Ursache dafür, dass die Entwässerungskanäle
in der Tiber-Ebene und in anderen italienischen Küstenebenen nicht mehr
instandgehalten werden konnten und Malaria sich ausbreitete (die möglicherweise
samt der Anopheles-Mücke von Afrika her eingeschleppt worden war). Die Malaria
und vielleicht auch noch andere Seuchen entvölkerten Rom, und dies
desorganisierte die Wirtschaft weiter. So entstand ein circulus vitiosus, der
Rom in drei, vier Generationen von einer Millionenstadt zur Mittelstadt
absinken ließ, die in Konkurrenz zu anderen Mittelstädten und bisherigen
Unterzentren geriet und kein Hauptstadtgewicht mehr besaß.
Ohne
funktionierendes Oberzentrum aber zerbröckelt ein so großer Staat, wie das
Weströmische Reich es trotz der Teilung immer noch war, sehr leicht. Die
Provinzen verselbständigen sich, und wenn dann noch Einwirkungen von außen
dazukommen, ist es mit der staatlichen Einheit vorbei. Diese Einwirkungen aber
bestanden seit langem in Form der germanischen Völkerwanderungen. Seit
Jahrhunderten waren die Regierenden in Rom gewöhnt, von den nördlichen Grenzen
Nachricht zu erhalten vom Einbruch kleinerer oder größerer Völkerscharen. Diese
wurden aber jeweils entweder besiegt und dabei teils erschlagen, teils versklavt,
oder aber sie wurden im Grenzgebiet innerhalb der Reichsgrenzen angesiedelt und
integriert. Im vierten und fünften Jahrhundert, d. h. mit zunehmender
Desorganisation der römischen Zentralgewalt, funktionierte dieses System immer
schlechter. Die Wacht an den Grenzen brach nach und nach zusammen, und so
konnten die heranströmenden germanischen Wandervölker immer leichter auf dem
Boden des römischen Reiches kleinere und größere unabhängige Herrschaftsgebiete
etablieren, z. B. die Reiche der Westgoten, der Burgunder und vor allem
der Franken. Hierbei bildeten sie in der Regel aber nur eine Oberschicht von
Kriegern und Großgrundbesitzern und übernahmen von der unterworfenen
Bevölkerung meist nicht nur deren Sprache und die christliche Religion, sondern
auch Strukturen der vorhandenen Verwaltung bzw. der noch vorhandenen Reste
davon, d. h. sie übernahmen vor allem die Verwaltung der katholischen
Kirche, denn diese besaß die letzte auf Unterzentren, nämlich die
Provinzhauptstädte als Bischofssitze, bezogene funktionierende Organisation
(wobei die Beziehungen dieser Unterzentren zum alten Oberzentrum Rom eher nur
noch ideologisch waren und kaum mehr administrativ).
Mit der
Zersplitterung des römischen Reiches in einzelne Regionen verfielen nach und
nach auch die überregionalen Straßen, und mit ihnen der überregionale
Wirtschaftsaustausch. Damit aber verfielen alle in eine überregionale
Arbeitsteilung eingebundenen Wirtschaftszweige wie Handel, Verkehr und
industrielles Gewerbe. Hierdurch verarmten die Städte als Wirtschaftszentren
und leerten sich. Ein drastisches Beispiel ist hier Arles in Südfrankreich. In
seinen besten antiken Zeiten war es eine große Stadt mit einem großen
Amphitheater. In seinen schlechtesten frühmittelalterlichen Zeiten war es eine
Ministadt im Amphitheater, mit nichts drumherum außer zugewucherten Ruinen,
darunter den Resten eines riesigen großstädtischen Friedhofs, dessen Größe man
sich nicht mehr erklären konnte und den man für eine Geisterstadt hielt.
Die Gesellschaft
des ehemaligen römischen Reiches bzw. der ihm nachfolgenden Herrschaftsgebiete
wandelte sich also von einer städtisch geprägten, arbeitsteiligen Gesellschaft
zu einer ländlich-dörflichen Gesellschaft mit "Subsistenzwirtschaft",
d. h. einer fast nur für den Eigenbedarf der Familien produzierenden
Wirtschaft praktisch ohne Arbeitsteilung. Solche ländlichen Gesellschaften aber
sind meist weder wirtschaftlich in der Lage, noch vom Selbstverständnis ihrer
Mitglieder her bereit, Individuen freizusetzen für so spezialisierte und dazu
nichtproduktive Tätigkeiten, wie es kulturelles Schaffen ist. Mit anderen
Worten, die Entstehung von Kunstwerken und somit auch von literarischen Werken
ging mit dem Niedergang der Städte stark zurück, weil künstlerisch begabte
Individuen kaum noch die Möglichkeit hatten, ihr Talent auszubilden und zu
betätigen.
Ein weiteres Moment, das speziell
für die Literatur zunehmend zur Schwierigkeit wurde, war die wachsende
sprachliche Zersplitterung. Spätestens um 300 n. Chr. war das Lateinische im
Westteil des römischen Reiches für den größten Teil der Einwohner von einer
Verkehrssprache zur Muttersprache geworden. Dieses Latein war natürlich nicht
das ausgefeilte und komplizierte Latein, wie man es von Caesar oder Cicero
kennt, sondern stand dazu etwa im selben Verhältnis wie unsere heutige deutsche
Sprechsprache zur Literatursprache von Schiller und Goethe. Auch war dieses
Latein sicher nie überall einheitlich, sondern regional gefärbt, ähnlich wie
heute das Englische in Amerika, Australien, Indien, Jamaica oder Kanada nicht
ganz dasselbe ist. Aber immerhin konnte sich jemand aus dem heutigen Portugal
mit jemand aus dem heutigen Rumänien, Tunesien oder Süd-England fast problemlos
verständigen; und die Schriftsprache war mehr oder weniger dieselbe für alle Alphabetisierten.
Mit dem Nachlassen des überregionalen Austauschs aber entwickelten sich die
Regionen auch sprachlich mehr und mehr auseinander, die verschiedenen
romanischen Sprachen und ihre Dialekte begannen sich herauszubilden. Das alte
Lateinische existierte zwar als Schriftsprache und überregionale
Verkehrssprache weiter, wurde aber schließlich nur noch von wenigen Gebildeten
verwendet, den Klerikern, für die es mehr und mehr zu einer Fremdsprache wurde,
die man von Grund auf lernen musste. Diese beiden Phänomene: einerseits die
sprachliche Zersplitterung und das daraus resultierende Bewusstsein
potentieller Autoren, dass das, was man in der eigenen Sprache verfasste, schon
in der Nachbarregion kaum mehr verstanden wurde, und andererseits die psychologische
Barriere von Autoren und Publikum zur Fremdsprache Latein waren sicher kein
Stimulans für literarisches Schaffen, selbst wenn alle anderen Vorbedingungen
gegeben gewesen wären.
Immerhin ging mit
dem Niedergang der Städte und ihrer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht gleich
alle Kultur verloren. Ein gewisses beständiges Element in der allgemeinen
Auflösung bildete die katholische Kirche. Da, wie erwähnt, ihre
Verwaltungsstrukturen zumindestens zum Teil erhalten blieben, war sie die
einzige Institution, die in der nunmehr ländlich strukturierten Gesellschaft
ausreichend Mehrwert abschöpfen konnte, um zumindest für den Eigenbedarf ein
Minimum an kultureller Aktivität aufrechtzuerhalten, vor allem im Kunsthandwerk
oder in der Architektur, aber auch in der geistlichen Musik und Literatur. Die
Kirche war auch, dank ihrer bestehen gebliebenen ideologischen Ausrichtung auf
den Papst in Rom als gemeinsames geistliches Oberhaupt, die einzige
Institution, die das Weiterbestehen einer gewissen kulturellen und geistigen
Einheit der ehemaligen weströmischen Reichsgebiete gewährleisten konnte und die
vor allem Interesse hatte an der Pflege der lateinischen Sprache als eines
einheitlichen Kommunikationsmittels.
Beides aber, die
Konzentration der noch möglichen kulturellen Aktivitäten im kirchlichen Bereich
und das hier gegebene Vorherrschen der lateinischen Sprache, führte dazu, dass
intellektuell anspruchsvollere Literatur, wenn sie entstand, erstens im Rahmen
der Kirche entstand und für eine Rezeption innerhalb der Kirche bestimmt war
und dass sie zweitens als Medium meist nicht die Volkssprachen benutzte,
sondern das Lateinische. Hierdurch aber ist die Literaturgeschichte des frühen
Mittelalters im (katholisch-)christlichen Europa bis gegen 1100 fast ganz und
gar eine Geschichte lateinisch verfasster und religiös inspirierter Texte,
neben die erst nach und nach auch anspruchsvollere volkssprachliche Texte
traten, und erst noch später Texte, die weltliche Themen behandelten.
Eine weitere,
sozusagen technische Schwierigkeit, mit der alle Versuche zu kämpfen hatten,
nichtlateinische Texte zu konzipieren und vor allem, sie dann schriftlich zu
fixieren, war das Nichtvorhandensein volkssprachlicher Schriftsprachen, und
zwar im primitivsten Sinne des Wortes. Alle Leute, die überhaupt lesen und
schreiben lernten – und das waren wenig genug – lernten dies an lateinischen
Wörtern und Sätzen. Damit aber waren sie keineswegs auch fähig, die
Sprechsprache zu verschriften, die sie benutzten und um sich herum hörten. Mit
anderen Worten: die wenigen in den Volkssprachen konzipierten literarischen
Texte wurden in der Regel von den Autoren im Gedächtnis ausgearbeitet und
mündlich vorgetragen. Wenn die Texte gefielen, wurden sie von diesem oder jenem
Zuhörer auswendig gelernt und weitergegeben. Mündlich tradierte Texte aber
gehen irgendwann verloren, d. h. sie verschwinden quasi spurlos früher
oder später. Und so kennen wir heute bestenfalls einen winzigen Bruchteil
dessen, was im frühen Mittelalter vielleicht an volkssprachlicher Literatur
existiert hat.
Das, was wir
kennen, kennen wir entweder, weil es zufällig doch, und meist mehr schlecht als
recht, aufzuschreiben versucht wurde und weil es ebenso zufällig und meist
bruchstückhaft mit dem Blatt oder auch nur Fetzen Pergament oder Papier, auf dem
es stand, erhalten geblieben ist. Oder wir kennen es indirekt, weil hin und
wieder ein volkssprachlicher Text in eine lateinische Version umgearbeitet und
aufgezeichnet wurde. Oder wir kennen es noch indirekter, weil im kirchlichen
Schrifttum Reflexe davon zu finden sind, wie z. B. das berühmte Verbot an
(süddeutsche) Nonnen, „winileodes vel scribere, vel mittere“, also Liebeslieder
zu verfassen oder zu verschicken.
Aber welcher Art
war jene volkssprachliche Literatur? Grundsätzlich wird man vermuten müssen,
dass die Texte eher kurz als lang waren, wie es überall auf dieser Welt in
Gesellschaften von Analphabeten der Fall ist. Denn selbst ein gut trainiertes
Gedächtnis setzt der Länge von mündlich vorzutragenden Texten Grenzen.
D. h. ein Großteil jener Texte werden Lieder gewesen sein: Tanzlieder,
Liebeslieder, Kinderlieder, Trinklieder und andere Geselligkeitslieder, dazu
gereimte Sprüche, also Zaubersprüche, Lebensweisheiten oder Ähnliches, grosso
modo also das, was im weitesten Sinne unter Lyrik zu verstehen ist. Ein anderes
Genus waren Helden- und Familiensagen oder Heiligenlegenden, die meistens
ebenfalls in irgendeiner Weise in Versform verfasst waren, damit man sie besser
auswendig lernen und behalten konnte.
Im Bereich
der Lieder aller Art und der Heldensagen gab es sicher auch die ersten Profis,
die sog. Spielleute, d. h. Leute, die Texte im Hinblick auf den Vortrag
vor einem größeren Zuhörerkreis verfassten oder sich aneigneten und die ganz
oder teilweise von Geschenken ihres Publikums lebten. Dabei mussten sie dann
allerdings von Dorf zu Dorf und von Burg zu Burg wandern, da jahrhundertelang
an keinem Ort ein ausreichend großes Publikum vorhanden war, das einen solchen
Spezialisten auf Dauer hätte ernähren können und wollen.
Aber damit sind wir
schon etwa in dem Zeitraum, aus dem die ältesten erhaltenen Texte der
französischen Literatur stammen, die ich nun vorstellen will.
Mittelalter
Les Serments de Strasbourg /
Straßburger Eide
(842)
Sie sind zwar keine Literatur, doch beginnen
Literaturgeschichten häufig mit ihnen, weil der franz. Wortlaut dieser auf
Altfranzösisch und Althochdeutsch abgelegten Eide der älteste erhaltene Text in
franz. Sprache ist. (Althochdeutsche Texte sind noch einige ältere erhalten).
Die Eide sind überliefert als Zitate in der lateinischen Chronik Historiarum
libri IV des Mönches Nithard (9. Jh.), die ihrerseits in einer Abschrift
aus dem 10. Jh. vorliegt.
Sie wurden geschworen von dem
ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen und dem westfränkischen König Karl
dem Kahlen sowie ihren Unterführern, und zwar beim Abschluss eines Bündnisses
dieser beiden Halbbrüder gegen ihren ältesten Bruder, Kaiser Lothar. Dieser
nämlich gab sich nach dem Tod ihres Vaters, Kaiser Ludwigs des Frommen († 840),
und der von ihm verfügten Dreiteilung des Frankenreichs nicht mit dem
Mittelteil zufrieden, der ihm zugefallen war. Vielmehr beanspruchte er, da er
als Ältester auch die Kaiserwürde geerbt hatte, die Oberhoheit über das gesamte
Reich (also grosso modo das Gebiet des jetzigen Frankreichs, der
Benelux-Staaten, der alten Bundesrepublik plus Thüringen, der Schweiz,
Westösterreichs sowie Nord- und Mittelitaliens).
Bei ihrem Treffen in Straßburg schworen
zunächst die offenbar zweisprachigen beiden Könige, und zwar Ludwig der
Deutsche, damit er zugleich auch von Karls Unterführern verstanden wurde, in
„romana lingua“, dann Karl analog in „teudisca lingua“. Hiernach legten jeweils
die sichtlich nicht unbedingt zweisprachigen Unterführer den Eid ab, nämlich
die von Karl in ihrer französischen und die von Ludwig in ihrer deutschen
Sprache. Die beiden franz. Textpassagen lauten:
[Ludwig:] Pro deo amur et pro christian
poblo et nostro commun salvament, d'ist di in avant, in quant deus savir et
podir me dunat, si salvarei eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in
cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dift, in o quid il mi
altresi fazet, et ab Ludher nul plaid nunqua prindrai, qui meon vol cist meon
fradre Karlo in damno sit.
[Karls Unterführer:] Si Lodhuvigs
sagrament, que son fradre Karlo jurat, conservat, et Karlus meus sendra de sue
part lo franit, si returnar non l'int pois, ne io ne neuls, cui eo returnar int
pois, in nulla adhiuda contra Lodhuvig nun li iv er.
(In eigener, möglichst wortgetreuer
Übersetzung): Für Gottes Liebe und für des christlichen Volkes und unsere
gemeinsame Rettung, von diesem Tag vorwärts (=in Zukunft), in soweit Gott
Wissen und Können mir gibt, so werde beistehen ich diesem meinen Bruder Karl
sowohl in Hilfeleistung als auch in jeder Angelegenheit, so wie man von Rechts
wegen seinem Bruder beistehen soll, auf das dass er mir genauso tue; und mit
Lothar kein Abkommen werde ich niemals treffen, das meines Willens diesem
meinen Bruder Karl zum Schaden sei.
Falls Ludwig den Eid, den er seinem
Bruder Karl schwört, wahrt und Karl mein Herr seinerseits ihn bricht, wenn
abhalten nicht ihn davon ich kann, [dann] weder ich noch irgend jemand, den ich
davon abhalten kann, in irgendeiner Hilfeleistung gegen Ludwig nicht ihm dort
werde sein.
Wie man sieht, hatte (der im Auftrag
Karls des Kahlen arbeitende) Nithard bzw. der Schreiber des altfranz. Textes
Schwierigkeiten, die Sätze, die er gehört hatte, zu verschriftlichen, denn er
hatte, wie damals üblich, Lesen und Schreiben nur anhand lateinischer Texte
gelernt. So etwas wie eine eigene franz. Schriftsprache gab es noch nicht, denn
bis weit über das Jahr 1000 hinaus wurde alles, was für aufschreibenswert
gehalten wurde, von lateinkundigen Spezialisten, meist theologisch gebildeten
„Klerikern“, in Latein aufgeschrieben. (Dieses Latein, das sog. Kirchen- oder
Mittellatein, glich allerdings längst nicht mehr demjenigen, das um die
Zeitenwende herum im alten Rom gesprochen worden war und dessen literarisches
Register wir als klassisches Latein aus den Werken eines Cäsar, Cicero, Ovid,
Horaz oder Vergil kennen).
P.S.: Das damalige Frankenreich war in
sprachlicher Hinsicht sehr heterogen. Im Westteil wurden franz. und
okzitanische Dialekte gesprochen und im Ostteil nieder-, mittel- und oberdeutsche
Dialekte; das Mittelreich „Lotharingia“ (wovon sich die Bezeichnungen dt.
Lothringen und frz. Lorraine ableiten) umfasste zusätzlich auch noch
alpenromanisch- und italienischsprachige Gebiete.
La Cantilène de
Sainte Eulalie / Eulaliasequenz (ca. 885)
Es ist das älteste bekannte
literarische Werk in franz. Sprache. Es hat die Form einer „Sequenz“ (wie sie
bei Gottesdiensten per Sing-Sang vorgetragen wurden) und berichtet von der Hl.
Eulalia, einer jungen Adeligen, die am 10. Dez. 304 im heute spanischen Mérida
den Märtyrertod erlitten haben soll. Der wahrscheinlich in Nordostfrankreich
(vielleicht im Benediktinerkloster Saint-Amand-les-Eaux) entstandene Text
besteht aus 29 Versen unterschiedlicher Länge (8 bis 12 Silben), die paarweise
assonieren, d.h. nur mit den Vokalen und nicht auch mit den Konsonanten der
Reimsilben reimen. Er ist verfasst in Anlehnung an eine inhaltsgleiche
lateinische Sequenz und folgt auch auf diese in der Sammelhandschrift, die sie
beide überliefert. Die betreffende Handschrift, die u.a. auch einen
althochdeutschen Text enthält, wurde übrigens 1837 von A. H. Hoffmann von
Fallersleben wiederentdeckt und erstmals abgedruckt.
Die Eulaliasequenz
lässt, wie alle sehr frühen erhaltenen franz. Texte, deutlich die
Schwierigkeiten erkennen, die die sonst nur lateinisch schreibenden Autoren
oder Kopisten bei der Verschriftlichung volkssprachlicher Wörter und Sätze
hatten. Der Anfang lautet (mit möglichst wortgetreuer Übersetzung von mir):
Buona pulcella fu Eulalia, // Gute
Jungfrau war Eulalia,
bel auret corps, bellezour anima.// schön hatte sie [den] Körper, schöner
[die] Seele.
Voldrent la veintre li deo inimi,// [Es] wollten sie besiegen die Gottes
Feinde,
voldrent la faire diaule servir.// wollten sie machen dem Teufel dienen.
Elle non eskoltet les mals conseillers,// Sie nicht hört die bösen Ratgeber,
qu'elle deo raneiet chi maent sus en ciel, // dass sie Gott verleugnet, der
weilt oben im Himmel,
Ne por or, ned argent, ne paramenz, // nicht für Gold, noch Silber, noch
Schmuck,
por manatce regiel, ne preiement.// [noch] durch Drohung königliche, noch
Bitte.
Niule cose non la pouret omque pleier,// Keine Sache konnte sie nicht jemals
beugen
[...]
Tuit oram que por nos degnet preier// Alle beten wir, dass für uns [sie] geruht
zu bitten,
qued avuisset de nos Christus mercit// dass habe für uns Christus Gnade
post la mort e a lui nos laist venir// nach dem Tod und zu ihm uns lasse kommen
par souue clementia.// durch seine Milde.
Die Eulaliasequenz
ist eines der Zeugnisse dafür, dass spätestens ab 800 im franz. Sprachraum die
Laien auch das eher schlichte Kirchenlatein nicht mehr verstanden (weshalb 813
das Konzil von Tours beschloss, dass die Predigten nicht mehr in Latein,
sondern in „lingua romanica“ zu halten seien). Sie ist zugleich ein Zeugnis
dafür, dass das geistige und potenzielle literarische Leben nach wie vor von
den Bedürfnissen der Kirche bestimmt wurden, die ihrerseits die einzige
Institution war, die die materiellen und organisatorischen Möglichkeiten hatte,
um intellektuell und künstlerisch begabte Individuen von den Zwängen der
Alltagsarbeit freizustellen, zu fördern und zu unterhalten.
Vie de saint Léger
/ Leodegarlied (gegen 1000)
Es ist der älteste erzählende Text, der
in franz. Sprache erhalten ist. Es handelt sich um eine Vita (Kurzbiografie)
des Abtes von Saint-Maixent und späteren Bischofs von Autun sowie königlichen
Beraters Leodegar. Dieser war 678 bei einer der im damaligen Frankenreich
häufigen Thronfolgewirren von einem politischen Rivalen, Graf Ebroin, gefangen
genommen, gefoltert und schließlich ermordet worden und wurde nach seinem Tod,
aus sicherlich ebenfalls politischen Gründen, zum Märtyrer verklärt.
Das Leodegarlied
(so die traditionelle Bezeichnung in der dt. Romanistik) ist offenbar in
Nordostfrankreich entstanden und besteht aus 240 paarweise teils assonierenden,
teils auch schon korrekt reimenden achtsilbigen Versen, den ältesten Versen
dieses Typs, die in der franz. Literatur überliefert sind. Es ist ein Beispiel
der damals florierenden Gattung Heiligenlegende, die aber meistens, zumindest
wenn die Texte aufgeschrieben wurden, das Kirchenlatein als Sprache benutzte.
Der Anfang lautet (mit möglichst wortgetreuer Übersetzung von mir):
Domine deu devemps lauder// Herrn Gott sollen wir loben
et a sos sancz honor porter.// und seinen Heiligen Ehre darbringen.
In su amor cantomps dels sanz// In seiner Liebe singen wir von den Heiligen,
quae por lui augrent granz aanz; // die für ihn hatten große Qualen;
et or est temps et si est biens// und nun ist Zeit und so ist es gut,
quæ nos cantumps de sant Lethgier.// dass wir singen vom heiligen Leodegar.
Primos didrai vos dels honors// Zuerst werde ich euch sagen von den Ehren,
Quæ il awret ab duos seniors.// die
er hatte bei zwei [hohen] Herren.
Apres ditrai vos dels aanz// Danach werde ich euch sagen von den Qualen,
que li suos corps susting si granz,// die der seinige Körper [=er] aushielt so
große,
et Ewruins, cil deumentiz,// und [von] Ewruin, diesem Gottleugner,
que lui a grant torment occist.// der ihn mit großer Tortur umbrachte.
[...]
Vie de saint
Alexis / Alexiuslied (ca. 1050)
Diese Nachdichtung einer lateinisch
verfassten Heiligenlegende gilt als der erste erhaltene franz. Text, der über
seine religiösen Intentionen hinaus deutlichen künstlerischen Ehrgeiz aufweist.
In Form und Stil ist das Alexiuslied (wie das Werk in der dt. Romanistik
traditionell heißt) beeinflusst von der Gattung Heldenepos (chanson de
geste, s.u.), die zu seiner Entstehungszeit schon florierte. Es war offenbar
zum Vortrag per Sing-Sang bestimmt und besteht aus 125 Strophen von je 5
assonierenden 10-silbigen Versen mit Zäsur nach der 4. Silbe, den ältesten
Strophen und Versen dieses Typs, die aus der franz. Literatur bekannt sind. Die
erzählte Geschichte beruht vermutlich auf der einer realen Person vom Anfang
des 5. Jh.:
Alexius ist zu Beginn der „Handlung“
der lang ersehnte, spät geborene einzige Sohn römischer Adeliger, der sich vom
Vater in eine schöne Karriere einführen und standesgemäß verloben lassen hat,
aber seiner Braut am Vorabend der Hochzeit erklärt, dass er nicht heiraten,
sondern Gott dienen wolle. Hiernach verlässt er sie und die Eltern ohne
Abschied und wird über Zwischenstationen nach Edessa geführt (in der heutigen
südlichen Türkei, nahe der Grenze zu Syrien). Dort lebt er 17 Jahre lang als
frommer Asket von Almosen und gibt sich z.B. Bediensteten seiner Familie, die
auf der Suche nach ihm sind, nicht zu erkennen. Als man ihn in Edessa als
Heiligen zu verehren beginnt und eine himmlische Stimme seine Heiligkeit
bestätigt, entzieht er sich der Verehrung und geht erneut auf Wanderschaft, bis
er auf einem Schiff vom Sturm zurück nach Rom geführt wird. Dort bittet er auf
der Straße unerkannt seinen Vater, ihm aus Liebe zu seinem verschollenen Sohn
einen Platz unter der Treppe in seinem Haus zu gewähren. Hier verbringt er
nochmals 17 Jahre in Armut, ernährt sich von Küchenresten und lässt sich
demütig vom Hauspersonal schikanieren. Sterbend verfasst er ein Schriftstück,
dank dem er vom Papst im Beisein seiner Eltern, seiner Braut und des Kaisers
als der Sohn des Hauses und als heilige Person erkannt wird. Danach wird er mit
großem Pomp und starker Anteilnahme der Bevölkerung bestattet, was zeigt, dass
ihm ein Platz im Himmel sicher ist.
Die Alexius-Legende, die zu einer
bedingungslosen „imitatio Christi“ (Nachahmung Christus’) aufruft, kam
ursprünglich aus Syrien, war von dort nach Konstantinopel gelangt und aus dem Griechischen ins Lateinische
übertragen worden. Diese Version wurde in Mittelalter und früher Neuzeit
zur Grundlage für Nachdichtungen in
verschiedenen europäischen Sprachen, von denen die franz. die älteste ist.
Diese ist in fünf z.T. unvollständigen Abschriften aus dem 12. und 13. Jh.
erhalten und entstand vermutlich im Nordosten des franz. Sprachgebietes. Sie
ist jedoch überliefert in einer Sprache, die anglonormannisch gefärbt ist, d.h.
Elemente desjenigen franz. Dialekts enthält, den die normannischen Eroberer
1066 aus der Normandie nach England mitgenommen hatten und als herrschende
Schicht mehrere Generationen lang dort sprachen (bis er vom Angelsächsischen
aufgesogen wurde und mit ihm zum Englischen verschmolz).
Der Anfang des Alexius-Liedes
lautet (möglichst wörtlich übersetzt von mir):
Bons fut li siecles / al tems ancienour, // Gut war die Welt
zur Zeit der Alten,
quer feit i eret / e justise ed amour; // denn Treue dort war und Gerechtigkeit
und Liebe;
s'i eret creance, / dont ore n'i at nul prout; // ebenso dort war Vertrauen,
wovon es jetzt keinen Nutzen gibt;
toz est mudez, / perdut ad sa coulour:
// alles ist verwandelt, verloren hat es seine Farbe:
ja mais n'iert tel / cum fut as anceisours. // niemals wird es sein solches,
wie es den Vorfahren war.
Al tems Noe / ed al tems Abraam // Zur
Zeit Noahs und zur Zeit Abrahams
Ed al David, / cui Deus par amat tant,// und zur [Zeit] Davids, den Gott gar
liebte so sehr,
Bons fut li siecles; / ja mais n'iert si vaillanz; // gut war die Welt; niemals
wird [sie] sein so wacker;
Vielz est e frailes, / toz s'en vait declinant, // alt ist sie und gebrechlich,
alles ist am niedergehen,
Si'st empeiriez, / toz biens vait remanant. // und ist verschlimmert, alles
Gute ist am fortbleiben.
Puis icel tems / que deus nos vint salver, // Nach jener
Zeit, als Gott (=Christus) uns kam retten,
Nostre anceisour / ourent crestiantet, // [und] unsere Vorfahren bekamen
Christenglauben,
Si fust uns sire / de Rome la citet. // so war [da] ein Herr von Rom der Stadt.
Riches hom fut, / de grant nobilitet. // Reicher Mann war er, von großem Adel.
Pour ço'l vous di: / d'un suon fil vueil parler.// Für das (=deshalb) es euch sage ich:
von einem seinen Sohn will ich reden.
Der Text zeigt, dass zu seiner
Entstehungszeit sichtlich die Grundlagen einer franz. Schriftsprache und
zweifellos auch einer überregional verständlichen „Koiné“ (Verkehrssprache)
geschaffen waren. Diese Schriftsprache pflegte aber, wie oben angedeutet,
dialektal gefärbt zu sein, d.h. Elemente des Dialekts des jeweiligen Autors
oder auch Kopisten aufzuweisen.
Chansons de geste
Die Gattung der Chansons de geste (von
lat. gesta „Heldentaten“) zählt zu den ältesten erzählenden Gattungen
der franz. Literatur. Ihre Entstehung fällt in das 11. oder sogar schon 10.
Jh., doch ist ihre Blütezeit das 12. Jh.. Wie die Bezeichnung „chanson“ besagt,
waren die Texte nicht zur schriftlichen Verbreitung und damit zum Lesen oder
Vorlesen bestimmt, sondern zum freien Vortrag in einer Art Sing-Sang durch i.
d. R. professionelle reisende Spielleute, die sich selbst mit einem
(Saiten-)Instrument begleiteten oder aber begleiten ließen. Sie richteten sich
(anders als der etwas spätere Höfische Roman, s.u.) an ein nicht spezifiziertes
Publikum, d.h. an Hörer aus allen Bevölkerungsgruppen.
Formal bestehen die Chansons aus
beliebig vielen Strophen, sog. Laissen. Diese stellen meistens jeweils eine
Handlungssequenz oder Episode dar, die manchmal in der nachfolgenden Laisse
leicht abgewandelt wiederholt wird. Die Zahl der Verszeilen pro Laisse war
nicht festgelegt und schwankt zwischen ca. 5 und ca. 20. Die einzelnen
Verszeilen bestehen meistens aus zehn, seltener aus zwölf und ganz selten aus
acht Silben und sind innerhalb ihrer Laisse durch Assonanz miteinander
verbunden.
Die franz. Literaturgeschichte kennt
gut 80 im Schriftform erhaltene Chansons, davon etliche in mehreren
unterschiedlichen, z.B. als erweitert oder gekürzt erscheinenden Versionen. Die
meisten sind ohne Autornamen, d.h. anonym, überliefert und beruhen offenbar auf
älteren, lange Zeit hindurch nur mündlich tradierten Vorlagen oder Vorstufen.
Häufig ranken sie sich ähnlich wie Serienromane um ein und dieselbe
Heldenfigur. Schon Zeitgenossen begannen deshalb, sie in Gruppen einzuteillen,
z.B. den Königs- bzw. Karlszyklus um Kaiser Karl den Großen und seinen Sohn
Ludwig den Frommen oder den Wilhelmszyklus um den Heerführer Guillaume und/oder
dessen Neffen Vivien, die in 24 der erhaltenen Epen im Mittelpunkt stehen.
Inhaltlich geht es meistens um
siegreiche Kriegszüge der Frankenkönige bzw. ̶kaiser und/oder ihrer Heerführer, z.B.
Wilhelms, gegen die „Heiden“, d.h. die Araber bzw. „Mauren“, die seit ihrem
Einfall nach Europa im Jahr 711/12 Süd- und Mittelspanien beherrschten, ab ca.
1000 aber vom christlich gebliebenen Nordspanien her zurückgedrängt wurden.
Daneben werden auch die um 800 geführten Unterwerfungskriege der Franken gegen
die noch länger heidnisch gebliebenen Sachsen behandelt. Nach 1095 kam die
Thematik der Kreuzzüge hinzu, d.h. der Versuche mitteleuropäischer Ritterheere,
das seit 500 Jahren von Moslems beherrschte Jerusalem zu erobern und das
Heilige Grab unter christliche Herrschaft zu bringen.
Die Gattung der Chansons de geste, in
die auch Elemente der zeitgenössischen Heiligenlegenden eingeflossen sind,
scheint besonders in den Klöstern entlang der Pilgerstraßen durch Frankreich nach
Santiago de Compostela in Nordwest-Spanien gepflegt worden zu sein, als Mittel
zur Unterhaltung und Erbauung der dort jeweils übernachtenden Pilger. Die
Chansons kamen aber auch auf Jahrmärkten oder
Burgen zum Vortrag.
Die letzten Chansons entstanden im 13.
Jh.; die Stoffe und zentralen Figuren der Gattung dienten jedoch noch bis ins
15. Jh. hinein als literarisches Material.
Eine Anmerkung, übernommen aus dem
Wiki:
Anfang des 13. Jahrhunderts unterteilte
Bertran de Bar-sur-Aube in seinem Girart de Vienne die Chansons in
drei Zyklen:
1. den
Königszyklus (cycle de Charlemagne), zu dem z. B. das Rolandslied/ Chanson
de Roland (s.u.) zählt;
2. die
Aufrührer- und Empörerepen, wie z. B. Gormond et Isembart
3. den
Zyklus über die Familie von Garin de Monglane, zu der auch Guillaume d’Orange
gehört. Wichtigste Beispiele aus diesem Zyklus sind die Chanson de Guillaume
aus dem 12. Jahrhundert, Le Charroi de Nîmes und Aliscans.
Die moderne Literaturgeschichte
unterscheidet noch drei weitere Zyklen:
1. den
Kreuzzugszyklus (cycle de la croisade), mit Werken wie Le Chevalier au cygne
oder die Chanson d'Antioche
2. die
Lothringergeste (geste des Loherains), mit z. B. Garin le Loherain
3. die Nanteuilgeste (geste de
Nanteuil)
La Chanson de Roland / Rolandslied (ca. 1100)
Dieses Versepos umfasst 4002
assonierende Zehnsilber in 291 „Laissen“ (Strophen) und ist eines der ältesten
sowie das vielleicht beste, heute jedenfalls das bekannteste Werk der Gattung
„Chansons de geste“ (s.o.). Von den Romantikern wurde es in Frankreich zu einer
Art frühem Nationalepos stilisiert, und zwar wegen der Liebe, mit der es von
„la douce France“ spricht, und wegen der herausragenden Rolle, die es den
„Français de France“ in dem multi-ethnischen Heer Kaiser Karls des Großen
zuweist. Den Nationalisten und Militaristen des späteren 19. und frühen 20. Jh.
galten natürlich der Held Roland und seine Recken sowie die mächtige Figur
Karls des Großen als vorbildhaft.
Die historische Basis des Rolandsliedes
(wie es in der deutschen Romanistik heißt) ist offenbar ein Überfall
baskischer Krieger auf die von Markgraf Hruotland geführte Nachhut eines
fränkischen Heeres, das im Jahr 778 auf dem Rückzug aus Spanien den
Pyrenäen-Pass von Roncesvaux überquerte.
Das Werk wurde verfasst oder
aufgeschrieben, vielleicht aber auch nur diktiert und/oder öfter vorgetragen
von einem sonst nicht näher bekannten Turoldus, von dem es im Schlussvers nicht
genau deutbar heißt, er habe das Werk „dekliniert“ (Ci falt [=hier endet] la
geste que Turoldus declinet).
Erzählt wird die folgende Geschichte:
Kaiser Karl der Große hat in sieben
Jahren Krieg fast das ganze heidnische Spanien erobert bis auf Zaragosa, dessen
König Marsilie ihm nun Unterwerfung und Konversion zum Christentum anbietet —
beides aber nur zum Schein, um den Abzug des fränkischen Heeres zu erreichen.
Karl versammelt den Rat der Barone, in dem sein Schwiegersohn Ganelon rät, das
Angebot anzunehmen, während sein Neffe Roland, der zugleich ungeliebter
Stiefsohn Ganelons ist, den Kampf fortsetzen will. Karl, der schon alt und
kriegsmüde ist, schließt sich Ganelon an, worauf Roland mit verletzender Ironie
diesen als Sendboten vorschlägt. Der beleidigte Ganelon sinnt auf Rache. Er
begibt sich zu König Marsilie, dem er Roland als einen Kriegstreiber darstellt,
ohne dessen Beseitigung es keinen Frieden geben werde. Marsilie soll deshalb
mit einer Übermacht die Nachhut des abziehenden fränkischen Heeres überfallen;
Ganelon will dafür sorgen, dass Roland ihr Befehlshaber ist. Alles geschieht
wie geplant. Als Roland mit seinen zwölf befreundeten Recken als Unterführern
den Hinterhalt bemerkt, wird er von seinem besonnenen Freund und Schwager in
spe Olivier gedrängt, mit dem Signalhorn Olifant das fränkische Heer zu Hilfe
zu rufen, doch stolz lehnt er ab. Erst als nach verlustreicher Abwehr der
ersten Angriffswelle die Lage aussichtslos ist, bläst er auf Rat des
streitbaren Bischofs Turpin das Horn. Nach der zweiten Welle (deren heldenhafte
Kämpfe wiederum liebevoll-ausführlich dargestellt werden) ist nur noch Roland
übrig. Nachdem auch er durch einen Hagel von Speeren und Pfeilen tödlich
verletzt ist, fliehen die Heiden, weil sie Karls Heer zu hören glauben. Roland
stirbt auf dem Schlachtfeld in der Pose des Siegers, der Erzengel Gabriel und
zwei weitere Engel geleiten seine Seele ins Paradies. Karl, der in der Tat
herbeigeeilt ist, verfolgt nun und vernichtet die Heiden, deren Reste mit dem
schwer verwundeten König Marsilie nach Saragosa flüchten. Dort trifft gerade
ein riesiges Heidenheer ein, geführt von „Admiral“ Baligant von „Babylonien“,
den Marsilie schon vor Jahren um Beistand gebeten hatte. Doch auch dieses Heer
vernichtet Karl, nicht ohne dass er selbst, der trotz seines Alters noch rüstig
ist, im Schlachtgetümmel auf Baligant trifft und ihn in langem Zweikampf mit Hilfe
eines Engels besiegt. Nach der Einnahme Saragosas und der Zwangsbekehrung
seiner Einwohner kehrt Karl zurück in seine Residenz Aachen. Hier muss er Aude,
der Verlobten Rolands, die Nachricht seines Todes überbringen, was auch ihren
Tod bewirkt. Er will nun Gericht halten lassen über Ganelon, doch 30 Verwandte
stellen sich schützend vor diesen, darunter Pinabel, der ihn im gerichtlichen
Zweikampf vertreten will. Erst als Thierry, der junge Bruder des Grafen von
Anjou, sich für die gerechte Sache zu kämpfen erbietet und Pinabel mit Gottes
Hilfe besiegt, kann Karl Ganelon samt seiner Familie bestrafen. Noch dieselbe
Nacht erscheint ihm der Erzengel Gabriel und fordert ihn auf, König Vivien zu
helfen, der in seiner Stadt „Imphe“ von Heiden belagert wird. Karl weint und
rauft sich den Bart – aber man ahnt: er wird gehen.
Lesen wir die ersten Laissen (d.h. die
für das Genre typischen ungleich langen Strophen aus assonierenden
Zehnsilbern), und zwar in der Version der sog. Oxforder Handschrift, die als
die beste gilt und in anglonormannischem Dialekt, d.h. auf englischem Boden,
redigiert ist. (Übersetzung, möglichst wörtlich, von mir):
Charles li reis, nostre emperere
magnes, // Karl der König, unser Kaiser großer,
sept anz tuz pleins ad estéd en Espaigne, // sieben Jahre ganz volle ist er
gewesen in Spanien,
Tresqu'en la mer cunquist la terre altaigne; // bis an das Meer eroberte er das
Hochland,
N'i ad castel ki devant lui remaigne, // es gibt dort keine Burg, die vor ihm
verbliebe,
Mur ne citét n'i est remés a fraindre // Mauer noch Stadt ist dort verblieben
zu brechen
Fors Sarraguce, ki est en une muntaigne. // außer Saragosa, das ist auf einem
Berg.
Li reis Marsilie la tient, ki Deu nen aimet, // Der König Marsilie hat es inne,
der Gott nicht liebt,
Mahumet sert et Apollin recleimet ; // [sondern] Mohammed dient und Apollo
anruft;
Ne's puet guarder que mals ne l'i ateingnet. // er kann sich nicht behüten,
dass Böses ihn nicht dort erreicht.
Aoi! (=ein Ausruf, der im Rolandslied
regelmäßig das Ende einer Laisse markiert)
Li reis Marsilie esteit en Sarraguce,
// Der König Marsilie war in Saragosa,
Alez en est en un verger suz l'umbre, // gegangen hin ist er in einen Garten
unter dem Schatten,
Sur un perrun de marbre bloi se culched, // auf eine Steinbank aus blauem
Marmor legt er sich,
Envirun lui plus de vint milie humes. // herum um ihn mehr als zwanzigtausend
Mann,
Il en apelet et ses dux et ses cuntes: // er ruft davon sowohl seine Herzöge
als auch seine Grafen an:
„Oez, seignurs, quel peccét nus encumbret: //„Hört, Herren, welches Unglück uns
behelligt:
Li empereres Carles de France dulce // Der Kaiser Karl vom süßen (!) Frankreich
En cest pais nos est venuz cunfundre. // in dieses Land uns ist gekommen
zermalmen.
[...]
Das Rolandslied
war im Mittelalter nicht nur in Frankreich wohlbekannt und verbreitet, sondern
lieferte auch die Vorlage oder den Stoff für zahlreiche Übertragungen,
Bearbeitungen und sonstige Texte in anderen europäischen Sprachen, darunter
Altnordisch, Niederländisch, Spanisch und Englisch. In Deutschland z.B. wurde
es um 1170 vom Pfaffen Konrad nachgedichtet. In Italien machten noch 1476
Matteo Maria Boiardo und etwas später Ludovico Ariosto die Rolands zum
Protagonisten ihrer vielgelesenen heroisch-komischen Versromane Orlando innamorato (= der verliebte
Roland) und Orlando furioso (Der rasende Roland, 1505-1532), die
ihrerseits der Figur neue große Bekanntheit verschafften.
Romanze von
Rainaut und Harembourg (ca.
1100)
Sie
ist ein hübsches Beispiel der meist untergegangenen mittelalterlichen Lyrik im
volkstümlichen Stil, d.h. einer Literatur, die für ein breites, sozial nicht
spezifiziertes Publikum geschaffen wurde und deren AutorIinnen namentlich meist
unbekannt sind:
Quant vient en mai, que l'on dit as
lons jors,
Que Franc de France repairent de roi cort,
Reynauz repaire, devant, el premier front.
Si s'en passa lez lo mes Arembor,
ainz n'en dengna le chef drecier amont.
E Raynaut, amis !
Als [es] kam in den Mai, den man nennt [den]
mit den langen Tagen, wo die Franken (=die Freien =die Adeligen) Frankreichs
zurückkehren vom Königshof, Reinald kehrt zurück, vorneweg, in der ersten
Reihe. So ging er vorbei neben dem Haus Haremburgas, aber deshalb geruhte er
nicht, den Kopf nach oben zu richten. He, Reinald, Freund!
Bele
Erembors, a la fenestre, au jor,
sor ses genolz tient paile de color.
Voit Frans de France qui repairent de cort
et voit Raynaut devant, el premier front.
En haut parole si a dit sa raison :
E Raynaut, amis!
Schön Haremburga, am Fenster, am
Tageslicht, auf ihren Knien hält sie Stoff von Farbe (=farbig). Sie sieht die
Franken Frankreichs, die zurückkehren vom Hof, und sie sieht Reinald vorneweg,
in der ersten Reihe. Mit lautem Wort, so hat sie ihm ihre Rede gesagt.
"Amis
Raynaut, j'ai ja veu cel jor,
se passisoiz selon mon pere tor,
dolanz fussiez, se ne parlasse a vos !"
"Ja mesfeistes, fille d'empereor :
Autrui amastes, si obliastes nos."
E Raynaut, amis!
„Freund Reinald, ich habe schon jenen
Tag gesehen, [wo], wenn [Ihr] bei meines Vaters Burgturm vorbeigegangen wäret,
bekümmert gewesen wäret, wenn ich nicht zu Euch gesprochen hätte.“ – „Schon
handeltet [Ihr] schlecht, Kaiserstochter, einen andren liebtet [Ihr], und so
vergaßet [Ihr] uns.“
"Sire
Raynaut, je m'en escondirai.
A cent puceles, sor sainz, vos jurerai,
A trente dames que avuec moi menrai,
c'onques nul ome fors vostre cors n'aimai.
Prennez l'emmende et je vos baiserai."
E Raynaut, amis!
„Herr Reinald, ich werde mich dessen
rechtfertigen. Mit hundert Jungfrauen, auf Heiligen[reliquien] werde [ich] Euch
schwören, mit dreißig Damen, die [ich] mit mir führen werde, dass ich niemals
irgendeinen Mann außer Euren Körper (=Euch) liebte. Nehmt die Wiedergutmachung,
und ich werde Euch küssen.“
Li
cuens Raynauz en monta lo degré,
gros par espaules, greles par lo baudré,
blond ot le poil, menu recercelé,
en nule terre n'ot si biau bacheler.
Voit l'Erembors, si comence a plorer.
E Raynaut, amis!
Der Graf Reinald daraufhin erstieg die
Stufe, breit bei [den] Schultern, schmächtig in der Gürtellinie, blond hatte er
das Haar, fein gelockt, in keinem Land hatte [es einen] so schönen Jüngling.
Sieht ihn Haremburga, und so beginnt [sie] zu weinen.
Li
cuens Raynauz est montez en la tor,
si s'est assis en un lit peint a flors.
Dejoste lui se siet bele Erembors
..................................
Lors recomencent lor premieres amors,
E Raynaut, amis!
Der Graf Reinald ist gestiegen in den
Burgturm, und so hat er sich gesetzt auf ein Bett bemalt mit Blumen. Neben ihm
setzt sich schön Haremburga. Da beginnt neu ihre erste Liebe. (Vers 4 der
Strophe fehlt – vermutlich nicht per Zensur, sondern durch ein Versehen des
Kopisten.)
Philippe de
Thaon, Le Comput (nach 1113, vor 1119)
Der Compoz (so der originale Titel) ist das älteste in franz. Sprache erhaltene
Sachbuch. Es handelt in sechssilbigen Reimpaaren von der Einteilung der Zeit in
Stunden, Tage, Wochen, Monate und (Kirchen)Jahre, von den Tierzeichen und
anderen regelmäßig wiederkehrenden Phänomenen, z.B. Sonnenfinsternissen, und
zeigt den Stand des damaligen Wissens in diesen Bereichen. Philippe, der in
England arbeitete und im anglonormannischen Dialekt schrieb, verfasste gegen
1125 auch ein Tierbuch (Bestiarium), das er der englischen Königin Aelis
widmete. Dieses gibt das zeitgenössische Wissen von den einzelnen Tieren (auch
Fabelwesen) wieder, das in vielen Punkten von Religion und Aberglauben bestimmt
war.
Le Voyage de Saint Brendan /
Brendansreise (um 1120)
Diese Verserzählung ist eines der
ersten Beispiele franz.sprachiger Unterhaltungsliteratur und wirkt wie eine
Mischung aus Heiligenlegende, Visionsbericht, Märchen und Abenteuergeschichte.
Ihr Autor ist ein sonst nicht näher bekannter Kleriker, der sich selbst Benediz
nennt (in Literaturgeschichten aber meist Benoît oder Benedeit heißt). Die 1834
Verse sind verfasst im anglonormannischen Dialekt und bestehen aus paarweise
reimenden Achtsilbern, d.h. der Form, die sich inzwischen in der
franz.sprachigen Heiligenlegende durchgesetzt hatte. Das Werk ist in immerhin
sechs Handschriften erhalten, wurde also zu seiner Zeit offensichtlich häufig
abgeschrieben. Es ist der Königin Aelis von England gewidmet und war demnach
zur Zerstreuung des englischen Königshofes gedacht, der zu jener Zeit
überwiegend frankophon war.
Benediz benutzt als Vorlage die in ganz
Europa verbreitete lateinische Navigatio Sancti Brandani (10. Jh.) und
berichtet die fiktive Geschichte des historischen irischen Abtes Brendan (†
578), der mit vierzehn seiner Mönche zu einer Seefahrt aufbricht. Diese soll ihn,
wie von einem Eremiten verheißen, bis zum Paradies führen. Auf seiner
siebenjährigen Fahrt begegnet Brendan vielen seltsamen Tierwesen, findet
verschiedene wundersame Inseln, von denen sich eine als Rücken eines
Riesenfisches erweist, und den Eingang zur Hölle sowie schließlich inmitten
eines Nebelringes auch das Paradies. Nachdem ein Engel ihn und die Seinen durch
dessen Vorgarten geführt hat, kehrt er nach Irland zurück. Hier wird er dank
seiner Frömmigkeit zum Heiligen.
Die Brendansreise
ist eines der vielen Zeugnisse für die beginnende Säkularisierung des geistigen
Lebens, d.h. seine Entkirchlichung und Verweltlichung, die ausgelöst wurde von
dem wachsenden Wohlstand und den zunehmenden Unterhaltungsbedürfnissen der
vielen über das Land verstreuten Fürstenhöfe. Dies waren z.B. die Höfe des
franz. und des englischen Königs sowie die Höfe von Territorialfürsten
(Herzögen und Grafen), an denen sich neue Freiräume und Verdienstmöglichkeiten
boten für nicht kirchengebundene Künstler und Autoren (obwohl letztere von
ihrem Werdegang her meist Kleriker, clercs,
waren).
Lyrisme courtois /
höfische Lyrik (ab ca. 1100)
Es ist eine meistens sehr kunstvolle
Lyrik, die ursprünglich spanisch-arabischen Vorbildern folgte, sich aber auch
aus volkstümlichen und aus mittellateinischen Quellen speiste. Sie wurde für
ein überwiegend adeliges Publikum an Fürstenhöfen verfasst und dort gesungen
vorgetragen. Ihre Blütezeit war war um 1200, doch haben ihre Vorstellungswelt
und Bildersprache bis ins 15. Jh. hinein fortgelebt.
Die höfische Lyrik spricht vor allem
von der liebenden Verehrung eines Ichs, das i.d.R. mit dem Autor identisch
gedacht ist, für eine Dame, die zugleich als sozial überlegene Herrin
vorgestellt ist. Hierbei wird diese Dame (das Wort kommt von lat. Domina !) weniger als potenzielle
Geliebte gesehen denn als unerreichbares ideales Ziel der Sehnsucht und des
Strebens.
Wichtigste Dichter (trouvères) im nördlichen Frankreich sind
die Kleinadeligen Gace Brulé (1165–ca. 1212) und Conon de Béthune (ca.
1150–1220), der Stadtbürger Jean Bodel (1165-1209) sowie der hochadelige Graf
Thibaud de Champagne (1201–1253).
Der Ursprung und das Zentrum dieser
Lyrik allerdings lagen im 12. Jh. in der damals okzitanisch sprechenden und
schreibenden, politisch quasi unabhängigen Südhälfte Frankreichs mit ihren
florierenden Städten und vielen kleinen und mittleren Höfen, an denen sich
zahlreiche trobadors (dt. Troubadours
oder Troubadoure) unterschiedlichster sozialer Herkunft betätigten, sowie auch
einige adelige weibliche trobadoriz.
Es war eine kulturell sehr lebendige Welt, die aber zerstört wurde im Gefolge
des brutalen „Kreuzzugs“, den 1209, mit Rückendeckung des Papstes, Graf Simon
de Montfort begann, um die in Südwestfrankreich verbreitete prä-protestantische
Sekte der Katharer bzw. Albigenser zu rekatholisieren oder auszumerzen – ein
Unternehmen, das 20 Jahre Krieg auslöste. Dies wiederum führte zum
wirtschaftlichen Ruin der Region sowie zu ihrer politischen Vereinnahmung durch
die franz. Könige und anschließend zu ihrer kulturellen Kolonisierung durch
Paris.
Einer der bedeutendsten
altokzitanischen Lyriker war der mächtige Territorialfürst Herzog Wilhelm
(Guilhem) von Aquitanien (1071–1126), der als erster Troubadour überhaupt gilt.
Weitere bekannte Namen sind Marcabru (s.u.), Bernart de Ventador, Jaufré Rudel
(s.u.), Bertran de Born, Arnaut Daniel. Die Themen, Motive, Stilmittel und
Formen der Troubadours inspirierten nicht nur die nordfranzösischen Trouvères,
sondern auch die Minnesänger in Deutschland und die Dichter der süditalienischen
„Scuola siciliana“ sowie des Florentiner „dolce stil novo“ um Cavalcanti und
Dante.
Eine Kostprobe (samt eigener, möglichst
wortgetreuer Übersetzung) von Herzog Guilhem in Altokzitanisch bzw.
„Provenzalisch“, wie die deutschen Hochschul-Romanisten diese Sprache nannten,
als sie sie noch lernten:
Ab
la dolchor del temps novel // Mit der Süße der neuen [Jahres]Zeit
foillo li bosc, e li aucel // beblättern sich die Wälder, und die Vögel
chanton, chascus en lor lati, // singen, jeder in ihrem „Latein“,
segon lo vers del novel chan; // gemäß dem Vers[maß] des neuen Sanges.
adonc esta ben c'om s'aisi // Da ist es gut, dass man sich erfreut
d'acho dont hom a plus talan. // an dem, wozu man am meisten Lust hat.
De
lai don plus m'es bon e bel // Von dort, wo es mir am besten und schönsten ist
[=von der Geliebten]),
non vei mesager ni sagel, // sehe ich weder Boten noch [Brief]Siegel,
per que mon cor no'm dorm ni ri, // weshalb mein Körper [=ich] mir nicht
schläft noch lacht,
ni no'm aus traire ad enan // noch ich mich wage zu bewegen voran,
tro que eu sacha ben de fi // bis dass ich weiß ganz zu Ende (=endgültig),
s'el es aissi com eu deman. // ob sie ist so, wie ich verlange.
La
nostr' amor vai enaissi // Unsere Liebe geht so
com la branca del albespi, // wie der Ast des Weißdorns,
Qu'esta sobre l'arbr' en treman, // der auf dem Baum ist, zitternd,
la nuoit, ab la ploia ez al gel, // nachts, beim Regen und beim Frost,
tro l'endeman,qu'el sols s'espan, // bis zum nächsten Morgen, wo die Sonne sich
ausbreitet
par las fueillas verz e'l ramel. // durch die grünen Blätter und das Geäst.
Enquer me menbra d'um mati, // Noch erinnere ich mich eines
Morgens,
que nos fezem de guerra fi, // wo wir machten mit dem Krieg Schluss
e que'm donet un don tan gran: // und wo sie mir gab ein so großes Geschenk:
sa drudari' e son anel. // ihre Trautheit/Zärtlichkeit und ihren Ring.
Enquer me lais Dieus viure tan // Noch lasse Gott mich so lange leben,
c'aia mas mans soz so mantel! // dass ich meine Hände unter ihrem Mantel haben
möge!
Qu'eu no ai soing de lor lati //
Denn ich habe keinen Kummer wegen ihres [=der anderen Leute] „Latein“
[=Gerede]),
Que'm parta de mon Bon-Vezi, // dass es mich trennen könnte von meinem Gutnachbarn
[=der Geliebten],)
Qu'eu sai de paraulas com van, // denn ich weiß von den Worten, wie sie gehen
[=kenne den Wortlaut]
Ab un breu sermon que s'espel: // von einer kurzen Rede [=Sprichwort], die sich
buchstabiert:
Que tal se van d'amor gaban: // Dass [zwar] manche am Sich-Brüsten sind
hinsichtlicht der Liebe [die sie zu genießen behaupten],
nos n'avem la pessa e'l coultel. // wir [aber] haben davon das Stück [Braten?]
und das Messer.
Wie man sieht, war bei Guilhem, dem es
als reichem und mächtigem Mann sicher nicht schwer fiel, willige Objekte seiner
Wünsche zu finden, die Sicht der Liebe noch relativ handfest und nicht so
idealistisch wie die Vorstellung, die sich anschließend im Dichten der meist
kleinadeligen, sozial niedriger stehenden Troubadoure herausbildete. Deshalb
eine Kostprobe auch aus der späteren Lyrik, und zwar von Graf Thibaud de
Champagne (1201-1253), der als Größter seiner Zeit gilt und rd. 80 Lieder
hinterlassen hat. Thibaud war zwar ein fast ebenso reicher und mächtiger Fürst
wie Guilhem, doch war inzwischen in der höfischen Lyrik die idealistische
„platonische“ Vorstellung von Liebe und ihre Einbettung in eine bestimmte
Begrifflichkeit und Metaphorik so fest etabliert, dass auch er diese
Konventionen respektiert. Ein direkter Bezug des Textes zur Lebensrealität des
Autors scheint bei Thibaud (sowie den anderen höfischen Dichtern der Zeit) kaum
mehr vorhanden und wird sichtlich auch nicht angestrebt. Typisch für die
späteren Epochen der höfischen Lyrik ist auch die gängige Verwendung von
Allegorien, d.h. Personifikationen von Tugenden, Lastern u.ä.:
Ausi comme
l'unicorne sui // So wie das Einhorn bin ich,
qui s'esbahist en regardant // das sich erschreckt/fasziniert ist beim Blicken,
quant la pucele va mirant. // wenn es die Jungfrau am Anschauen ist.
Tant est liee de son ennui, // So froh ist es gegenüber seinem [bisherigen?]
Kummer,
pasmee chiet en son giron // [dass] verzückt es fällt in ihren Schoß.
lors l'ocit on en traïson. // Dann tötet man es verräterisch/heimtückisch.
Et moi ont mort d'autel senblant // Und [auch] mich haben sie getötet mit
demselben [tückischen] Schein
Amors et ma dame, por voir: // „Liebe“ und meine Dame, fürwahr.
Mon cuer ont, n'en puis point ravoir. // Mein Herz haben sie, von ihnen kann
ich es nicht zurückhaben.
Dame,
quant je devant vous fui // Dame, als ich vor Euch trat
et je vous vi premierement, // und ich Euch sah zum ersten Mal,
mes cuers aloit si tressaillant // war mein Herz so erzitternd,
qu'il vous remest quant je m'en mui. // dass es Euch verblieb, als ich mich
hinweg bewegte.
Lors fu menez sanz raençon // Da wurde es geführt ohne Lösegeld[möglichkeit]
en la douce chartre en prison // in den süßen Kerker in Gefangenschaft,
dont li piler sont de Talent// dessen Pfeiler sind aus „Lust/Begehren“,
et li huis sont de Biau Veoir // und die Türen sind aus „Schönem Anschauen“
et li anel de Bon Espoir. // und die Ringe [zum Anketten?] aus „Guter
Hoffnung“.
De
la chartre a la clef Amors // Von dem Kerker hat den Schlüssel „Liebe“,
et si i a mis trois portiers: // und so hat sie [Amors ist damals häufig
Femininum!] dort aufgestellt drei Türhüter:
Biau Semblant a nom il premiers, // Schönes Aussehen“ hat Namen der erste,
et Biautez cele en fet seignors; // und „Schönheit“ macht jene [=Amors] davon
[=vom Kerker] zum Oberherrn;
Dangier a mis a l'uis devant, // „Dangier“ [eine in der deutschen Literatur
unbekannte allegorische Figur, die alles den Liebenden Feindliche verkörpert]
hat sie an die Tür vorne gestellt,
un ort, felon, vilain, puant, // einen schrecklichen, niederträchtigen,
grobschlächtigen, stinkenden [Kerl],
qui moult est maus et pautonniers. // der sehr böse und rüpelhaft ist.
Cil troi sont et viste et hardi: // Diese drei sind fix und furchtlos:
Mult ont tost un homme saisi. // sehr bald haben sie einen Mann gegriffen.
Qui
porroit sousfrir les tristors // Wer könnte ertragen die Trübseligkeiten
et les assauz de ces huissiers?// und die Attacken dieser Türhüter?
Onques Rollanz ne Oliviers // Niemals haben Roland und Olivier
Ne vainquirent si grans estors; // besiegt so große Anstürme/Angriffe.
il vainquirent en conbatant, // [Und wenn, dann] siegten sie kämpfend,
mais ceus vaint on s'humiliant. // aber jene [Türhüter] besiegt man [nur],
indem man sich demütigt.
Sousfrirs en est gonfanoniers. // „Leiden“ ist ihr Bannerträger.
En cest estor dont je vous di // In diesem Angriff, von dem ich euch sage,
n'a nul secors fors de Merci. // gibt es keine Hilfe außer von
„Gnade/Erbarmen“.
Dame,
je ne doute mais riens plus// Dame, ich fürchte niemals irgendetwas mehr
que tant que faille a vous amer. // als soviel, dass ich mich verfehle am Euch
lieben.
Tant ai apris a endurer // So sehr habe ich gelernt auszuhalten,
Que je sui vostres tout par us .// dass ich Euer bin, ganz aus Gewohnheit.
Et se il vous en pesoit bien, // Und [auch] wenn es Euch ziemlich
belastete/störte,
ne m'en puis je partir pour rien // ich kann davon mich um nichts fortbewegen,
que je n'aie le remenbrer // ohne dass ich die Erinnerung hätte
et que mes cuers ne soit adés // und ohne dass mein Herz nicht sofort wäre
en la prison et de moi pres. // in der Gefangenschaft und von mir weggenommen.
Dame,
quant je ne sai guiler, // Dame, wenn ich doch nicht zu tricksen verstehe,
merciz seroit de seson mes // wäre Gnade/Erbarmen zur rechten Zeit [=jetzt]
angebracht,
de soustenir si greveus fais. // um eine so große Bürde aushalten [zu können].
Marcabru (1. Hälfte 12. Jahrhundert, Schaffenszeit ca. 1130 bis ca.
1150)
Er zählt zu den ältesten südfranzösischen,
d.h. okzitanisch dichtenden Troubadouren. Er ist bedeutsam als Verfasser der
ältesten überlieferten Pastourelle (Gedicht um die Begegnung eines Ritters in
freier Natur mit einer Hirtin, die er zu verführen versucht) und vor allem als
einer der Schöpfer des gewollt hermetischen Dichtungsstils des sog. „trobar
clus“ (verschlossenes Dichten), das nach ihm in Mode kam.
Zwar
ist sein Werk mit gut 40 Gedichten (davon vier mit Melodien) relativ gut
überliefert, doch ist über sein Leben nichts Genaues bekannt. Die beiden
altokzitanischen Kurzbiografien (vidas), die es über ihn gibt, scheinen ihre
Daten aus bestimmten seiner Gedichte bezogen zu haben, d.h. sie sind nicht
historisch fundiert und weichen überdies stark voneinander ab. So wäre er, nach
der einen, kürzeren, Sohn einer armen Gascognerin namens Marcabruna („brauner
[Leber-?]Fleck“) gewesen und habe schlecht von den Frauen und der Liebe
geredet. Nach der anderen, ausführlicheren, wäre er als Findelkind einem
reichen Mann namens Aldric del Vilar vor die Tür gelegt, unter dem Namen „Pan
perdut“ (=verlorenes Brot) von ihm aufgezogen und von dem (historischen)
Spielmann und Troubadour Cercamon im Dichten und Komponieren unterrichtet
worden. Später habe er den Namen Marcabru angenommen, unter dem er bekannt
wurde. Er sei schließlich von den Grafen der Gascogne, über die er viel
Schlimmes gesagt habe, umgebracht worden.
Etwas fundierter als die genannten
Vidas sind die Hypothesen, welche die moderne Philologie aus verstreuten
Angaben und Andeutungen in seinen Texten sowie anderen Indizien aufgestellt
hat. Hiernach würde Marcabru in der Tat wohl aus der Gascogne stammen und aus
kleinen Verhältnissen kommen. In den 1130er Jahren scheint er zunächst in
Beziehung zum Hof von Graf Wilhelm X. von Aquitanien gestanden zu haben (dem
Sohn des ersten Troubadours), der überwiegend in Poitiers residierte. 1137
könnte er der Tochter Wilhelms, Eleonore, nach Paris gefolgt sein, als sie den
franz. König Louis VII heiratete. Sichtlich blieb er dort aber nicht lange, sondern
ging nach Nordspanien, wo er sich Alfonso VII. von León und Kastilien
anschloss, dem Herrscher eines der dortigen kleinen Königreiche, die sich
anschickten, die Reconquista zu aktivieren, d.h. die Rückeroberung der
arabisch-islamisch beherrschten Landesteile. Für den Hof Alfonsos (wo man das
Okzitanische offenbar ausreichend verstand) verfasste Marcabru in den 1140er
Jahren auch politische Lyrik, worin er zum innerspanischen Kreuzzug aufrief,
den er als eine „Waschküche“ (lavador) bezeichnet, in der die die Seelen ebenso
rein gewaschen würden wie beim Kreuzzug ins Heilige Land.
Insgesamt war er offenbar nicht
ungebildet und betätigte er sich in fast allen lyrischen Gattungen der Zeit.
Obwohl er als Autor von den Zeitgenossen durchaus anerkannt wurde, scheint er
als Person schwierig gewesen zu sein. Als Dichter gefiel er sich jedenfalls in
der Rolle des Kritikers und Satirikers, der z.B. die „falsche“, nur den
Lustgewinn anstrebende Liebe der adeligen Herren und auch Damen anprangerte
oder die Heuchelei von Kirchenleuten denunzierte.
Jaufré Rudel (um
1150)
Er ist heute einer der bekanntesten provenzalischen Troubadours. Er
verdankt seinen Ruhm nicht zuletzt einer aus dem Mittelalter überkommenen
sentimentalen Kurzbiografie (vida), die allerdings kaum den Fakten entspricht,
sondern aus seinen Gedichten abgeleitet scheint. Sie erzählt, wie Jaufré aufgrund der
Berichte von heimgekehrten Jerusalem-Pilgern und Kreuzfahrern eine unstillbare
Sehnsucht nach der schönen Gräfin von Tripolis im Heiligen Land entwickelt,
deshalb am nächsten Kreuzzug teilnimmt, aber während der Seefahrt erkrankt und
kurz nach seiner Ankunft stirbt - immerhin in den Armen der sofort
benachrichtigten und gerührt herbeigeeilten Gräfin, die anschließend Nonne
wird.
Über
die Person Jaufrés ist wenig bekannt, außer dass er „prince“ (Fürst) des
kleinen Lehens Blaya (um das das heutige Städtchen Blaye im Département
Gironde) war und wohl 1148 seinen Onkel und Lehnsherrn, den Herzog von
Angoulême, auf dem zweiten Kreuzzug (1147-49) begleitete.
Insgesamt
acht Gedichte von ihm sind erhalten, vier davon mit Noten. Das bekannteste, Lanquand
li jorn son lonc en mai (Wenn die Tage lang sind im Mai), umkreist
kunstvoll das Motiv der „Fernliebe“ (amor de lonh) und war wohl der
Ausgangspunkt der o.g. Biografie.
Die
Geschichte Jaufré Rudels wurde zur Zeit der Romantik auch außerhalb Frankreichs
bekannt und in Deutschland von Heinrich Heine und Ludwig Uhland aufgegriffen.
Alfred Döblin zitiert sie, fantasievoll leicht erweitert, in seinem letzten
Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956).
Antiken-Romane
/ Romans antiques oder
d’Antiquité
Die Gattung der sog. antikisierenden
oder Antiken-Romane (frz. romans antiques ou d’Antiquité) entstand offenbar gegen
1120, hatte ihre Blütezeit aber von ca. 1150 bis ca. 1180. Sie spiegelt das im
12. Jh. wachsende Interesse für die Antike und wurde geschaffen von Autoren,
die i.d.R. lateinkundige Kleriker waren. Wie der Name besagt, stammen die
Stoffe und Figuren der Antiken-Romane aus literarischen und historiografischen
Werken der römischen und der griechischen Antike, wobei diese jedoch
ausschließlich über lateinische Texte vermittelt ist. Das angesprochene
Publikum waren Fürsten, z.B. der englische König, sowie das adelige Personal
und die Damenwelt ihrer Höfe. Im Sinne der Vorstellungswelt und der Erwartungen
dieses Publikums dichteten die Autoren ihre antiken Vorlagen und Quellen ganz
unbefangen um, ohne sich zu scheuen, deren Sinn zu verändern und ohne ein authentisch
wirkendes historisches Kolorit anzustreben (wie die historischen Romane der
Neuzeit dies tun). Die Antiken-Romane bilden, indem sie erstmals die
Darstellung von Rittertaten und das Thema Liebe verbinden, eine Art
Zwischenstufe zwischen der älteren Gattung Chanson de geste und der neuen
Gattung Höfischer Roman, die wenig später von Chrétien de Troyes (s.u.)
geschaffen und perfektioniert wurde. Formal bestehen sie überwiegend aus
fortlaufenden, paarweise reimenden achtsilbigen Versen. Sie waren also zur
Lektüre bzw. zum Vorlesen bestimmt und nicht mehr, wie die Chansons de geste,
zum freien Vortrag per Sing-Sang.
Die bekanntesten Antiken-Romane sind:
Le Roman de Thèbes
/ Thebenroman (ca. 1152-54)
Er ist zwar nicht das älteste Werk der
Gattung, hat sie aber offenbar stark geprägt.
Der namentlich nicht bekannte Autor
stammte sichtlich aus einer der damaligen westfranz. Besitzungen des englischen
Königs Henry II Plantagenet und gehörte wohl zum Umfeld von dessen Hof.
Seine literarische Vorlage war vor allem
die Thebais des antiken lateinischen
Autors Statius (1. Jh. n. Chr.), ein Epos, das die Sage vom tragischen
Schicksal der Zwillingsbrüder Eteokles und Polineikes verarbeitet, die nach dem
Tod ihres Vaters Ödipus einen Krieg um die Herrschaft im griechischen Theben
führen und sich am Ende gegenseitig auf dem Schlachtfeld erschlagen. Der
Theben-Roman umfasst gut 10.000 paarweise reimende Achtsilber und ist in fünf
Handschriften und zwei Versionen erhalten, deren längere offenbar nachträgliche
Einschübe enthält. Der Roman zeigt noch viele thematische und stilistische
Übereinstimmungen mit den Chansons de geste, insbes. bei der ausführlichen
Darstellung von Kämpfen und Schlachten; er nimmt aber auch schon Elemente des
höfischen Romans vorweg, z.B. indem er einigen Frauengestalten wichtige Rollen
zuweist. Anders als die nachfolgenden Werke der Gattung gibt er dem Thema
Liebe, ohne es ganz auszuklammern, relativ geringen Raum.
Le Roman d'Énéas / Äneasroman (um oder eher kurz nach 1160)
Er umfasst gut 10.000 Verse. Der
unbekannte Verfasser folgt überwiegend dem Rom-Gründungsepos Vergils, der Æneis
(um 20 v. Chr.), benutzt aber auch zusätzliche lateinische Quellen, z.B. Werke
Ovids. Auch er schildert gerne Kämpfe, räumt aber der Liebe einen hohen
Stellenwert ein. Vermutlich war es seine einfühlsame Darstellung der den Helden
Äneas liebenden Frauen Dido und Lavinia, die kurz nach 1170 den Minnesänger
Heinrich von Veldeke anregte, den Roman in mittelhochdeutschen Versen
nachzudichten.
Le Roman
d'Alexandre / Alexanderroman (ca. 1120 –ca. 1180)
Alexander der Große (356-323 v. Chr.)
galt in Antike und Mittelalter als Prototyp des stets nach neuen Eroberungen
und Erfahrungen dürstenden Helden und hochherzigen Herrschers, aber auch als
Verkörperung menschlicher Hybris. Seine Figur steht im Mittelpunkt drei sehr
unterschiedlicher altfranz. Romane, deren ältester zugleich den Beginn der
Gattung Antiken-Romane markiert und deren jüngster an ihrem Ende steht. Der
Stoff ist mehreren lateinischen Vorlagen entnommen, die ihrerseits aus diversen
griechischen Quellen schöpfen, welche von Anbeginn an neben Fakten auch viele
sagen- und märchenartige Elemente enthielten. Die lateinischen Vorlagen waren
vor allem die romanartige Alexander-Vita des Julius Valerius (ca. 320 n.Chr.)
sowie die chronikartige Historia de proeliis Alexandri Magni des Leo von
Neapel (10. Jh.).
Die älteste der drei franz. Versionen
wurde in frankoprovenzalischem Dialekt wohl schon gegen 1120 verfasst. Sie ist
nur als Fragment von 105 Achtsilblern in 15 einreimigen Strophen (Laissen)
erhalten. Ihr Stil entspricht dem der zeitgenössischen Chansons de Geste. Laut
dem Pfaffen Lamprecht, der sie um 1120/30 ins Mittelhochdeutsche übertrug,
wurde sie von einem „Alberich von Bisenzun“ (= Albéric de Pisançon?) verfasst, der aber nicht näher
bekannt ist.
Eine zweite, ebenfalls nur
fragmentarisch überlieferte Fassung (785 Zehnsilbler in zehnzeiligen Laissen),
wurde wohl kurz nach der Mitte des 12. Jh. von einem unbekannten Autor
geschrieben.
Die Version, die am weitesten
verbreitet und mit knapp 16.000 paarweise reimenden Zwölfsilblern auch am
längsten ist, entstand offenbar um 1180. Sie stammt von Alexandre de Bernay
bzw. de Paris und schildert, nunmehr eher im Stil eines höfischen Romans, das
gesamte Leben Alexanders. Sie besteht aus vier sehr ungleich langen Teilen oder
„Branchen“ (=Zweigen), wobei Alexandre angibt, er habe die unvollständigen
Werke zweier anderer (nicht mehr näher bekannter) Autoren eingearbeitet,
nämlich eines gewissen Eustache (als Branche II) und eines Lambert le Tort (als
Branche III). Schon ab ca. 1190 begannen anonyme Redaktoren zusätzliche
Episoden an den Roman anzuhängen oder in ihn einzufügen.
In der zweiten Hälfte des 13. Jh. wurde
der Alexander-Roman in eine Prosafassung umgeschrieben, von der zahlreiche
Handschriften aus dem 14. und 15. Jh. und sogar einige frühe Drucke erhalten
sind. Sie alle zeugen von dem langandauernden Erfolg des Werkes.
Alexandres Version ist der erste
längere Text der franz. Literatur, der als Versmaß den Zwölfsilbler benutzt,
den deshalb in Frankreich so genannten „vers alexandrin“ (Alexandriner).
Le Roman de Troie
/ Trojaroman (ca. 1165)
Dieses in mehr als 50 Handschriften
erhaltene Werk von gut 30.300 Versen war das erfolgreichste und bedeutsamste
der Gattung Antiken-Roman. Es schildert in der Hauptsache die Eroberung Trojas
durch ein Bündnis griechischer Könige, enthält als Vorspann aber auch eine
Darstellung der Argonautensage um Jason und als Anhänge die Geschichten einiger
griechischer Helden, z.B. des Odysseus.
Der Trojaroman wurde verfasst für den
Hof des englischen Königs Henry II. und seiner Gattin Aliénor von Aquitanien,
der ein beachtliches franz.sprachiges intellektuelles Zentrum war. Über die
Person des Autors Benoît ist nichts Näheres bekannt, außer dass er offenbar aus
Sainte-Maure in der Grafschaft Touraine stammte, d.h. aus einer der damaligen
Besitzungen der englischen Könige auf franz. Boden.
Als stoffliche Vorlage des Werkes
diente nicht das damals in Westeuropa nur vom Hörensagen bekannte Epos Homers,
die Ilias, sondern zwei angeblich von
Augenzeugen verfasste, tatsächlich aber aprokryphe spätantike lateinische
Darstellungen des trojanischen Krieges, nämlich die Ephemeris belli Trojani
eines gewissen Dyctis (4. Jh.), der die Dinge auf griechischer Seite erlebt
haben will, und die De excidio Troiae historia eines gewissen Dares (6.
Jh.), der in Troja dabeigewesen zu sein vorgibt und eingangs Homer für seine
märchenhafte Darstellung tadelt (was Benoît übernimmt). Von „Dyctis“ und
„Dares“, vor allem vom letzteren, entlehnt Benoît jedoch nur den groben Rahmen,
den er fantasievoll und geschickt mit Liebesgeschichten, ritterlichen
Kampfszenen, Beschreibungen und gelehrten Exkursen ausstaffiert.
Der Roman
de Troie wurde nach 1200 offenbar für ein eher städtisch-bürgerliches
Publikum in eine stark raffende, weitgehend auf die bloße Handlung reduzierte
Prosaversion umgeschrieben, die ihrerseits um 1215 eingefügt wurde in ein
jahrhundertelang gelesenes und abgeschriebenes und hierbei immer wieder
überarbeitetes Kompendium der Alten Geschichte, die sog. Histoire
ancienne jusqu'à César.
Verbreitung in ganz Europa fand der
Troja-Stoff à la Benoît in einer mittellateinischen Prosaversion: der 1272
begonnenen und 1287 abgeschlossenen Historia destructionis Troiae des Sizilianers Guido delle Colonne,
die wohl einer der größten Bucherfolge des gesamten europäischen Mittelalters
war. Etwa gleichzeitig (um 1280) entstanden die mittelhochdeutschen Versionen
Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg.
Im Frankreich des 13. bis 16. Jh. war
Troja übrigens auch aus ideologischen Gründen bedeutsam, denn die franz. Könige
leiteten damals ihren Stammbaum (Genealogie) von einem legendären Francus her,
der sich bei der Eroberung Trojas durch die Griechen zusammen mit dem späteren
Rom-Gründer Äneas auf ein Schiff gerettet und seinerseits das erste
Frankenreich (Francia) gegründet habe.
Benoît de Sainte-Maure (2. Hälfte 12. Jh.)
Über die Person Benoîts ist nichts
Näheres bekannt, außer dass er offenbar aus Sainte-Maure in der Grafschaft
Touraine stammte, d.h. aus einer der damaligen Besitzungen der englischen
Könige auf franz. Boden, und dass er für und wohl weitgehend auch an deren Hof
arbeitete.
Sein Hauptwerk ist der um 1165
verfasste Roman de Troie (Trojaroman) (s.o.).
Nach der guten Aufnahme des Trojaromans
wurde Benoît 1174 von König Henry II. beauftragt, eine ebenfalls gereimte
Geschichte der Normannenherzöge bzw. (ab 1066) der Könige von England zu schreiben.
Aus unbekanntem Grund (Tod des Autors?) bricht das Werk jedoch bei Vers 44.544
ab, d.h. es endet bei König Henry I..
Le Jeu d'Adam / Adamsspiel
(ca. 1150, evtl.
aber auch erst um 1200)
Dieses Werk eines unbekannten Autors
ist der älteste bekannte dramatische Text in franz. Sprache. Er kommt aus der
Tradition des lateinischsprachigen kirchlichen Theaters der Zeit (der einzigen
dramatischen Gattung, die es damals gab) und ist entstanden vielleicht auf
englischem Boden, überliefert jedenfalls in einer anglonormannisch gefärbten
Version.
Das nur in einem einzigen Manuskript
und nicht ganz vollständig erhaltene Stück besteht überwiegend aus paarweise
reimenden Achtsilblern, enthält aber auch Strophen aus vierzeilig reimenden
Zehnsilblern. Es zeigt, nicht ohne psychologisches Geschick, die Versuchung
Adams und vor allem Evas durch den Teufel, die Erschlagung Abels durch Kain,
das Erscheinen der Propheten des Alten Testaments mit ihren Weissagungen zum
Kommen Christi sowie eine Ankündigung des jüngsten Gerichts.
Die Regieanweisungen sind lateinisch
verfasst, die Aufführenden oder zumindest die Aufführungsleiter waren also
offensichtlich Kleriker; als Aufführungsort dienten zweifellos improvisierte
Bühnen vor oder in Kirchen.
Marie
de France (zweite
Hälfte 12. Jh.).
Sie ist die erste bekannte Autorin der
franz.sprachigen Literatur, doch hat man keine Informationen über ihre Person
außer der eigenen Angabe „Marie ai nun, si suis de France“ (Ich heiße Marie und
bin aus Franzien), wonach sie aus der Île de France, d.h. dem Pariser Raum
gebürtig sein müsste. Ihrer profunden Bildung nach zu urteilen kam sie sicher
(als legitimiertes außereheliches Kind eines Hochadeligen und einer
kleinadeligen Dame?) aus höchsten Kreisen. Ihr Zielpublikum jedenfalls war der
überwiegend franz.sprachige englische Hof von Henry II., in dessen Umfeld sie
offenbar lebte und für den sie entsprechend im anglonormannischen Dialekt
schrieb.
Maries bekanntestes und originellstes
Werk sind die Lais, zwölf jeweils
zwischen ca. 100 und ca. 1000 Verse umfassende Versnovellen („lais“). Sind sind
offenbar um 1170 über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden und verarbeiten
viele Märchenmotive und Sagenstoffe, wobei letztere meist „britannischer“, d.h.
keltischer Herkunft, sind. Darunter ist
auch der Tristan-Isolde-Stoff, der hier zum ersten Mal greifbar wird,
wenn auch nur in einer einzigen seiner zahlreichen Episoden.
Die Themen der schlicht, aber
feinsinnig erzählten und auch heute noch ansprechenden Novellen sind sehr
unterschiedlich. Vor allem aber geht es um die Schwierigkeiten Liebender,
zueinander zu kommen und/oder beieinander zu bleiben, wobei sich diese
Schwierigkeiten nicht zuletzt daraus ergeben, dass die Dame verheiratet ist.
Ein weiteres, größeres Werk von Marie
ist eine Sammlung von 102 Fabeln, der Esope
oder Ysopet (1170-80). Ihre Vorlage,
so gibt sie am Ende an, sei altenglisch und stamme von „König Alfred“, der
seinerseits einer lateinischen Übertragung der altgriechischen Fabelsammlung
Aesops (6. Jh. v. Chr.?) gefolgt sei (aber sichtlich auch noch andere Quellen benutzt
hat).
Offenbar ebenfalls von Marie stammt das
anonyme, ihr lange Zeit zugeschriebene, dann zwischenzeitlich aber aberkannte
Werk Le Purgatoire de Saint Patrice.
Es entstand wohl um 1190 auf der Grundlage eines lateinischen Prosatextes, den
es in franz. Verse umsetzt.
Chrétien
de Troyes
(zweite Hälfte 12. Jh.)
Er gilt als der eigentliche Begründer
und zugleich bedeutendste Autor des Höfischen Romans (roman courtois), einer
nach ihm noch jahrhundertelang florierenden Erzählgattung. Von Chrétien
überliefert sind vor allem fünf Romane, deren Stoffe überwiegend aus der sog.
„matière de Bretagne“ stammen, d.h. aus dem keltisch-britannischen Sagenkreis
um König Artus. Diese Stoffe reichert Chrétien an mit erfundenen Episoden und
verlegt die Handlungen in eine Welt, wie sie den Vorstellungen und Erwartungen
entsprach, die an den Höfen seiner Zeit bestanden. Auch die Ideale des in der
Troubadourlyrik entwickelten Minnedienstes fließen in seine Epen ein, zumal in
deren zahlreiche Dialoge und innere Monologe. Sein Verfahren, aus diesen
verschiedenen Elementen eine kunstvoll strukturierte und bedeutungsvolle
Handlung zu schaffen, nennt Chrétien mit schriftstellerischem Selbstbewusstsein
eine „molt bele conjointure“ (sehr schöne Verbindung).
Konkrete Lebensdaten von Chrétien sind
nicht bekannt, außer dass er in seinem Roman Érec et Énide Troyes als
seine Heimatstadt angibt (er schrieb auch im Dialekt der Champagne) und dass er
eine gute Bildung nach Art eines Klerikers genossen haben muss. Seine
Schaffenszeit erstreckte sich offensichtlich von ca. 1160 bis in die 1180er
Jahre. Einer seiner Romane, Lancelot, wurde nach eigener Auskunft im
Auftrag der Gräfin Marie de Champagne verfasst, also nach 1164, wo sie diesen
Titel durch ihre Heirat erhielt;, sein letztes und unvollendetes Werk dagegen,
der Conte du Graal, ist Graf Philippe de Flandre gewidmet, der diesen
Titel 1169 übernahm und 1180 Regent von Frankreich wurde, was die offenbar vor
diesem Datum verfasste Widmung nicht erwähnt. Chrétien muss also jeweils nach
1164 und vor bzw. um 1180 länger oder zeitweilig in Beziehung zu den genannten
Fürsten gestanden haben.
Sein Publikum waren entsprechend diese
und ggf. andere fürstliche Mäzene samt ihren Gattinnen und deren Hofdamen und
Edelfräulein, sowie der an ihren Höfen lebende oder verkehrende kleinere und
mittlere Militär- und Verwaltungsadel. Sein Schaffen dokumentiert den Höhepunkt
der Macht dieser größeren und kleineren Territorialfürsten (Herzöge, Grafen
u.ä.), deren Höfe im 11./12. Jh. als Macht- und Kulturzentren mit dem Hof der
franz. Könige rivalisierten.
Nicht alle Werke Chrétiens sind
erhalten. Eine Liste der vor etwa 1170 entstandenen gibt er selbst zu Beginn
seines Romans Cligès. Hiernach hätte er zuerst Érec et Énide verfasst,
dann je eine Übertragung der Ars amatoria und der Remedia amoris
von Ovid, danach eine Geschichte von „König Marke und der blonden Isolde“ sowie
drei wohl kürzere Bearbeitungen von Verwandlungssagen aus Ovids Metamorphosen.
Bis auf den Érec und die Verwandlungssage um Philomena (die Nachtigall)
sind diese Werke jedoch verloren.
Erhalten sind (neben einigen wenigen
Gedichten zum Thema höfische Liebe) vor allem die folgenden in paarweise
reimenden Achtsilblern verfassten Romane:
Érec
et Énide
(entstanden nach 1160): Es ist die Geschichte des Königsohns Érec, der nachdem
er sich früh am Artushof ausgezeichnet hat, heiratet und über der Liebe zu
seiner jungen Frau Énide die Pflicht des Ritters vernachlässigt, Taten zu
vollbringen. Von Enide darauf hingewiesen, erkennt er seinen Fehler, zweifelt
aber auch an ihrer Liebe und zieht deshalb gemeinsam mit ihr zu Abenteuern aus.
Hierbei besteht er zahlreiche Kämpfe, erfährt aber auch ihre Treue, wonach er
ruhmbedeckt an den Hof von König Artus zurückkehrt und später seinem Vater Lac
als König nachfolgt.
Cligès (entstanden wohl zwischen 1165 und
1170). Die 6784 Verse bilden zwei Teile, eine Vorgeschichte und die eigentliche
Geschichte. Erstere erzählt vom byzantinischen Kaisersohn Alexandre, der zum
Artushof reist, sich dort in die Hofdame Soredamors verliebt, sie heiratet und
nach längerer Zeit mit ihr und seinem Söhnchen Cligès nach Byzanz zurückkehrt,
wo inzwischen sein jüngerer Bruder Alis den Thron okkupiert hat, den er auch
behält, weil Alexandre stirbt. Statt, wie versprochen, unverheiratet zu bleiben
und seinem Neffen Cligès die Thronfolge zu überlassen, beschließt Alis, die
Tochter Fenice des deutschen Kaisers zu ehelichen. Bald nach der Ankunft der
byzantinischen Delegation in Köln verlieben sich Cligès und Fenice und
versprechen sich einander. Eine zauberkundige Amme sorgt dafür, dass Fenice,
die gleichwohl Alis heiraten muss, von diesem immer nur in seinen Träumen
berührt wird. Cligès, der das Warten nicht erträgt, geht auf Abenteuerfahrt zu
König Artus. Nachdem er zurückgekehrt ist, bewerkstelligt er es, Fenice als
scheinbar Verstorbene zu entführen und im Verborgenen eine Weile zu lieben. Er
wird jedoch entdeckt und flüchtet mit ihr, bis er sie nach dem Tod des Onkels
schließlich (anders als Tristan die Isolde) heiraten und mit ihr den Thron
besteigen kann. Der Anfang des Cligès enthält die berühmte These von der
„translatio studii“, wonach die Gelehrsamkeit von den Griechen auf die Römer
und von diesen auf die Franzosen übergegangen sei.
Le
Chevalier de la charrette
(Der Karrenritter, entstanden wohl um 1170): Erzählt wird die bunte
Geschichte der Abenteuer, die der junge Ritter Lancelot besteht, um die
entführte Königin Guenièvre, die Gattin von König Artus, zu finden und ihr
seine entsagungs- und hingebungsvolle Liebe zu beweisen (die immerhin auch
einmal kurz belohnt wird). Die letzten rd. 1000 Verse des Lancelot wurden
von einem gewissen Godefroi de Lagny verfasst, offenbar mit Wissen und nach
Plänen Chrétiens, der in diesem Auftragswerk für Marie de Champagne von
Anbeginn an etwas lustlos wirkt.
Le
Chevalier au lion
(Der Löwenritter, entstanden wohl gegen 1170): Es ist die Geschichte des
Artusritters Yvain, der die junge Witwe eines von ihm im ritterlichen Zweikampf
getöteten Burgherrn heiratet, sich bald aber von ihr beurlauben lässt und auf
Abenteuer und Turniere auszieht, den gesetzten Jahrestermin seiner Rückkehr
vergisst, von seiner Frau verstoßen wird und diese Schmach in vielen Prüfungen
gutmacht, wo er Bedrängten, u.a. einem von einem Drachen bedrohten Löwen, zu
Hilfe eilt und sich so zum idealen Ritter läutert.
Le
Conte du Graal
(begonnen wohl gegen 1180 für Philipp von Flandern): der Versuch, in der
Geschichte des jungen Ritters Perceval die Gattung des Höfischen Romans mit
christlichen Elementen zu durchdringen. Das Werk, das Chrétien sichtlich als
eine Summe seines Denkens und Schaffens geplant hatte, blieb zunächst, offenbar
durch seinen Tod, nach rd. 9000 Versen unvollendet stehen. Es wurde dann von
mehreren unbekannten Fortsetzern weitergeführt und auf rd. 32.000 Verse
verlängert.
Auch in Deutschland fand Chrétien
großen Anklang: Die Romane um Érec und um Yvain wurden gegen oder um 1200
nachgedichtet von Hartmann von Aue, der Roman um Perceval bald nach 1200 von
Wolfram von Eschenbach – eines der Zeichen dafür, wie vorbildhaft die franz.
Literatur insgesamt in Frankreichs Nachbarländern zu dieser Zeit war.
Fast alle Romane Chrétiens wurden im
13. Jh. für ein überwiegend städtisches Publikum in Prosa umgeschrieben. Vor
allem der Prosa-Lancelot fand weite Verbreitung und wurde bis ins 15. Jh.
hinein gelesen.
Ein lange
Zeit Chrétien zugeschriebener Abenteuer-Roman um einen (nicht historischen) englischen König,
der sog. Guillaume d'Angleterre, stammt nach neuerer Forschungsmeinung wohl
von einem anderen, sonst unbekannten Verfasser mit dem gleichen Namen
Chrestien.
Les romans de
Tristan et Yseut / Tristan-Romane (ca.1170–1180)
Wohl in den 1170er Jahren entstanden
die beiden ältesten der uns bekannten romanartigen Versionen des Tristan-Isolde-Stoffes.
(Ein vielleicht um 1160 von Chrétien de Troyes (s.o.) verfasster Tristan-Roman
ist nicht erhalten.) Die beiden Versionen gehen offensichtlich auf etwas
unterschiedliche ältere Texte zurück und sind nur als Fragmente überliefert.
Die erste ist ein ca. 1172-75 für den
englischen Hof verfasster Versroman des sonst unbekannten Autors Thomas
d'Angleterre, von dem in fünf verschiedenen Handschriften insgesamt acht
Teilstücke mit zusammen gut 3000 Versen aus dem letzten Drittel der Handlung
erhalten sind (Tristans Heirat mit der nur als Ersatz betrachteten
namensgleichen Isolde Weißhand, einige weitere Abenteuer T.s und sein
tragisches Ende).
Die andere Version ist ein wohl gegen
1180 entstandener Versroman des ebenfalls als Person nicht näher bekannten
Spielmanns Béroul, von dem in einer einzigen Handschrift knapp 4500 Verse des
Mittelstücks erhalten sind (Tristans und Isoldes heimliche Liebe am Hof von
König Marke, der T.s Onkel und I.s Ehemann ist; die Entdeckung ihres
Verhältnisses, T.s Flucht, I.s Verurteilung und ihre Rettung durch T., das
gemeinsame Leben der beiden in einer Laubhütte im Wald, ihre schließliche
Rückkehr an den Hof, I.s Wiederaufnahme durch Marke und T.s Aufbruch ins Exil).
Die Gesamthandlung des Thomas’schen
Romans kennen wir dank einer stark raffend erzählenden altnordischen
Prosaübertragung von ca. 1225 und dadurch, dass Gottfried von Straßburg ca.
1200–1210 seinen (unvollendet gebliebenen) mittelhochdeutschen Tristan auf der Basis von Thomas’ Text
verfasste. Dem Roman Bérouls wiederum entspricht weitgehend, ohne wohl eine
direkte Übertragung oder Bearbeitung zu sein, der in toto erhaltene
mittelhochdeutsche Tristan des
Eilhart von Oberg von ca. 1180.
In Frankreich kompilierte um 1230-35
ein unbekannter Autor (oder mehrere Autoren?) den sog. Tristan en prose, einen sehr umfänglichen, in zahlreichen
Handschriften und leicht divergierenden Versionen überlieferten, bis ins 16.
Jh. hinein gelesenen Prosaroman, der den Tristan-Stoff mit anderen Stoffen
verbindet, vor allem dem König Artus-Stoff, und somit Tristan zum dicht- und
sangeskundigen Ritter der Tafelrunde macht.
Der Tristan-Isolde-Stoff ist übrigens
nicht, wie man als Deutscher und Wagner-Adept glauben könnte, germanischer
Herkunft, sondern keltischer, denn er stammt aus der
schottisch-walisisch-bretonischen Sagenwelt, der sog. matière de Bretagne, aus der in der zweiten Hälfte des 12. Jh.
viele Stoffe und Motive in die franz. Literatur eingeflossen sind, z.B. in die
höfischen Romane von Chrétien de Troyes (s. o.).
Le Roman de Renard
/ Fuchsroman (ab 1174)
Die erste Version dieses sehr lange
Zeit hindurch populären Werkes verfasste ein sonst nicht näher bekannter Pierre
de Saint-Cloud auf der Basis mittellateinischer Vorlagen; sie wurde
anschließend über mehr als hundert Jahre hinweg von ca. zwanzig verschiedenen,
überwiegend anonymen Autoren erweitert, variiert und umgearbeitet.
Protagonist dieses in paarweise
reimenden Achtsilblern erzählenden Tierepos bzw. Tierschwanks ist der schlaue
Fuchs, der stets nur seinen Vorteil sucht und diesen mal mehr, mal weniger
abenteuerlich und erfolgreich auf Kosten anderer Tiere oder auch von Menschen
findet.
Der Roman
de Renard scheint ursprünglich in vielem ein humoristisch-realistisches und
teils parodistisches Kontrastprogramm zum sehr idealistischen Höfischen Roman à
la Chrétien de Troyes gewesen zu sein. Die angesprochene Leser-/Hörerschaft war
also zunächst dieselbe wie die des Höfischen Romans. Allerdings fand der Renard rasch Anklang auch beim
städtisch-bürgerlichen Publikum, das sich gegen 1200 herauszubilden begann.
Die Figur des verschlagenen Renard
wurde durch den Roman so populär, dass sein Name (der dem deutschen ‚Reinhard’
entspricht) zur Vokabel wurde, die das ursprüngliche franz. Wort für „Fuchs“, goupil,
verdrängt hat.
Eine erste deutsche Nachdichtung wurde
schon gegen Ende des 12. Jh. von Heinrich dem Glichesaere verfasst, wodurch die
Figur auch im deutschsprachigen Raum heimisch wurde.
Die Gattung „Fabliau“ und ein Beispiel: Auberée (ca. 1200)
Im Zentrum der Handlung steht die
pfiffige Kupplerin Auberée, die einer jungen Frau und ihrem Galan beim Betrügen
(cocuage) des schon ältlichen Ehemanns hilft.
Diese lustige Verserzählung eines
anonymen Autors ist eines der ältesten und gelungensten Beispiele für eine im
gesamten 13. Jh. sehr erfolgreiche Gattung: das alle erdenklichen komischen
Sujets bearbeitende Fabliau oder Fablel (Schwank).
Die Fabliaux, deren Texte meist einen
Umfang von 400–500 paarweise reimenden Achtsilblern haben, waren vielleicht die
erste literarische Gattung, die sich im bürgerlichen Milieu der franz. Städte
entwickelte. Diese hatten sich in Spätantike und frühem Mittelalter stark
verkleinert, wuchsen aber seit dem 11. Jh. langsam wieder und etablierten sich
im 12./13. Jh. als Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht sowie auch
als Kulturzentren, in denen nicht nur die Architektur und die bildende Kunst
(Kirchen- und Rathausbau samt Ausschmückung) florierten, sondern wo auch die
Literatur ein wachsendes und zunehmend gebildetes Publikum fand.
Ähnlich wie der franz. Höfische Roman
wurde das Fabliau ein Exportschlager und fand Nachahmung in der englischen,
niederländischen, deutschen und italienischen Literatur (hier z.B. bei
Boccaccio).
Jean
Bodel (1165-1209)
Dieser Bürger der reichen Tuchweber-
und Tuchhändler-Stadt Arras ist in die Literaturgeschichte eingegangen als
Verfasser des ältesten mit Autornamen (d.h. nicht anonym) überlieferten
dramatischen Textes der franz. Literatur: des erstmals am 5. Dez. 1201
aufgeführten Mirakelspiels Le Jeu de Saint
Nicolas (= das Spiel vom Hl. Nikolaus). Das Stück ist in seiner Mischung
von ernsten und lustigen Elementen nicht untypisch für die Gattung und wurde
bis weit ins 14. Jh. häufig aufgeführt.
Die Handlung beginnt mit ausführlich
dargestellten Kämpfen zwischen Heiden und Christen, wobei nur ein einziger
Christ überlebt, der aber den Emir der Heiden über die Macht des heiligen
Nikolaus bzw. einer Statuette von ihm aufklärt, zu der er sich gerettet hat.
Der Emir will nun, um ihre Kraft auf die Probe zu stellen, seinen Schatz von
ihr bewachen lassen, der jedoch von drei Dieben samt der Statuette gestohlen
wird. Es folgen fabliauxhafte Szenen in einem Wirtshaus, wo die Diebe ihre
Beute zu Geld zu machen versuchen. Als ihnen jedoch der Heilige selber
erscheint (er ist bekanntlich zuständig für das Wiederfinden verlorener
Objekte), bringen sie reumütig alles zurück, worauf sich die Heiden beeindruckt
bekehren.
Jean Bodel schrieb auch Fabliaux und
war einer der anerkanntesten nordfranz. Trouvères in allen lyrischen Gattungen
der Zeit. Er verfasste eine der letzten Chansons de geste (=Heldentatenlieder
bzw. -epen), die Chanson des Saisnes.
Diese schildert Kriege Karls des Großen, insbes. gegen die noch heidnischen Sachsen (Saisnes), die u.a. in der
sich wacker verteidigenden Stadt „Tremoigne“ (Dortmund?) belagert werden. Im
Grunde jedoch geht es in den Saisnes um die gerade aktuellen Kreuzzüge,
zumal den Vierten (begonnen 1202), an dem Bodel nicht teilnehmen konnte, weil
er sich mit Lepra angesteckt hatte.
Er starb in der „léproserie“, vor den
Toren seiner Heimatstadt, nicht ohne sich mit einem längeren Gedicht an Freunde
und Bekannte verabschiedet zu haben.
Der pikardische Dialekt, den er
verwendete, war um 1200 dank dem Mäzenatentum wohlhabender Patrizier in den
florierenden pikardischen Tuchmetropolen der wichtigste franz. Literaturdialekt
neben dem anglonormannischen.
Geoffroi de Villehardouin (ca. 1150–1213)
Er ist Autor des ältesten erhaltenen
historiografischen (=geschichtsschreibenden) Werks in franz. Prosa, der Histoire de la conquête de Constantinople (1207–1213),
womit er in eine Domäne einbrach, die bis dahin dem Lateinischen vorbehalten
war.
Der aus einem Adelsgeschlecht der
Champagne stammende Villehardouin wurde um 1190 „sénéchal de Champagne“ und nahm
vielleicht mit seinem Herzog Henri II am 3. Kreuzzug (1189–92) teil. Als dessen
Misserfolg durch einen nächsten Kreuzzug wettgemacht werden sollte, war er ab
1199 einer der Hauptorganisatoren und verhandelte z.B. 1201 mit der Republik
Venedig, die die Schiffe für die Überfahrt nach Palestina zur Verfügung stellen
sollte.
In seiner Chronik schildert
Villehardouin den dann wiederum enttäuschenden Verlauf des Unternehmens:
Nämlich wie das Kreuzfahrerheer kleiner blieb als erwartet und wie es, nach
seinem Aufbruch 1202, von den Venezianern erst zur Eroberung der dalmatinischen
Hafenstadt Zara und danach zur Einmischung in innere Querelen des oströmischen
Kaiserreichs Byzanz missbraucht wurde, wo es dem legitimen, aber von einem
Usurpator verdrängten Thronfolger Alexis IV. zur Herrschaft verhelfen sollte;
weiterhin wie das Heer 1203, statt das wieder heidnisch gewordene Jerusalem zu
erobern, das christliche Konstantinopel (das heutige Istanbul) einnahm und es
1204 grausam plünderte, als der neugekrönte Alexis sein Versprechen brach, die
Fortführung des Kreuzzugs finanziell und militärisch zu unterstützen; weiter
wie Alexis ermordet und danach der Kreuzfahrer Graf Baudouin von Flandern zum
Kaiser ausgerufen wurde; wie aber dieser und seine überwiegend aus Franzosen
rekrutierte Funktionselite, darunter Villehardouin, das okkupierte Reich nicht
in den Griff bekamen und 1207, nach der verlorenen Schlacht von Adrianopel, bei
der Balduin in Gefangenschaft geriet, in inneren und äußeren Schwierigkeiten
endeten.
Villehardouin selbst, der für seine
Verdienste zum „maréchal de Romanie“ befördert worden war und bei Adrianopel
den geordneten Rückzug geleitet hatte, blieb in Griechenland, wo sich
kurzlebige Kreuzfahrerstaaten etablierten. Er wurde 1207 von dem ursprünglichen
Führer des Kreuzzugs, Boniface de Montferrat, der sich zum König von
Thessaloniki (Thrakien) ausgerufen hatte, mit der Stadt Mosynopolis als Lehen ausgestattet. Hier begann er mit der
Niederschrift seiner Chronik. Er starb, offenbar bald nach deren Abschluss,
wohl im Jahr 1213, wo sein in Frankreich gebliebener Sohn sich erstmals als
Herr von Villehardouin bezeugt ist.
Die Chronik gefällt durch ihren
nüchternen und realistischen Stil, verfolgt natürlich aber das Ziel, den
neuerlichen Misserfolg des Kreuzzugs zu erklären und zu relativieren sowie
dessen Anführer und den Autor selbst zu rechtfertigen.
Le Lancelot en
prose (1215–35)
Es ist vermutlich der erste Prosaroman
der franz. Literatur und bearbeitet den von Chrétien de Troyes (s.o.)
überkommenen Artus-Lancelot-Graal-Stoff. Das sehr umfangreiche Werk wurde
vielleicht unter der Leitung eines nicht bekannten Chefredaktors von mehreren
ebenfalls anonymen Autoren verfasst und ist in über 60 Handschriften und in
mehreren unterschiedlichen Versionen überliefert. Es war also sehr erfolgreich
und wurde entsprechend häufig abgeschrieben (was inzwischen übrigens nicht mehr
nur in klösterlichen Skriptorien geschah, sondern zunehmend in gewerblichen
städtischen Schreibwerkstätten).
Der Lancelot
ist der Prototyp des um die Themen Abenteuer, Kampf und Liebe kreisenden
Ritterromans, einer seit Chrétien in fast ganz Europa jahrhundertelang
florierenden Gattung, zu der u.a. auch die nach 1500 zunächst in Portugal und
Spanien florierenden Amadis-Romane gehören.
Mit seiner Verklärung des Rittertums
entsprach der Lancelot (wie auch
andere franz. Ritterromane nach ihm) offenbar nicht zuletzt einem
Evasionsbedürfnis des franz. Adels, dessen Macht ab ca. 1200 durch den
energischen König Philippe Auguste († 1223) und seine Nachfolger stark
eingeschränkt wurde. Das Buch kam aber sichtlich auch dem
Unterhaltungsbedürfnis von Bürgern in den wachsenden und wirtschaftlich
aufstrebenden Städten entgegen.
Aucassin et
Nicolette (ca. 1225)
Diese „chantefable“, wie der
unbekannte, pikardisch schreibende Autor sein Werk nennt, ist das erste
Prosimetron (Mischung aus Prosa- und Versen) der franz. Literatur. Das nicht
sehr lange Werk zeugt nicht nur von der Kunst, sondern auch von der Belesenheit
seines Autors, denn es enthält zahlreiche, teils parodistische Anlehnungen an
die Literatur der Zeit, z.B. an die Chanson de Geste, die höfische Lyrik, den
höfischen Roman, den Tristan-Roman, den neuen Prosa-Ritterroman usw. So hübsch
und interessant diese „chantefable“ späteren Literaturhistorikern erscheint, damals hat sie keine Schule
gemacht und auch selbst ist sie nur in einer einzigen Handschrift erhalten
geblieben. Ob der dargestellte Triumph der Liebenden über den Willen der Väter
zu subversiv und die Figur der relativ emanzipierten Nicolette zu kühn war?
Erzählt wird in 21 Vers- und 20
Prosapassagen mit Sympathie und feinem Humor die folgende Geschichte:
Aucassin, der Sohn des Grafen von
Beaucaire, liebt die schöne Nicolette, eine Sarrazenin, die ein gräflicher
Beamter einst als Kind auf dem Sklavenmarkt erworben, aber getauft und bei sich
aufgezogen hat. Als Feinde die Grafschaft angreifen, erklärt Aucassin seinem
Vater, dass er nur dann in den Kampf zieht, wenn er Nicolette heiraten darf,
doch der Graf lehnt diese Mesalliance ab. Auch der Beamte versucht Aucassin die
Heirat auszureden und sperrt, als das nichts nützt, Nicolette ein. Sie kann
aber fliehen und tröstet durch eine Mauerspalte Aucassin, der inzwischen
seinerseits im Kerker sitzt, weil er im Kampf zwar Heldentaten vollbracht,
danach jedoch neuen Streit mit dem unbeugsamen Vater gehabt hat. Sie baut sich
nun eine Hütte im Wald und sendet ihm, als er endlich frei ist, Lebenszeichen
von dort.
Nachdem er sie gefunden hat, gehen sie
gemeinsam in ein fremdes Land, werden dort aber bei einem Überfall
nordafrikanischer Piraten gefangen und getrennt verschleppt. Während Aucassin
dank einem Schiffbruch just bei Beaucaire wieder freikommt, den Tod seines
Vaters erfährt und neuer Graf wird, gerät Nicolette nach Karthago. Hier stellt
sich heraus, dass sie die geraubte Tochter des dortigen Königs ist, der sie
sogleich mit einem muslimischen Fürsten verheiraten will. Sie flieht jedoch und
schlägt sich durch bis Beaucaire, wo sie als Spielmann verkleidet Aucassin
ihrer beider Geschichte vorträgt. Als er ergriffen den vermeintlichen Spielmann
bittet, ihm die Geliebte zu suchen, steht dem Happy End nichts mehr im Weg.
Guillaume de Lorris (* um 1205, vermutlich in
Lorris-en-Gâtinais, † nach 1240)
Der als Person gänzlich unbekannte
Guillaume gilt als Autor eines 4068 Verse zählenden Romanfragments, das er
gegen 1240 wohl in Paris für ein überwiegend höfisches Publikum begann und das
gegen 1280 von Jean de Meung fortgesetzt und einem Ende zugeführt wurde: des sog.
Roman de la Rose / Rosenroman.
Guillaumes besondere Leistung bestand
darin, drei Elemente gekonnt miteinander verbunden zu haben, die sämtlich in
der Literatur der Zeit zwar vorhanden, aber wenig geläufig waren: die Form der
Ich-Erzählung, die Darstellung einer ganzen Romanhandlung in Gestalt eines
Traumberichts und die Verwendung allegorischer Figuren als handelnder Personen.
Von der Meisterschaft Guillaumes zeugt auch seine so einfühlsame wie
anschauliche Darstellung der Psychologie des Verliebtseins.
Offenbar
war Guillaume auch der Erfinder der allegorischen Figur des Danger (aus
mittellat. domniarium „Herrschaft, Herrschaftsanspruch“). Dieser Unhold,
der alles verkörpert, was den Liebenden, vor allem dem liebenden Mann, die
Erfüllung ihrer Wünsche erschwert, war anschließend über 200 Jahre hinweg eine
außerordentlich verbreitete Figur in der franz. Literatur, vor allem der Lyrik.
Wahrscheinlich hat sie die Bedeutungsverschiebung von „Herrschaft“ zu „Gefahr“
verursacht, die das Wort danger im späten Mittelalter im Französischen
erlebte. In der deutschen Literatur scheint die Figur des Danger keine
Entsprechung zu haben.
Le Roman de la
rose / Rosenroman (ca. 1230–1280)
Dieser lange allegorische Roman in
paarweise reimenden Achtsilblern ist das erste große in Paris entstandene Werk
der franz. Literatur und war wohl der meistgelesene und einflussreichste
franz.sprachige Text des Mittelalters. Er wurde zwischen 1230 und 1240 begonnen
von dem als Person nicht näher bekannten Guillaume de Lorris (* ca. 1205, † ca.
1240, s.o.) und blieb zunächst Fragment, das bei Vers 4028 abbrach. Von
Guillaume offenbar stammte die bahnbrechende Idee, drei in den Romanen seiner
Zeit zwar vorhandene, aber kaum geläufige Elemente miteinander zu verbinden:
die Form der Ich-Erzählung, die Darstellung einer ganzen Romanhandlung als
Traumbericht und die Verwendung allegorischer Figuren als handelnder Personen.
Das Werk wurde fortgesetzt und gegen 1280 mit Vers 21.750 zu einem Abschluss
gebracht von Jean de Meung (s.u.).
Der Roman beginnt mit einer kleinen
Vorrede, worin der Autor dem Leser/Hörer ankündigt, er wolle seiner Dame zu
Gefallen einen quasi Wahrheit gewordenen Traum berichten, den er vor fünf
Jahren als Zwanzigjähriger gehabt habe. Der Bericht enthalte „die ganze Kunst
der Liebe“ und heiße „der Roman von der Rose“. Denn mit dieser Blume sei seine
Dame zu vergleichen.
Der dann folgende Traumbericht ist
einem Ich-Erzähler (einem der ersten der franz. Literatur) in den Mund gelegt,
der zugleich Protagonist der Handlung und, wie sich bald zeigt, fast die
einzige als realer Mensch vorzustellende Figur hierin ist. Alles beginnt damit,
dass der Erzähler vor einen mauerumschlossenen paradiesischen Garten gelangt,
dessen Besitzer Déduit (Spaß, Vergnügen) dort mit einer fröhlichen Gesellschaft,
darunter Amor, tanzt und singt. Er wird von Oiseuse (die Müßige) eingelassen
und darf etwas mitfeiern, erkundet dann jedoch den Garten, heimlich verfolgt
von Amor. Im Spiegel eines Brunnens, dem von Narziss, erblickt er das Bild
einer Rosenknospe, die er fasziniert sofort sucht und an einem großen Busch
auch findet. Bei dem Versuch, sich ihr zu nähern, wird er von den Pfeilen Amors
getroffen. Sie verwandeln seine Faszination in Liebe und machen ihn zu Amors
Vasallen. Nachdem er ihm Treue und Gehorsam gelobt hat, wird er ausführlich
belehrt über die Pflichten eines Liebenden (u.a. dass er allen, zumal Frauen,
gegenüber zuvorkommend ist, sich sauber hält und adrett kleidet) sowie sehr
anschaulich aufgeklärt über die Seelenqualen, die ihn erwarten. Bei seinen
weiteren Annäherungsversuchen an die Rose bekommt er es mit vielerlei
allegorischen Figuren zu tun, insbes. Bel-Accueil (Freundlicher Empfang), der
sich ihm zu helfen erbietet, Raison (Vernunft), die ihn warnt, und den
Bösewichten Malebouche (Verleumdung), Peur (Furcht), Honte (Scham) und vor
allem Dangier ([unrechtmäßiger] Herrschaftsanspruch), einem anschließend in der
franz. Literatur allgegenwärtigen Unhold, der das Zusammenkommen Liebender nach
Kräften behindert. Schließlich schafft der Liebende es zwar mit der Hilfe von
Venus, Danger zu überlisten und einen Kuss der Rose zu erhaschen, doch lässt
nun Jalousie (Eifersucht) um den Rosenbusch herum eine Burg errichten und
Bel-Accueil in den Burgturm sperren, so dass der Liebende verzweifelt in eine lange
Klage anstimmt – womit der von Guillaume de Lorris verfasste Teil abbricht.
Die ursprüngliche, bis hierher noch
deutliche Gesamtkonzeption ist die der Vermittlung einer idealistischen „ars
amatoria“ (Liebeskunst) an ein höfisches Publikum. Der liebende adelige Mann
sollte durch die theoretischen Belehrungen Amors und durch das praktische
Beispiel der Handlung die Kunst des Minnedienstes lernen, der in der völligen
Hingabe an die geliebte Dame und der geduldigen Überwindung von Widerständen
und Hindernissen besteht und eine moralische Läuterung bewirkt.
Guillaume
hatte den Liebenden/Erzähler einerseits beiläufig anmerken lassen, er werde
später den tieferen Sinn des Werkes erklären, und hatte ihn an einer anderen
Stelle andeuten lassen, er werde die Rose erst am Ende einer langen Schlacht
bekommen. Offenbar waren es diese Bemerkungen, die Jean de Meung (s.u.) auf die
Idee einer Fortsetzung brachten. Jean
führt zunächst die Klage des Liebenden fort, doch ändert sich sofort die
Atmosphäre des Textes. Der Liebende wirkt skeptischer, offener für Zweifel.
Auch lässt Jean ihn Aufklärung suchen, zunächst bei Raison, die ihm einen so
nüchternen wie langen Vortrag über die Probleme und Spielarten der Liebe hält,
ihn aber noch ausführlicher über moralisches und unmoralisches Handeln
überhaupt aufklärt, ihn vor dem launischen Walten Fortunas warnt und ihn zur
Aufkündigung seines Vasallenverhältnisses zu Amor drängt, was der Liebende
natürlich ablehnt. Auch im nächsten Abschnitt, dem Vortrag über praktische
Lebensregeln aller Art, den eine Figur namens Ami (=Freund) auf Bitte des
Liebenden hält, geht es nur am Rande um die Probleme Verliebter. Dem Autor Jean
ist offensichtlich vor allem an allgemeiner Unterweisung seiner Leser gelegen.
Die
Handlung kommt in seinem Teil fast zum Stillstand, das eigentliche Ziel, die
Rose, scheint eher nebensächlich geworden, auch wenn der Liebende sie
schließlich dank der Hilfe von Amor und seiner Mutter Venus und am Ende eines
heftigen Kampfes der allegorischen Figuren um die Rosenburg erlangt und
pflückt. Jean nämlich verschafft sich bzw. seinen Figuren ständig neue
Gelegenheiten zu gelehrten und satirischen Exkursen. So diskutiert er unter
häufiger Berufung auf antike und jüngere Autoritäten philosophische,
theologische und moralische Probleme, breitet seine beachtlichen
mythologischen, astrologischen und naturkundlichen Kenntnisse aus und nimmt zu
aktuellen Fragen Stellung, indem er etwa die Bettelmönchsorden satirisch
aufs Korn nimmt oder
die Herrschenden und die Vertreter der Kirche kritisiert.
Insgesamt steht Jean, der sichtlich für
ein vorwiegend städtisches Publikum schrieb, in einer ironischen Distanz zur
höfischen Denkungsart seines Vorgängers Guillaume. Aus einer fast misogynen
Grundhaltung heraus, wie sie typisch war für den mittelalterlichen Kleriker,
sieht er die Liebe nicht als Ideal, sondern als einen von der Natur gesteuerten
Trieb, der von moralischen Vorstellungen bestenfalls gezügelt wird. Die Frau
sieht er entsprechend nicht als Mittel der Läuterung, sondern als Versuchung,
vor der er den Liebenden von Raison nochmals eindringlich warnen lässt.
Dem Erfolg des Romans tat die
Diskrepanz der beiden Teile keinen Abbruch. Hierbei wurde von den
spätmittelalterlichen Lesern wahrscheinlich weniger der dichterisch schönere
Teil Guillaumes geschätzt als der gelehrtere und vielfältigere Teil von Jean.
Diesen hielt man denn auch für den Verfasser des Gesamtwerks. Insgesamt sind
mehr als 300, häufig prachtvoll illuminierte Manuskripte erhalten (eine enorme
Zahl für einen mittelalterlichen Text) und an die 20 frühe Drucke bis 1538.
Entsprechend groß war der Einfluss des Werkes auf die franz. Literatur, wo es
die Gattung Traumgedicht heimisch machte und (anders als in Deutschland) in
allen Gattungen allegorische Figuren zur Selbstverständlichkeit werden ließ.
Der Rosenroman wurde von so gut wie allen franz. Autoren zwischen 1300 und 1530
gelesen und als Inspirationsquelle benutzt. 1527 versuchte Clément Marot
(s.u.), den Text durch eine sprachliche Modernisierung zu revitalisieren. Diese
Fassung des Romans wurde jedoch nur viermal nachgedruckt, ehe er der so starken
wie raschen Veränderung des literarischen Geschmacks zum Opfer fiel, die von
der Wiederbelebung der Antike durch die Humanisten und dem Einbruch des
kulturellen Einflusses Italiens in Frankreich ausgelöst wurde.
In der Übertragung Chaucers hat der
Rosenroman die englische Literatur beeinflusst, in einer parodistischen,
vielleicht von Dante verfassten Version, auch die italienische. In der deutschen
Literatur scheint er keine nennenswerten Spuren hinterlassen zu haben.
Jean
de Meung
(auch Jean Clopinel oder Chopinel; * um 1240, wahrscheinlich in
Meung-sur-Loire; † spätestens 1305, wahrscheinlich in Paris)
Über seine Biografie ist so gut wie nichts
Genaueres bekannt. Aus seinem Schaffen lässt sich erschließen, dass er
zumindest die Artistenfakultät absolviert haben muss und Kleriker war. Auf
jeden Fall hatte er die Möglichkeit, sich eine profunde philosophische,
theologische, literarische und naturkundliche Bildung anzueignen. Auch scheint
sicher, dass er den größten Teil seiner aktiven Jahre in Paris verbracht hat.
Literarhistorisch bedeutend wurde Jean
vor allem durch seine Fortsetzung des um 1230/40 von Guillaume de Lorris
begonnenen Rosenromans (Roman de la Rose,
s.o.), die er wohl 1275-80 verfasste und durch die er die gut 4000 Verse
Guillaumes um fast 18.000 Verse erweiterte. Der Rosenroman war einer der
größten Bucherfolge, vielleicht sogar der größte, des franz. Mittelalters, und
zwar obwohl die beiden Teile nicht nur in der Länge sehr verschieden sind,
sondern auch in ihrem Geist und ihrer Machart. Der Hauptanteil an dem Erfolg
gebührt wahrscheinlich nicht dem dichterisch schöneren Teil Guillaumes, sondern
dem gelehrteren und vielfältigeren Teil Jeans, unter dessen Namen das Werkganze
denn auch anschließend lief.
Die sonstige Aktivität von Jean de
Meung bestand vor allem im Übertragen lateinischer Texte ins Franz., womit er
offenbar die Bedürfnisse der zunehmenden Zahl von Lesekundigen und
Wissensdurstigen vor allem in den wachsenden und prosperierenden Städten seiner
Zeit befriedigte. So übertrug er insbes. das Standardwerk der Kriegskunst De re militari von Vegetius (4. Jh. n.
Chr.), die Briefe Abälards und Heloises (12. Jh.) und das Trostbuch De Consolatio Philosophiae von Boethius
(523/24 n. Chr.). Wie so häufig bei erfolgreichen Autoren, wurden ihm postum
auch Werke zugeschrieben, die er nicht verfasst hat.
La Châtelaine de
Vergi (ca. 1250)
Diese anonyme, traurig-schöne höfische
Erzählung in 958 Versen gilt seit ihrer Wiederentdeckung zur Zeit der Romantik
als ein Juwel der älteren franz. Literatur. Sie variiert das aus der Bibel
bekannte Joseph-Putiphar-Motiv in folgender Geschichte:
Die Châtelaine (Burgherrin) von Vergi
und ein Ritter haben ein geheimes glückliches Verhältnis. Die Herzogin von
Burgund verliebt sich in den Ritter, der sie abweist, ohne zu sagen warum.
Gekränkt beschuldigt sie ihn beim Herzog mit der Lüge, er stelle ihr nach. Als
jener den Ritter tadelt und bestrafen will, weiht dieser ihn in sein Geheimnis
ein und lässt ihn versteckt sogar ein Rendez-vous mit der Châtelaine
belauschen. Der Herzog, der von der Herzogin zu erklären gedrängt wird, warum
er den Ritter nicht bestraft hat, sagt ihr schließlich den Grund. Hierauf
deutet die Herzogin der Châtelaine an, sie kenne ihr Geheimnis, und zwar aus
dem Munde des Ritters. Die Châtelaine glaubt sich verraten und stirbt vor
Kummer; der Ritter nimmt sich das Leben, als er die Tote findet und den Grund
ihres Todes erfährt. Der Herzog erdolcht im Zorn seine Frau und geht zur Buße
als Tempelritter nach Palästina.
Die offenbar recht erfolgreiche
Erzählung (18 mittelalterliche Handschriften sind erhalten), wurde immer wieder
modernisiert, ins Italienische sowie ins Niederländische übertragen und zu
englischen und deutschen Versionen verarbeitet.
Anm.: Die geläufige Bezeichnung
Joseph-Putiphar-Motiv ist eigentlich unkorrekt, denn Putiphar ist der Name des
Gatten der Frau, die sich in Joseph verliebt hat.
Rutebeuf (auch Rustebués genannt; Schaffenszeit
ca. 1250–1285)
Er gilt heute als der erste bedeutende
Pariser Autor in der franz. Literaturgeschichte. Über seine Biografie sind wir
nur vage aus flüchtigen Angaben in seinen Werken informiert. Deren
Entstehungsdaten müssen aus ihrem Inhalt und anderen Indizien erschlossen
werden. Auch sein eigentlicher Name steht nicht fest. Er selbst erklärt
„Rutebeuf“ als Beinamen, der seinen Hang zu den heftigen Attacken ausdrücke,
die ihn als „rude beuf“ (rüder Ochse) erscheinen ließen.
Offenbar war Rutebeuf zum Studium, wohl
aus der Champagne, nach Paris gekommen, das unter den lange und erfolgreich
regierenden Königen Philippe "Auguste" (1180-1223) und Louis IX
(1226–1270) zum unbestrittenen Macht- und Kulturzentrum Frankreichs aufgerückt
war. Er hatte jedoch, wie er angibt, durch eigene Schuld, nämlich Trunk- und
Spielsucht, keinen festen Platz in der Gesellschaft gefunden. Vielmehr führte
er, zunehmend pessimistisch und verbittert und ständig über seine Armut
klagend, eine unsichere Existenz als Auftragsdichter wechselnder Gönner, als
Unterhalter mit Text- und Gesangsdarbietungen in den Häusern reicher Leute und
wohl vor allem als Spielmann auf Volksfesten.
Als Autor war er sehr vielseitig und
betätigte sich in vielen Genres, mit Ausnahme der höfischen Lyrik und des
höfischen Romans. Er verfasste Gesellschaftssatiren (z.B. La Bataille des vices contre la vertu), ein Mirakelspiel (Le Miracle de Théophile), Heiligenviten
(z.B. Vie de Sainte Marie l’Égyptienne), Fabliaux (=Schwänke), eine
satirische allegorische Fuchs-Dichtung (Renart
le bétourné), persönliche Lyrik, die meist sein Unglück thematisiert (z.B. Le
Mariage de Rutebeuf oder La Complainte de Rutebeuf), aber auch
gereimte Kreuzzugspropaganda, die die Lethargie der Christen und ihrer Führung anprangert.
Ein nicht unerheblicher Teil seiner Gedichte, z.B. der Renart, diente
ganz oder nebenher der Polemik gegen die jungen Bettelmönchsorden, die die
Volksbelustigungen bekämpften, von denen er und seine Schausteller- und
Spielmannskollegen lebten. Allerdings polemisiert er auf einer eher politischen
Ebene, indem er den Einfluss der Mönche auf den König und andere Mächtige
geißelt und die Heuchelei anprangert, mit der sie, wie er glaubt, ihren
Machthunger und ihre Gier kaschieren. Zugleich versuchte er mit seiner Polemik
die Pariser Universität, der er sich verbunden fühlte, in ihrem Abwehrkampf
gegen die Orden zu unterstützen, die an ihren Privilegien teilzuhaben
trachteten.
Rutebeuf, der sich nicht zu Unrecht
unter Wert gehandelt fühlte, ist eine relativ isolierte, unkonventionell
wirkende Stimme in der Literatur seiner Zeit. Er wird von anderen Autoren kaum
erwähnt oder zitiert und hat auch keine Schule gemacht. Der 200 Jahre jüngere
François
Villon, mit dem er gern verglichen wird, hat vermutlich nichts von ihm gewusst.
P.S.: Nachdem Paris aufgrund seiner
günstigen Lage am Zusammenstrom von vier Flüssen, auf denen sich Lebensmittel
heranschaffen ließen, früh zur festen Residenz des Königshofes geworden war,
entwickelte es sich im 13. Jh. nicht nur zur eindeutig größten Stadt im
Königreich, sondern wurde, nicht zuletzt dank der Universität, auch zum
intellektuellen und kulturellen Zentrum, das alle bisherigen anderen Zentren
zweitrangig werden ließ. Hieraus erklärt sich auch der im 13. Jh. einsetzende
Siegeszug des Dialekts der Île de France, des Franzischen, das allmählich zur
Standardsprache wurde und die bisher mit ihm als Literatursprachen
rivalisierenden Dialekte bzw. Sprachen verdrängte, d.h. das Anglonormannische
(das ohnehin langsam mit dem Angelsächsischen zum Englischen verschmolz), das
Normannische, das Champagnische, das Pikardische sowie das Okzitanische
Südfrankreichs.
Brunetto
Latini bzw. Brunet Latin (ca.
1230–1294)
Der Name dieses ersten Italieners in
der franz. Literaturgeschichte verbindet sich mit dem nach 1260 begonnenen Livre du trésor (=das Buch vom Schatz), einem Kompendium des
geographisch-naturkundlichen, philosophisch-moralischen und
biblisch-althistorischen Wissens der Zeit und zugleich der Politik und
Rhetorik.
Das Werk entstand in Paris während
einer Verbannung des hochgebildeten Frühhumanisten Brunetto aus seiner von
inneren Machtkämpfen zerrissenen Heimatstadt Florenz. Es war gedacht als
Lehrbuch und Nachschlagewerk für ein breiteres, d.h. nichtklerikales, vor allem
städtisch-patrizisches Publikum.
Der in nüchterner franz. Prosa
geschriebene Trésor, für den es
damals nur lateinisch verfasste Vorbilder gab, wurde seinerseits Vorbild für
zahlreiche ähnliche in den Volkssprachen verfasste Werke in Frankreich und
anderswo in Europa. Die Tatsache, dass Brunetto französisch schrieb, um (wie er
selbst vermerkt) möglichst viele Leser zu erreichen, bezeugt die Bedeutung, die
das Französische inzwischen als europäische Lingua
franca gewonnen hatte, d.h. als Verkehrssprache, die vielerorts, bis in den
Vorderen Orient hinein, verstanden und benutzt wurde.
Brunetto kehrte übrigens 1267, nachdem
seine Partei in Florenz wieder an die Macht gekommen war, dorthin zurück und
gelangte in höchste Ämter dieses seinerzeit reichen und mächtigen, als Republik
verfassten Stadtstaates. Dante bezeichnet ihn in seiner Divina commedia
(I, 15) als seinen Lehrer, versetzt ihn allerdings zu den Sodomiten in die
Hölle.
Adam de la Halle (ca. 1235 – ca.
1285)
Adam, der auch „le Bossu“ (der
Bucklige) genannt wurde, ist heute vor allem bekannt als der Autor von Le Jeu de la feuillée (1276/77), dem
ersten satirischen Theaterstück der franz. Literatur. Hierin bringt er sich
selbst, seinen Vater, seine Frau, Verrückte und Feen sowie diverse reiche
Patrizier seiner Heimatstadt Arras auf die Bühne und karikiert sich und sie
überwiegend boshaft in einer Serie von Szenen, die wie bissige Rundumschläge
aus einer Lebenskrise heraus erscheinen (von der er sich offenbar gern durch
einen Wechsel ins intellektuell lebendigere Paris befreit hätte).
Ca. 1284 (Adam stand inzwischen im
Dienst des Grafen Robert von Artois) verfasste er in Neapel ein weiteres Stück,
das Singspiel Le Jeu de Robin et de
Marion. Dieses sollte zur Unterhaltung des franz. Heeres beitragen, mit dem
Robert 1283 nach Neapel gezogen war, um dem jüngeren franz. Königssohn Charles
d'Anjou (der seit 1266 König von Neapel-Sizilien war) zu helfen, das seit 1282
aufständische Sizilien zurückzuerobern.1)
Die Handlung des Jeu de Robin et de
Marion spielt in einer halb realistischen, halb konventionell-arkadischen
Hirtenwelt und rankt sich um das traditionelle Pastorellen-Motiv, d.h. die
Begegnung in freier Natur zwischen einem liebeshungrigen Ritter und einer
jungen Schäferin (wobei im vorliegenden Fall Marion ihrem Robin treu bleibt und
den Ritter abblitzen lässt – ähnlich wie es oft auch in den zahlreichen
anderen, meist in Gedichtform verfassten "Pastourelles" geschieht).
Adam war in seinen jüngeren Jahren auch
als Lyriker (und Komponist seiner Texte) nicht unbedeutend. Die reiche
Tuchmetropole Arras verfügte zu dieser Zeit durchaus über ein eigenständiges
geistiges Leben, z.B. mit regelmäßigen Wettdicht- und Wettsingveranstaltungen
(„puis“), in denen er sich profilieren konnte.
1) Frankreich war im 13. Jh. dank einer
Serie tüchtiger Könige von Philippe II „Auguste“ (1180-1223) bis zu Philippe IV
„le Bel“ (1285–1314) die politisch stärkste Macht in Europa! Die
Wiedereingliederung Siziliens in das Königreich Neapel allerdings gelang für
dieses Mal nicht.
Marco Polo (ca. 1254–1324)
Dieser venezianische Patrizier,
Kaufmann und Reisende ist in die franz. Literaturgeschichte eingegangen mit Le Livre des merveilles du monde (1298),
dem ersten weitgehend realistischen Bericht über die in Westeuropa bis dahin
praktisch unbekannten Länder und Völker in Fernost.
Im Mittelpunkt steht China, wo Polo
sich zunächst als noch jugendlicher Begleiter seines Vaters und seines Onkels,
dann als Günstling des Großkhans (=Kaisers) 17 Jahre lang (1275–1292)
aufgehalten hatte, während derer er viel in dem Riesenreich selbst herumkam,
aber auch Indien und Burma bereiste. Ebenfalls beschrieben werden der Hinweg
über die berühmte Seidenstraße und der Rückweg, der per Schiff bis Persien,
über Land bis Konstantinopel und dann wieder per Schiff nach Venedig führte.
Das Buch entstand durch den Zufall,
dass Polo bei einem Seegefecht zwischen Venezianern und Genuesen in genuesische
Gefangenschaft geriet und von einem Mitgefangenen, dem auch als Autor anderer
Werke bekannten Rustichello da Pisa, gedrängt wurde, ihm den Bericht seiner
Reise zu diktieren, wobei die beiden als geeignetste Sprache das ihnen
ausreichend vertraute Französische wählten (in das sie allerdings viele
Italianismen mischten).
Der "Marco Polo" wurde in den
nachfolgenden zwei Jahrhunderten sehr viel gelesen, denn mehr als 80
Handschriften, auch von Übersetzungen in andere Sprachen, sind erhalten.
Darüberhinaus wurde er von Gelehrten aller Art ausgewertet, vor allem
Geographen, die seine sehr exakt wirkenden Entfernungsangaben für ihre Karten
übernahmen. Noch Kolumbus benutzte diese Angaben zur Errechnung der Länge einer
Seefahrt quasi hinten herum nach Indien (wobei er aber viel zu optimistisch
kalkulierte und verhungert und verdurstet wäre, hätte er nicht Amerika,
genauer: eine karibische Insel gefunden).
Jean de Joinville (* 1224 oder
1225; † 24.12.1317)
Er ist vor allem bekannt als Verfasser
einer Darstellung von König Louis IX des Heiligen (1214-70), die als erste
franz.sprachige Biographie in einem modernen Sinne gilt.
Joinville gehörte einer Familie an, die
nicht zuletzt durch reiche Heiraten in den Hochadel aufgestiegen war und in der
das (Richter-)Amt eines Sénéchal de Champagne erblich war. Im Alter von ca.
acht Jahren verlor er seinen Vater, wonach er von seiner Mutter erzogen wurde,
die aus der Familie der Grafen der Bourgogne stammte.
1241 ist Joinville ein erstes Mal in
seinem Rang als Sénéchal nachweisbar, und zwar bei einem königlichen Hoftag in
Saumur. Anschließend unternahm er eine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela.
Nach seiner Rückkehr heiratete er.
1245 oder 46 nahm er erstmals als
Ritter an Kampfhandlungen teil anlässlich der Fehde eines Onkels, des Grafen
von Chalon.
Ostern 1248, inzwischen war er Vater
zweier Kinder, darunter eines Sohnes, nahm er das Kreuz, wie es schon mehrere
Vorfahren von ihm getan hatten, und schloss sich mit zehn von ihm besoldeten
Rittern dem Sechsten Kreuzzug an, zu dem Louis IX von Marseille aus aufbrach.
Während der längeren Zwischenstation auf Zypern trat er, nicht zuletzt wohl aus
finanziellen Gründen, in das königliche Gefolge ein.
Bei der Landung des Kreuzfahrerheeres
im Nil-Delta Anfang 1249 und der Einnahme der dortigen Hafenstadt Damiette
zeichnete Joinville sich aus. Wenig später nahm er an der desaströsen
Belagerung von al-Mansura teil, an welcher der Kreuzzug scheiterte. Auf dem
Rückzug nach Damiette geriet er im Februar zusammen mit König Louis in
Gefangenschaft. Gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes wurde er im Mai freigelassen,
gemeinsam mit Louis, mit dem er sich nach Akkon in Palästina einschiffte. In
dieser Hafenfestung, die noch von Kreuzfahrern gehalten wurde, blieb er vier
Jahre lang mit ihm zusammen und begleitete ihn 1254 zurück nach Frankreich. In
diesen Jahren täglichen Umgangs mit seinem König wurde er zu dessen engen
Vertrauten, was er in der Folgezeit als Mitglied des Kronrates blieb.
1267 (inzwischen hatte er sich in
zweiter Ehe verheiratet und war vor kurzem wieder Vater geworden) wurde
Joinville von Louis gedrängt, an einem neuerlichen Kreuzzug (dem siebten)
teilzunehmen, der nach Tunis führen sollte. Er lehnte jedoch ab, weil er sich
den Seinen verpflichtet fühlte und überdies das Vorhaben für unrealistisch
hielt – zu Recht, denn Louis kam 1270 vor Tunis ums Leben, ohne Erfolge erzielt
zu haben.
1282 gehörte Joinville zu den Zeugen im
Kanonisierungsverfahren, das für Louis eröffnet worden war und 1290 mit dessen
Heiligsprechung endete. Der Wortlaut seiner Aussage ist erhalten.
Da er schon während seines Aufenthalts
in Palästina einen Kommentar des Credo verfasst hatte (der ihn als guten
Bibelkenner ausweist), begann er 1305 auf Bitten der Königin das Livre des
saintes paroles et des bons faits de nostre saint roi Louis (=Das Buch von den
heiligen Worten und guten Taten unseres heiligen Königs Ludwig), das er 1309
fertigstellte und dem amtierenden König Philippe le Bel widmete, einem Enkel
von Louis IX.
Das Werk sollte der Belehrung und
Erbauung des Kronprinzen (des späteren Louis X, *1289) dienen, doch verfolgte
es daneben naturgemäß auch politische Ziele, nämlich die Stärkung der Dynastie
durch die Präsentation eines mustergültigen Herrschers aus ihren Reihen.
Joinville bringt sich aber auch selbst zur Geltung, denn er erzählt als erster
Chronist der franz. Literatur in der 1. Person. Der Form nach ist sein Werk ein
sehr persönlich wirkender, lebendiger Bericht seiner vielen Begegnungen mit
Louis und mischt insofern Gattungsmerkmale von Biografie, Autobiografie,
Chronik und Reisebericht, aber auch der meist lateinischen Exempla-Literatur
der Zeit.
Joinville nahm noch als Hochbetagter an
mehreren Kriegszügen teil und starb im für mittelalterliche Verhältnisse sehr
hohen Alter von gut 90 Jahren auf seinen Besitzungen in der Champage.
Sein Image eines ersten Biografen im
modernen Sinn resultiert daraus, dass er bestrebt ist, die dargestellte Person
trotz aller Sympathie möglichst objektiv darzustellen, d.h. in den
unterschiedlichsten, sowohl alltäglichen wie offiziellen Situationen, und ihn weniger
apologetisch als Heiligen zu verherrlichen denn als guten Christen und König zu
zeigen, der durchaus auch diese oder jene Schwäche aufweist.
Das Werk Joinvilles fand zu seiner Zeit
offenbar keine weite Verbreitung, denn nur wenige Manuskripte sind erhalten.
Auch hat es, vielleicht aufgrund seiner unkonventionellen Form, nicht als
Vorbild gewirkt. Immerhin wurde es 1547 gedruckt unter dem knappen Titel Vie
de Saint Louis. Erst im 19. Jh. wurde es von (Literar-)Historikern stärker
beachtet. Eine deutsche Übersetzung (Th. Nissle) erschien 1854.
Guillaume de Machaut (ca. 1300 – 1377)
Er war einer der großen Autoren, aber
auch Komponisten seines Jahrhunderts. (In Nachschlagewerken wird er häufig
unter "G", d.h. seinem Vornamen, geführt.)
Er wurde geboren wahrscheinlich in
Machault, einem Dorf in den Ardennen, als Sohn einer nichtadeligen Familie, die
aber sichtlich wohlhabend genug war, um ihm eine gute Bildung zu ermöglichen.
Nach Studien an der Domschule von Reims trat er ca. 1323 in die Dienste Herzog
Johanns von Luxemburg (1296-1346), eines Sohnes Kaiser Heinrichs II. Zum
Sekretär Johanns befördert, der zugleich König von Böhmen, Mähren und Schlesien
war, begleitete er diesen auf seinen vielen Reisen durch seine Territorien und
auf zahlreichen Kriegszügen. Dank ihm erhielt er 1337, obwohl nie zum Priester
geweiht, eine einträgliche Domherrenpfründe im Domkapitel von Reims, wo er ab
1340 auch überwiegend lebte, nachdem Johann erblindet war und weniger umherzog.
Als 1346 Johann in der englisch-franz.
Schlacht von Crécy umkam (auf Seiten des Verlierers, König Philippe VI von
Frankreich), trat Machaut in die Dienste Guthas (alias Bonne) von Luxemburg,
der Tochter Johanns und Schwiegertochter Philippes. Nach Guthas baldigem Tod
(1349) war Machaut als Dichter renommiert genug, um keinen festen Dienstherrn
mehr zu benötigen. Vielmehr schloss er sich wechselnden fürstlichen Mäzenen an,
z.B. dem Dauphin (Kronprinz) und späteren König Charles V (1364–1380) oder
dessen kunstliebendem Bruder Herzog Jean de Berry († 1416), an deren Höfen er
gastierte und denen er – natürlich gegen Entgelt – seine Werke widmete.
Machaut war Verfasser von längeren,
meist allegorischen Versdichtungen verschiedener Gattungen sowie von kürzeren
Verserzählungen und -romanen, die in der Regel die Ich-Form benutzen und viele
autobiografische Elemente enthalten. Er versuchte sich aber auch in der Gattung
Vers-Chronik mit La Prise d'Alexandrie,
einem Bericht von der (vorübergehenden) Eroberung Alexandrias 1365, den er
1370-1371 zu Ehren des 1369 ermordeten Eroberers Pierre de Lusignan, Königs von
Zypern, verfasste. Vor
allem aber war Machaut ein sehr produktiver, seine Kunst reflektierender
Lyriker, von dem 234 Balladen, 76 Rondeaus und rd. 100 andere Gedichte erhalten
sind. Hauptgegenstand dieser Lyrik, die formal und thematisch überwiegend im
Gefolge der höfischen Dichtkunst steht, ist die Liebe oder genauer "das
Lob der Damen".
Machaut war übrigens einer der letzten,
der viele seiner Gedichte vertont hat, und er gilt auch in der Musikgeschichte
als Figur von epochaler Bedeutung.
Von Interesse ist er darüber hinaus als
Autor des wohl ersten autobiografischen Liebesromans der franz. Literatur, Le voir dit (=die wahre Dichtung), einer
1362 verfassten Liebesgeschichte um die junge Péronne d'Armentières und den
schon ältlichen Dichter, der darin zugleich die Entstehung seines Werkes
thematisiert.
Von seinen Zeitgenossen wurde Machaut
als ein Meister seiner Kunst verehrt. Sein Einfluss auf die nächsten
Lyrikergenerationen, insbes. auf Jean Froissart, Eustache Deschamps und
Christine de Pizan war groß. Seine Existenz als eines Autors, der vor allem für
Höfe und fürstliche Mäzene tätig war, wird für die Autoren des 14. und 15. Jh.
typisch werden.
P.S.: Die im vorangehenden 13. Jh. so
bedeutende kulturtragende Funktion der reichen Stadtbürgerschaft (des
Patriziats), war im 14./15. Jh. stark gemindert dadurch, dass die Städte
verarmt waren aufgrund eines ganz Europa betreffenden enormen Rückgangs der
Bevölkerungszahl und damit der Wirtschaftskraft. Ursache hierfür waren zunächst
Serien von Missernten und Hungersnöten, die ausgelöst wurden von einer starken
Klimaverschlechterung nach 1300, und dann die Große Pest von 1348–50, bei der
weit mehr als die Hälfte aller Europäer starben, und zwar vor allem in den
Städten aufgrund der dort größeren Ansteckungsgefahr. In Frankreich kamen ab
1337 verschlimmernd die Auswirkungen der ersten Phasen des Hundertjährigen
Krieges zwischen der englischen und der franz. Krone hinzu.
Jean
Froissart (*
ca. 1337 in Valenciennes, † ca. 1410, wahrscheinlich in Chimay/Belgien)
Er ist von besonderem Interesse als
Autor der von 1370 bis 1400 verfassten Chroniques,
des wohl ersten franz.sprachigen historiografischen Werks, das Ereignisse der
jüngeren und jüngsten Vergangenheit nicht, wie bis dahin üblich, aus der rückblickenden
Perspektive eines selbst daran Beteiligten berichtet, sondern sie auf der
Grundlage schriftlicher Quellen sowie der Befragung von Teilnehmern und
Augenzeugen darstellt.
Froissart wuchs auf im (heute
belgischen) Hainaut (Hennegau). Nach einer Ausbildung als Kleriker ging er 1361
nach London an den englischen Hof, da er Anschluss an Philippine de Hainaut,
die Gemahlin von König Edward III, gefunden hatte. Seine literarische Laufbahn
begann er als höfischer Lyriker und Verfasser längerer, oft allegorischer
Versdichtungen im Stile Guillaumes de Machaut (s.o.). Schon in London jedoch,
wo er viele Teilnehmer am Hundertjährigen Krieg zwischen den Kronen Englands
und Frankreichs kennenlernte und von wo aus er bald auch zahlreiche Reisen für
Recherchen und die Befragung von Zeitzeugen unternahm,
begann er sich
als Chronist der jüngsten Vergangenheit zu betätigen. Eine erste Chronik, die
die Kriegstaten der Engländer feierte und Philippine gewidmet war, ist jedoch
nicht erhalten.
1368 begleitete er einen Sohn
Philippines zur Verheiratung nach Mailand und erfuhr auf der Rückreise 1369,
dass seine Gönnerin gestorben war. Er ließ sich nun im heimatlichen Hainaut
nieder und widmete sich seinen Chroniques,
nachdem er neue Mäzene gefunden hatte. Dies waren z.B. Robert de Namur und Guy
de Châtillon, Comte de Blois, der ihm 1373 die Pfarrei von Estinnes-au-Mont als
Absicherung besorgte und ihm 1388 für den Spanien-Teil seiner Chronik eine
Reise an den Hof des Grafen von Foix-Béarn nahe der spanischen Grenze finanzierte.
Vor allem aber erhielt Froissart die Unterstütztung Wenzels von Luxemburg,
Herzogs von Brabant, zu dem er auch ein engeres persönliches Verhältnis
entwickelte.
Zentraler Gegenstand der sehr
umfangreichen Chroniques de France,
d'Angleterre, d'Escoce, d'Espaigne, de Bretaigne, de Gascogne, de Flandres et
lieux circonvoisins ist das Hin und Her des von 1337 bis 1458 immer wieder
aufflammenden Hundertjährigen Krieges. Hierbei sympathisiert Froissart anfangs
eher mit den Engländern, erst später macht er sich zumindest ansatzweise auch
die Leiden des Volkes in Frankreich bewusst sowie die Tatsache, dass die
englischen Feldzüge auf franz. Boden Raubzüge waren. Insgesamt aber sieht er
den Krieg mehr als Ausfluss persönlicher Ruhmbegierden von Fürsten und Herren sowie
als Abfolge eindrucksvoller Ritterkämpfe und Schlachten denn als einen blutigen
Konflikt, in dem englische Könige und Heerführer die Schwäche ausnutzten, in
die Frankreich nach 1314 durch eine Serie rascher Thronwechsel verfiel und die
es ihnen ermöglichte, immer wieder große Teile des Landes unter ihre Herrschaft
zu bringen und auszubeuten.
Neben der Arbeit an den nach und nach
auf vier umfangreiche Teile anwachsenden Chroniques
schrieb Froissart auch noch andere Werke. So beendete er 1383 den Meliador, einen der letzten franz.
Ritterromane in Versform, in den er auch Gedichte des im selben Jahr
verstorbenen Herzogs Wenzel einstreute.
Nachdem er sich mit Guy de Châtillon
überworfen hatte, fand er in seinen späten Jahren einen Gönner in Philippe le
Hardi (Philipp der Kühne, †1404), Herzog von Burgund. Auf einer seiner immer
noch fortgesetzten Informationsreisen besuchte er 1395 auch London, verließ es
aber bald enttäuscht. Er beendete sein Leben als Stiftsherr in Chimay.
Die Chroniques erfuhren im 15. Jh. eine
so beachtliche Verbreitung, dass sich mehr als 100, z.T. reich illustrierte
Manuskripte erhalten haben.
Eustache
Deschamps (auch
Eustache Morel genannt, ca. 1345–1404)
Er war der bedeutendste franz. Lyriker
der zweiten Hälfte des 14. Jh. und war vielleicht ein Neffe von Guillaume de
Machaut, jedenfalls aber eine Zeitlang sein Zögling an der Domschule von Reims.
Nach Jurastudien an der Universität
Orléans erlangte Deschamps dank seiner Talente als Dichter und als Unterhalter
1368 die Protektion von König Charles V und nach dessen Tod (1380) die von
Charles VI sowie vor allem von dessen kunstliebendem und ehrgeizigem jüngeren
Bruder Herzog Louis d'Orléans, zu dessen Gefolge er ab 1390 zählte. Von seinen
Gönnern erhielt er mehrere kleinere königliche Ämter zugewiesen, von denen er
samt seinen Kindern (seine Frau war 1376 jung nach der Geburt des dritten
gestorben) passabel leben konnte, obwohl er häufig klagte. 1389 wurde er zum
seigneur de Barbonval erhoben und somit geadelt. Er hielt sich meist in Paris
am Hof auf, war aber auch viel mit seinen Fürsten und für sie unterwegs. So war
er 1384/85 Mitglied einer diplomatischen Mission nach Ungarn und Kroatien, 1397
reiste er als Botschafter von Louis d'Orléans nach Mähren. Um 1400 zog er sich
mehr und mehr zurück, gesundheitlich angeschlagen und unzufrieden mit dem
Machtgerangel am Hof, wo verschiedene Klüngel, nicht zuletzt der von Louis, den
intermittierend geistesgestörten König zu manipulieren versuchten.
Deschamps war mit etwa 1500 erhaltenen
Gedichten in allen damals gängigen Genera, darunter vor allem gut 1100 Balladen
und an die 200 Rondeaus über vielerlei Sujets, einer der produktivsten und
thematisch, formal und stilistisch innovativsten Lyriker des franz.
Mittelalters. Sein Einfluss auf die Autoren neben ihm (z.B. auch auf Geoffrey
Chaucer) und nach ihm war groß und reicht bis weit ins 15. Jh. hinein, z.B. bis
zu Villon.
Während seine dem Thema Liebe
gewidmeten Gedichte meist eher konventionell bleiben, wirken seine
moralisch-gesellschaftlichen Problemen, z.B. denen des Hoflebens, gewidmeten
Texte (meist Balladen) sehr persönlich. Bei den Zeitgenossen hoch angesehen
waren auch seine philosophischen, didaktischen und satirischen Balladen.
Ein zentrales Thema Deschamps’ ist der
Niedergang Frankreichs durch den nach Charles’ V Tod wieder aufflammenden
Hundertjährigen Krieg. In einer Ballade bejammert er z.B., wie (1380) auch sein
eigener Landsitz nahe seinem Geburtsort Vertus von englischer Soldateska
geplündert und abgebrannt wurde. In der Fragment gebliebenen allegorischen
Versdichtung La Fiction du lion, wo
er Frankreich als Löwen und England als Leoparden darstellt, beklagt er das
Versagen des Nachfolgers von Charles V, der es nicht schaffte, den „Leoparden“
in die Schranken zu weisen. Ein anderes politisches Thema, nämlich das Große
Schisma in der Katholischen Kirche, behandelt Deschamps in La Complainte de l'Eglise desolee (1393).
In seinen letzten Jahren arbeitete er
an der unvollendet geblieben satirischen Versdichtung Le Miroir du mariage, wo er die Vor- und Nachteile (meist eher
diese) der Ehe diskutiert.
Deschamps ist darüber hinaus
interessant als Autor der ersten in franz. Sprache verfassten Poetik
(Dichtungslehre), L'Art de dicter et de
faire chansons (1392), einer Zusammenstellung von Regeln und Rezepten zum
Verfassen metrisch gebundener Texte, wobei es ihm mehr auf die „musique
naturelle“ der Sprache als auf die „musique artificielle“ der Melodie ankommt
(denn er war einer der ersten, die auf eine Vertonung und musikalische
Begleitung ihrer lyrischen Texte weitgehend verzichten).
P.S.: Der mit vielen Pausen insgesamt
von 1337 bis 1453 dauernde Krieg zwischen den Kronen Englands und Frankreichs
spielte sich ausschließlich auf franz. Boden ab und bestand weitgehend aus den
sommerlichen Beutezügen englischer Heere. Seine größeren und kleineren
Schlachten gingen häufig zugunsten der Engländer aus, weil deren Truppen zwar
zahlenmäßig meistens unterlegen, aber technisch dank ihrer Bogenschützen und
taktisch dank ihrer größeren Disziplin überlegen waren sowie insgesamt über
mehr Kampferfahrung verfügten.
Christine de Pizan bzw. de Pisan (1365 – ca. 1430)
In ihren fast 40 Schaffensjahren war
Christine die mit Abstand produktivste aller Literaten ihrer Generation. Sie gilt
als die erste Autorin der franz. Literatur, die (samt ihrer Familie) mehr oder
weniger von ihrer Feder zu leben geschafft hat. Nachdem sie von einer lange
Zeit männlich dominierten Literaturgeschichtsschreibung eher vernachlässigt
worden war, wird sie heute relativ hoch geschätzt und von Literatur- und
Sozialwissenschaftlerinnen als eine Feministin avant la lettre betrachtet.
Geboren in Venedig als Tochter des
Astrologen und Arztes Tommaso da Pizzano, kam sie als Mädchen nach Paris,
nachdem ihr Vater Leibarzt von König Charles V geworden war. Sie erhielt
eine gute Bildung (die sie später durch die fleißige Lektüre antiker und
zeitgenössischer Autoren erweiterte) und wurde fünfzehnjährig mit dem 10 Jahre
älteren kleinadeligen königlichen Notar und Sekretär Étienne du Castel
verheiratet, mit dem sie rasch hintereinander drei Kinder bekam.
Nach dem Tod ihres Gatten während einer
Epidemie (1389) und ihrer Verarmung durch Erbschaftsprozesse begann sie zu
schreiben. Dank ihrer einstigen Nähe zum Hof gewann sie dort Mäzene und
entwickelte das System, von ihren Werken nach deren Fertigstellung
Prachthandschriften anfertigen zu lassen, die sie in der Erwartung eines
fürstlichen Entgelts Mitgliedern der königlichen Familie überreichte, vor allem
der Königin Isabeau de Bavière und den Herzögen Louis d'Orléans, Jean de Berry
und Philippe de Bourgogne.
Christine begann als Lyrikerin unter
dem Einfluss von Eustache Deschamps (s.o.), wobei sie z.B. in sehr persönlich
wirkender Weise den Verlust des geliebten Gatten beklagt (Ballades du veuvage, Cent
ballades d'amant et de dame).
Sie schrieb dann mehr
lehrhaft-philosophische Werke, u.a. ein Lehrbuch für angehende Fürsten (L'Épître d'Othéa, 1400), Betrachtungen
über das Wirken Fortunas in ihrem eigenen Leben und in der antiken Geschichte (La Mutation de Fortune, 1403), und
schließlich politisch motivierte Werke, worin sie auf die vielen Kriege und
Bürgerkriege im Frankreich des geistesgestörten Königs Charles VI (1380–1422)
reagierte, hinter dem ständig verschiedene Personen und Parteien um die Macht
im Staate kämpften und dabei immer wieder auch England in ihre Streitereien
hineinzogen (z.B. Le Livre des faits
d'armes et de chevalerie, 1410; Le
Livre de paix, 1412; Lamentations sur
les maux de la guerre, 1420).
Ebenfalls politisch intendiert war eine
apologetische Biografie (1405) des Protektors ihres Vaters und großen Königs
Charles V (1364–1380), der mit Hilfe seines tüchtigen Feldherrn Du Guesclin die
Engländer fast aus Frankreich hinausgedrängt und das Land vorübergehend befriedet
hatte.
1399, und damit beginnt der
„feministische“ Teil ihres Schaffens, kritisierte sie die Misogynie der Männer
ihres gesellschaftlichen Umfeldes, insbesondere die des Autors Jean de Meung im
Rosenroman. Sie entfesselte damit die
sog. Querelle du Roman de la Rose, den ersten Pariser Literatenstreit in
der Geschichte der franz. Literatur, in den sie selbst mit ihrer Épître au dieu d'amours (ebenfalls 1399)
eingriff. 1400 verfasste sie Le Dit de la
rose, der die fiktive Gründung eines die Frauen beschützenden „Rosenordens“
beschreibt. Von 1404 datiert ein Traktat zur richtigen Erziehung der Mädchen, Le Livre des trois vertus. 1405 stellte
sie ihr aus heutiger Sicht interessantestes Werk fertig, Le Livre de la Cité des dames, in dem sie an Protagonistinnen aus
der biblischen und der antiken Geschichte die Fähigkeiten bedeutender Frauen
vorführt und den utopischen Entwurf einer Gesellschaft entwickelt, die den
Frauen gleiche Rechte gewährt.
1418, während einer der heißesten
Phasen des Hundertjährigen Krieges, zog sie sich zu ihrer Tochter in ein
Kloster unweit von Paris zurück.
Hier wurde sie 1429 noch Zeugin der
Heldentaten von Jeanne d'Arc, der „Jungfrau von Orléans“, der sie nach schon
längerem Schweigen einen Lobpreis widmete (Dictié
en l'honneur de la Pucelle, 1429). Danach ist nichts mehr bekannt von ihr.
Journal d'un
bourgeois de Paris (1405–1449). Es ist das älteste erhaltene Tagebuch
in franz. Sprache und berichtet aus der Perspektive eines namentlich
unbekannten Pariser Klerikers vom Alltagsleben in einer schwierigen Zeit, die
in und um Paris geprägt war durch fast pausenlose Kriege bzw. Bürgerkriege,
Anarchie, Seuchen, Hunger und Not. Das Journal
ist naturgemäß weniger als literarischer Text denn als Informationsquelle für
Historiker interessant.
Alain Chartier (ca. 1385–1433)
Er ist als Lyriker und Erzähler mit
Abstand der bedeutendste franz. Autor der Zeit um 1425 und galt als solcher
auch schon bei den Zeitgenossen.
Chartier (der in Literaturgeschichten
und Lexika häufig unter „Alain“ figuriert) stammte aus einer bürgerlichen
Familie der normannischen Bischofstadt Bayeux. Wie sein ältester Bruder
Guillaume, der später Bischof von Paris wurde, und sein älterer Bruder Thomas,
der königlicher Notar wurde, studierte er in Paris. Spätestens um 1415 stand
auch er in Beziehung zum Hof als Sekretär des Dauphins, des späteren Königs
Charles VII. Diesem diente er praktisch sein ganzes Leben lang und reiste für
ihn des öfteren als kompetenter Begleiter ranghöherer, aber weniger kompetenter
Botschafter bzw. Unterhändler zu europäischen Fürsten. Zum Dank bekam er von
Charles mehrere einträgliche Domherrenpfründen (die kumulierbar waren)
verschafft. Er starb auf einer diplomatischen Reise in Avignon. Seine Existenz
war überschattet von der schlimmsten Phase des Hundertjährigen Krieges zwischen
den Kronen Englands und Frankreichs sowie dem darin eingebetteten
innerfranzösischen Bürgerkrieg zwischen Bourguignons und Armagnacs.
Chartier begann als Lyriker im Stil der
höfischen Lyrik der Zeit und betätigte sich sein ganzes Leben hindurch in
praktisch allen ihren Gattungen (Balladen, Rondeaus, Virelais usw.). Der
Grundton der meisten seiner Gedichte ist melancholisch.
Sein erstes längeres Werk war die
Verserzählung Le Livre des quatre dames, die er 1416 in Paris verfasste,
unter dem Schock der Niederlage eines weit überlegenen franz. Ritterheeres
gegen die diszipliniert kämpfenden englischen Bogenschützen bei Azincourt
(1415). Hierin berichtet ein Ich-Erzähler von vier Damen, die ihn zu
entscheiden bitten, wer die Unglücklichste von ihnen sei: diejenige, deren
Freund in der Schlacht gefallen ist, die, deren Freund seitdem vermisst wird,
die, deren Freund dort in Gefangenschaft geraten ist, oder schließlich die,
deren Freund sich durch feige Flucht gerettet hat.
1418 floh Chartier mit dem Dauphin
Charles und dessen Gefolge vor den „Bourguignons“ aus Paris nach Bourges.
Hier schrieb er 1422 das Quadrilogue
invectif, ein Vierergespräch zwischen den allegorischen Figuren le Clergé
(=der kath. Klerus), la Chevalerie (=der Adel), le Peuple (=das Volk) und Dame
France, wobei „Frau Frankreich“ den drei Anderen, d.h. den Franzosen insgesamt,
ihre Uneinigkeit angesichts der wirren Verhältnisse in ihrem Land vorwirft.
Dieses nämlich hatte 1420 beim Tod des geistesgestörten Charles VI zwei Könige
bekommen: Über die Mitte und den Süden regierte von Bourges aus der Ex-Dauphin
und Sohn von Charles VI, Charles VII. Im Norden und Westen dagegen herrschte
von Paris aus und mit Hilfe englischer Truppen dessen Neffe, der kleine Henry
VI., Sohn einer Tochter von Charles VI und des früh verstorbenen englischen
Königs Henry V.
In die Literaturgeschichte eingegangen
ist Chartier vor allem als Verfasser der Verserzählung La belle dame sans
merci (=die gnadenlose schöne Dame), die er 1424 in Bourges verfasste,
offenbar zur Zerstreuung des Hofes von Charles VII, der zu dieser Zeit kaum
etwas tat, um seine Königsrechte durchzusetzen. Die 100 aus achtzeiligen
Achtsilbern bestehenden Strophen („huitains“) enthalten eine kleine
Rahmenhandlung um einen mit dem Autor identisch gedachten Ich-Erzähler, in die
ein langer, angeblich von ihm belauschter Dialog zwischen einem Liebenden und
seiner Dame eingebettet ist. Offensichtlich gelang Chartier mit diesen beiden
Figuren eine epochemachende Gestaltung des Typs der spröden, sich verweigernden
Frau, eben der „gnadenlosen Schönen“, sowie vor allem des schmachtenden
Liebhabers, d.h. des abgewiesenen, sich aber nicht lösen könnenden und sich in
seinem Unglück verzehrenden Liebenden, wobei dieser sich hier naiv auf die
Ideale und Regeln der höfischen Liebe beruft, während jene ihnen
ironisch-distanziert gegenübersteht. Die Belle dame sans merci war enorm
erfolgreich und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten unendlich oft von
anderen Autoren zitiert, plagiiert, pastichiert und parodiert; noch um 1540
wurde sie von Marguerite de Navarre in ihren Erzählungen als bekannt
vorausgesetzt.
Auf die wirre politische Situation in
Frankreich reagierte Chartier einmal mehr 1426 mit dem Lai de Paix
(=Friedensgedicht), in dem er die französischen Fürsten zum Frieden und zur
Einigung aufruft.
1429 machte er sich mit einer Lettre
sur Jeanne zur Fürsprecherin von Jeanne d'Arc, der „Jungfrau von Orléans“,
die Charles VII soeben zu Hilfe gekommen war, indem sie ihn aufgerüttelt und
ihm mit Siegen über die Truppen von Henry VI. die symbolisch wichtige Krönung
in der Kathedrale von Reims ermöglicht hatte.
Antoine
de la Sale (ca.
1385 – ca. 1460
Er
figuriert in der franz. Literaturgeschichte als Autor eines der besten und
interessantesten erzählenden Texte seiner Zeit, den manche sogar als ersten
modernen Roman betrachten: Le petit Jehan de Saintré (1456).
La
Sale entstammte einer kleinadeligen Familie der Provence und verbrachte sein
Leben weitgehend im Dienst von Fürsten. So war er zunächst Page und dann
Schildknappe (écuyer) bei Herzog Louis II von Anjou († 1417) und diente diesem
um 1415 auch als Offizier. Später wurde er Gefolgsmann (als Sekretär?) von
Louis’ Sohn, Herzog Louis III († 1434), den er auf vielen Reisen begleitete.
1429/30 bekleidete er einen höheren Militär- und Verwaltungsposten in Arles.
Um
1435 wurde er zum Erzieher von Jean de Calabre, des ältesten Sohnes von Herzog
(ab 1434) René I von Anjou ernannt. Für seinen fürstlichen Zögling begann er
allerlei erbauliche, lehrreiche und/oder unterhaltsame Geschichten zu
schreiben, die er 1441 unter dem witzigen Titel La Salade zusammenfasste.
1438
begleitete er Herzog René nach Neapel, wo jener die ihm angetragene Königskrone
in Besitz nahm.
1448
verließ La Sale den Dienst der Anjous und wechselte in den eines burgundischen
Granden, Louis de Luxembourg, Graf von Saint-Pol, von dem er zum Erzieher
seiner Söhne bestellt wurde. Auch für diese schrieb er didaktisch intendierte
erzählende Texte, die er 1451 als La Sale betitelt zusammenfasste. Über
seinen Dienstherrn Louis kam er in Kontakt mit dem prächtigen Hof des reichen
und mächtigen Herzogs Philippe le Bon (Philipp der Gute) von Burgund.
1456
stellte er im abgeklärten Alter um die 70 sein Hauptwerk fertig, den nicht
allzu langen historischen Roman Le petit Jehan de Saintré. Die Handlung
spielt Mitte des 14. Jh. und schildert relativ realistisch (im Vergleich zu den
oft märchenhaften konventionellen Ritterromanen der Zeit) und mit einer
deutlichen ironischen Distanz des Erzählers den Werdegang eines zunächst eher
armen jungen Adeligen, der zum angesehenen Ritter aufsteigt: Jehan kommt mit 13
als Knappe an den königlichen Hof und gefällt hier einer reichen jungen Witwe,
die ihn protegiert, managt und sponsort. Nachdem er zum Ritter geschlagen ist
und sich in Turnieren sowohl am franz. als auch an fremden Höfen bewährt hat,
wird er von ihr schließlich auch in die Künste der Liebe eingeführt. Als er aus
eigenem Entschluss zu einer längeren Fahrt an den fernen kaiserlichen Hof
aufbricht, zieht sich die Dame gekränkt auf ihre Güter zurück, wo sie aber bald
der Liebeswerbung eines reichen und stattlichen bürgerlichen Priesters erliegt.
Auf diesen stößt Jehan bei seiner Rückkehr und wird von ihm zweimal schmählich
im Ringkampf besiegt. Unvorsichtigerweise lässt der Gegner sich auch auf einen
Kampf mit ritterlichen Waffen ein, wo Jehan ihn seinerseits besiegen und
demütigen kann. Danach rächt er sich an der Dame, indem er am Hof ihr wenig
standesgemäßes Verhältnis mit dem bürgerlichen Priester bekannt macht. Dieser
allerdings setzt, von seinen Wunden rasch genesen, sein Verhältnis mit der Dame
fort.
Der
heute als ein Juwel der Gattung geschätzte Roman erfuhr offenbar erst gegen
Ende des 15. und Anfang des 16. Jh. eine gewisse Verbreitung in gedruckten
Ausgaben, die vermutlich von einem überwiegend bürgerlichen Publikum gelesen
wurden.
Die
letzten Lebensjahre verbrachte La Sale in Châtelet-sur-Oise. Hier verfasste er
1457/58 für eine Dame, die ihren Sohn verloren hatte, das Trostbuch Le
Reconfort [=Trost] de Madame de Fresne. 1459 stellte er ein weiteres
didaktisches Werk fertig: Des anciens tournois et faicts d'armes, eine
Art Lehrbuch der Wappenkunde und des höfischen Zeremoniells.
Die
Satire Les quinze joyes du mariage und die Novellensammlung Cent
nouvelles nouvelles, die ihm mitunter zugeschrieben wurden, sind
höchstwahrscheinlich nicht von ihm.
Charles d'Orléans (*24.11.1394 in
Paris; †5.1.1465 in Amboise)
Er wird heute gern (dank zwei oder drei
Gedichten, die in diese Kategorie fallen und in Lesebüchern figurieren) als der
erste franz. Verfasser von Naturlyrik gesehen. Zutreffender ist es jedoch, ihn
mit seinen beiden allegorischen Traumgedichten und seinen zahlreichen Balladen,
Chansons und Rondeaus als einen Vollender der mittelalterlichen Kunstform der
höfischen Lyrik zu betrachten. Er war zudem einer der fruchtbarsten Lyriker
seiner Zeit.
Charles war ältester Sohn des jüngeren
Bruders von König Charles VI, Herzog Louis d’Orléans, und von Valentina
Visconti, Tochter des Herzogs Gian Galeazzo von Mailand. Dank dem hohen
Bildungsstand und dem Mäzenatentum beider Eltern kam er früh mit Literatur und
Kunst in Berührung, aufgrund der hohen Position seiner Familie allerdings
ebenso früh und meist schmerzhaft mit der Politik.
So musste er schon 1396 mit seiner
Mutter Paris und den Hof verlassen, weil sie von der Königin beschuldigt wurde,
Ursache der zunehmenden geistigen Verwirrung des jungen Königs Charles VI zu
sein. 1406 wurde er ungefragt als knapp 12-Jähriger mit seiner knapp
17-jährigen Kusine Isabelle de France verlobt (die schon Witwe des 1399
abgesetzten und 1400 ermordeten englischen Königs Richard II war). 1407 verlor
er seinen Vater, der auf offener Straße ermordet wurde im Auftrag eines
Cousins, Herzogs Jean sans Peur von Burgund, der mit ihm am Hof um die Ausübung
der Regierungsgeschäfte für den geistesgestörten König stritt. 1408 verlor er
auch seine Mutter, die, erschöpft durch ihr vergebliches Ringen um die
Bestrafung des vorerst siegreichen Herzogs Jean, einer Krankheit erlag. Kurz
darauf heiratete er, doch starb ihm noch 1409 seine junge Frau im Kindbett, so
dass er mit 15 Vollwaise, Witwer, Vater und Familienoberhaupt für seine kleine
Tochter und seine vier jüngeren Geschwister war. Zugleich – als ältester Sohn
eines ungesühnt ermordeten Mitglieds der königlichen Familie – avancierte er
unfreiwillig zum Oberhaupt einer Rächerpartei, die in seinem Namen der
ehrgeizige Graf Bernard d’Armagnac organisierte, der ihn zugleich mit seiner
11jährigen Tochter Bonne verheiratete, einer Kusine zweiten Grades (1410). Zur
selben Zeit bewies Charles erstmals sein schriftstellerisches Talent, indem er
in einem offenen Brief die größeren Städte Frankreichs ersuchte, ihm
beizustehen in seinem Kampf um die Sühnung des Mordes.
In der Tat siegte seine Partei, die
„Armagnacs“, 1413 fürs erste und Charles hielt Einzug am Hof in Paris. Hier, wo
sich einige bekannte Lyriker, u.a. Alain Chartier (s.o.), betätigten, begann er
1414 zu dichten, und zwar Balladen an seine junge Frau Bonne, in die er sich
(nach Vollzug der Ehe?) ganz offenbar verliebt hatte. Es sind Gedichte, die die
Konventionen der höfischen Lyrik kunstvoll befolgen, aber dennoch einen
persönlichen Klang besitzen. Ebenfalls seine Verliebtheit spiegelt die gereimte
Traumerzählung La Retenue d'Amours
(=Die Vereinnahmung [in den Lehensdienst] Amors).
Wenig später, im Okt. 1415, ereilte
Charles im wieder einmal aufflammenden Hundertjährigen Krieg ein neuer
Schicksalschlag. Er geriet in der englisch-franz. Schlacht von Azincourt (nahe
Arras) in Gefangenschaft und wurde nach England gebracht, als Geisel der Könige
Henry V bzw. später Henry VI, die ihn als Faustpfand einzusetzen gedachten
gegenüber seinem Cousin, dem Dauphin und späteren (ab 1422) König Charles VII,
der jedoch nichts für ihn tat ̵
schon gar nicht, nachdem ab 1429 dank Jeanne d’Arc das Kriegsglück sich
zu Frankreichs Gunsten wendete.
In den 25 Jahren, die Charles in
England auf verschiedenen Burgen bei häufig wechselnden Gastgebern-Bewachern
verlebte, dichtete er zunächst weiter Balladen, die in oft sehr anrührender
Weise überwiegend um die Themen Liebe, Trennung, Sehnsucht und Heimweh kreisen.
Später, nachdem er seine Hoffnungen auf einen möglichen Besuch Bonnes in
England hatte aufgeben müssen und er (1432?) erneut Witwer geworden war,
verfasste er auch Chansons (zum Teil in englischer Sprache) an eine englische
Dame, in die er sich verliebt hatte.
Als diese aus seiner Umgebung entfernt
worden war und 1437 auch ein Eheprojekt mit der verwitweten Marguerite de
Savoie scheiterte, schrieb Charles frustriert eine „Traumerzählung in Klageform“ (Songe en complainte),
ein Gegenstück zur Retenue von einst.
Hierin bittet er Amor, ihn aus seinem Dienst zu entlassen, und gelobt Verzicht
auf „alles, was mit Liebe zu tun hat“.
1440 endlich wurde er, als Geisel
offenbar nutzlos geworden, gegen das enorme Lösegeld von 200.000 Goldtalern
freigelassen. Er bekam es vorgeschossen von Herzog Philippe le Bon von Burgund,
seinem Cousin zweiten Grades und Sohn des 1419 selber ermordeten Mörders seines
Vaters. Zum Dank ließ er sich von Philippe, dem daran gelegen war, ihn an sich
zu binden, mit dessen Nichte Maria von Kleve verheiraten.
Charles hatte bei seiner Heimkehr
gehofft, er könne Frieden zwischen den Kronen Englands und Frankreichs stiften,
darüberhinaus das mit England verbündete, praktisch souveräne Herzogtum Burgund
wieder an Frankreich heranführen und insgesamt eine seinem Status gemäße
Position neben seinem Cousin König Charles VII einnehmen. Doch er scheiterte er
an dem Misstrauen, das dieser ihm als vermeintlichem Parteigänger Burgunds
entgegenbrachte. Auch die 1447/48 unternommenen Versuche Charles’, seine von
der Mutter geerbten Ansprüche in Norditalien durchzusetzen, blieben mangels
Unterstützung des Königs erfolglos. Er zog sich enttäuscht fast völlig auf sein
Schloss in Blois zurück.
Hier verarbeitete er seine wechselnden,
häufig melancholischen Stimmungen und Gedanken in zahlreichen Balladen und,
mehr und mehr, in Rondeaus, die wie Seiten eines poetischen Tagebuchs und damit
sehr authentisch wirken, aber virtuos alle Möglichkeiten der Gattung
ausschöpfen. Zugleich versuchte er nicht ohne Erfolg, seinen Hof zu einem
literarischen Zentrum zu machen, indem er Dichter aus ganz Frankreich zu
kürzeren und längeren Besuchen bei sich aufnahm, darunter François Villon
(s.u.). Auch seine Höflinge und Freunde sowie seine Gattin Marie hielt er zum
Versemachen an.
Schon
um 1445 hatte er seine bis dahin verfassten Gedichte und Dichtungen von einem
Kalligraphen in ein Sammelmanuskript kopieren lassen. In dieses (das erhalten
ist) ließ er anschließend auch seine jeweils neuen Balladen und Rondeaus sowie
die Gedichte von Gästen und Höflingen eintragen oder tat es gelegentlich selbst
bzw. ließ es die betreffenden Autoren tun. Viele dieser jüngeren Texte sind
Repliken auf den oder die jeweils vorangehenden eigenen oder fremden Texte,
bilden also Paare oder Gruppen, die thematisch und häufig auch situativ
zusammenhängen. Bekannt ist die Ende 1457 entstandene Gruppe von elf Balladen
zum Thema „Durst an der Quelle“, die offenbar Ergebnis eines Wettdichtens war,
an dem sich auch Villon beteiligte (der kurz danach
in Unfrieden gegangen zu sein scheint).
1457,
59 und 62 wurde Charles noch Vater, nachdem er sein Verzichtgelöbnis von 1437,
das er während der ersten 16 Jahre seiner Ehe offenbar einhielt, endlich doch
gebrochen hatte. Er erkrankte und starb Anfang 1465 auf der winterlichen
Heimreise von einem Fürstentreffen in Tours, wo er vom neuen König Louis XI
öffentlich gedemütigt worden war. Schon einige Jahre zuvor hatte er
(anscheinend bald nach dem Zerwürfnis mit Villon) der Dichtkunst den Abschied
erklärt.
Sein Sohn Herzog Louis d’Orléans
(1462-1515) übernahm 1498 die Königskrone von seinem erbenlos verstorbenen
Neffen zweiten Grades Charles VIII.
Arnoul
Gréban (ca.
1420 – ca. 1470)
Er ist vor allem bekannt als Autor des gegen 1450
entstandenen Passionsspiels Le Mystère de
la Passion. Das monumentale Werk, in dem nicht nur die eigentliche Passion
dargestellt wird, sondern das ganze Leben Christi samt den der Geburt
vorangehenden und der Kreuzigung folgenden Episoden, ist ein Höhepunkt des
mittelalterlichen Passionsspiels. Es umfasst an die 35.000 Verse, enthält 393
verschiedene Rollen und erforderte 4 Tage Spielzeit. Aufführungsort war Paris,
wo Gréban als Organist von Notre-Dame tätig war und wo seit 1436, d.h. der
Vertreibung der englischen Truppen aus der Stadt, nach jahrzehntelangem
Bürgerkrieg und Krieg, endlich wieder Frieden herrschte.
Auch andere franz. Städte, z.B. Arras, hatten damals ihre
Mysterien- und Passionsspiele, von denen viele sich am Vorbild Grébans
orientierten.
François Villon (1431 – ca. 1463)
Der eigentliche Familienname
(Montcorbier? Monterbier? Des Loges?) dieses wohl jedem Franzosen und auch
vielen Deutschen bekannten Dichters steht nicht fest.
Laut eigener Aussage in kleinsten
Verhältnissen in Paris geboren, muss François, nach frühem Tod seines Vaters,
in die Obhut des Pariser Stiftsherrn und Kirchenrechtsdozenten Guillaume de
Villon gelangt sein, dessen Namen er spätestens ab 1455 benutzte und den er
1461 halb ironisch, halb liebevoll als seinen "plus que père" (mehr
als ein Vater) bezeichnete. Offenbar dank der Fürsorge Guillaumes erhielt er
eine gute Bildung und brachte es bis zum Magister an der propädeutische Studien
vermittelnden Pariser Artistenfakultät.
Statt jedoch sein anschließend
begonnenes Fachstudium, wohl der Theologie, zu Ende zu führen, glitt er,
vermutlich während des langen Vorlesungsstreiks der Pariser Professoren 1453/54,
ab ins Kriminellenmilieu. Nach einer Messerstecherei mit tödlichem Ausgang für
seinen Gegner, einen ebenfalls messerbewaffneten Priester, verließ er im Juni
1455 Paris, konnte aber Anfang 56 dank zweier (erhaltener) königlicher
Freibriefe zurückkehren.
Ende 1456 beteiligte er sich an einem
(in erhaltenen Dokumenten beschriebenen) Einbruch mit stattlicher Beute und
verschwand kurz darauf von neuem aus der Stadt. Hierbei hinterließ er den
Kumpanen im Milieu sein erstes längeres Werk: Le Lais (=das Legat) oder Le
petit testament.
Ende 1457 saß er offenbar zum Tode
verurteilt in einem Kerker von Herzog Charles d'Orléans (s.o.), wurde aber von
ihm amnestiert und sogar für kurze Zeit – denn Charles selbst war Lyriker – an
seinen Hof in Blois aufgenommen, wo er einige Gedichte verfasste, ehe er
offenbar in Ungnade fiel und gehen musste.
1458–60 führte er wohl ein unstetes
Wander- und Gaunerleben, 1461 finden wir ihn wieder im Kerker, diesmal dem des
Bischofs von Orléans in Meung-sur-Loire, aus dem ihn Anfang Oktober ein
Gnadenakt des durchreisenden Königs Louis XI befreite.
Zurück in Paris oder Umgebung,
versuchte er sich zu resozialisieren, scheiterte aber und schrieb sein
Hauptwerk, Le Testament.
Im November 1462 saß er (laut
erhaltenem Dokument) wegen Diebstahls im Pariser Stadtgefängnis. Kurz nach
seiner Freilassung zogen ihn (wie ein erhaltenes Dokument beschreibt) Kumpane
in eine Schlägerei hinein, in der ein päpstlicher Notar einen Messerstich
abkriegte. Villon wurde erneut eingekerkert, offenbar gefoltert und sogar zum
Tode verurteilt, aber Anfang 1463 dank eingelegter Berufung zu zehn Jahren
Verbannung begnadigt. Hiernach verliert sich seine Spur.
Sein erhaltenes Œuvre ist schmal. Es
umfasst:
1) das Ende 1456/Anfang 57 vor
seinem Fortgehen aus Paris für das Gaunermilieu geschriebene
spöttisch-parodistische Vermächtnis Le
Lais (320 Verse);
2) das im Herbst 1461 in oder bei
Paris wohl für potentielle Gönner begonnene, dann aber ebenfalls vor allem fürs
Milieu verfasste, halb elegische, halb satirische, rd. 20 eingestreute Gedichte
(meistens Balladen) enthaltende Pseudo-Testament Le Testament (2023 Verse);
3) sechzehn zwischen 1455 und 1463
entstandene Gedichte (meist Balladen), von denen einige, sehr kunstvolle, an
Herzog Charles d'Orléans gerichtet sind und z.T. an dessen Hof in Blois
verfasst wurden;
4) elf schwer verständliche
Balladen im Gaunerjargon, die Villon wohl 1462 in der Rolle eines Gauners für
das Pariser Gaunermilieu, und speziell die Maffia der
"Muschelbrüder", gedichtet hat.
Vor allem das Testament (das ab 1489 zusammen mit dem Lais und einigen anderen Texten Villons auch gedruckt vorlag) war
ein beachtlicher Bucherfolg im Paris des späten 15. Jh., zweifellos aufgrund
Villons witziger und bissiger Hiebe auf viele, explizit namentlich genannte
Pariser Honoratioren, die mit satirischen Legaten bedacht werden, welche ihre
tatsächlichen und angeblichen Schwächen und Laster aufdecken.
Formal sind die Texte Villons in der
Regel eher schlicht und konventionell, auch wenn er, wie die kunstvollen für und
bei Charles d’Orléans verfassten Ballade zeigen, ein beachtlicher Reimkünstler
ist. Seine Genialität zeigt er vor allem in der ungewöhnlichen Prägnanz,
Lebendigkeit und Ausdruckskraft der Bilder und der Sprache. Da seine Texte fast
allesamt prekäre Momente oder Krisenphasen einer bewegten Existenz verarbeiten
und den Eindruck einer starken persönlichen Betroffenheit des Autors
vermitteln, sprechen sie auch heutige Leser noch an. Villon wird deshalb oft
als erster moderner Lyriker betrachtet.
Dank einiger Plagiate Bert Brechts aus
der ersten deutschen Villon-Übertragung K. L. Ammers von 1907 und vor allem
aufgrund der sehr freien, aber farbigen Villon-Nachdichtungen des
expressionistischen Lyrikers Paul Zech (1931 und 1962) ist sein Name heute auch
im deutschen Sprachraum gut bekannt.
Raoul Lefèvre († ca. 1465)
Dieser kaum mehr bekannte Autor (von
dem wir nichts weiter wissen, als dass er aus dem äußersten Norden des franz.
Sprachgebietes stammte, Kleriker war und um 1460 mit dem Hof der
Burgunder-Herzöge in Verbindung stand) ist interessant als Verfasser von L'Histoire de Jason (ca. 1460).
Es ist ein heute kurios und hybrid
wirkender, für die Zeitgenossen offensichtlich aber kaum befremdlicher Roman um
den antiken griechischen Sagenhelden Jason, der einst im fernen Kolchis mit
Hilfe Medeas das Goldene Vlies erkämpft hatte, seine Helferin dann geheiratet,
später aber für eine andere Frau verlassen hatte.
Das Herzog Philippe de Bourgogne
(=Philipp der Gute, 1419–1467) gewidmete Werk, das ganz im Stil der
zeitgenössischen Ritterromane geschrieben ist und den mythologischen Stoff mit
vielen selbsterfundenen Episoden anreichert, hatte offensichtlich die Funktion,
Jasons Untreue zu relativieren und zu entschuldigen. Das wiederum sollte die
Ehre dieses Schutzpatrons des Ordens vom Goldenen Vlies retten, den Herzog
Philippe 1429 gegründet hatte, um darin den Adel seiner sehr heterogenen
Territorien zu vereinigen, zu denen außer der Bourgogne und der Franche Comté
auch Teile der Picardie, Flandern sowie das jetzige Belgien, Holland und
Luxemburg gehörten.
Kurze Zeit nach dem Jason verfasste Lefèvre ein weiteres
romanartiges Werk mit mythologischem Stoff, den unvollendeten Recueil des histoires de Troie, den er
ebenfalls Herzog Philippe widmete. Dessen prächtiger und
unterhaltungsbedürftiger, überwiegend frankophoner Brüsseler Hof war um 1450
ein bedeutendes, wenn nicht das bedeutendste Zentrum der franz.sprachigen
Literatur.
Lefèvres Jason war übrigens durchaus erfolgreich: er ist nicht nur in
mehreren Handschriften überliefert (darunter dem Widmungsexemplar, das offenbar
vom Autor selbst geschrieben wurde), sondern erlebte zwischen 1476 und 1530
sieben Druckauflagen. Eine von William Caxton, dem ersten englischen
Buchdrucker, verfasste Übersetzung des Jason
war 1477 das erste auf englischem Boden gedruckte Buch.
Vgl. hierzu: Gert Pinkernell (Hrsg.), Raoul Lefèvres Histoire de Jason. Ein Roman aus dem 15. Jh. (Frankfurt 1971)
Les cent nouvelles
nouvelles (ca. 1462). Diese anonyme Novellensammlung in der Tradition
von Giovanni Boccaccios berühmtem Novellenbuch Il Decamerone (das um 1440 von Laurent de Premierfait ins Franz.
übersetzt worden war) ist das erste eigenständige Unternehmen dieser Art in der
franz. Literatur und wurde verfasst für den meist in Brüssel residierenden Hof
der Burgunder-Herzöge Philippe le Bon (bzw. Philipp der Gute, † 1467) und
seines Nachfolgers Charles le Téméraire (bzw. Karl der Kühne, † 1477).
P.S.: Der Brüsseler Hof büßte übrigens nach dem frühen Tod von
Herzog Charles seine Rolle als Zentrum der franz.sprachigen Literatur ziemlich
bald ein, da nach der Heirat von Charles' Tochter Marie de Bourgogne mit
Maximilian von Habsburg die eigentliche Bourgogne an Frankreich zurückfiel und
die anderen, überwiegend niederländischsprachigen Territorien des burgundischen
Herrschaftsgebietes sich mehr nach Deutschland hin orientierten (wobei Brüssel
auch weiterhin deren Macht- und Verwaltungszentrum blieb).
La Farce de Maître Pierre Pathelin
(ca. 1465,
anonym, mitunter fälschlich François Villon zugeschrieben)
Das kleine Theaterstück ist ein erstes
Meisterwerk der Gattung Farce, d.h. einer überwiegend von der Situationskomik
lebenden Kurzkomödie. Es behandelt witzig und mit allen Raffinessen der
Situationskomik das vielgestaltige Motiv vom betrogenen Betrüger in einer
Vier-Personen-Konstellation aus einem dümmlichen Tuchhändler, dem gerissenen
Winkeladvokaten Pathelin, seiner pfiffigen Frau und einem scheinbar naiven,
bauernschlauen Hirten, der sie schließlich alle in die Tasche steckt.
Die Gattung Farce à la Pathelin wird in der Folgezeit sehr gute
Konjunktur haben; ihre Techniken und Gags werden noch von Molière in seinen
Stücken benutzt. Der Name Pathelin ist übrigens als Adjektiv (patelin,e = geheuchelt naiv-nett) ins
franz. Lexikon eingegangen.
1470–1480
Blütezeit der
Dichterschule der sog. Rhétoriqueurs am
burgundischen Hof in Brüssel. Die Rhétoriqueurs sind eine der ersten für die
spätere franz. Literatur so typischen Dichtergruppen (die sich dann jedoch in
aller Regel in Paris konstituieren werden). Gemäß ihrer Funktion als Hofdichter
und ihrer Betonung des technischen, quasi kunsthandwerklichen Aspekts des
Dichtens verfassen sie meist pompöse, manieristisch ausgefeilte Gedichte zu
festlichen und sonstigen Anlässen. Die wichtigsten Namen sind Georges Chastellain (ca. 1410–1475) und
Jean Molinet (1435–1507). Beide sind
auch als Verfasser von umfangreichen Chroniken ihrer Zeit bekannt, Chroniken,
die im Sinne ihrer „burgundischen“ Auftraggeber Herzog Philippe le Bon, Herzog
Charles le Téméraire und dessen Tochter Marie de Bourgogne eine
antifranzösische Tendenz haben; d.h. sie attackieren vor allem den 1461–1483
herrschenden König Louis XI, der es auf eine Zerstörung und weitgehende
Annexion des burgundischen Herrschaftsgebietes abgesehen hatte.
P.S.: Dieses bildete um 1470 einen de
facto selbständigen Staat, dessen Territorien de jure aber etwa je zur Hälfte
auf dem Boden des Königreichs Frankreich und dem des deutschem Reiches lagen.
Louis XI hatte übrigens nach dem Tod von Charles le Téméraire 1477 versucht,
dessen Erbin Marie mit seinem kleinen Sohn, dem späteren Charles VIII, zu
verheiraten, war aber von Maximilian von Habsburg, dem späteren Kaiser,
ausgestochen worden. Für das Haus Habsburg war diese Heirat, d.h. die mit ihr
verbundene territoriale Mitgift, einer jener Fischzüge – später folgten noch
andere, z.B. Spanien, Böhmen und Ungarn – die den Spruch entstehen ließen
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube!“ – „Andere mögen Kriege führen, du
glückliches Österreich [=Habsburg] heirate!“
Philippe
de Commynes (1447;
†18.10.1511 auf Schloss Argenton)
Er
gilt als einer der Vorläufer der modernen Geschichtsschreibung und als
Verfasser der ersten franz. Memoiren im modernen Sinne mit seinem Werk Les
memoires sur les principaux faicts et gestes de Louis onzieme et de Charles
huitieme, son filz, roys de France.
Er
wurde geboren in der Grafschaft Flandern, die zum damaligen Herzogtum Burgund
gehörte, einem quasi selbständigen Territorium zwischen Frankreich und dem
Deutschen Reich. Er stammte aus einer Familie von Amtsträgern im Dienst der
Herzöge und kam selber schon als Jugendlicher an den herzoglichen Hof in
Brüssel, wo er als Knappe dem angehenden Herzog Karl dem Kühnen zugeordnet
wurde (frz. Charles le Téméraire, 1433-77, Herzog ab 1467). Trotz seiner Jugend entwickelte er
ein enges Vertrauensverhältnis zu seinem Fürsten. So soll er ihn 1468
erfolgreich davon abgehalten haben, dem französischen König Louis XI nach dem
Leben zu trachten, als jener in Péronne in burgundische Gefangenschaft geraten
war.
1472
verließ Commynes Herzog Karl überraschend und wechselte in den Dienst von
dessen Erzfeind König Louis, was für damalige Verhältnisse ein ungeheuerlicher
Treuebruch war. Dank seiner intimen Kenntnis der Person und der Pläne Karls
konnte er den verschlagenen und politisch geschickten Louis beraten bei seinen
militärischen und diplomatischen Aktionen gegen Burgund, die nicht unbeteiligt
waren an Karls Niederlage und Tod 1477.
Zugleich
entwickelte er sich dank der Kontakte, die er am franz. Hof zu den Botschaftern
der diversen italienischen Staaten pflegte, zu einem Kenner der dortigen
Verhältnisse. 1478 reiste er seinerseits als Botschafter nach Turin, Mailand
und Florenz.
Zum
Lohn für seine Dienste erhielt er von Louis größere Besitzungen übereignet, so
dass er in den höheren Adel einheiraten konnte.
Nach
dem Tod seines Gönners Louis (1483) fand Commynes keinen angemessenen Platz
unter dem neuen jungen König Charles VIII bzw. dessen zunächst die Regentschaft
führenden älteren Schwester Anne de Beaujeu. Er bekam große Teile seines
Besitzes wieder abgenommen und beteiligte sich 1488 an den Intrigen und
bewaffneten Kämpfen des französischen Hochadels gegen die Regentin. Hierbei
wurde er vorübergehend gefangen gesetzt und vom Hof verbannt. In dieser
Situation begann er 1489 mit der Abfassung jenes Teiles seiner Erinnerungen,
der seine Zeit bei Herzog Karl und bei König Louis beschreibt, die er als
Fürsten darstellt, die es verdienen, dass man sich von ihnen ab- bzw. ihnen
zuwendet, weshalb er z.B. an passender Stelle auch andere Überläufer anführt
und ihre Motive analysiert.
1492
erhielt er wieder Zutritt zum Hof. Als Charles VIII 1494 einen Feldzug nach
Italien unternahm, um längst obsolet geglaubte franz. Ansprüche auf die Krone
des Königreichs Neapel geltend zu machen, wurde Commynes als Botschafter nach
Venedig geschickt, um den mächtigen Stadtstaat zu bewegen, neutral zu bleiben
zwischen Frankreich und der rasch entstandenen gegnerischen „Heiligen Liga“ aus
dem Haus Habsburg, dem Haus Aragón und dem Papst (als Herrscher des
mittelitalienischen Kirchenstaates und territorialer Nachbar Neapels). Seine
Mission blieb jedoch erfolglos. Die Franzosen mussten Neapel vorerst wieder
räumen.
Zurück aus Venedig, griff Commynes wieder zur Feder und verfasste von Ende 1495 bis Ende 98 den zweiten Teil (Buch VII und VIII) der Memoiren, worin er seine Zeit unter Charles VIII schildert, insbes. die Vorbereitung und Durchführung des Italienfeldzuges sowie seine Tätigkeit als Diplomat. Ein zentrales Motiv scheint hierbei sein Bedürfnis, seinen Misserfolg in Venedig zu erklären, so wie er vorher nicht zuletzt seine Untreue gegenüber Herzog Karl zu rechtfertigen versucht hatte. Ein großes Interesse Commynes’ gilt aber auch den Existenzbedingungen und Motivationen der Fürsten, die er kennen gelernt hatte, bzw. allgemein der Psychologie der Herrscher.
Die
Erinnerungen kamen erst 1524/25, also postum, heraus. Sie wurden
jahrhundertelang immer wieder nachgedruckt und als eine Art Lehrbuch für
Politik und (Geheim-)Diplomatie gelesen.
16.
Jahrhundert (Renaissance)
Jean
Lemaire de Belges (*
ca. 1473 im Hennegau/Hainaut im heutigen Belgien; † nach 1515)
Lemaire wurde erzogen von seinem Onkel,
dem bekannten Chronisten und Rhétoriqueur Jean Molinet. Nach Studien in Paris
bekleidete er Ämter bei verschiedenen Fürsten, insbesondere der Regentin der
Niederlande, Margarete von Habsburg, und der französischen Königin Anne de
Bretagne. 1506 und 1508 reiste er in Italien und kam dort mit der voll
erblühten italienischen Renaissance-Kultur in Berührung.
Er begann als Lyriker im Stil der sog.
Rhétoriqueurs, d.h. Verfasser meist pompöser Gedichte für ein höfisches
Publikum, und führte 1504 die italienische Form der Terzine in die
franz.sprachige Lyrik ein. 1505 verfasste er die heiter-melancholischen Lettres
de l'amant vert (dt. Briefe des grünen Liebhabers), fiktive Briefe des
realen grünen Papageis von Margarete, der angeblich wegen einer langen
Abwesenheit seines Frauchens vor Gram stirbt und dann von seinen Erlebnissen
aus dem Jenseits berichtet.
Lemaires Name ist vor allem aber
verbunden mit dem zu seiner Zeit vielgelesenen Werk Les illustrations de
Gaule et singularités de Troye (1511–13; dt. etwa: Die Ruhmesblätter
Galliens und die Einzigartigkeiten Trojas). Es ist eine Nacherzählung der sich
um Troja rankenden Geschichten (Buch I und II), gefolgt von einer Genealogie
der Gründer Galliens und des Frankenreichs bis hin zu Karl dem Großen (Buch
III). Lemaire verknüpft Trojaner und Franken über die Figur des Francus, eines
(bei Homer nicht erwähnten) angeblichen Sohnes von Hektor, der sich zusammen
mit dem späteren Rom-Gründer Äneas aus dem von den Griechen eroberten Troja
gerettet habe, um seinerseits das alte Gallien zu gründen, dessen Fortführung
wiederum das frühmittelalterliche Francia, das Frankenreich, gewesen sei.
Die Illustrations stützen sich
auf viele im heutigen Sinne pseudoantike und pseudohistorische Quellen (z.B.
eine zeitgenössische lateinische Ilias-Bearbeitung). Sie sind motiviert vom
Wunschtraum des Autors, das alte Frankenreich, also Frankreich, Deutschland und
die Niederlande (d.h. etwa die jetzigen Benelux-Staaten) wieder zu vereinen,
und sei es zunächst nur zum Zweck eines gemeinsamen Kreuzzugs gegen die Türken,
die 1453 das christliche Byzanz (heute Istanbul) erobert hatten.
Lemaire begann die Illustrations 1505
als Sekretär Margaretes in den Niederlanden und stellte sie fertig als Sekretär
und Chronist der französischen Königin Anne. Er selber bildete also
gewissermaßen eine Klammer zwischen dem Ost- und dem Westteil des alten
Frankenreichs (das sich unter Karl dem Großen um 800 von Lübeck bis Barcelona
und von Brest bis Rom erstreckt hatte).
Um 1550 wurden die Illustrations
eine wesentliche Inspirationsquelle für Pierre de Ronsard (s.u.), der mit
seinem (unvollendeten) Versepos La Franciade den Franzosen ein
nationales Epos zu geben versuchte.
1509 und 1511 unterstützte Lemaire
literarisch-propagandistisch Annes Gatten, König Louis XII, und versuchte
dessen Eroberungskrieg in Norditalien zu rechtfertigen sowie seine Bestrebungen
schönzureden, eine von Rom (denn der Papst zählte zu seinen Kriegsgegnern)
relativ unabhängige franz. Kirche zu schaffen, etwa im Sinne des späteren
Gallikanismus.
P.S.: Margarete von Habsburg
(1480–1530) war Tochter Maximilians von Habsburg und der Herzogin Maria von
Burgund. Sie wurde mit außenpolitischen Intentionen schon als Kind verheiratet
mit dem jungen franz. König Charles VIII und kam so an den franz. Hof. Als
Charles 1491 aus politischen Gründen die noch nicht vollzogene Ehe mit ihr vom
Papst auflösen ließ und die Erb-Herzogin Anne de Bretagne (s.u.) heiratete,
wurde Margarete zu ihren Eltern zurückgeschickt. 1495 wurde sie mit dem
spanischen Thronerben Juan vermählt, der aber zwei Jahre später starb. 1501
heiratete sie Herzog Philibert von Savoyen und wurde bald darauf erneut Witwe.
Als 1506 ihr älterer Bruder Philipp der Schöne starb, der 1496 mit Johanna der
Wahnsinnigen vermählt worden war, die als spanische Thronerbin nachgerückt war,
wurde Margarete Vormund von Philipps Kindern, insbes. ihres Neffen Karl (der
1516 König von Spanien und 1519 deutscher Kaiser wurde). Zugleich wurde sie
Regentin der Niederlande, wo sie bis zu ihrem Tod mit Geschick und Energie
amtierte und sich als Mäzenin betätigte.
Anne de Bretagne (1476-1514) war einziges
Kind und damit Erbin von Herzog François de Bretagne. 1490 wurde sie mit dem
verwitweten deutschen König und späteren Kaiser Maximilian verlobt, dann aber
1491 handstreichartig mit dem franz. König Charles VIII verheiratet, wodurch
die quasi selbständige Bretagne zum integrierenden Bestandteil Frankreichs
wurde. Mit Charles hatte sie mehrere Kinder, von denen aber keines überlebte.
Als Charles 1498 starb, heiratete Anne seinen Cousin zweiten Grades und
Nachfolger, König Louis XII, mit dem sie zwei Töchter bekam: Claude, die mit
ihrem entfernten Cousin und präsumptiven Thronfolger François d’Angoulême
(später König François Ier) verheiratet wurde, und Renée, die
Herzogin von Ferrara wurde (und dort in den 1530/40er Jahren protestantischen
Intellektuellen Unterschlupf bot).
Louis XII (1462-1515, König ab 1498)
hatte von seinem Vater Charles d'Orléans († 1464, s.o.) Ansprüche auf das
Herzogtum Mailand geerbt, das er 1499 überfiel und besetzte. 1504 versuchte er
auch das Königreich Neapel zu erobern (das schon sein Vorgänger Charles VIII
beansprucht und 1494 zu erobern versucht hatte). Hierauf reagierten 1511 der
Papst (als Oberhaupt des Kirchenstaates) und die Republik Venedig, aber auch
Österreich, Spanien und England mit dem Bündnis der „Heiligen Liga“, das die
Franzosen aus Italien vertrieb (bis Louis’ Schwiegersohn und Nachfolger
François Ier 1515 die franz. Expansionspolitik sogleich, aber
letztlich ebenfalls erfolglos, wieder aufnahm).
Pierre Gringore (ca. 1475 – ca.
1538)
Sein Name ist bzw. war im 19./20. Jh.
vielen Franzosen dadurch bekannt, dass Victor Hugo ihn als
"Gringoire" in seinem vielgelesenen historischen Roman Notre-Dame de Paris (1831) auftreten
lässt, und zwar als Typ des inmitten des Pariser Volkes lebenden Dichters und
Intellektuellen.
Gringores bekanntestes Werk ist das
vielleicht erste politisch intendierte Stück der franz. Literatur: Le Jeu du prince des sots et de mère sotte (1512, 1831 von einem
anderen Romantiker, Gérard de Nerval, bearbeitet). Le Jeu ist ein Fastnachtsspiel und zugleich
eine pro-französische Satire gegen Papst Julius II, der im Stück in der
lächerlichen Rolle der "mère sotte" auftritt, weil er zum Ärger der
Franzosen gerade erfolgreich das Militärbündnis der "Heiligen Liga"
gegen Louis XII und dessen Expansionsversuche in Nord- und Süditalien
zusammengebracht hatte. Gringore ist aber auch Lyriker, u.a. als Verfasser
vieler politisch-satirischer Gedichte. Er war zudem viele Jahre als Texter und
Organisator von Passionsspielen, vor allem aber der jährlichen Fastnachtsspiele
der Pariser Vereinigung der "enfants sans souci" tätig.
Jacques Lefèvre d’Étaples (*ca. 1450 oder
1455 in Étaples/Picardie; † 1536 in Nérac)
Er war einer
der ersten franz.
Humanisten. Sein Name verbindet sich jedoch vor allem mit der ersten
vollständigen franz. Übersetzung der
Bibel (1523–30).
Nach Theologiestudiem und der
Priesterweihe in Paris wurde Lefèvre Dozent für Philosophie an einem Kolleg der
Sorbonne. Daneben begann er bei einem der neu aus Italien nach Paris gekommenen
Gräzisten Altgriechisch zu lernen. Vielleicht schon vor 1486, auf jeden Fall
aber 1491 und 1499 unternahm er Bildungsreisen nach Padua und Pavia als Zentren
der in Italien schon voll erblühten humanistischen Gelehrsamkeit. Zurück in
Paris wurde er auch selber als humanistischer Gelehrter aktiv insbes. mit
textkritischen Editionen zentraler Schriften des griechischen Philosophen
Aristoteles, die er zudem, unter Abkehr von den erstarrten scholastischen
mittelalterlichen Deutungstraditionen, neu kommentierte. Spätestens 1505 wurde
er Mittelpunkt eines kleinen Kreises humanistisch interessierter Adeliger,
Theologen und Juristen, darunter Guillaume Budé, der 1530 mit Unterstützung von
König François
Ier
das Collège des trois langues gründete, die erste an den Universitäten
vorbei eingerichtete Hochschule Frankreichs.
Ein
anderer Getreuer war Guillaume Briçonnet (1470-1534), Bischof von Lodève in
Südfrankreich, der sich meistens aber in Paris aufhielt, um am Hof präsent zu
sein. Als Briçonnet 1507 auch die Pfründe des Abtes der Benediktinerabtei
Saint-Germain-des-Prés vor den Toren der Stadt erhielt, ließ sich Lefèvre dort
nieder und half ihm bei der Einführung eines strenger am Evangelium
orientierten Ordenslebens. Zugleich erarbeitete und publizierte er textkritische
und kommentierte Editionen von Teilen der Bibel: 1509 die Psalmen, bei denen
ihm klar wurde, dass die mittelalterliche Deutung des Alten Testaments auf vier
verschiedenen Sinnebenen artifiziell und deshalb unhaltbar war; 1512 die
Paulus-Briefe, an denen ihm bewusst wurde, dass viele Dogmen und Regeln der
Kirche nicht der Bibel entsprachen und dass für das Seelenheil des Menschen der
Glaube wichtiger sei als gute Werke.
1521 wurde Briçonnet, der die Gunst von
François
Ier besaß und Beichtvater von dessen
Schwester Marguerite d’Alençon war, zum Bischof von Meaux befördert. Als er konsequent
vor Ort zu residieren und sein Bistum im Sinne der aus Deutschland
herüberstrahlenden Ideen Luthers zu evangelisieren beschloss, folgte ihm
Lefèvre. Er wurde Mitglied des Kreises reformwilliger Theologen und Gelehrter
um den Bischof sowie sein Stellvertreter (Generalvikar).
Zugleich arbeitete er an einer
Übersetzung der Bibel, zunächst des Neuen Testaments, wobei er von der quasi
offiziellen lateinischen Version, der „Vulgata“, ausging, die gegen 400 n. Chr.
Hieronymus nach den griechischen und hebräischen Texten hergestellt hatte. Mit
seiner Übersetzung verfolgte er, ganz wie der fast zeitgleich tätige Luther
(der allerdings von den griechischen Originaltexten ausging) die typisch
reformatorische Absicht, den Gläubigen die Möglichkeit zu geben, selbst die
Bibel zu lesen oder sich vorlesen zu lassen und sie ohne die Vermittlung der
katholischen Geistlichkeit und ihrer Deutungskonventionen auszulegen. Als er
1523 ohne Genehmigung (die er auch kaum erhalten hätte) sein Neues Testament
drucken ließ, wurde er von der Sorbonne, die inzwischen agressiv ihre
Deutungshoheit verteidigte, zum Ketzer erklärt.
Auch sein Gönner Briçonnet wurde
zunehmend angefeindet, u.a. weil er die Franziskaner aus seinem Bistum verbannt
und Anhänger des kürzlich exkommunizierten Luthers predigen lassen hatte. Als
ihm 1525 vorübergehend die Rückendeckung des Königs fehlte, der bei der
Schlacht von Pavia in die Gefangenschaft von Kaiser Karl V. geraten war, musste
er seinen konservativen Gegnern in der Sorbonne und dem Pariser Parlement
Konzessionen machen und sich dezidiert von Luther lossagen. Als zugleich ein
Mitglied seines Kreises verhaftet wurde, hielt es Lefèvre, zusammen mit
anderen, für geraten, aus Meaux zu verschwinden. Er flüchtete in die freie
Reichsstadt Straßburg, eine Hochburg des Humanismus und seit kurzem auch der
Reformation.
Nach der Rückkehr des Königs 1526
konnte auch er nach Frankreich zurück und wurde mit dem Posten eines Bibliothekars
der königlichen Bibliothek in Blois versorgt. 1529 folgte er der Einladung
Marguerites, die 1527 in zweiter Ehe Königin des Restkönigreiches Navarra
geworden war, und ging nach Nérac in SW-Frankreich, wo ihr Gatte und sie einen
kleinen Hof für ihre Aufenthalte dort unterhielten. Besoldet von ihr, die ihn
über Briçonnet gut kannte und die mit dem „Luthéranisme“
sympathisierte, beendete er seine Übersetzung auch des Alten Testaments und
verbrachte er seine letzten Jahre, übrigens ohne dezidiert mit der Katholischen
Kirche zu brechen.
Seine Gesamt-Bibel erschien 1530 in der
damals weltoffenen, reichen und noch pro-reformatorischen Stadt Antwerpen als La
Sainte Bible en français, translatée selon la pure et
entière traduction de Saint-Hierosme. Sie wurde sofort vom Pariser Parlement verboten.
Obwohl sie mehrfach nachgedruckt wurde,
erreichte Lefèvres Bibel im franz. Sprachraum nicht entfernt dieselbe Bedeutung
wie die luthersche im deutschen. Ein wichtiger Grund war sicher, dass der
Reformator Jean Calvin (s.u.) und mit ihm die frankophonen Protestanten die
etwas spätere (eher hölzerne) Übersetzung von Pierre Robert Olivétan und seinem
Team (1535 ff.) bevorzugten, die wie Luther von den hebräischen und
griechischen Texten ausgegangen waren.
Marguerite
de Navarre (geb.
duchesse d’Angoulême, verw. duchesse d’Alençon, Königin von Navarra ab 1527;
*1.4.1492 in Angoulême; † 21.12.1549 in Odos/ Pyrenäen)
Diese hochgebildete, etwas ältere
Schwester von König François Ier
war siebzehnjährig mit dem Duc Charles d’Alençon verheiratet worden und wurde, nach
ihrer Verwitwung 1526, durch ihre zweite Ehe mit Henri d’Albret Titularkönigin
der Nordhälfte des 1512 zerschlagenen baskischen Königreichs Navarra. Den Zeitgenossen
war sie vor allem bekannt als eine neben und hinter ihrem königlichen Bruder
aktive und einflussreiche Frau, die z.B. zu Verhandlungen mit Kaiser Karl V.
nach Madrid reiste, als François in der verlorenen Schlacht von Pavia (1525) in dessen Gefangenschaft
geraten war. Darüber hinaus spielte sie eine bedeutsame Rolle als
Sympathisantin erst Luthers und dann eines über den konfessionellen Fronten
stehenden „Evangelismus“, in dessen Namen sie gefährdete pro-reformatorische
Intellektuelle wie z.B. den Bibel-Übersetzer Lefèvre d’Etaples (s.o.) oder den
Lyriker Clément Marot (s.u.) zu beschützen versuchte und z.T. in ihrem
südwestfranz. Residenzstädtchen Nérac beherbergte
Heute ist sie vor allem als Autorin ein
Begriff. So publizierte sie 1524 die Versmeditation Dialogue en forme de vision nocturne (= D. in Gestalt einer nächtlichen Vision) und 1531 drei
religiöse Langgedichte unter dem Titel des längsten von ihnen, Le Miroir de l'âme pécheresse (= der Spiegel der sündigen Seele).
Das Bändchen spiegelt das enorme Interesse, das die rasch von Reformatoren und
Anti-Reformatoren polarisierten gebildeten Schichten, nicht zuletzt auch der
Adel, theologischen Problemen entgegen brachten, insbes. der neuen Frage nach
dem Verhältnis des einzelnen Gläubigen zu „seinem“ Gott. Es wurde sofort von
der Sorbonne verurteilt, aber trotzdem
25 Jahre hindurch immer wieder nachgedruckt.
In die franz. Literaturgeschichte
eingegangen ist Marguerite mit L'Heptaméron
(= das Siebentagewerk),
einer Novellensammlung mit Rahmenhandlung, die wie praktisch alle
Novellensammlungen der Zeit in der Tradition von Giovanni Boccaccios Il Decamerone (= das Zehntagewerk, um
1350) steht. Das Werk entstand ab 1542 wohl per Diktat und z.T. auf Reisen,
nachdem Marguerite im offiziellen Paris, das sich prokatholisch radikalisierte,
als konfessionell unzuverlässig ins Abseits geraten war und meistens in ihrem
kleinen Königreich weilte, wo auch die Rahmenhandlung spielt. Es sollte
ursprünglich ebenfalls hundert Novellen umfassen, die in der Fiktion an zehn
Tagen von zehn Personen (fünf Damen und fünf Herren) erzählt werden sollten; es
blieb jedoch unvollendet durch den Tod Marguerites bei Nummer 72. Hauptthema
ist, wie in allen Sammlungen dieser Art, die Anziehungskraft der Geschlechter
aufeinander und die vielgestaltigen Verwicklungen, die sie zu verursachen
pflegt. Neu ist Marguerites Behauptung absoluter Wahrheitstreue des Erzählten
und neu auch ihre Idee, ihr Zehnergremium nach jeder Novelle mehr oder weniger
ausführlich über deren jeweilige Moral diskutieren zu lassen. Da diese
Diskussionen (wie im richtigen Leben!) häufig etwas konfus verlaufen und der
Leser den als richtig zu betrachtenden Standpunkt nicht immer klar erkennt oder
nicht recht nachvollziehen kann, wirkten sie schon auf jüngere Zeitgenossen,
z.B. Montaigne (s.u.), eher aufgesetzt und, im Gegensatz zu den Novellen
selbst, etwas blutlos.
Das Werk wurde postum 1559 im Auftrag
von Marguerites Tochter Jeanne d'Albret (der Mutter des späteren Königs Henri
IV) im Originaltext und mit dem etwa passenden Titel L'Heptaméron veröffentlicht. Schon im Vorjahr war unter dem Titel Histoires des amants fortunés (=
Geschichten der glücklich Liebenden) ein Raubdruck erschienen, dessen Text im
Sinne des antireformatorischen Konzils von Trient (1545-49) theologisch und
moralisch „gereinigt“, d.h. mitunter ziemlich verstümmelt worden war.
Noch zu Lebzeiten der Autorin dagegen
erschien ein Sammelband ihrer Versdichtungen (darunter auch der Âme
pécheresse) unter dem hübschen Titel: Marguerites
de la marguerite des princesses (1547). Erhalten sind darüber hinaus einige
ungedruckt und unaufgeführt gebliebene Theaterstücke sowie zahlreiche Briefe.
P.S.: François Ier, geb.
1494, König 1515-1547 (Schwiegersohn und Nachfolger von Louis XII), kämpfte
nach seiner Thronbesteigung fast pausenlos mit Kaiser Karl V. um die
Vorherrschaft in Italien, wobei er 1525 in der Schlacht bei Pavia sogar in
Karls Gefangenschaft geriet, aus der ihn Marguerite als Unterhändlerin zu
befreien versuchte. Er entwickelte ein prächtiges Hofleben und gilt als
repräsentativster franz. Renaissancefürst. 1530 gründete er das Collège des Lecteurs du roi (später Collège royal de France, heute Collège de France), weil die Sorbonne
sich dem humanistischen Einfluss, z.B. dem Studium altgriechischer Texte,
verschloss, bzw. sich überhaupt allem Neuen verweigerte. Ab Ende 1534 ergriff
François immer eindeutiger Partei gegen den Protestantismus, der in Frankreich
zunächst ebenfalls Lutherischer, dann aber zunehmend Calvinscher Prägung war
und sich vor allem im Süden ausbreitete, während er im übrigen Land mehr auf
Teile des Adels und des Bürgertums beschränkt blieb. François’ zunehmend
brutale prokatholische Parteinahme erscheint im Nachhinein als schleichender
Beginn der Religionskriege (Guerres de
religion), die Frankreich von 1562 bis 1594 erschütterten und (anders als
der ähnlich motivierte und ähnlich lange Dreißigjährige Krieg in Deutschland)
mit einer weitgehenden Rekatholisierung des Landes endeten.
François
Rabelais (*1483
oder, wahrscheinlicher, 1494, auf dem Gut La Devinière bei Chinon/Touraine; †
9.4.1553 Paris)
Sein Name ist wohl fast jedem Franzosen
bekannt und hat sich sogar als Adjektiv verselbständigt in Ausdrücken wie „une
plaisanterie rabelaisienne“ (= ein deftiger Witz/Scherz). Er ist verknüpft mit Gargantua et Pantagruel, einem locker
komponierten Romanzyklus, dessen 5 Teile 1532, 1534, 1546, 1548-52 und 1562-63
erschienen, wobei der letzte postum herauskam und z.T. nicht mehr authentisch
ist. Vor allem die ersten Bände waren sehr erfolgreich; die Protagonisten, d.h.
der junge Riese Pantagruel und sein Vater Gargantua, sind noch heute ein
Begriff und haben ebenfalls Adjektive gezeugt: pantagruélique (avoir un appétit pantagruélique) und gargantuesque (un repas gargantuesque).
Rabelais war jedoch auch als Gelehrter und als Arzt aktiv. Seine sehr mobile
Existenz im Schlepptau hochstehender Gönner und auf der ständigen Suche nach
Weiterbildung, zumal im Kontakt mit anderen Gelehrten, ist typisch für die
humanistischen europäischen Intellektuellen der Zeit. Als Zeitgenosse Martin
Luthers (1483-1546) und Jean Calvins (1509-1564) war er involviert in die
heftigen religiösen Querelen der Epoche, wobei er selbst, wie so viele
Humanisten, lange mit der Reformation sympathisierte, und zwar stärker als die
offizielle franz. Literaturgeschichte dies zu sehen pflegt. Auch fand er als
Gönner mehrfach Kirchenfürsten, die offenbar ebenfalls den Anliegen der
Reformatoren relativ aufgeschlossen gegenüber standen und ihn protegierten.
Über Rabelais’ Kindheit und Jugend ist
wenig bekannt. Geboren wurde er vermutlich auf dem o.g. Landgut nahe Chinon als
jüngster von drei Söhnen eines wohlhabenden Grundbesitzers und Juristen, der
nacheinander verschiedene Ämter in Chinon bekleidete. Er erhielt, vielleicht in
der Benediktiner-Abtei von Seuilly bei Chinon, eine passable Bildung gemäß den
damals gängigen Methoden (die er später im Roman karikiert). 1510 oder
11 wurde er Novize bei den Franziskanern, wohl in La Baumette nahe Angers. Um
1520 ist er als Mönch in Fontenay-le-Comte (Vendée) bezeugt.
Hier war er inzwischen durch einen
älteren Mitbruder in Berührung gekommen mit dem von Italien her ausstrahlenden
Humanismus und hatte (Alt-)Griechisch zu lernen begonnen. Auch hatte er
Anschluss an den kleinen Zirkel gebildeter Leute gefunden, die es in Fontenay
als regionalem Verwaltungs- und Justizzentrum gab. Darüber hinaus war er
brieflich in Kontakt mit Gelehrten getreten, wie ein erhaltenes, 1521 datiertes
und offenbar schon zweites Schreiben an den bekannten Humanisten Guillaume Budé
beweist. Im Rahmen seiner griechischen Studien verfasste Rabelais gegen 1522
eine nicht erhaltene Übertragung von Buch I der Geschichte der Perserkriege des
Herodot (5. Jh. v. Chr.) ins Lateinische.
In
den 1520er Jahren wurde auch er, wie die meisten humanistisch Interessierten,
von den Reformideen Luthers erfasst. Als 1523 alle Griechischstudien von der reformfeindlichen
Pariser Theologiefakultät, der Sorbonne, als Vorstufe zur Ketzerei gebrandmarkt
wurden, bekam er seine griechischen Bücher entzogen. Durch Vermittlung des
Bischofs von Poitiers, Geoffroy d’Estissac, der zugleich Abt eines
Benediktinerklosters war, erhielt er 1524 jedoch die päpstliche Erlaubnis, in
dieses zu wechseln, und konnte so die eher bildungsfeindlichen Franziskaner mit
den traditionell bildungsfreundlichen Benediktinern vertauschen. Offenbar lebte
er aber meistens im Gefolge von Estissac in der Abtei von Ligugé bei Poitiers,
wobei er ihm als Sekretär und vielleicht auch als Hauslehrer eines Neffen
diente. Als sein Begleiter auf Reisen durch das Bistum kam er sichtlich in
Kontakt mit Menschen verschiedenster Art und Herkunft. Möglicherweise besuchte
er in diesen Jahren auch juristische Vorlesungen an der Universität Poitiers.
Wohl 1526 erschien sein erstes
gedrucktes Werk, eine lateinische Versepistel an einen befreundeten
Dichter-Juristen aus Ligugé. Von den franz. Versen, die er als junger Mann
ebenfalls schrieb, ist so gut wie nichts erhalten.
1528 findet man ihn in Paris,
vermutlich nach Zwischenstationen an den Universitäten Bordeaux, Toulouse und
Orléans. Anscheinend hatte er unter der Hand den Status eines Weltgeistlichen
angenommen, als der er freier war, seine Studien, nunmehr vor allem der
Medizin, fortzusetzen und gelehrte Kontakte zu pflegen. Aus dem Kontakt mit
einer Witwe gingen zwei uneheliche Kinder hervor, François und Junine.
Dies hielt ihn nicht in Paris, vielmehr
schrieb er sich im September 1530 an der
berühmten medizinischen Fakultät in Montpellier ein, wo er schon im
November Baccalaureus wurde. Die Medizin war damals ein fast reines Buchstudium
mit den Schriften von Hippokrates und/oder Galenus als Quasi-Bibeln. Der
Humanist Rabelais scheint sich denn auch vor allem philologisch mit der Medizin
beschäftigt zu haben, denn in einer Vorlesung kommentierte er im Frühjahr und
Sommer 1531 Texte der genannten Koryphäen, wobei er in revolutionärer Weise die
griechischen Originale zugrunde legte.
Im
Sommer 1532 findet man ihn in Lyon, wo er sich als Arzt betätigte und zugleich
bei dem Drucker und Verleger Gryphe (Greiff) diverse gelehrte Werke herausgab.
Hiervon ließ er sich jedoch nicht absorbieren, sondern verfasste auch einen Roman, der Ende 1532 in
Lyon erschien: Les horribles et
épouvantables faits et prouesses du très renommé Pantagruel, Roi des Dipsodes,
fils du grand Gargantua. Composés nouvellement par maître Alcofrybas Nasier (= die schrecklichen und Furcht erregenden
Taten und Mutbeweise des sehr berühmten P., Königs der Dipsoden, Sohnes des
großen Riesen G. Kürzlich verfasst von Magister A. N.). Das Werk war
also schon am Titel als Parodie erkennbar, und zwar vor allem der Gattung
volkstümlicher Ritterroman. In der Tat hatte Rabelais sich an ein kurz zuvor
anonym erschienenes Volksbuch angehängt: Les grandes et inestimables
croniques du grand et énorme géant Gargantua (= die großen und
unschätzbaren Chroniken des großen und enormen Riesen G.), wobei er einen Sohn
zu dem Riesen erfand. Auch der kuriose Autorname war als humoristisches
Pseudonym erkennbar (gebildet übrigens als Anagramm aus
f-r-a-n-c-o-y-s-r-a-b-e-l-a-i-s).
In Pantagruel schildert Rabelais
in der Rolle des Ich-Erzählers und Domestiken Alcofrybas die Kindheit und
Jugend, die Studienjahre sowie die erste militärische Bewährung des
Protagonisten, doch führt er zu Beginn der Studienzeit eine zweite, zunehmend
wichtige Figur in die Handlung ein, nämlich den ewigen Studenten und
Tausendsassa Panurge, mit dem er sich offensichtlich mehr identifiziert als mit
dem Ich-Erzähler. Am Ende macht er jedoch auch diesen zur handelnden Person,
die im Mund des jungen Riesen eine ganze Welt entdeckt, die der unseren ähnelt.
Der Erfolg des äußerst locker strukturierten, mit zahllosen burlesken
Anekdoten, witzigen Zitaten und satirischen Seitenhieben gewürzten Werkes war
beachtlich. Es wurde allein 1533 und 1534 acht Male, z. T. in
Raubdrucken, neu aufgelegt. Die
Theologen der Sorbonne allerdings stießen sich an Passagen, in denen ihre
scholastische Haarspalterei karikiert und Positionen vertreten wurden, die dem
„Evangelismus“ der Reformatoren entsprachen. Auch die hohen Richter des
Parlements fühlten sich verspottet. Die Reaktion war eine Verurteilung des
Buches durch die Sorbonne. Rabelais dagegen nutzte den Erfolg, indem er
sogleich einen witzigen, z.T. horoskopartigen Almanach für das Jahr 1533
hinterherschob: La Pantagruéline Pronostication [=Vorhersage], die bei
späteren Nachdrucken des Pantagruel oft an diesen angefügt wurde.
Ende 1532 erhielt er eine Anstellung am
Lyoner Krankenhaus, dem Hôtel Dieu. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit frequentierte er die
intellektuellen Zirkel der Stadt, die es zu dieser Zeit wirtschaftlich und auch
geistig mit Paris aufnehmen konnte.
Wohl Anfang 1534 lernte er den Bischof
von Paris und Mitglied des Kronrates Jean du Bellay (1498-1560) kennen, einen
hochgebildeten, humanistisch interessierten Mann, der sich auf einer Reise nach
Rom im Auftrag des Königs befand und in Lyon Station machte. Von ihm, dem wenig
Jüngeren, wurde er als Leibarzt und Gesellschafter-Sekretär engagiert.
Bei seinem Aufenthalt in Rom (Febr. bis
Apr. 34) erhielt Rabelais Einblicke in die Verhältnisse am päpstlichen Hof, wo
man zwischen Frankreich und Kaiser Karl V. lavierte, mit dem Papst Klemens VII.
seit der Eroberung und Plünderung Roms durch kaiserliche spanische Truppen 1527
unfreiwillig verbündet war. Vor allem interessierte er sich aber für die
zahlreichen Spuren der Antike in der Stadt und ihrer Umgebung. Zurück in Lyon
edierte er ein gelehrtes lateinisches Werk eines Italieners über die Topographie
des antiken Rom.
Im Schlusswort des Pantagruel
hatte Rabelais eine Fortsetzung mit weiteren Abenteuern
seines Helden angekündigt. Statt dessen ließ er Ende 34 oder Anfang 35 anonym
einen Roman
erscheinen, dessen Handlung umgekehrt eine Vorgeschichte enthält: La Vie inestimable du grand Gargantua, père
de Pantagruel, jadis composée par l’abstracteur de quinte essence. Livre plein
de Pantagruélisme (= das unschätzbare Leben des großen G., Vaters von P.,
einst verfasst vom Quintessenz-Abstraktor. Ein Buch voller Pantagruelismus).
Sichtlich hoffte Rabelais, mit den Verweisen auf den Pantagruel, an
dessen Erfolg anzuknüpfen, was jedoch, sieht man die geringe Zahl der
Nachdrucke, nur mäßig gelang. Zugleich aber vernebelte er seine Identität als
Autor noch stärker und verlegte er die Entstehungszeit des Buches zurück auf
ein vages „einst“. Sichtlich fürchtete er (zu Recht, wie sich zeigen sollte)
eine erneute Verurteilung durch die Sorbonne. Denn dezidierter noch als im Pantagruel
karikiert er anhand des Bildungsganges, den er seinen Protagonisten Gargantua
durchlaufen lässt, die überkommenen scholastisch geprägten Lerninhalte und
–methoden und propagiert er die neuen humanistischen Bildungsideale. Und auch
der Schlussteil über die Abtei Thélème, einen idealen utopischen Ort, an dem
eine geistige und soziale Elite von jungen Personen beiderlei Geschlechts ein
Leben führt, das nur durch Vernunft, Selbstbeherrschung und die Lehren des
Evangeliums geregelt ist, wirkt alles andere als orthodox katholisch. Nicht oder
kaum kontrovers war vermutlich nur die ausführliche, wenn auch recht burleske
Darstellung des legitimen Abwehrkrieges, den Rabelais seinen Gargantua gegen
einen Agressor führen lässt, hinter dem man Kaiser Karl V. vermuten konnte, mit
dem König François Ier seit Jahren um die Vorherrschaft in
Italien, wenn nicht in Europa kämpfte.
Anfang 1535, soeben hatte er wieder
einen Almanach drucken lassen, verschwand Rabelais aus Lyon, vermutlich um sich
einer möglichen Verfolgung als Sympathisant der Reformation zu entziehen. Denn
François
Ier
hatte Ende
Oktober 34 entschieden Partei gegen die Reformatoren ergriffen und grünes Licht
für Ketzer-Prozesse gegen sie gegeben, was eine Fluchtwelle auslöste.
Glücklicherweise konnte Rabelais, der vielleicht bei Estissac untergeschlüpft
war, wieder in den Dienst Du Bellays treten und ihn, der im Mai zum Kardinal
erhoben worden war, erneut nach Rom begleiten. Bei einem Aufenthalt in Ferrara
traf er auf Clément Marot (s.u.) und andere dorthin geflüchtete Sympathisanten
der Reformation, die Asyl bei der Herzogin, einer Tochter von König Louis XII,
gefunden hatten, die dem „Lutherismus“ nahestand.
Anschließend verbrachte Rabelais
1535/36 sieben Monate mit Du Bellay in Rom. Zweifellos über ihn erhielt er die
Erlaubnis des Papstes (inzwischen Paul III.), pro forma in den
Benediktinerorden zurückzukehren, und zwar als Mönch einer Abtei nahe Paris,
deren Prior Du Bellay war. Dort sollte er, nach der beabsichtigten Umwandlung
der Abtei in ein Stift, eine Pfründe als Stiftsherr mit regelmäßigen Einkünften
bekommen. Die Umwandlung fand 1536 statt, doch wehrten sich die anderen
Nutznießer gegen den Quereinsteiger. Rabelais musste eine Eingabe an den Papst
richten. Der Ausgang der Angelegenheit ist unbekannt.
Anfang 1537 erwarb er, da ihm der Papst
zugleich gestattet hatte, als Arzt tätig zu bleiben, in Montpellier auch den
Doktortitel und hielt anschließend Vorlesungen über die Schriften des
Hippokrates. Hierbei legte er erneut das griechische Original zugrunde und
kritisierte die gängige lateinische Version als fehlerhaft. Im Sommer erregte
er Aufsehen in Lyon, als er bei einem Aufenthalt dort die Leiche eines
Gehenkten sezierte. Im Winter 37/38 hielt er wieder Kurse in Montpellier.
1538 finden wir ihn in Aigues Mortes
mit Du Bellay, der hier an einem Treffen von König François mit Kaiser Karl
teilnahm, die soeben einen Waffenstillstand und die Verheiratung eines Sohnes
des Königs mit einer Tochter des Kaisers ausgehandelt hatten. Anschließend
folgte Rabelais seinem Gönner nach Lyon.
Vermutlich 1539 (oder schon 1536?)
wurde ihm ein Sohn, Théodule, geboren, der jedoch zweijährig starb.
Ende 1539 wurde er von Du Bellay an
dessen kränkelnden älteren Bruder Guillaume de Langey weitergereicht, einen
hohen Militär und ebenfalls sehr gebildeten Mann, der zum Gouverneur des
Herzogtums Savoyen-Piemont ernannt worden war, das von franz. Truppen besetzt
gehalten wurde. Von ihm wurde er nach Turin mitgenommen, der piemontesischen
Hauptstadt. Hier verfasste er, unter dem Titel Stratagemata, auf Latein
eine Geschichte der Feldzüge Langeys, die aber verloren ist. Die nächsten drei
Jahre bis zu dessen Tod Anfang 1543 pendelte Rabelais mit ihm zwischen
Norditalien und Frankreich.
1541 und 1544 brachte er erneut je
einen Almanach heraus, letzteren unter dem Titel Grande et vraye
pronostication nouvelle pour l’an 1544 (= große und wahre neue Vorhersage
für das Jahr 1544).
1542 publizierte er in Lyon Versionen
des Pantagruel und des Gargantua, deren Text etwas gereinigt und
leicht entschärft war. Offenbar reagierte er hiermit auf die Vorwürfe, beide
Bücher seien obszön und theologisch bedenklich, und hoffte er, als linientreuer
Katholik zu erscheinen und so seine Ruhe zu haben. Auch die Titel wurden
verändert. Das erste Buch hieß nun Pantagruel,
Roi des Dipsodes. Restitué à son
naturel, avec ses faits et prouesses épouvantables. Composés par feu M.
Alcofribas, abstracteur de quinte essence (=P., König der Dipsoden. Naturgetreu wiederhergestellt
(?), mitsamt seinen Schrecken erregenden Taten und Mutbeweisen. Verfasst von
dem verstorbenen M. A., Quintessenz-Abstraktor). Der andere lautete, nur leicht
verändert, La Vie très horrifique du
grand Gargantua [etc.]. Etwa gleichzeitig
druckte allerdings der pro-protestantische Drucker Étienne Dolet, ein einstiger
Freund Rabelais’, sehr zu dessen Ärger eigenmächtig nochmals die ursprünglichen
Versionen nach, wobei übrigens erstmals der Gargantua als Band I und der
Pantagruel als ihn fortsetzender (und seinerseits noch weiter
fortzusetzender) Band II figurierte.
Rabelais übernahm
sofort diese Praxis und brachte noch 1542 ebenfalls eine zweibändige Ausgabe
heraus unter dem Titel Grands annales ou chroniques très véritables des
gestes merveilleux du grand Gargantua et Pantagruel son fils, roi des Dipsodes,
enchroniqués par feu Maistre Alcofribas, abstracteur de quinte essence. Im Vorwort der Neuausgabe (deren Text heute i.d.R. den kritischen Editionen zugrunde
liegt) attackierte er Dolet, dennoch wurde sie von der Sorbonne verurteilt.
Trotz der Verurteilung schrieb Rabelais einen Fortsetzungsband, mit
dem er offensichtlich auf ein
misogynes Buch von 1541, L’Amie de
cour (=die Freundin am Hof) und
eine profeministische Antwort darauf von 1542 reagierte, La parfaite amie (=die perfekte Freundin) von Antoine Hérouet. Hierin meidet er
politisch-religiös brisante Themen und auch sein Humor ist weniger derb. Zudem
wird Pantagruel kaum mehr als Riese darstellt, der allein durch seine
Körpergröße groteske Effekte bewirkt. Im Zentrum der Handlung steht die Frage,
ob Panurge, der neben oder gar vor Pantagruel die zentrale Figur ist, heiraten
soll, oder – so sichtlich die Tendenz Rabelais’ - lieber nicht. Als
dieser das Buch 1545 fertig hatte, durfte er es sogar der Schwester von König
François,
Marguerite de Navarre (s.u.), widmen und mit einem königlichen Privileg in Paris drucken lassen. Es erschien 1546, unter seinem richtigen Namen, als Le tiers livre des faits et dits héroïques du noble Pantagruel, composés par
M. Franc. Rabelais, docteur en médicine (=das dritte Buch der heldenhaften
Taten und Worte des edlen P. [etc.]).
Dennoch wurde es erneut verurteilt. Da
zur selben Zeit das Parlement eine spezielle Kammer für Ketzer-Prozesse
einrichtete (die anschließend 500 Todesurteile fällte) verschwand Rabelais aus
Frankreich und schlüpfte unter bei einem Klienten Du Bellays in der damaligen
freien Reichsstadt Metz. Dort verdingte er sich als städtischer Arzt und begann
zugleich einen weiteren Fortsetzungsband.
Dieser inspirierte sich an Berichten von den spektakulären Entdeckungsreisen
der Zeit (z.B. Jacques Cartier, 1534-43) und schildert parodistisch eine
fiktive Seefahrt, die Pantagruel und Panurge unternehmen, um das Orakel der
„göttlichen [Wein-]Flasche“ (dive bouteille) zu finden, das die Frage, ob
Heirat oder nicht, beantworten soll.
Nach dem Tod von König François (1547) ging Du Bellay einmal mehr
in diplomatischer Mission nach Rom und nahm Rabelais dorthin mit. Auf der
Durchreise übergab dieser in Lyon einem Drucker die ersten elf Kapitel des
neuen Bandes, die 1548 als Le Quart
livre des faits et dits héroïques
[etc.]
erschienen. In Rom, wo er mit Du Bellay zwei Jahre bis 1549 blieb, stellte er
das Buch dann fertig. Hierbei beschreibt er u.a. satirisch ein Inselreich von
asketischen Protestanten, den „Papefigues“ (Papstspöttern/-verächtern), aber
auch eines von naiv papsttreuen Katholiken, den „Papimanes“, deren Bischof den
Reisenden erklärt, wie Rom aus Frankreich Geld absaugt. Sichtlich meinte
Rabelais damit dem neuen franz. König Henri II zu Gefallen zu sein, der die
Etablierung einer von Rom unabhängigen „gallikanischen“ Kirche anstrebte. Als
Anfang 1552, nunmehr in Paris, das Quart
livre als Ganzes herauskam, hatte sich allerdings der Wind gedreht: König
und Papst hatten sich arrangiert, Kritik an Rom war nicht mehr erwünscht. Entsprechend
zögerte die Sorbonne nicht, das Buch zu verurteilen. Das Pariser Parlement zog
nach und verbot es. Dass Rabelais es dem Kardinal Odet de Châtillon gewidmet
hatte, war sicher wenig hilfreich gewesen, denn der war Neffe von Admiral
Coligny, eines der Chefs der Protestanten.
Dem Erfolg des Buches tat das Verbot
keinen Abbruch. Rabelais selbst musste allerdings Anfang 1553 die Pfründe in
Meudon und eine weitere im Bistum Le Mans aufgeben, die er erst 1551 über Du
Bellay erhalten hatte. Hiernach ist nichts mehr von ihm bekannt. Offenbar aber
hatte er noch bis kurz vor seinem Tod im April 53 an einem weiteren Band
gearbeitet, der die Fortsetzung und das Ende der Seefahrt schildern sollte.
1562 erschien postum, vermutlich auf Initiative seines Druckers, ein Teilstück
unter dem Titel L’Île sonnante (= die klingende Insel), das den Besuch
der Reisenden auf einer burlesk dargestellten Insel schildert, hinter der
unschwer Rom zu erkennen war. 1563 kam, von unbekannter Hand komplettiert, der
geamte Band heraus als Le cinquième livre [etc.] (= das fünfte Buch).
Dieses wurde in die Gesamtausgaben des Zyklus aufgenommen, die kurz nach dem
Tod Rabelais’ zu erscheinen begannen und lange Zeit mit beachtlicher
Regelmäßigkeit erschienen.
Letzteres erstaunt umso mehr, weil
Rabelais nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen Seite
konfessionell suspekt war. Auch wurde er, wegen seiner freimütigen Akzeptanz
der Körperlichkeit des Menschen und von dessen Bedürfnis nach Lustgewinn,
zunehmend als unmoralisch gerügt, und zwar ebenfalls sowohl von den prüder und
rigoristischer werdenden katholischen Theologen als auch von ihren ohnehin
moralinsauren protestantischen Kollegen, deren Vordenker Calvin (s.u.) ihn
schon 1550 in seinem Traité des scandales heftig angegriffen hatte.
Vom zeitgenössischen Lesepublikum
dagegen wurden Rabelais’ Romane vermutlich als erheiterndes Evasionsangebot
genutzt in einer Zeit, wo es wenig zu lachen gab angesichts einer Realität, die
beherrscht war von einer enormen religiösen und ideologischen Polarisierung.
Denn diese reichte bis in die Familien hinein, bewirkte eine zunehmende
Intoleranz der konfessionellen Parteien und ihrer Propagandisten und führte zu
einer immer brutaleren Unterdrückung der Protestanten durch den Staat, der seit
1534 offen die katholische Partei unterstützte. Den Ausbruch der
Religionskriege 1562 erlebte Rabelais nicht mehr.
Heute gilt er, auch wenn er aufgrund
seiner archaisch gewordenen Sprache und seiner nur noch schwer verständlichen
Wortspiele und Anspielungen wenig gelesen wird, als der größte franz. Autor des
16. Jh., einer der Großen der franz. Literatur überhaupt und speziell als
Galionsfigur des moralisch nicht immer korrekten, dafür aber
volkstümlich-heiteren esprit gaulois
oder eben esprit abelaisien. Der
Erfolg seines Romanzyklus beruht auf einer unnachahmlichen Kunst der Mischung:
auf der Stilebene mengt Rabelais Ernst und Scherz, spielerische Ironie und
bissigen Sarkasmus, derben Witz und hypergelehrte Pedanterie, lustige
Wortspielereien und komisch verwendete echte und fiktive Zitate; auf der
Strukturebene kombiniert er meist knappe, immer wieder die Grenzen zum
Phantastischen und Grotesken überschreitende Handlungssequenzen und meist
längere Erzähler- und Figurenreden, deren letztlich satirische Intentionen kaum
zu übersehen sind, auch wenn sie sich oft verstecken, z.B. hinter einer
scheinbaren Naivität der Sprecher. Nicht zu Unrecht erkannte die Sorbonne in
dem Humoristen und Fabulisten den kritisch-selbständigen Geist und Anhänger
eines unorthodoxen Evangelismus, auch wenn er letztlich, wie viele franz.
Autoren der Zeit, pro forma Katholik geblieben war, vielleicht weil ihn der
zunehmende religiöse und moralische Rigorismus der Protestanten abstieß.
Die erste deutsche Teil-Übertragung des
Zyklus wurde von dem Straßburger Humanisten Johann Fischart verfasst und
erschien 1575 unter dem Titel: Abenteuerliche und ungeheuerliche
Geschichtsschrift von Leben, Raten und Taten der Herren Grandgusier, Gargantua
und Pantagruel.
Clément
Marot (*
1496 Cahors; † 1544 Turin)
Er galt schon zu seinen Lebzeiten als
der bedeutendste franz. Lyriker der Epoche und blieb bis ins
19. Jahrhundert hinein ein sehr geschätzter und gern imitierter bzw.
pastichierter (spaßhaft nachgeahmter) Dichter, den man als prototypisch betrachtete
für die vermeintlich guten alten Zeiten.
Er
wurde geboren als Sohn des Kaufmanns und angesehenen Dichters Jean Marot.
Dieser stammte aus der Normandie, die Mutter aus Cahors in Südfrankreich. Hier
verbrachte Marot seine Kindheit, wobei er zunächst zweisprachig aufwuchs, d.h.
vor allem okzitanisch. Eine solide Schulbildung genoss er offenbar nicht, doch
lernte er Latein sowie Italienisch und konnte sich eine gewisse klassische
Bildung aneignen.
1506
erhielt der Vater durch Vermittlung einer adeligen Bewunderin einen Posten als
Sekretär im Dienst der Königin, Anne de Bretagne. Später wurde er zum
Kammerdiener (valet de chambre) bei ihrem Gatten Louis XII befördert.
Durch
seinen Vater, dem er nach Paris gefolgt war, erhielt der junge Marot Kontakt zum
Hof und bekam eine Stelle als Page bei einem hochrangigen Adeligen. Dieser
verschaffte ihm etwas später einen Schreiberposten in der Chancellerie (quasi
beim Justizminister) und protegierte ihn auch weiterhin.
Ab
ca. 1511 schrieb Marot Verse, angeleitet vom Vater und von dessen Dichter- und
Sekretärskollegen Jean Lemaire de Belges (s.o.). Daneben schulte er seine Feder
mit Übertragungen von Texten der römischen Klassiker Vergil und Lukian. 1514
trat er erstmals an die Öffentlichkeit mit der Versepistel (épître) Le
Temple de Cupido, verfasst zur Hochzeit von Claude de France, der Tochter
von Louis XII, mit ihrem Cousin François d’Angoulême, der aufgrund des Fehlens
eines direkten männlichen Thronerben engster Anwärter auf die franz. Krone war.
Im selben Jahr wurde auch ein erstes Werk Marots gedruckt, die Épître de
Maguelonne.
Nachdem
François d’Angoulême schon 1515 als François Ier auf den Thron
gelangt war (und Marots Vater Jean als Kammerdiener übernommen hatte), schaffte
es Marot, dem nur zwei Jahre älteren jungen König mit weiteren Gedichten zu
gefallen, z.B. einer witzigen Petite épître au Roi, und seine Sympathie
zu gewinnen. 1519 wurde er von François dessen älterer Schwester empfohlen,
Marguerite d’Angoulême (bzw. de Navarre, s.o.), die ihn als Kammerdiener und
Sekretär in ihre Dienste aufnahm.
Dies
hinderte Marot nicht, König François 1521 und 22 auf Feldzügen gegen Kaiser
Karl V. in Flandern und im Hennegau zu begleiten. Meist jedoch lebte er als von
ihm geschätzter Dichter und Unterhalter am Hof in Paris. Hier verfasste er bei
den verschiedensten Anlässen und Gelegenheiten Texte in fast allen lyrischen
Gattungen der Zeit. Eine Spezialität dieser frühen Schaffensphase waren, neben
weiteren Versepisteln, kürzere Gedichte zum Thema Liebe, insbesondere Rondeaus
und Chansons. Seine Texte verbreitete er in der Regel zunächst durch Lesung
oder Vortrag vor seinem Zielpublikum, doch kursierten meistens rasch auch
Abschriften Dritter.
Zweifellos
war es durch den Einfluss Marguerites und ihrer Umgebung, dass Marot sich dem
reformatorischem Gedankengut Luthers öffnete, das sich um 1520 als
„Evangelismus“ auch in Frankreich zu verbreiten begann. Dies, aber zweifellos
auch ein etwas lockerer Lebenswandel und vor allem eine spöttische Zunge, trug
ihm Anfeindungen und bald auch Probleme ein. Insbesondere scheint er Richter
des Obersten Gerichts, des Parlement, und Theologen der Sorbonne verärgert zu
haben.
Als
1525 der König bei der Schlacht von Pavia in die Gefangenschaft von Kaiser Karl
geraten und seine Schwester Marguerite zu Freilassungsverhandlungen nach Madrid
gereist war, wurde Marot von einer rachsüchtigen Frau denunziert, er habe in
der Fastenzeit Speck gegessen. Seine Feinde und Neider nutzten die Abwesenheit
seiner fürstlichen Gönner und bewirkten im Februar 26 seine Inhaftierung im
berüchtigten Pariser Stadtgefängnis, dem Châtelet. Dank der Fürbitte eines
Freundes zog jedoch wenig später der Bischof von Chartres den Fall an sich und
nahm Marot in eine Art Schutzhaft. Im Mai befreite ihn ein Gnadenakt des soeben
zurückgekehrten Königs. Seine misslichen Erlebnisse im Châtelet schildert er
sehr realistisch und mit bissigem Humor in einer Epistel mit dem sprechenden
Titel L’Enfer, die er aber vorsichtshalber in der Schublade ließ, weil
sie nur zu richtig als Attacke auf die Pariser Gerichtsbarkeit und ihre
Schergen verstanden werden konnte.
Wenig
später wurde Marot zum Nachfolger seines kürzlich verstorbenen Vaters im
Kammerdieneramt ernannt. Als er 1527 er erneut im Kerker landete, weil er einem
gerade von der Polizei festgenommenen Bekannten zur Flucht verholfen hatte,
befreite ihn König François umgehend selbst. Die betreffende Anordnung und der
vorangehende Hilferuf Marots in Gedichtform sind erhalten, ebenso ein launiges
Dankgedicht.
Die
Jahre nach 1526 waren sehr fruchtbar für Marot, zunächst auch dank seiner
Verliebtheit in Anne d’Alençon, eine junge Nichte von Marguerites erstem
Gatten, die ihn zu vielen Gedichten inspirierte. Vor allem jedoch fungierte er
weiterhin als Hofdichter mit Gelegenheitsgedichten aller Art und zu allen
möglichen Anlässen, wobei er u.a. die Gattung Epigramm, d.h. witzige, oft
bissige, einstrophige Texte, entwickelte. Finanziell ging es ihm ebenfalls gut,
so dass er 1529 (?) heiraten konnte und angeblich seine bald vorhandenen zwei
Kinder täglich dankbar für den König beten ließ.
Nachdem
1531 als Raubdruck in Lyon eine erste Sammlung seiner Gedichte erschienen war,
gab Marot 1532 unter dem etwas burschikosen Titel L'Adolescence [Jugendzeit]
clémentine erstmals selber einen Sammelband heraus. Da dieser sehr
erfolgreich war, ließ er 1534 einen weiteren Band folgen, die Suite
[Fortsetzung] de l'Adolescence clémentine.
Schon
um 1525 hatte er die Idee gehabt, nach quasi humanistischen Editionsprinzipien
Werke der älteren franz. Literatur gedruckt herauszugeben. So hatte er 1526 ein
Lieblingswerk seines Vaters, den Roman de la rose (Rosenroman, 13. Jh.,
s.o.), in leicht modernisierter Sprache ediert. 1533 besorgte er eine Ausgabe
der Dichtungen von François Villon (15. Jh., s.o.).
Der Oktober 1534 brachte einen
tiefen Einschnitt im Leben Marots. Er sah sich in die sog. Affaire des Placards
verwickelt, eine Plakat-Aktion protestantischer Aktivisten (vielleicht aber
auch verkappter katholischer Scharfmacher). Diese bewirkte, dass König François
seine bis dahin geübte religiöse Toleranz oder auch Gleichgültigkeit aufgab,
Partei bezog auf Seiten der konservativen Kräfte des Katholizismus und einer
scharfen Repression des Protestantismus freien Lauf ließ, was rasch zu einer
Reihe von Ketzerprozessen vor dem Parlement und zahlreichen Todesurteilen und
Hinrichtungen führte , sowie eine erste Fluchtwelle auslöste (der z.B. auch
[[Jean Calvin]] angehörte).
Als
Marot erfuhr, dass auch er auf einer Liste von Verdächtigen stand, entschloss
er sich, wie viele andere Gesinnungsgenossen, zur Flucht. Er ging nach Nérac im
Béarn, das als Hauptort des franz. Teils des kleinen Rest-Königreichs Navarra
diente, mit dessen Titularkönig Henri d’Albret seine Gönnerin Marguerite sich
1527 in zweiter Ehe verheiratet hatte. Nachdem er 1535 vom Pariser Parlement in
Abwesenheit verurteilt worden war, zog Marot auf Anraten Marguerites weiter
nach Ferrara an den Hof der Herzogin Renée d'Este, der jüngeren Tochter von
König Louis XII, die mit Luthers Lehren sympathisierte und schon andere franz.
Flüchtlinge beherbergte.
Von
dort aus richtete er eine Bitt-Epistel an König François, worin er den Vorwurf,
er sei „Luthériste“, zu entkräften versuchte und sich sarkastisch über seine
Feinde in der Pariser Justiz und der Sorbonne beklagte. Er bekam aber keine
Antwort, so dass er eine weitere Epistel verfasste, nunmehr an den Dauphin
(Thronfolger).
Als
er in Ferrara wenig später mit Duldung des Herzogs, der de jure Lehensmann des
Papstes war, von der Inquisition bedrängt wurde, floh er 1536 weiter nach
Venedig. Hier erreichte ihn die Nachricht, dass er vom König amnestiert worden
war. Nachdem er in Lyon dem Protestantismus abgeschworen und sich von Lyoneser
Sympathisanten etwas feiern lassen hatte, kehrte er Anfang 1537 zurück nach
Paris und zu seiner Familie. Wieder aufgenommen am Hof wurde er dort zunächst
in eine Fehde mit Gedichten verwickelt von einem alten Rivalen namens François
de Sagon, der sich inzwischen als Platzhirsch betrachtete. Marot konnte sich
durchsetzen und erreichte hiernach den Höhepunkt seiner Anerkennung.
1538
ließ er bei dem bekannten Drucker Étienne Dolet in Lyon unter dem schlichten
Titel Les Œuvres eine erste Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen. Im
selben Jahr übertrug er Gedichte Francesco Petrarcas, darunter sechs Sonette,
die vielleicht die ersten in franz. Sprache sind. 1539 bekam er vom König ein
Haus in Paris geschenkt. Seine Stellung als bester Dichter seiner Zeit schien
gesichert.
Schon
1533 hatte er einen Bibel-Psalm in franz. Versen und Strophen nachgedichtet.
Nach seiner Rückkehr aus dem Exil hatte er, auf Vorschlag von König François,
diese Arbeit wieder aufgenommen und fortgeführt. 1541 gab er das Ergebnis unter
dem Titel Trente psaumes de David mis en français in Druck und durfte
das Buch sogar dem großen Gegner von François, Kaiser Karl V., widmen, als
dieser während einer Kriegspause Paris besuchte.
Nachdem
ihm die Trente Psaumes zunächst viel Lob eingebracht hatten als der
erste gelungene Versuch einer künstlerisch adäquaten Nachdichtung der Psalmen,
wurden sie 1542 auf Betreiben der Sorbonne überraschend verboten. Ein Grund war
wohl, dass soeben der inzwischen eindeutig proprotestantische Dolet ohne
Zustimmung Marots L’Enfer gedruckt hatte; ein anderer war sicher der
Umstand, dass der Reformator Calvin, der in Genf gerade an die Macht gelangt war, die Psalmen-Nachdichtung
ebenfalls lobte und seinen Anhängern empfahl.
Da
zugleich das Parlement eine neue Prozessaktion gegen Protestanten startete,
verschwand Marot (so wie u.a. auch Rabelais, s.o.) aus Paris und ging nach Genf
zu Calvin. Hier übertrug er weitere 20 Psalmen, so dass er 1643 eine Neuauflage
mit nunmehr 50 Psalmen drucken lassen konnte. Kurz danach jedoch verließ er
Genf, weil er Probleme mit Calvin und dessen fundamentalistisch strengem und
asketischem Regime bekam. Er zog weiter in das von franz. Truppen besetzte
Herzogtum Piemont-Savoyen, von wo aus er vergeblich Kontakt mit König François
aufzunehmen versuchte. Nach kürzeren Aufenthalten in Annecy und Chambéry starb
er 1544 verbittert in Turin. Kurz nach seinem Tod (dessen genaues Datum ebenso
unbekannt ist wie das seiner Geburt) erschien eine Neuauflage der Œuvres.
Marots
literarhistorische Bedeutung liegt darin, dass er (im Sinne seiner beiden
Lehrmeister) einerseits die reiche eigenständige franz. lyrische Tradition mit
ihrem vielfältigen Formenbestand weiterführte, sich andererseits aber als einer
der ersten franz. Autoren auch an der zu dieser Zeit tonangebenden
italienischen Lyrik inspirierte. Anscheinend war er es, der das Sonett in
Frankreich einführte. Er pflegte insbes. die Gattung Versepistel, wobei er oft
sehr persönlich wirkende Passagen einflicht; und er gilt vor allem als erster
Meister, wenn nicht gar Erfinder der Kurzform Epigramm. Insgesamt verfasste er
65 Episteln, 80 Rondeaus, 15 Balladen, 300 Epigramme, 27 Elegien.
Viele
seiner Gedichte gelten dem Thema Liebe, insbesondere Rondeaus und Chansons, in
denen er höchst kunstvoll, mal eher ernst, mal eher scherzhaft und mitunter
auch leicht anzüglich, die Begrifflichkeit und die Vorstellungswelt der
überkommenen höfischen Lyrik aufnimmt und variiert.
Das
Markenzeichen, vor allem der Gedichte, die der leichteren Muse gelten, ist ihre
formale und stilistische Vielfalt bei gleichzeitiger Eleganz und spielerischer,
oft verspielter Leichtigkeit des Ausdrucks: der sprichwörtlich gewordene „style
marotique“.
Die
Beurteilung Marots in Frankreich war nicht immer frei von konfessionell
bestimmten Motiven. Dennoch war seine Nachwirkung groß, allein im 16.
Jahrhundert wurden die Œuvres weit über zweihundertmal nachgedruckt.
Seine
Cinquante psaumes wurden zum Kern des sog. Genfer Psalters
(Hugenottenpsalter).
Sein
Sohn Michel Marot, der Page bei Marguerite wurde, versuchte sich ebenfalls als
Dichter, erreichte aber nicht entfernt die Bedeutung seines Vaters oder auch
des Großvaters.
Maurice Scève (* ca. 1500 in Lyon; † ca. 1560,
vermutlich ebenfalls in Lyon)
Er gilt als der bedeutendste Vertreter
der um 1550 blühenden sog. Lyoneser Dichterschule, deren einigendes geistiges
Band die idealistische neoplatonistische Vorstellung von Liebe war, die man aus
Italien übernommen hatte.
Über die Biografie Scèves ist wenig
bekannt. Er war Sohn eines städtischen Richters aus alter Lyoneser Familie und
erhielt eine gute humanistische Bildung. Er lebte überwiegend in und bei Lyon,
das zu dieser Zeit dank seiner Nähe zu Italien wirtschaftlich florierte und
auch geistig ein der Hauptstadt Paris fast ebenbürtiges Zentrum war, weil es
nicht von stockkonservativen Institutionen wie der Sorbonne oder dem Parlement
kontrolliert und erstickt wurde.
Scèves bekanntere Werke sind die Elegie
Arion (1536), die Ekloge La Saulaie, églogue de la vie solitaire
(1547) und vor allem Microcosme, ein 3000
Verse langes enzyklopädisches Gedicht (postum 1562 gedruckt). Hierin sieht
Scève den Sündenfall Adams und Evas, bzw. ihre Vertreibung aus dem Paradies,
als Voraussetzung für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und damit
allen Fortschritts, der in Form einer Traumvision Adams von der Zukunft der
Menschheit an Beispielen dargestellt wird. Des weiteren verfasste Scève sog.
Blasons, d.h. damals beliebte Gedichte, die (weibliche) Körperteile besingen,
z.B. Le Sourcil oder Le Front oder Le soupir oder La Gorge.
Seinen Ruhm schon zu Lebzeiten
verdankte Scève vor allem dem 1544 erschienenen Gedichtzyklus Délie, objet de plus haute vertu, den er
1537 begonnen hatte, nach der Begegnung mit seiner großen, aber unerfüllten
Liebe, der ebenfalls dichtenden Pernette du Guillet (ca. 1520-1545). Der Zyklus
beginnt mit einem achtzeiligen Zueignungsgedicht und umfasst dann 449
zehnzeilige Gedichte, die im Druck durch eingefügte Embleme in Gruppen
unterteilt sind, und zwar nach dem System 5+(9×49)+3. Die in zehnsilbigen
Versen verfassten Gedichte sind allesamt sehr kunstvoll, oft hermetisch. Sie
sprechen von oder richten sich an eine ideale Geliebte, die als grundsätzlich
unerreichbar vorgestellt wird, ähnlich wie die Beatrice von Dante oder die
Laura von Francesco Petrarca, deren Grab Scève 1533 in Avignon gefunden zu
haben glaubte. Mit Délie (der Name
ist ein Anagramm aus L’-I-D-E-E)
steht Scève gedanklich in der Tradition des italienischen Neoplatonismus und
stilistisch in der der sog. petrarkistischen Liebeslyrik, wie sie von dem o.g.
Petrarca um 1330 inauguriert, in ganz Mittel- und Westeuropa rezipiert und mehr
als zwei Jahrhunderte hindurch imitiert wurde.
Scève kannte sich übrigens nicht nur in
der italienischen Literatur gut aus (sowie selbstverständlich in der
lateinischen und der griechischen), sondern auch in der spanischen, deren
„siglo de oro“ (Goldenes Zeitalter) gerade begann. Er zählt zu deren ersten
franz. Mittlern mit seiner Übertragung La
deplourable fin de Flamecte, élégante invention de Jehan de Flores, espaignol,
traduicte en langue françoise (1535, = das beklagenswerte Ende Flamettas.
Eine elegante Erfindung von Juan de
Flores …).
Jean
Calvin (eigentlich
Jean Cauvin, *10.7.1509 in Nyon/Picardie, † 27.5.1564 in Genf)
In Deutschland praktisch nur in als
wichtigster Reformator neben Luther und als Vordenker der „reformierten“
Protestanten bekannt, ist er in Frankreich, ähnlich wie Luther bei uns,
zugleich eine bedeutende Figur der Literatur- und Sprachgeschichte.
Calvin war Sohn eines wohlhabenden Juristen,
der im Dienst des Bischofs von Nyon stand und ihn zunächst für die kirchliche
Laufbahn bestimmte. Er durfte am häuslichen Unterricht der Neffen des Bischofs
teilnehmen und erhielt im Vorgriff einen Anteil an einer Pfründe an der
Kathedrale von Nyon. Mit 14 wurde er nach Paris geschickt, wo er auf Kollegien
(collèges) der Sorbonne die propädeutischen Studien der Septem Artes liberales
absolvierte und dann theologische und kirchenrechtliche Studien betrieb. 1528
begann er jedoch auf Wunsch seines Vaters, der inzwischen in einen Rechtsstreit
mit dem Bistum geraten war, ein Studium auch des Zivilrechts in Orléans, das er
in Bourges fortsetzte und abschloss. Zurück in Paris, hängte er nach dem Tod
des Vaters (1531) die Juristerei jedoch an den Nagel und widmete sich vor allem
den im Trend liegenden humanistischen Studien, für die er sich schon in Bourges
zu interessieren begonnen hatte. In diesem Sinne frequentierte er das soeben
(1530) von König François Ier gegründete Collège des trois langues (Latein, Griechisch und Hebräisch) bzw. Collège des Lecteurs du roi und publizierte er 1532 als erste
Frucht seiner neuen Studien einen lateinischen Kommentar zu einem Werk des
römischen Klassikers Seneca.
Schon gegen 1528 war er in Paris über seinen
Landsmann Pierre Robert, genannt Olivetan (den späteren Bibelübersetzer), in
Berührung mit den Gedanken Luthers gekommen. Seine humanistischen Studien und
seine Kontakte zu anderen franz. Humanisten, die damals in der Regel ebenfalls
mit Luther sympatisierten, vertieften seinen reformatorischen Elan. 1533
erregte er Anstoß mit einer Rede, die er für den mit ihm befreundeten neuen
Rektor der Universität zum Amtsantritt verfasst hatte und worin er energisch
für die Reformation eintrat. Als die empörten Theologen der Sorbonne den Rektor
und ihn vor dem Parlement als Ketzer verklagten, verschwand er aus Paris und
fand zunächst unter falschem Namen Unterschlupf bei einem Freund in Angoulême.
1534 reiste er kurz nach Nyon, um seine Teilpfründe offiziell aufzugeben.
Anschließend traute er sich zurück in die Hauptstadt. Als nach der sog. Affaire des
placards (17./18. Okt.
34) in Frankreich eine systematische Verfolgung der Sympathisanten der
Reformation begann, flüchtete auch er erneut und fand Zuflucht in Nérac, am
kleinen Hof der Schwester des Königs, Marguerite de Navarre (s.o.), die mit den
„Evangelischen“ sympathisierte. Hier lernte er den Bibelübersetzer Jacques
Lefèvre d’Étaples (s.o.) kennen, der sich schon vorher dorthin zurückgezogen
hatte. Die nachfolgenden Jahre lebte Calvin, wie so viele Gesinnungsgenossen,
unstet im Exil. Hierbei verfasste er, überwiegend auf Latein, eine Vielzahl
theologischer Schriften.
Eine davon war Christianae religionis institutio (=Unterweisung in der christlichen Religion), die seine
Hauptschrift werden sollte und die er 1535 in Basel konzipierte und
publizierte, einem Zentrum des deutschen Humanismus und Druckereiwesens der
Zeit. In einem an François Ier gerichteten Vorwort distanziert sich
Calvin von protestantischen Eiferern wie den Bilderstürmern von Münster und
gibt der Hoffnung Ausdruck, dass der König, der ja so lange dem Humanismus
aufgeschlossen gegenüber gestanden hatte, auch die Reformation unterstützt.
1536 hielt er sich einige Zeit bei der
Herzogin von Ferrara auf, der Schwägerin von François Ier, die zu dieser Zeit zahlreiche emigrierte franz.
Intellektuelle beherbergte, z.B. Clément Marot (s.o.). Auf der Rückreise kam er
erstmals in den schweizerischen Stadtstaat Genf und blieb dort bei dem hierhin
geflüchteten franz. Reformsympathisanten Guillaume Farel, der zu diesem
Zeitpunkt den Stadtrat dominierte und ihn als Verbündeten in die Politik
hineinzog. Ein Wechsel der Mehrheitsverhältnisse im Rat vertrieb sie jedoch
beide 1538.
Calvin ging nach Straßburg, einem anderen
geistigen Zentrum der Zeit, wo er, als Gast des bedeutenden Humanisten und
Reformators Bucer, seine Institutio ins Franz. übertrug und 1541 als Institution de la religion chrétienne
publizierte. Die Schrift wurde 1542 vom
Pariser Parlement verboten und 1544 sogar vom Henker verbrannt, was der
Verbreitung naturgemäß nutzte.
Inzwischen, 1541, war Calvin nach einem
neuerlichen Mehrheitswechsel im Stadtrat von Genf dorthin zurückgerufen worden.
In der nunmehr von protestantischen Emigranten majorisierten Stadt hielt er
hinfort als Pastor (frz. pasteur) jeden Tag eine Predigt und wurde mit seinen
Schriften und seiner rastlosen Aktivität zur zentralen Figur der Reformation im
franz. Sprachraum sowie den Niederlanden, Teilen des westlichen Deutschlands
und auch Englands. In dieser Rolle beriet und ermahnte er brieflich zahlreiche
protestantische Fürsten und hochgestellte Persönlichkeiten. Daneben machte er
Genf zu einer Art fundamentalistischen puritanischen Gottesstaat, wo es auch
nicht eben tolerant zuging (und wo z.B. der Dissident Michel Servet 1559
abgeurteilt und verbrannt wurde).
1560 ließ Calvin eine Neuausgabe der Institution
erscheinen, die er sprachlich und stilistisch im Sinne einer guten
Lesbarkeit auch für weniger Gebildete überarbeitet hatte. Sie wurde das erste
weitverbreitete theologische Werk in franz. Sprache und vermutlich einer der
meistgelesenen franz.sprachigen Texte des 16. Jh. überhaupt. Die nüchterne und
klare Ausdrucksweise wurde auch von Gegnern bewundert und zum Vorbild genommen.
Bonaventure
des Périers (*ca.
1510, wahrscheinlich in Arnay-le–Duc/Bourgogne; † ca. 1543, wohl in Lyon,
vermutlich durch Selbstmord)
Über die Herkunft und Jugend Des
Périers’ ist so gut wie nichts bekannt. Möglicherweise stammte er aus einer
kleinadeligen Familie und erhielt jedenfalls eine passable humanistische
Bildung. 1534/35 wird er erstmals greifbar, und zwar als Randfigur in dem Team
junger Humanisten, das unter der Regie von Pierre Robert Olivetan in Neuchâtel
mit protestantischen Intentionen die Bibel übersetzte. Danach findet man ihn
als Mitarbeiter des bekannten Humanisten und Druckers Étienne Dolet in Lyon.
Sichtlich verkehrte er auch in den intellektuellen Zirkeln der Stadt, denn er
unterstützte z.B. 1536 mit einem Gedicht den aus dem Exil heimgekehrten Lyriker
Clément Marot (s.o.) in seiner siegreichen Fehde mit einem anderen Hofdichter.
In Lyon auch und ebenfalls 1536 begegnete er Marguerite de Navarre (s.o.), der
mit der Reformation sympathisierenden hochgebildeten älteren Schwester von
König François Ier. Er schaffte es, sie mit einem Gedicht
auf sich aufmerksam machen und wurde als Kammerherr und Sekretär in ihren
Dienst aufgenommen.
Seine Tätigkeit für Marguerite ließ ihm
die Muße für eigene Werke. Das wichtigste ist das unter Pseudonym Anfang 1538
herausgekommene Cymbalum mundi en français, contenant quatre dialogues
poétiques fort antiques, joyeux et facétieux (=die Pauke der Welt auf
Französisch, die vier ziemlich alte, spaßige und witzige poetische Dialoge
enthält). Das Büchlein erzählt in vier Kapiteln mit hohem Anteil von
Figurenreden satirisch von einen Besuch des Jupiter-Sohnes Merkur im alten
Athen, wo er mit allerlei seltsamen Personen und ihrem Gerede konfrontiert
wird. Dieses Gerede spiegelt und ironisiert sichtlich die Borniertheit, den
Fanatismus und den Egoismus sowohl der katholischen als auch der sich
inzwischen untereinander befehdenden protestantischen Theologen und Wortführer.
Im zweiten Kapitel z.B. glauben ein gewisser Rhetulus (=Lutherus) und Cubercus
(=Bucerus, der bekannte Straßburger Humanist und Reformator) Stücke des Steines
der Weisen finden zu können. Im letzten Kapitel, dem einzigen Dialog im engeren
Sinne, unterhalten sich zwei Hunde über die Leichtgläubigkeit, mit der Menschen
vermeintlich neuen Ideen aufsitzen.
Das sich an dem griechischen Satiriker
Lukian (2. Jh. n. Chr.) inspirierende Werk scheint vordergründig vor allem
humoristisch intendiert, ist jedoch bei näherer Betrachtung ein erster
literarischer Ausdruck von Skeptizismus und religiösem Freidenkertum zwischen
den konfessionellen Fronten. Es wurde von der Sorbonne als ketzerisch
verurteilt und vom Parlement verboten, und zwar auf persönliche Initiative von
König François (der vielleicht über seine Schwester die hintergründigen Motive
des Werkes zu kennen glaubte?). Der Drucker wurde vorübergehend eingesperrt;
Des Periers kam selbst mit dem Schrecken davon, scheint hiernach aber nur noch
verdeckt von Marguerite protegiert worden zu sein. Auch der Reformator Jean
Calvin (s.u.) tadelte später das Cymbalum in seinem Traité des
scandales (1555). Die Autorschaft Des Périers’ ist übrigens nicht
vollständig sicher, jedoch sehr wahrscheinlich.
Weitere Texte von ihm, vor allem
Gedichte, wurden 1544 als Sammelband von einem Freund herausgegeben (der im
Vorwort den Tod des Autors mitteilt). Erst 1558 erschien das Büchlein Nouvelles
Récréations et joyeux devis (=neue Unterhaltsamkeiten und lustige Reden),
eine für die Zeit typische Sammlung von Schwänken und Novellen, die von manchen
Literarhistorikern als das beste Werk Des Périers’ betrachtet wird. Er hatte es
offenbar zur etwa gleichen Zeit begonnen wie seine Gönnerin Maguerite ihre
Sammlung L’Heptaméron.
Über
die Umstände seines frühen Todes ist nichts Verlässliches bekannt, doch ist
Selbstmord wahrscheinlich.
Jacques
Amyot (*
29. Oktober 1513 in Melun; † 6. Februar 1593 in Auxerre)
Er ist zwar heute auch als Name kaum
mehr bekannt, hat aber mit seinen vielgelesenen Übertragungen griechischer
Werke die Entwicklung der franz. Literatur stark beeinflusst.
Amyot stammte aus relativ kleinen
Verhältnissen, doch konnte er sich in Paris eine theologische Bildung
einschließlich Priesterweihe verschaffen und vor allem auch humanistische
Studien betreiben. Wie so viele Humanisten dieser Jahre sympathisierte auch er
mit der Reformation und geriet 1534, als deren Unterdrückung in Frankreich
begann, kurz in Schwierigkeiten. Um 1536 war er einige Zeit Lektor (eine Art
Privatdozent) für Griechisch an der Universität von Bourges, bevor er 1540
Hauslehrer der Kinder eines Königlichen Sekretärs wurde, der als
Euripides-Übersetzer dilettierte. Über ihn erhielt er Kontakt zu König François
Ier, der ihn 1542 mit einer Übertragung von Plutarchs „parallelen
Biografien“ berühmter Griechen und Römer (ca. 110 n. Chr.) beauftragte und ihm
kurz vor seinem Tod 1547 eine einträgliche Kirchenpfründe zuwies.
Die erste Übertragung, die Amyot
erscheinen ließ, war allerdings 1548 die der Äthiopika von Heliodor (3. Jh. n. Chr.), der abenteuerreichen
Liebesgeschichte des Theagenes und der schönen Chariklea. Das ohne Nennung des
Übersetzers publizierte Buch (denn Liebesromane waren für Geistliche eher tabu)
wurde in Frankreich, und nicht nur hier, unendlich viel gelesen und nachgeahmt,
zu Theaterstücken verarbeitet (z.B. von Jean Racine, s.u.) und noch 1758 von Voltaire
(s.u.) in Candide parodiert.
Zwischen 1548 und 52 unternahm Amyot
mehrere längere Reisen nach Venedig und Rom, um dort Manuskripte seiner
griechischen Autoren einzusehen. 1554 brachte er eine Übertragung von sieben
Büchern der monumentalen Universalgeschichte des Diodoros von Sizilien († ca.
30 v. Chr.) heraus.
1557 wurde er von König Henri II und
seiner Gemahlin Catherine de Médicis zum Hauslehrer ihrer jüngeren Söhne
Charles (*1550) und Henri (*1551) bestellt. Als Charles nach dem raschen Tod
seines soeben auf den Thron gelangten älteren Bruders François II (1559-60) diesem nachfolgte,
wurde Amyot von ihm zum „Grand aumônier (=Großalmosenier) de France“ befördert.
Kurz zuvor (1559) hatte er endlich die
Übertragung herausgebracht, an der er seit langem arbeitete und die als seine
wichtigste gilt: Les vies des hommes
illustres grecs et romains, comparées l'une avec l'autre par Plutarque,
eine Sammlung von 46 Biografien historischer Figuren, die paarweise (z.B.
Alexander und Cäsar) mit einander verknüpft sind. Die für heutige Begriffe sehr
freie Übertragung war offenbar dem Erwartungshorizont franz. Leser gelungen
angepasst und wurde sofort ein großer Bucherfolg. Noch zu Lebzeiten Amyots
erschienen vier von ihm überarbeitete Neuauflagen sowie jeweils zahlreiche
Nachdrucke. Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten wurde der Plutarque immer wieder gedruckt, war
obligate Lektüre für alle Gebildeten und eine wichtige Stoffquelle für Roman-
und Theaterautoren.
Ebenfalls 1559 publizierte Amyot,
einmal mehr ohne sich zu nennen, eine Übertragung von Longos’ idyllischem
kleinen Liebesroman um die jungen Hirten Daphnis und Chloe (2. Jh. n. Chr.),
der die Schäferliteratur im Frankreich der Zeit etablieren half.
Die 1562 beginnenden Bürgerkriege zwischen
Protestanten und Katholiken tangierten ihn offenbar nicht sofort und
unmittelbar. Vielmehr konnte er eine Übertragung vermischter
moralphilosophischer Schriften Plutarchs vollenden, die 1572 unter dem Titel Œuvres morales erschien. Auch sie war ein
großer Erfolg, wurde z.B. von Montaigne (s.u.) bewundert und beeinflusste die
nachfolgende franz. Essayistik und Moralistik.
Inzwischen, 1570, war Amyot zum Bischof
von Auxerre ernannt worden. In dieser Rolle entwickelte er sich zum energischen
Verfechter eines katholisch orientierten staatlichen Zentralismus in
Frankreich, in dem er das einzige Heilmittel sah gegen die ständig neu
aufflammenden Religionskriege (deren Ende 1598 er nicht mehr erlebte).
Louise Labé (* 1524 nahe Lyon;
† 25.4.1566 nahe Lyon)
Zu ihren Lebzeiten vor allem als
emanzipierte Frau avant la lettre bekannt, gilt sie seit ihrer Wiederentdeckung
gegen Ende des 18. Jh. als eine der bedeutendsten franz. Lyrikerinnen.
Sie war Tochter aus der zweiten Ehe des
wohlhabenden Seilhändlers Pierre Charly, genannt L’Abbé oder Labé, und wuchs
auf im damals wirtschaftlich und intellektuell prosperierenden Lyon. Sie
erhielt eine für eine junge Bürgerliche der Zeit vorzügliche und vielseitige
Bildung und lernte nicht nur mehrere Sprachen sowie die Laute spielen, sondern
auch (wenn man ihrer dritten Elegie glaubt), kunstvoll zu sticken, zu reiten
und sogar zu fechten. Sie wurde sehr jung mit dem deutlich älteren reichen
Seilfabrikanten Ennemond Perrin verheiratet und hieß fortan „la Belle
Cordière“, die schöne Seilerin.
In ihrem Salon versammelte sie die
Lyoneser Schöngeister und Literaten, z.B. den bekannten Lyriker Maurice Scève
(s.o.). Sie ließ sich von ihnen anhimmeln und animierte sie, über alle Aspekte
der Liebe und nicht zuletzt auch über die Stellung und Rolle der Frau in
Dichtung und Gesellschaft zu diskutieren und zu schreiben. Auch selbst schrieb
sie gelegentlich. 1555 stellte sie einen Sammelband ihrer Werke zusammen und
brachte ihn bei dem bekannten Lyoneser Drucker Jean de Tournes heraus unter dem
Titel Œuvres de Louise Labé, Lyonnaise.
Der schmale Band enthält (neben 24
Gedichten befreundeter Autoren) den Prosatext Le Débat d'Amour et de Folie, ein naturgemäß unernster Disput zwischen
Amor und der Torheit samt Plädoyers von Apollo und Merkur sowie dem
Schiedspruch Jupiters, weiter drei kürzere Elegien im Stil Clément Marots
(s.o.) und vor allem die berühmten 24 Sonette, deren 3 oder 4 besten zu den
schönsten Liebesgedichten in franz. Sprache gerechnet werden. Sie handeln von
der Leidenschaft eines mit der Autorin selbst identisch suggerierten weiblichen
Ich zu einem seinerseits nur lau wirkenden Geliebten, hinter dessen Figur sich
wohl der heute praktisch unbekannte Literat Olivier de Magny verbirgt, der sich
auf der Durchreise von Paris nach Rom längere Zeit in Lyon aufgehalten hatte.
Trotz ihrer formalen und ideellen Zugehörigkeit zur petrarkistischen
Dichtungstradition der Epoche wirken die Sonette, wie auch schon die Elegien,
insgesamt ungewöhnlich bekenntnishaft und persönlich, so dass sie auch moderne
Leser ansprechen können.
Nach
ihrer frühen Verwitwung (1560) zog sich Labé auf ein Landgut nahe Lyon zurück,
wo sie relativ jung verstarb. Ihr Testament ist eines der wenigen Dokumente,
die aus ihrem Leben erhalten sind.
Obwohl
ihre Œuvres bald nach dem Erscheinen
mehrfach, auch an anderen Orten, nachgedruckt worden waren, geriet sie im schon
im späten 16. Jh. in Vergessenheit. Eine Ursache war sicher der Ausbruch der
Religionskriege 1562, ein anderer Grund war vielleicht, dass der Reformator Calvin,
der wohl im nahen Genf von ihr gehört hatte, sie um 1560 wegen ihres
unkonventionellen, für eine Frau leicht als unschicklich empfundenen
Lebenswandels als „ordinäre Hure“ (plebeia meretrix) geschmäht hatte und auch
die wieder prüder gewordenen Katholiken diese negative Wertung übernahmen. Ihre
Wiederentdeckung wurde eingeleitet von einer Neuausgabe ihres Werkes um 1760.
Seitdem gilt sie neben Scève als die bedeutendste Vertreterin der um 1550
blühenden sog. Lyoneser Dichter-Schule.
In Deutschland ist sie nicht unbekannt
dank der naturgemäß recht freien Übertragungen ihrer Sonette durch Rilke (1917)
und der noch freieren von Paul Zech (postum 1947). Auch in andere Sprachen
wurden die Sonette im 19./20. Jh. erstaunlich oft übertragen.
2006 stellte eine Pariser
Literaturhistorikerin die These auf, dass die unter Labés Namen gedruckten
Werke in Wahrheit nicht von ihr selbst verfasst seien, sondern von anderen
Lyoneser Autoren (z.B. der Débat von Scève und die Sonette von Magny).
Die These ist jedoch angesichts des Fehlens von einschlägigen Dokumenten oder
Zeugnissen schwer zu erhärten. Zu einem angemesseneren oder gar richtigeren
Verständnis der Texte führt sie nicht.
Joachim du Bellay (* um 1522 auf dem Herrensitz La Turmelière in Liré bei
Angers; † 1.1.1560 in Paris)
Er gilt neben Pierre de Ronsard (s.u.)
als der bedeutendste franz. Lyriker der Mitte des 16. Jh.
Du
Bellay (alphabetisch unter D einzuordnen!) war jüngerer Sohn aus einer ärmeren
Linie eines alten Adelsgeschlechts des Anjou. Über seine jungen Jahre ist wenig
bekannt. Offenbar verlor er sehr früh seine Mutter, war mit 10 Jahren Vollwaise
und verlebte, von Kindheit an kränklich, unter der Vormundschaft seines 15
Jahre älteren Bruders eine freudlose Jugend. Eine solide Bildung erhielt er
angeblich nicht, doch will er früh gedichtet haben. 1540 begann er ein
Jurastudium in Poitiers, sicher mit der Absicht, sich für einen Posten in der
königlichen Verwaltung bzw. Gerichtsbarkeit zu qualifizieren, den er sich
erhoffen konnte dank der Protektion zweier Cousins seines Vaters: des
Heerführers Guillaume de Langey und vor allem des Bischofs von Paris und
Kardinals Jean du Bellay.
In
Poitiers fand er Anschluss an einige humanistisch gebildete Literaten, insbes.
Jacques Peletier du Mans (1517-82), und neulateinische Dichter. In diesem Kreis
verfasste er Verse, ebenfalls zum Teil auf Latein. Spätestens hier lernte er
zudem Italienisch und beschäftigte sich mit den Autoren der italienischen
Renaissance, vor allem der Lyrik von Francesco Petrarca und dessen Nachfolgern.
Vielleicht
schon 1543, bei der Beerdigung Langeys, hatte er den wenig jüngeren
Dichterkollegen Pierre de Ronsard (s.u.) kennen gelernt. Bei einer
Wiederbegegnung 1547 ließ er sich von ihm bereden, nach Paris zu kommen, um
dort mit ihm bei dem bekannten Gräzisten Jean Dorat (1508-88) am Collège de
Coqueret Studien auch der altgriechischen Literatur zu treiben. Wenig später
gründete er mit Ronsard sowie einigen anderen, heute kaum bekannten Autoren
einen Dichterkreis, den man zunächst „la brigade“ (= Trupp, Gruppe) nannte und
der später (wohl 1556) von Ronsard in „la Pléiade“ (= Siebengestirn) umgetauft
wurde.
Der Wechsel Du Bellays nach Paris trug
rasch Früchte. Schon im März 1549 publizierte er zwei bedeutsame Werke: das
programmatische Büchlein La Défense et
illustration de la langue française (= Verteidigung und Berühmtmachung der
franz. Sprache), das er seinem Verwandten, dem Kardinal, widmen durfte, sowie
die Gedichtsammlung L'Olive et quelques
autres œuvres poétiques (= die Olive und einige andere lyrische Texte).
Die Défense war ein Manifest der
Theorien und der künftigen Praxis der Brigade-Autoren und war sicher die Frucht
vieler Diskussionen in ihrem Kreis. Im ersten Teil wird das Französische zu
einer Sprache von der gleichen Dignität proklamiert wie das Griechische,
Lateinische oder auch Italienische; allerdings seien seine
Ausdrucksmöglichkeiten und damit seine Eignung als Literatursprache durch die
Dichter noch zu verbessern, und zwar vor allem durch die produktive
Anverwandlung bedeutender Werke der genannten Sprachen. Der zweite Teil ist
eine Poetik (die viele Anstöße einer im Vorjahr erschienenen Poetik des Pariser
Juristen Thomas Sébillet verdankt), d.h. eine Anleitung zum Dichten. Neu ist,
dass auch hier eine Orientierung der franz. Literatur, insbes. der Lyrik, an
den Themen und am Formenschatz der antiken sowie der inzwischen als vorbildhaft
geltenden italienischen Literatur gefordert wird, und zwar unter konsequenter
Abkehr von der eigenen, angeblich mittelalterlich-gestrigen franz. Tradition,
wie sie vor allem der eine Generation ältere Clément Marot (s.o.) und seine
Schüler repräsentierten. Die zu ihrer Zeit zwar kurz diskutierte, dann aber nur
noch mäßig beachtete Défense wurde
im 19./20. Jh. von patriotischen Literarhistorikern, denen der selbstbewusste,
quasi nationalistische Tenor Du Bellays gefiel, zu einem Schlüsseltext
stilisiert.
L’Olive war die erste Sonett-Sammlung der
franz. Literatur und, neben dem Gedichtband Délie von Maurice Scève
(1544, s.o.), eine der ersten franz. Sammlungen petrarkistischer Lyrik. Die
äußerst kunstvollen, auf heutige Leser oft manieriert wirkenden Sonette des
Bändchens inspirieren sich überwiegend an italienischen Vorbildern und kreisen
zumeist um eine unerreichbare ideale Geliebte namens Olive (deren eventuelle
reale Identität unbekannt, aber auch unerheblich ist). Hierbei nimmt Du Bellay
Gedankengut des Neoplatonismus auf, sowie gelegentlich auch christliche
Vorstellungen. Ende 1550 brachte er eine zweite, von 50 auf 115 Stücke
erweiterte Auflage heraus. Diese durfte er der Prinzessin Marguerite zueignen,
der er im Vorjahr mit einem Begrüßungsgedicht an ihren Bruder, den neuen König
(ab 1547) Henri II, aufgefallen war und die ihm auch weiterhin eine Gönnerin
blieb.
Seinen humanistischen Interessen folgend
betätigte Du Bellay sich zugleich als Vermittler lateinischer Klassiker und
ließ 1552 eine Nachdichtung von Buch IV der Äneis Vergils und andere
freie Übertragungen erscheinen. Anfang 1553 publizierte er ein weiteres
Bändchen Gedichte, Recueil de poésie
(=Gedichtsammlung).
Sein
Gesundheitszustand in diesen Jahren war offenbar prekär (Tuberkulose?); u.a.
litt er zunehmend unter Schwerhörigkeit, die ihm, dem ohnehin eher Depressiven,
das Leben zusätzlich verdüsterte. Ebenfalls prekär war seine materielle
Situation; anscheinend war er gezwungen, längere Prozesse um Besitzansprüche zu
führen.
Im April 53 ließ er sich, da er nach
dem Tod seines Bruders einen Neffen zu versorgen hatte, in die Dienste seines
Onkels zweiten Grades, Kardinal du Bellay, aufnehmen, eines hochgebildeten
Mannes, der bis kurz zuvor François Rabelais (s.o.) protegiert hatte. Wenig später
begleitete er ihn nach Rom, wohin jener, einmal mehr, als Gesandter des franz.
Königs reiste, um den Papst, d.h. den Kirchenstaat, auf die Seite Frankreichs
zu ziehen in dessen Kampf gegen Kaiser Karl V. (der auf dem 1551 beendeten
Konzil von Trient, das auf kaiserlichem Territorium stattfand, gerade seine
Macht gegenüber dem Papst demonstriert hatte).
Der Rom-Aufenthalt Du Bellays dauerte
gut vier Jahre, wobei er als Majordomus des Kardinals dessen prächtigen Palazzo
und Hausstand verwaltete. Zwar bot ihm die Stadt dank der vielfältigen
Beziehungen seines Dienstherrn neue Horizonte und bekam er Anschluss an
Literatenkreise, wobei er einen Freund gewann in dem (heute kaum bekannten)
Dichter Olivier de Magny, dem Sekretär eines anderen franz. Kardinals; doch
absorbierte ihn sein Posten offenbar mehr als erwartet, ohne, wie es ihm
schien, Karriereperspektiven zu eröffnen. Auch desillusionierten ihn die Einblicke,
die er in die Verhältnisse am päpstlichen Hof und in die große Politik erhielt.
So erlebte er 1555 zwei Papstwahlen samt ihren Intrigen hautnah mit, zumal bei
der zweiten auch Du Bellay kurz Kandidat war; und 1556 sah er enttäuscht, wie
jener in Ungnade fiel bei König Henri, der ohne Rücksicht auf ihn und die
Bundesgenossen, insbes. den Papst, überraschend einen Waffenstillstand mit dem
spanischen König Philipp II. schloss, dem Sohn Kaiser Karls, der dessen
italienische Interessen weiter verfolgte.
Immerhin verfasste Du Bellay in diesen
römischen Jahren zahlreiche Gedichte. Auch hatte er ein reales Verhältnis mit
einer nicht nur idealen Faustina.
Im Spätsommer 1557 kehrte er mit dem Kardinal
zurück nach Paris, wo er von ihm mit mehreren Pfründen versorgt wurde, deren
Einkünfte er allerdings, wie üblich, mit den Priestern teilen musste, die ihn
jeweils vor Ort vertraten. Ob er sich im Hinblick auf die Übernahme solcher
Pfründen irgendwann zumindest die niederen Weihen erteilen lassen hatte,
scheint nicht bekannt. Unbedingt nötig war es nicht.
In Paris fand er wieder Anschluss an
die alten sowie auch an neue Literatenkollegen. Darüber hinaus versuchte er mit
Gedichten zu verschiedenen offiziellen und anderen Anlässen am Königshof Fuß zu
fassen, so wie dies während seiner Abwesenheit Freund Ronsard geschafft hatte,
den er sichtlich beneidete.
Die Zeit nach der Rückkehr war sehr
fruchtbar für Du Bellay. Im Januar 1558 ließ er sein wohl bedeutendstes Werk
erscheinen: Les regrets (= Klagen). Es ist eine Sammlung von 191 Sonetten mit
vielfältiger Thematik, aber einem gemeinsamen Unterton von Nostalgie,
Frustration und Desillusion. Der größte Teil der Texte ist in Rom verfasst, ein
kleinerer nach der Heimkehr. Sie beklagen, erstaunlich bekenntnishaft,
existenzielle und psychische Nöte des Autors, insbes. sein Heimweh in Rom und
die Enttäuschung seiner Karrierehoffnungen, die er dort sowie, anschließend,
auch in Paris erlebte. Andere kommentieren, zunächst meist im Vergleich mit den
vermeintlich besseren franz. Verhältnissen, aktuelle Ereignisse und Zustände
der hohen und der weniger hohen Politik in Rom. Wieder andere karikieren
sarkastisch die Höflinge dort, danach aber auch deren Kollegen am Hof in Paris,
was natürlich wenig dazu beitrug, dem heimgekehrten Autor hier Sympathien zu
verschaffen. Viele der Gedichte sind, so als wären sie Briefe, an namentlich
genannte Freunde (z.B. Ronsard) und Bekannte gerichtet. Insgesamt war der Band
der Regrets insofern neuartig und epochemachend, als er die Gattung
Sonett als geeignetes Medium nicht nur für das Thema Liebe, sondern für ein
breites Themenspektrum etablierte.
Ebenfalls im Januar 58 brachte Du
Bellay den Sammelband Divers jeux rustiques (= diverse ländliche Spiele)
heraus. Dieser enthält, ähnlich wie Ronsards Bändchen Folâtries von
1553, Gedichte der verschiedensten Gattungen und Sujets und zeigt, wie der
Titel andeutet, einen überraschend heiteren, manchmal sogar witzigen Du Bellay.
Den melancholischen wiederum bietet Le premier livre des antiquités de Rome (= Buch I der römischen Altertümer),
ein im März gedrucktes Bändchen mit 32 Sonetten. Hauptthema der ebenfalls
zumeist in Rom verfassten Gedichte sind die in der Stadt (die in der Spätantike
stark geschrumpft war) und in ihrer näheren Umgebung verstreuten antiken Ruinen
bzw. das Gefühl von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, das sie in Du Bellay
auslösten. Dasselbe Gefühl spiegeln die 15 Sonette, die unter dem Sammeltitel Songe
(= Traum) an die Antiquités angehängt sind und eine Traumvision in 15
Bildern schildern, worin jeweils eine zunächst glanzvolle Erscheinung am Ende
unrühmlich in sich zusammenfällt.
Zugleich mit den Antiquités gab
Du Bellay eine vierbändige Sammlung seiner lateinischen Gedichte heraus, von
denen einige relativ offen sein Verhältnis zu Faustina behandeln. Ende des
Jahres erschien seine Übertragung von Platos Symposion.
Ebenfalls 1558 konnte er endlich den
lange erhofften Karrieresprung verzeichnen: Er erhielt einen höheren Posten in
der Verwaltung des Erzbistums Paris. Allerdings profitierte er kaum noch
hiervon, denn er starb, depressiv und nach längerem Kränkeln, mit 37(?) an
einem Herzschlag in der Nacht vom 1. auf den 2. Jan. 1560.
Postum kamen 1561 nochmals ein Bändchen
Lyrik sowie einige andere Texte heraus. Hierunter sind einige politisch
intendierte Discours (= Reden) in Versform, mit denen Du Bellay auf die
Eskalation der innenpolitischen Spannungen gegen Ende der 1550er Jahre reagiert
hatte. Die grausame Bestrafung der sog. Verschwörung von Amboise (1560) und den
Ausbruch der Religionskriege 1562 erlebte er nicht mehr.
1568/69, in einer Friedenspause
zwischen dem Zweiten und dem Dritten Religionskrieg, erschien die erste
Gesamtausgabe seiner Werke, die mehrfach nachgedruckt wurde.
Auch aus der Distanz von fast fünf
Jahrhunderten gesehen wirken viele seiner Gedichte lebendig und authentisch,
seine Figur in ihrer Tragik sympathisch. Für sich selbst und seine Umgebung war
er zweifellos (anders als sein glücklicherer Freund und Rivale Ronsard) ein
schwieriger Fall.
Pierre de Ronsard (*6.9.1524 auf dem
Herrensitz La Possonnière/Vendômois; †27.12.1585 in Croix-Val/Vendômois)
Obwohl von den Zeitgenossen als “prince
[Fürst] des poètes“ hoch geschätzt, geriet er bald nach 1600 in Vergessenheit.
Seit seiner Wiederentdeckung durch die Romantiker gilt er als der bedeutendste
franz. Lyriker der 2. Hälfte des 16. Jh.
Ronsard war jüngerer Sohn eines
gebildeten und literarisch dilettierenden Adeligen, der sich als Offizier in
den Italienkriegen der Könige Louis XII und dann François Ier hervorgetan hatte und von 1526 bis 1530, also während der
frühen Kindheit Pierres, länger von seiner Familie getrennt war, weil er den
beiden ältesten Söhnen von König François als Haushofmeister diente, während
sie in Madrid von Kaiser Karl V. als Geiseln festgehalten wurden nach dessen
Sieg in der Schlacht bei Pavia (1525).
Nachdem er zunächst von seinem Vater
unterrichtet worden war, wurde Ronsard mit 9 aus dem ländlichen Schlösschen der
Familie ins ferne Paris geschickt, um dort als Internatsschüler das Collège de
Navarre zu besuchen. Schon nach sechs Monaten holte man ihn jedoch wieder heim.
Mit 12 kam er erneut in die Hauptstadt, diesmal an den Hof. Hier wurde er, sicher
dank der Nähe seines Vaters zum König und zu dessen Söhnen, Page bei dem
ältestem, dem Thronfolger. Als dieser wenig später starb, wurde er dem dritten
Königsohn, Charles, zugewiesen. Nicht lange danach, im Sommer 1537, wurde er an
die 17jährige Tochter des Königs, Madeleine, weitergereicht, die soeben mit dem
jungen schottischen König James Stuart verheiratet worden war. In ihrem Gefolge
fuhr er nach Schottland und blieb dort bis zu ihrem frühen Tod (1538). Die
Heimreise führte ihn auf dem Landweg durch England und Flandern. Mit 14 zurück
in Paris, wurde er wieder Page bei Charles. 1539 kam er erneut nach Schottland,
diesmal im Gefolge der neuen Braut des Schottenkönigs, Marie de Guise.
1540 begleitete er den franz.
Diplomaten Lazare de Baïf, einen Verwandten, auf einer dreimonatigen Reise ins
westliche deutsche Reich, u.a. ins Elsass, von wo aus jener Kontakt mit
protestantischen deutschen Fürsten aufnehmen sollte, um sie als Bundesgenossen
Frankreichs gegen Kaiser Karl V. zu gewinnen. Über den
hochgebildeten Baïf kam Ronsard mit humanistischem
Gedankengut in Berührung.
Von der Reise zurück, erlitt er eine
Krankheit (Mittelohrentzündung?), die ihn „halb taub“ (einseitig ganz taub? beiderseits schwerhörig?) werden ließ. Er
gab deshalb die bis dahin wohl angestrebte Offiziers- und/oder Höflings- und
Diplomatenlaufbahn auf und kehrte nach Hause zurück. Hier las er, insbes.
lateinische Literatur, und übte seine Feder an franz. und lateinischen Versen
sowie an Nachdichtungen von Texten der großen römischen Dichter Vergil (ca. 70
– ca. 20 v. Chr.) und vor allem Horaz (ca. 65 - ca. 8 v. Chr.).
Mit 18 (1543) ließ er sich die niederen
Weihen erteilen, um bei Gelegenheit eine oder sogar mehrere Kirchenpfründen
bekommen zu können, über die die franz. Könige das Verfügungsrecht hatten und
mit denen sie vorzugsweise jüngere Söhne adeliger Familien versorgten. Im
selben Jahr zeigte er seine Nachdichtungen horazischer Oden dem etwas älteren
Humanisten Jacques Peletier du Mans, der ihn ermutigte.
1545, nach dem Tod des Vaters, ging er
zurück nach Paris. Hier fand er Aufnahme bei Baïf und nahm teil an dem Unterricht, den
dessen (gut sieben Jahre jüngerer) Sohn Jean Antoine von seinem Hauslehrer
erhielt, dem Gräzisten Jean Dorat (1508-1588). Beide Schüler folgten Dorat, als
er 1547, nach dem Tod Baïfs, Direktor des humanistisch ausgerichteten Pariser Collège
de Coqueret wurde. Ronsard mietete sich sogar bei Dorat ein und begann unter
seinem Einfluss, Oden auch des altgriechischen Autors Pindar (521-441) nachzudichten.
Vielleicht schon 1543, bei einer
Beerdigung, hatte er den wenig älteren Joachim du Bellay (s.o.) kennengelernt,
der ähnliche Interessen verfolgte wie er. Ende 1547 traf er ihn auf einer Reise
wieder und beredete ihn, ebenfalls nach Paris zu kommen, um bei Dorat in die
Schule zu gehen. Zweifellos war er hiernach ein wichtiger Diskussionspartner Du
Bellays und somit beteiligt an der Konzeption von dessen programmatischer
Schrift La Défense et illustration de la langue française (=Verteidigung und Berühmtmachung der frz. Sprache, s.o.),
die Anfang 1549 erschien.
Im selben Jahr 49 schlossen sich
Ronsard, Du Bellay, Jean Antoine de Baïf, Dorat sowie einige weitere
humanistisch interessierte Literaten zu einem Kreis zusammen, den sie zunächst
„La Brigade“ = Schaar, Gruppe nannten (und der um 1556 von Ronsard, der rasch
zum informellen Chef avancierte, auf sieben Mitglieder eingegrenzt und in „La
Pléiade“ = Siebengestirn umgetauft wurde).
1550 publizierte er seine bis dahin
verfassten Oden in dem Sammelband Les quatre premiers livres des Odes,
dem er 1552 eine Fortsetzung folgen ließ als Le cinquième livre des Odes.
Der Publikumserfolg der Oden, mit denen
er eine neue Gattung in der franz. Literatur heimisch zu machen und sich selbst
als „erster französischer lyrischer Autor“ (Vorwort) zu etablieren gedachte,
war geringer als erhofft. Zwar behandelten die Texte in einer Vielfalt von
Formen eine Vielzahl von Themen, z.B. das Preisen mehr oder weniger bedeutender
Personen (à la Pindar), das Lob schöner Natur oder des Glücks eines einfachen,
den Augenblick genießenden Lebens in ländlicher Idylle (à la Horaz). Doch waren sie - vor allem die pompösen pindarischen Oden
von Buch I und Buch V – häufig mit Gelehrsamkeit überfrachtet und zielten
sichtlich mehr auf den Beifall der Freunde als einer breiteren
Leser-/Hörerschaft. Zumal der Hof, zu dem Ronsard als Jugendgefährte des seit
1547 herrschenden Königs Henri II Zutritt hatte, reagierte kühl und bevorzugte
die gefälligen Gedichte, wie sie insbes. der quasi offizielle Hofdichter Mellin
de Saint-Gelais im Stil Clément Marots (s.o.) produzierte.
Ronsard nahm sich die Lektion zu
Herzen. So ließ er noch 1552 unter dem Titel Les Amours de Cassandre
einen Sammelband seiner neben den Oden verfassten Liebesgedichte – fast
ausschließlich Sonette – erscheinen. In
ihnen besingt er eine gewisse Cassandra Salviati, die er am 21. April 1545 bei
einem Hoffest in Blois als 13jähriges Mädchen in einer ähnlich flüchtigen
poetischen Szene erblickt haben will wie Dante seine Muse Beatrice oder
Petrarca am 6. April 1327 seine Laura. Wie weit diese Fernliebe echt empfunden
war oder nur imaginiert, ist kaum zu entscheiden. Ein wichtiger Ansporn für
Ronsard war sicher der Umstand, dass sein Freund Du Bellay schon vor ihm
begonnen hatte, eine Muse namens Olive in Sonetten zu bedichten, die 1549 und
1550 als die erste Sammlung petrarkistischer Liebessonette in Frankreich
erschienen waren.
Die Gedichte der Amours trafen,
obwohl sie im manieristischen Stil des Petrarkismus der Zeit gehalten waren,
den Geschmack am Hof schon besser als die Odes. Vor allem aber näherte
Ronsard sich mit den Texten, die er anschließend schrieb, dem Stil Marots und
seiner Schule an, den er in der Vorrede zu den Odes noch herablassend
kritisiert hatte, um sich stolz als Jünger der Griechen und der Römer zu
präsentieren. Darüber hinaus imitierte er, neben Horaz, nun auch Anakreon, d.h.
die von Liebe, Wein und Lebenslust handelnden Lieder, die (fälschlich, wie man
heute weiß) dem alten Griechen Anakreon zugeschrieben wurden und die sein Brigade-Freund
Henri Estienne gerade herausgab (ersch. 1554), während sich zugleich ein
weiterer Brigade-Freund, Rémi Belleau, mit ihrer Übertragung befasste (ersch.
1556).
Ronsards Hinwendung zu einem breiteren,
wenngleich überwiegend höfischen Publikum zeigen auch die nächsten Sammelbände.
Sie vereinen in bunter Mischung längere Oden sowie kürzere „Ödchen“
(odelettes), Sonette, Lieder, Elegien, Epigramme und andere Gedichte
verschiedener Gattungen und unterschiedlichster Thematik. Ihre Titel lauten
bezeichnenderweise Le Livret des
folâtries, 1553 (=das Büchlein der
Späße), Le Bocage, 1554 (=das Wäldchen) und Mélanges, 1554
(=Vermischtes).
Ronsards Bemühungen wurden nicht nur
durch die Gunst des Publikums belohnt, sondern auch von König Henri, der ihm
1553 einige Pfründen zuwies (die kumulierbar waren). Hiermit war er finanziell
erfreulich unabhängig, so dass er z.B. seine unmündigen Nichten und Neffen
unterstützen konnte, als 1556 sein älterer Bruder verstarb.
1555 hatte er wieder ein Bändchen
Liebesgedichte zusammen, die er als La Continuation [Fortsetzung] des Amours
in Druck gab. 1556 ließ er ein weiteres Bändchen folgen: La nouvelle [neue]
continuation des Amours. Beide enthalten Gedichte unterschiedlicher Form,
die in einem natürlicher wirkenden „niederen“ Stil anfangs noch Cassandre
besingen und später ein einfaches Mädchen namens Marie, die Ronsard Anfang 1555 als 15-Jährige kennengelernt
hatte.
Ebenfalls 1555 und 56, aber wie ein
Kontrastprogramm, ließ er zwei Bände mit dem Titel Innes (= Hymnen) erscheinen.
Denn er pflegte seit einiger Zeit eine weitere Versgattung nach griechischem
Vorbild: längere Texte in paarweise reimenden Zehnsilblern oder Alexandrinern
zum Lobpreis bedeutender Personen am Hof, z.B. des Kanzlers Michel de
l’Hospital, aber auch mythologischer Figuren oder abstrakter Wesenheiten wie
die Ewigkeit oder der Tod. Die Innes trugen sehr dazu bei, das Ansehen
Ronsards am Hof zu erhöhen.
1558, nach dem Tod von Saint-Gelais,
bekam er dessen Amt eines „conseiller et aumônier du roi“ (Königlicher Rat und
Almosenier) übertragen. Zugleich fiel ihm wie selbstverständlich die Rolle
eines Hofdichters zu, der zu vielerlei Anlässen Gelegenheitsgedichte
produzierte.
Auch nach dem Unfalltod von Henri II
(1559) blieb die Position Ronsards am Hof intakt. 1560 erhielt er von dem neuen
jungen König François II (1559-60) bzw. der Königinmutter und Regentin
Catherine de Médicis weitere Pfründen und war damit ein wohlhabender Mann.
Ebenfalls 1560 ließ er eine erste
Gesamtausgabe seiner Werke erscheinen, die er in vier Sektionen bzw. Bände einteilte:
Les Amours, Les Odes, Les Poèmes (Gedichte verschiedenster
Art) und Les Hynnes. Diese Einteilung behielt er in den nächsten
Neuausgaben bei, wobei er die zwischenzeitlich neu entstandenen Gedichte
jeweils in die passenden Sektionen einfügte.
1561 präsentierte er dem neuen, erst
12jährigen König Charles IX (1560-74) ein Lehrbuch für junge Monarchen (Institution
[Unterweisung] pour l’adolescence du Roi). Das in Alexandrinern verfasste
Büchlein zielte zweifellos vor allem auf den Beifall der Regentin. Den
verdeckten Hintergrund bildete allerdings die innenpolitische Situation in
Frankreich, wo seit dem Vorjahr 1560 die Spannungen zwischen Katholiken und
Reformierten stark eskaliert waren.
Als 1562 offener Bürgerkrieg ausbrach,
konnte Ronsard, der sich bis dahin eher als ein Hohepriester der Dichtkunst
gesehen hatte, die Politik nicht mehr nur indirekt behandeln. Da er offenbar
der Reformation nicht völlig ablehnend gegenüber gestanden hatte, versuchte er
zunächst ausgleichend zu wirken und veröffentlichte in diesem Sinne als
Broschüren mehrere „Reden“ (discours) in gereimten Alexandrinern: D. à la Reine (=Rede an die Königin); D. sur les misères de ce temps (=Rede über die Nöte der Gegenwart); Rémontrance au peuple de France
(=Mahnung an das franz. Volk; alle 1562). Wenig später allerdings engagierte er
sich entschieden auf Seiten der katholisch gebliebenen Krone und wurde zum
gefürchteten Pamphletisten, wobei er sicher auch an seine hübschen
Kirchenpfründen dachte, die er als Protestant hätte aufgeben müssen. Als ihm
die Gegenseite, um ihn zu diskreditieren, einen Hang zum Wohlleben vorwarf,
konterte er mit der Réponse aux injures
et calomnies de je ne sais quels prédicantereaux et ministreaux de Genève (=Antwort
auf die Anwürfe und Verleumdungen irgendwelcher [protestantischer] Genfer
Prediger- und Priester-Laffen, 1563). Naturgemäß war er hiermit für die
Protestanten abgestempelt als katholischer Autor.
1564 und 1566 begleitete er Charles IX
und die Königinmutter auf zweien ihrer nur kurzfristig erfolgreichen
Befriedungsreisen in die Provinz. Zwischendurch, 1565, publizierte er jedoch
auch wieder Unpolitisches: den Gedichtband Élégies, mascarades et bergeries
[Schäfereien], der vor allem Gelegenheitslyrik aus seiner Rolle als
Hofdichter enthält, sowie einen Abrégé de l'art poétique [=Abriss der
Dichtkunst], worin er grosso modo das Programm der Pléiade resümiert.
Nach 1566 zog er sich aus der Politik
wieder zurück und weilte immer häufiger in seinem Priorat Saint-Cosme in der
Touraine, das er 1565 erhalten hatte. Hier stellte er 1567 eine neue
Gesamtausgabe seiner Werke fertig, der er 1569 zwei Bändchen mit diversen
„poèmes“ folgen ließ.
Anschließend machte er sich an das
große Projekt seines Lebens: das Versepos La Franciade. Schon 1550 hatte
er Henri II den Plan eines Epos um den legendären Frankenreichgründer Francus
unterbreitet, das sich inspirierte an den Illustrations de Gaule et
singularités de Troye von Jean Lemaire de Belges (1511-13, s.o.). Jetzt,
fast 20 Jahre später, nahm er das Werk endlich in Angriff, nicht zuletzt mit
der Absicht, dem konfessionell gespaltenen und soeben in den Dritten
Religionskrieg (1569/70) gerutschten Frankreich ein nationales Epos nach dem
Muster von Vergils Aeneis zu geben. 1572 gab er 4 von 24 geplanten
Gesängen in Druck, sie erschienen wenige Tage vor dem Protestantenmassaker der
Bartholomäus-Nacht (22./23. August). Hiernach brach er die Arbeit ab. Sichtlich
hatten sich seine Hoffnungen auf eine innere Befriedung Frankreichs als
Illusion erwiesen. Vielleicht auch sah er, dass er letztlich doch kein Epiker
war. Zudem hatte sich wohl der Zehnsilbler, den er auf Vorschlag König Charles
als Metrum gewählt hatte, als nicht recht geeignet erwiesen. Hinzu kam
vermutlich aber auch, dass er selbst sowie sein Publikum sich nur noch mühsam
erwärmen konnten für die apokryphe Figur des Francus, jenes erst im Mittelalter
erfundenen Sohnes des trojanischen Helden Hektor, der sich zusammen mit dem
legendären Rom-Gründer Äneas aus dem brennenden Troja gerettet und seinerseits
„Francia“ und sogar die Dynastie der Kapetinger gegründet habe. Denn inzwischen
(1560) war das sehr erfolgreiche Buch Recherches
de la France von Étienne Pasquier (s.u.) erschienen, das die Vorstellungen
der Franzosen rasch in dem Sinne veränderte, dass nicht irgend ein Francus (und
auch nicht die Römer) ihre Urväter seien, sondern die keltischen Gallier. Die
später an den Schluss des Epos angefügte Begründung Ronsards, der Tod von
Charles IX (1574) habe ihm den Mut zur Vollendung des Werkes genommen, ist
sicher eher vorgeschoben.
Nach dem Scheitern der Franciade und angesichts der fast
pausenlosen Religionskriege, aber wohl auch des Umstands, dass ihn der neue
König Henri III (seit 1574) nicht gebührend schätzte, zog Ronsard sich zurück
auf seine beiden Lieblingspfründen Saint-Cosme nahe Tours und Croixval im
Vendômois. Hier überarbeitete er seine Werke im Hinblick auf eine weitere (die
inzwischen fünfte) Gesamtausgabe. Sie erschien 1578 und enthielt als neue
Elemente der Sektion Les Amours eine Serie melancholischer Gedichte über
den Tod Maries und vor allem die rd. 130 Sonnets
pour Hélène. Mit diesen Gedichten auf Hélène de Surgères, eine Ehrenjungfer
der Königinmutter, feierte Ronsard ein spätes, so überraschendes wie
anrührendes Comeback als Liebeslyriker.
Zunehmend kränklich, überarbeitete er
in den folgenden Jahren nochmals grundlegend das Korpus seiner Werke, wobei er
allerdings, wie schon bei den vorangehenden Überarbeitungen, manche heute als
gelungen erscheinende Texte tilgte und andere eher verschlimmbesserte. 1584
ließ er die sechste und letzte Gesamtausgabe erscheinen,
die als Bocage royal eine weitere Sektion vermischter Gedichte enthielt.
Daneben und danach schrieb er, wie
immer, auch Neues. Seine letzten Gedichte, die er z.T. angesichts des nahen
Todes verfasste, kamen postum 1586 als Les derniers vers heraus.
Trotz
seines Ruhmes und seiner tonangebenden Rolle zu Lebzeiten geriet Ronsard
relativ rasch in Vergessenheit. Grund waren nicht zuletzt die abwertenden
Urteile, die eine bzw. zwei Generationen später die Literatur-Gurus François de Malherbe
(s.u.) und Nicolas Boileau (s.u.) über ihn fällten. Die Romantiker entdeckten
den im engeren Sinne lyrischen Teil seines Schaffens wieder und die
Literarhistoriker des 19./20. Jh. wiesen ihm den insgesamt sehr hohen Rang zu,
den er sich selbst schon im Schlussgedicht der Odes zuerkannt hatte.
Étienne Pasquier (* 7.6.1529 Paris;
† 30.8.1615 ebd.)
Für die Zeitgenossen und die Nachwelt
war und ist er vor allem der Autor der Recherches
de la France (=Forschungen über Frankreich), eines teils
historiographischen, teils essayistischen Werkes, das erstmals 1560 und dann
1565, 1596, 1607 sowie postum 1621 in überarbeiteten und um neue Kapitel
erweiterten Versionen erschien und eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung
der nationalen Identität der Franzosen gespielt hat.
Pasquier stammte aus dem gebildeten
Pariser Bürgertum und studierte Jura in Paris und Toulouse sowie in Bologna und
Pavia, wo er neben seiner juristischen auch seine humanistische Bildung
vervollkommnete und sich mit der seinerzeit als vorbildhaft geltenden
italienischen Literatur beschäftigte. Hier aber auch, im gerade zwischen
Frankreich und Deutschland/Spanien umkämpften Italien, wurde er sich seiner Identität
als Franzose bewusst.
1549 zurück in Paris, erhielt er die
Zulassung als Anwalt am Obersten Pariser Gericht, dem Parlement. Neben seiner
offenbar nicht absorbierenden Tätigkeit als Jurist verkehrte er mit Autoren der
Dichtergruppe der Pléiade, u.a. Ronsard (s.o.) und Du Bellay (s.o.), und
publizierte diverse kleinere Texte, in denen er häufig das idealistische
neoplatonische Liebesideal hinterfragt und diesem modischen Import aus Italien
die realistischere Sicht des Franzosen entgegensetzt.
Vor allem aber verfolgte er das Thema
Frankreich, genauer das des Werdens und der Identität der franz. Nation, deren
innerer Zusammenhalt durch die seit 1534 zunehmende konfessionelle Spaltung
gefährdet war. Hierbei sah Pasquier die Wurzeln der Nation nicht, wie bis dahin
üblich, bei den Römern oder den Franken oder gar dem legendären Trojaner
Francus, sondern bei den keltischen Galliern. Entsprechend war sein Hauptziel
der Nachweis einer geradezu exemplarischen konstitutionellen und kulturellen
Eigenständigkeit Frankreichs, die schon bei den Galliern angelegt gewesen, nach
dem Intermezzo der Römerzeit wiederbelebt und dann von Königen, intellektueller
Elite und Volk kontinuierlich weiterentwickelt worden sei. Mit diesen durchaus
nationalistische Züge tragenden Vorstellungen, die er in den Recherches
ausführte, propagierte Pasquier zugleich die Idee, dass die Belange der in
Jahrhunderten organisch gewachsenen Nation Vorrang hätten vor den wechselnden
Partikularinteressen und insbes. vor der konfessionell motivierten Parteilichkeit,
mit der Katholiken und Protestanten ihr Vaterland spalteten und sogar
auswärtige Mächte wie England oder Spanien in ihren Konflikt hineinzogen.
Mit seiner Idee vom Vorrang des
Interesses der Nation war Pasquier einer der ersten „Politischen“ (politiques),
d.h. jener bald wachsenden Zahl überkonfessionell denkender Intellektueller und
Amtsträger, die angesichts der seit 1562 immer wieder aufflammenden
Religionskriege Frankreich zu befrieden versuchten, dies allerdings erst 1598
unter dem vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierten König Henri IV
schafften.
1564 machte Pasquier von sich reden
durch ein fulminantes Plädoyer für die traditionsreiche, so typisch
französische Pariser Universität und gegen die ultramontan orientierten
Jesuiten, die gerade das neuartige Collège de Clermont gegründet hatten. Mit
seiner Schelte der quasi vaterlandslosen Jesuiten hatte er ein Thema gefunden,
das ihn immer wieder beschäftigen sollte, z.B. 1602 mit dem sarkastischen Catéchisme des Jésuites, dem später
Blaise Pascal (s.o.) manche Anregung für seine anti-jesuitischen Lettres provinciales (1656-57) entnahm.
1585 wurde Pasquier (sicherlich auch
dank dem Erfolg der Recherches)
Generalstaatsanwalt am königlichen Rechnungshof, was er zwei Jahrzehnte lang
blieb. Auch dieser Posten absorbierte ihn sichtlich nicht völlig, denn neben
diversen kleineren, häufig polemischen Texten publizierte er ab 1586 viele
Bände literarischer Briefe, die mit denen des Römers Plinius oder des
Italieners Claudio Tolomei rivalisieren sollten.
1588 bis 94 war Pasquier Abgeordneter
der Stadt Paris bei der intermittierend tagenden Versammlung der Generalstände
in Blois.
Mit seinem Werdegang war er ein
typischer Vertreter des neuen Amtsadels, der „noblesse de robe“, d.h. einer aus
der königlichen Justiz- und Verwaltungselite samt ihren Familien bestehenden
Schicht zwischen dem höheren Bürgertum und dem älteren Adel, der „noblesse
d'épée“ (Schwertadel).
Vielleicht könnte man Pasquier, mit
seiner Hervorhebung der keltischen Ursprünge Frankreichs, als den entfernten
geistigen Vater der urkeltischen Ur-Franzosen Astérix und Obélix betrachten.
P.S.: Henri IV, König von 1589 bis
1610. Der 1553 geborene Henri de Navarre (Enkel von Marguerite de Navarre)
stammte aus einer Seitenlinie des franz. Königshauses und war ursprünglich
Protestant, ab 1576 sogar Chef des protestantischen Lagers. Als 1584 der
präsumptive Nachfolger des kinderlosen Königs Henri III, dessen jüngerer Bruder
François d'Alençon, starb und 1589 Henri selbst ermordet wurde, war Henri de
Navarre die Nr. 1 in der Rangfolge der Thronanwärter. Er musste jedoch sein
Anrecht auf den Thron in jahrelangen Kriegen gegen die von Spanien und Savoyen
unterstützte Katholische Liga und deren Gegenkönig Charles de Bourbon
durchsetzen. 1594, also einige Jahre nach seinem Griff nach der Krone
konvertierte Henri mit dem berühmten Satz „Paris vaut bien une messe!“ (Paris
ist eine Messe wert), und nach seinem endgültigen Sieg über die Liga (1598)
verstand er es, Frankreich zu befrieden, nicht zuletzt durch das Toleranzedikt
von Nantes, das den Protestanten Religionsfreiheit und volle Bürgerrechte
einräumte. 1610 wurde auch er von einem religiösen Fanatiker ermordet. Henri IV
ging als besonders volkstümlicher Herrscher, „le bon roi“, in die franz. Geschichte
ein und ist bis heute jedem auch nur halbwegs gebildeten Franzosen ein Begriff.
Legendär war er auch als „l’amant vert“ (der jugendlich vitale Liebhaber).
Jean
Bodin (*1529
oder 1530 in Angers; † 1596 in Laon)
Er gilt als der erste franz. Staatstheoretiker
von Rang. Sein Hauptwerk Les six livres de la république / Sechs Bücher über
den Staat wird als einer der Gründungstexte der Politikwissenschaft
betrachtet.
Bodin wuchs auf in kleinbürgerlichen
Verhältnissen (als Sohn eines Schneiders?) in Angers. Er konnte sich aber eine
passable Bildung verschaffen, offenbar bei den Karmelitermönchen seiner Stadt,
wo er auch Novize wurde. Die gelegentlich zu findende Information, er habe sich
zeitweilig in Genf aufgehalten und sei 1547/48 in Ketzerprozesse verwickelt
gewesen, betrifft vielleicht einen sonst unbekannten Namensvetter.
1549 verließ er das Kloster, ohne das
Gelübde abzulegen, und ging nach Paris. Hier trieb er theologische Studien,
hörte aber auch am jungen Collège des trois langues und kam so mit dem
Humanismus in Kontakt. Er kehrte der Theologie den Rücken und studierte und
lehrte im weiteren Verlauf der 1550er Jahre Recht in Toulouse, wobei er sich
besonders für den Vergleich von Rechtssystemen interessierte.
1561 ließ er sich in Paris nieder und
erhielt hier die Zulassung als Anwalt am Obersten Gericht, dem Parlement.
Seine rechts- und staatstheoretischen
Interessen verfolgte er in Paris auch nach Beginn der sog. Religionskriege
(1662) weiter. 1566 publizierte er eine erste Schrift, Methodus ad facilem
historiarum cognitionem (= Methode zum leichten Begreifen der Geschichte),
worin er aufzeigt, dass historische Kenntnisse, insbes. der verschiedenen
Rechtssysteme, nützlich sein können für die Gesetzgebung der Gegenwart.
Sein nächstes Werk, Réponse de J. Bodin aux paradoxes de M. de
Malestroit, erschien 1568: Hierin analysiert er als offenbar erster quasi
wissenschaftlich das vor dem 16. Jh. unbekannte Phänomen der Inflation oder
schleichenden Geldentwertung und erklärt es zutreffend, wenn auch zu
monokausal, aus der starken Vermehrung der Zahl der Silbermünzen, die vor allem
mit dem Silber geprägt wurden, das reichlich aus den spanischen Kolonien in
Amerika kam. Vermutlich war Bodin mit seinen Thesen nicht unbeteiligt daran,
dass 1577 König Henri III (letztlich vergeblich) per Erlass versuchte, den Wert
der Silbermünzen (livres) im Verhältnis zum Goldtaler (écu) zu stabilisieren.
Von März 1569 bis August 1570, während
des inzwischen Dritten Religionskrieges, war er in Paris inhaftiert, vielleicht
jedoch in einer Art Schutzhaft, um ihn, der offenbar als verkappter Protestant
verdächtigt wurde, den Verfolgungen katholischer Eiferer zu entziehen. Danach
gehörte er zu dem hochkarätigen Berater- und Diskussionskreis um Prinz François
d'Alençon (bzw. ab 1576 d’Anjou), den ehrgeizigen vierten und jüngsten Sohn von
Henri II, der sich 1574, beim Tod seines zweitältesten Bruders König Charles IX
schon auf dem Thron sah, dann aber zugunsten des drittältesten Bruders Henri
III zurückstehen musste, weil der die ihm gerade angetragene Königskrone von
Polen ausschlug und nach Paris zurückkam.
Die 1560er und 70er Jahre waren in
Frankreich, aufgrund des Unfalltodes von König Henri II (1559) und der Jugend
der drei Söhne, die ihm kurz nacheinander auf dem Thron folgten, eine Zeit der
Schwäche der Monarchie und damit zugleich eine Zeit zentrifugaler Tendenzen,
die durch die konfessionelle Spaltung des Landes verstärkt wurden und ab 1662
immer wieder religiös verbrämte Bürgerkriege ausbrechen ließen. Da in diesen
Kriegen die Monarchie sich letztlich immer wieder auf die Seite des
katholischen Lagers schlug, versuchte das protestantische Lager, die
Herrschaftsrechte des Monarchen einzuschränken oder ganz in Zweifel zu ziehen.
In diesen Jahren allgemeinen Streites um die beste Staatsform, aber auch unter
dem Eindruck von grausamen Ereignissen wie insbes. den Potestantenmassakern der
Bartholomäusnacht (1572) konzipierte Bodin sein bedeutendstes Werk, Les six livres de la république (1576).
Mit
ihm versuchte er einen mittleren Weg einzuschlagen zwischen dem von vielen
Katholiken vertretenen Macchiavellismus, wonach ein Herrscher die Pflicht und
damit das Recht habe, ohne moralische Rücksichten zum Vorteil seines Staates zu
handeln, und dem von protestantischen Theoretikern vertretenen Ideal einer
Volksherrschaft oder zumindest einer Wahlmonarchie. Ausgehend von der neuartigen These,
dass das Klima eines Landes den Charakter seiner Einwohner präge und damit auch
die für sie geeignetste Staatsform in weitem Umfang vorgebe, postuliert er als
ideales Regime für das klimatisch gemäßigte Frankreich die erbliche Monarchie.
Hierbei soll der Monarch/König „souverän“, d.h. keiner anderen Instanz
unterworfen sein, allerdings einer gewissen Kontrolle unterliegen durch
Institutionen wie die Obersten Gerichtshöfe (Parlements) und die
Ständeversammlungen (États). Vor allem jedoch soll er „nur Gott verantwortlich“
sein, d.h. über den konfessionellen Parteien stehen. Mit seinem Postulat einer
durch Erblichkeit legitimierten, souveränen und religiös neutralen Monarchie
reagierte Bodin auf das Problem, dass die die jungen Könige bzw. die sie
dominierende Königinmutter und Regentin Catherine de Médicis nicht zuletzt
deshalb die Bürgerkriege nicht zu beenden schafften, weil die Krone seit 1534
fast immer auf Seiten der Katholiken stand somit nicht als schlichtende
überparteiliche Instanz auftreten konnte.
Die Six livres waren sofort sehr
erfolgreich und wurden umgehend mehrfach nachgedruckt. 1586 erschien eine
erweiterte und vom Autor selbst überarbeitete lateinische Version. Mit seinem
Buch gehörte Bodin zu den Begründern der Bewegung der pragmatisch gesonnenen
„Politischen“ (politiques), die in den Folgejahren an Einfluss gewannen und schließlich,
unter König Henri IV, das Ende der Religionskriege und den Erlass des
Toleranzedikts von Nantes (1598) erreichten.
Nach dem Scheitern der Hoffnungen
von François d’Alençon hatte Bodin sich dem neuen König Henri III
angeschlossen. Dessen Gunst verlor er aber, als er 1576 als Delegierter des
Dritten Standes auf dem Ständetag von Blois versuchte, mäßigend auf die
katholische Partei einzuwirken und die Gewährung finanzieller Sondermittel für
den König zu verhindern, die einer einer intensiveren Kriegsführung dienen
sollten. Er zog sich aus der Politik zurück und verheiratete sich in Laon. Im
selben Jahr 76 wurde er dort Nachfolger seines Schwiegervaters im Amt des königlichen
Generalleutnants und Staatsanwaltes.
Zweifellos motiviert durch sein Amt
entwickelte er ein besonderes Interesse für Hexenprozesse. 1580 nämlich
publizierte er ein weiteres sehr erfolgreiches, in mehrere Sprachen (auch ins
Deutsche) übersetztes Werk, das in Literaturgeschichten gerne übergangen wird: La Démonomanie des sorciers (= die Dämonenmanie der Hexer). Es
ist ein Handbuch der Hexer- und Hexenkunde samt Ratschlägen und
Argumentationshilfen für die mit Prozessen befassten Richter, die nach Bodin
vor Todesstrafen nicht zurückscheuen dürfen. (Laut einer Interview-Aussage der
Historikerin Martine Ostorero in Le Monde vom 5.9.08 waren die Jahre
1560 bis 1630 die hohe Zeit der Hexenprozesse in Mitteleuropa.)
1581 trat Bodin noch einmal in den
Dienst von Prinz François d’Alençon und hielt sich mehrere Monate in England
auf, um dort über eine (letztlich ausgebliebene) Eheschließung seines Herrn mit
Königin Elisabeth zu verhandeln.
In politisch-ideologischer Hinsicht
blieb er seiner Tendenz zu Pragmatismus und Toleranz treu. Hiervon zeugt (wenn,
was manche Forscher bezweifeln, er der Autor ist) ein als Manuskript erhaltenes
Werk: das Colloqium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis.
Dieses „Siebenergespräch über die verborgenen Geheimnisse der erhabenen Dinge“
zeigt eine friedliche Diskussion unter sieben Vertretern verschiedener
Religionen und Weltanschauungen, die sich am Ende auf die grundsätzliche
Gleichwertigkeit ihrer Überzeugungen einigen.
In den Kriegen, mit denen nach 1584,
dem Tod von François, die Katholische Liga die Ansprüche des zunächst noch
protestantischen Henri IV auf die Thronfolge abzuwehren und einen
Gegenkandidaten durchzusetzen versuchte, stand Bodin anfangs auf Seiten der
mächtigen Liga, deren raschen Sieg er wohl für unausweichlich hielt.
Er starb in einer der zahlreichen
Pestepidemien, die das von den jahrzehntelangen Bürgerkriegen geschwächte
Frankreich immer wieder heimsuchten.
Étienne
de La Boétie (gesprochen: laboeßi; * 1.11.1530 in
Sarlat/Dordogne; † 18.8.1563 nahe Bordeaux)
Dieser Jurist,
Humanist und Gelegenheitsautor ist heute praktisch nur noch als enger Freund
Montaignes (s.u.) bekannt. Zu seiner Zeit war er jedoch sehr einflussreich mit
seiner um 1550 entstandenen, lange Zeit nur anonym verbreiteten kleinen Schrift
Discours de la servitude volontaire (=Rede/Abhandlung über die
freiwillige Knechtschaft), die die Protestanten bestärkte in ihrem Kampf gegen
die Unterdrückung durch die franz. Krone.
La Boétie
entstammte dem niederen Beamtenadel der Bischofsstadt Sarlat. Er erhielt eine
gute Bildung, u.a. auf dem renommierten Collège de Guyenne in Bordeaux, und
interessierte sich früh für die klassischen griechischen und lateinischen
Autoren. 1548 erlebte er zweifellos aus der Nähe mit, wie, nachdem der neue
König Henri II auch in Südwestfrankreich die Salzsteuer eingeführt hatte, dort
Revolten ausbrachen und durch königliche Truppen blutig niedergeschlagen
wurden.
Um
dieselbe Zeit begann er ein Jurastudium an der Universität von Orléans. Zu
seinen Professoren gehörte Anne du Bourg, der einige Jahre später Gerichtsrat
(„Conseiller“) am Parlement von Paris wurde und dort offensiv für die Rechte
der Protestanten eintrat, was ihm 1559 einen Ketzerprozess und die Todesstrafe
eintrug und ihn zum Märtyrer machte.
Vermutlich war es
während seiner Studienzeit, dass La Boétie, sichtlich unter dem Eindruck der
genannten Revolten und ihrer blutigen Niederschlagung, seinen flammenden Discours
verfasste, worin er die These vertritt, dass ein einzelner Mensch nur
deshalb viele andere Menschen unterdrücken könne, weil diese sich unterwerfen
statt sich kollektiv zu widersetzen.
Nach Abschluss
seines Studiums wurde La Boétie 1553 mit 23 Jahren Gerichtsrat am Parlement von
Bordeaux, dem obersten Gericht der Provinz Aquitaine. Hier befreundete er sich
mit dem gut zwei Jahre jüngeren Montaigne, als dieser 1557 ebenfalls Gerichtsrat
in Bordeaux wurde. Montaigne hat später berichtet, er sei schon vorher durch
den Discours auf La Boétie aufmerksam geworden.
Ab 1560 wurde
dieser verschiedentlich von Michel de l'Hospital, dem „Kanzler“ (chancelier)
von Frankreich, mit dem er freundschaftlich verbunden war, zur Teilnahme an
Verhandlungen gebeten, die das konfessionell zunehmend gespaltene und in Gewalt
abgleitende Frankreich befrieden sollten. Er galt also (ähnlich wie sein Freund
Montaigne) als jemand, der einerseits loyal hinter der Krone stand,
andererseits jedoch genug Verständnis für die Anliegen und Überzeugungen der
Protestanten hatte, um ausgleichend wirken zu können.
Diese
versöhnliche Haltung vertrat er auch in seiner letzten Schrift, dem Mémoire
sur l’édit de janvier [1562] (=Memorandum über den Januar-Erlass), worin er
den König unterstützt, der gerade den Protestanten in gewissem Umfang
entgegengekommen war.
La Boétie starb
jung und plötzlich an einer der häufigen Seuchen der Zeit. Montaigne war bei dem
Sterbenden und bewunderte dessen stoische Fassung, wie er in einem Brief an
seinen Vater berichtet.
1570 gab
Montaigne in Paris verschiedene Schriften aus dem Nachlass von La Boétie in
Druck. Es handelte sich um lateinische und französische Verse – die letzteren
meist im Stil der Pléiade – sowie um Übersetzungen von Texten der alten
Griechen Xenophon und Plutarch (der Anstöße für den Discours geliefert
hatte). Darüber hinaus auch den Discours zu drucken, hielt Montaigne für
unangebracht, denn jener diente inzwischen der protestantischen Seite als
Munition gegen den wieder unnachgiebigen König und seinen Anspruch, absolut zu
herrschen und insbes. auch die Religion seiner Untertanen zu bestimmen. Zudem
entsprach das revoluzzerhafte kleine Werk nicht mehr der ausgleichenden
Loyalität, wie sie der späte La Boétie praktiziert hatte und auch Montaigne sie
vertrat.
Der Discours
wurde erstmals 1574 gedruckt als Teil einer protestantischen Kampfschrift und
nochmals 1577 im Rahmen der propagandistischen Mémoires des états de France
sous Charles IX. Auch spätere Generationen von Oppositionellen, z.B.
prärevolutionäre Autoren der Spätaufklärung und sozialistische und
anarchistische Denker des 19. Jh., griffen häufig auf La Boéties Werk zurück
mit seinem Kernsatz: „Soyez résolus de ne servir plus, et vous voilà libres!“
(Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei!).
Étienne
Jodelle (*
ca. 1532 in Paris, † 1573 ebd.)
Dieser heute kaum mehr bekannte
Dramatiker hat in der franz. Literaturgeschichte eine gewisse Bedeutung durch
zwei zu ihrer Zeit neuartige Stücke, die er als ganz junger Mann verfasste: die
Komödie Eugène (1552) und vor allem die Tragödie Cléopâtre captive
(= die gefangene Kleopatra) von 1553.
Die Tragödie, welche darstellt, wie die
besiegte ägyptische Königin Kleopatra sich durch Selbstmord der Demütigung
durch ihren Besieger, den römischen Kaiser Octavian alias Augustus, entzieht,
war in mehrfacher Hinsicht neu: Zum einen ist sie das erste ernste, also nicht
komische, franz. Stück mit weltlicher, d.h. nichtreligiöser Thematik. Weiterhin
ist sie das erste franz. Stück mit antikem Stoff (den Jodelle aus den
„parallelen“ Biografien des Griechen Plutarch [um 100 n. Chr.] bezog). Vor
allem aber ist sie die erste franz. Tragödie nach antikem Muster, insbes. mit
ihrem Aufbau in fünf Akten und dem Auftreten eines Chores. Auch die zumindest
teilweise Abfassung in Alexandrinern war eine Neuerung. Das Stück war ein
Publikumserfolg bei der Pariser Erstaufführung und wurde in den literarisch
interessierten Kreisen als gewissermaßen längst notwendige Errungenschaft
begrüßt. Für die Mitglieder der humanistisch orientierten Pariser Dichtergruppe
der Pléiade, zu denen Jodelle zählte, bedeutete es die Umsetzung ihrer
Theorien, wonach sich die franz. Literatur durch Orientierung an der
klassischen Antike erneuern sollte.
Im selben Sinne hatte Jodelle schon ein
Jahr zuvor den Eugène verfasst, ein Stück, das zwar in Paris spielt und
das typische Farcenthema des Cocuage bearbeitet, sich aber in der Machart
ebenfalls an antiken Vorbildern, nämlich Komödien der klass. römischen Autoren
Plautus und Terenz orientierte.
1555 schrieb er eine weitere
antikisierende Tragödie, Didon se sacrifiant (= die sich opfernde Dido).
Sowohl mit seinen Tragödien als auch
der Komödie verwirklichte Jodelle allerdings nicht nur Ideen der
Pléiade-Gruppe, sondern folgte zugleich auch Vorbildern aus Italien, wo man
schon seit etwas längerer Zeit versuchte, das volksprachliche Theater in
Anlehnung an antike lateinische und griechische Vorbilder zu erneuern.
Seine Lyrik, die er schon sehr jung zu
verfassen begann, gilt als weniger bedeutend.
Michel
Eyquem, seigneur de Montaigne (*28.2.1533 auf dem Schlösschen Montaigne/Périgord;
†13.9.1592 ebd.)
Montaigne (wie er in der
Literaturgeschichte schlicht heißt) stammte aus einer Familie reicher Kaufleute
in Bordeaux. Nachdem der Urgroßvater die adelige Grundherrschaft Montaigne
erworben hatte, waren die Eyquems vom großbürgerlichen Patriziat in den Adel
hineingewachsen, besetzten aber weiterhin hohe Ämter in der Stadt. Montaignes
Vater hatte 1525 König François
Ier
auf dessen Italienfeldzug begleitet und war so mit der italienischen
Renaissance-Kultur in Berührung gekommen. Nach seiner Heimkehr hatte er 1528
eine adelige Frau geheiratet und war 1530 Chef des Ordnungswesens (prévôt) von
Bordeaux geworden. Ab 1533 war er stellvertretender Bürgermeister; 1554 wurde
er Bürgermeister.
Montaigne war das erste Kind seiner
Eltern und bekam noch etliche Geschwister, von denen jedoch nur drei das
Erwachsenenalter erreichten. Er wurde zunächst zu einer Amme in einem nahen
Dorf in Pflege gegeben und erhielt dann einen Hauslehrer, einen deutschen
Mediziner, der nur lateinisch mit ihm sprach. 1539 bis 46 besuchte er das
Collège de Guyenne in Bordeaux, wo er auch Griechisch lernte. Anschließend
absolvierte er vermutlich propädeutische Studien an der Artistenfakultät der
dortigen Universität.
Unbekannt ist, ob er 1548 direkt die
Revolte miterlebte, mit der Bordeaux auf die Auferlegung der Salzsteuer durch
den neuen König Henri II reagierte, eine Revolte, die von königlichen Truppen
blutig niedergeschlagen wurde, der Stadt den Verlust ihrer Gerichtsamkeit
eintrug und die Gruppe der Patrizier etliche Köpfe kostete.
1554, mit 21, erhielt Montaigne nach
Jurastudien in Toulouse und vielleicht auch Paris das Amt eines Gerichtsrats
(conseiller) am Steuergericht in Périgueux. Im selben Jahr begleitete er seinen
soeben zum Bürgermeister gewählten Vater, der es vorgezogen hatte Katholik zu
bleiben, zu Verhandlungen mit dem König nach Paris.
Als 1557 das Steuergericht in Périgueux
aufgelöst wurde, erhielt Montaigne einen Gerichtsratsposten am Parlement von Bordeaux, dem obersten
Gerichtshof der Guyenne.
Hier schloss er eine (wie er es rückblickend
sah) geradezu symbiotische Freundschaft mit dem gut zwei Jahre älteren,
humanistisch hochgebildeten und literarisch dilettierenden Richter-Kollegen
Étienne de la Boétie (1530-63), dessen frühen Tod er lange betrauerte.
In seiner Eigenschaft als Gerichtsrat
am Parlement reiste er 1559, 1560 und 1562 nach Paris, wobei es vor allem um
die Frage der Unterdrückung oder Duldung des im franz. Südwesten stark
verbreiteten Protestantismus ging. Bei dem letztgenannten Parisaufenthalt, der
vom Beginn der offenen Kriege zwischen Protestanten und Katholiken, der sog.
Religionskriege, überschattet wurde, musste sich Montaigne, zusammen mit den
anderen Richtern der diversen franz. Parlements, feierlich zum Katholizismus
bekennen.
1565 heiratete er in einer Konventionalehe,
die dies offenbar auch blieb, die Tochter eines Richterkollegen. Beim Tod des
Vaters 1568 erbte er, nach den Regeln der adeligen Erbteilung, den Hauptteil
von dessen Besitz, darunter das Gut und Schlösschen Montaigne, nach dem er sich
hinfort benannte, um seinen Status als Adeliger zu betonen.
1569 beendete er eine kommentierte
Übersetzung der Theologia naturalis
des Toulouser Theologen und Mediziners Raimundus Sebundus († 1436). Er hatte
sie noch auf Wunsch seines Vaters begonnen, der sich – sehr verständlich in
Zeiten heftiger konfessioneller Streitereien – offenbar für die These von
Sebundus interessierte, wonach Gott und die christlichen Lehren quasi aus der
Natur ableitbar seien.
Zugleich mit seiner
Sebundus-Übertragung gab er in Paris eine Sammlung von franz. und lateinischen
Gedichten seines Freundes La Boétie in Druck.
1571, mit 38, quittierte er sein
Richteramt und zog sich auf sein Schlösschen zurück. Ein Grund zu diesem
Entschluss war vielleicht die Enttäuschung darüber, dass seine Versuche, in
eine der wichtigeren und damit interessanteren Kammern des Gerichts zu
wechseln, gescheitert waren, weil in der einen als zu naher Verwandter schon
sein Schwiegervater saß und in der anderen schon ein Schwager. Vielleicht
spielte aber auch der Umstand eine Rolle, dass er zum zweiten Mal Vater wurde,
nachdem ein im Vorjahr geborenes erstes Kind, ebenfalls ein Mädchen, bald nach
der Geburt gestorben war (so wie auch
vier weitere 1573, 74, 77 und 83 geborene Kinder, allesamt Töchter, das
Säuglingsalter nicht überleben sollten).
Mit der Rolle des Landedelmanns, als
der Montaigne sich nach seinem Rückzug ins Private offenbar sah, vertrug es
sich durchaus, zu lesen und literarisch zu dilettieren. Dies tat er sogleich,
mit Hilfe der schönen Bibliothek, die er besaß und die zum Teil aus der
bestand, die ihm La Boétie übermacht hatte. Hierbei begann er, markante Sätze
aus klassischen, meistens lateinischen Autoren, aufzuschreiben und zum
Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu machen. Diese betrachtete er als
Versuche, der Natur des menschlichen Wesens und den Problemen der Existenz auf
den Grund zu kommen. Die passende Darstellungsweise für diese „Versuche“
(essais) musste er jedoch selber tastend entwickeln, denn erst später, dank
ihm, konstituierte sich der essai als neue literarische Gattung.
Insgesamt sind die Essais Montaignes
mehr assoziativ als logisch strukturiert aneinandergereihte, thematisch äußerst
vielfältige, kürzere und längere, mit einer immensen Menge von meistens
lateinischen Lesefrüchten angereicherte Betrachtungen über sich selbst und die
Welt, insbes. den Tod, dessen Allgegenwart ihm die kriegerischen Zeitläufte und
das Sterben seiner Töchter nur zu bewusst sein ließen. Seine Perspektive ist
hierbei die eines Geistes, der den religiösen Dogmen distanziert gegenüber
steht und auch alle sonstigen vermeintlich verbürgten Wahrheiten kritisch
betrachtet. Basis seiner Überlegungen ist die Prämisse, dass man mittels der
Beobachtung des Fühlens, Denkens und Handelns eines einzigen intim bekannten Individuums,
nämlich seiner selbst, zu allgemein gültigen Aussagen über den Menschen
insgesamt gelangen könne.
Allerdings konnte Montaigne nach dem
Wechsel ins Private nicht, wie sicher erhofft, seine Tage ungestört von den
Kriegswirren der Zeit verbringen. Denn als nach den Protestantenmassakern der
Bartholomäusnacht (22./23.8.1572) die Spaltung im Land sich vertiefte und beide
Seiten sich erneut bekämpften, hielt er es für seine Pflicht, sich der
königlichen, d.h. der katholischen Armee anzuschließen. 1574 versuchte er, mit
einer Rede vor den Richtern des Parlements in Bordeaux, zur Versöhnung der
Konfessionen beizutragen. Nach dem Friedensschluss von 1575, der den
Protestanten (vorübergehend) Bürgerrechte gewährte, ließ er sich von Henri de
Navarre, dem Chef des protestantischen Lagers und de facto-Herrscher in weiten
Teilen Westfrankreichs, pro forma zum Kammerherrn ernennen.
Dank der kurzen Ruhe im Land schloss er
1579 Buch I der Essais ab und erweiterte er sie um ein Buch II. Sie erschienen
1580 in Bordeaux und waren so erfolgreich, dass sie schon 1582 leicht erweitert
nachgedruckt wurden.
Da Montaigne seit 1577 unter
Nierenkoliken litt (deren starken Einfluss auf sein Leben und auch sein Denken
und Fühlen er in den Essais thematisierte), ging er 1580 trotz der
soeben wieder ausgebrochenen Kriegshandlungen auf eine Bäder-Reise, von der er
sich Linderung erhoffte. Sie führte ihn über Paris, wo er von König Henri III
empfangen wurde, in etliche französische und süddeutsche Bäder und wurde dann
fortgesetzt als Bildungsreise durch einige Städte Süddeutschlands sowie mehrere
italienische Städte bzw. Stadtstaaten bis nach Rom. Dort blieb er mehrere
Monate, erhielt eine Audienz beim Papst, bekam den Titel eines römischen
Bürgers verliehen und ließ die Essais von der päpstlichen Zensur
absegnen. Die Reise, auf der ihn mehrere Personen begleiteten, beschrieb er in
einem Tagebuch, das er jedoch unpubliziert ließ (und das erst 1770
wiedergefunden und 1774 gedruckt wurde).
Unterwegs, in Lucca, erhielt er im
Frühherbst 1581 die Nachricht, dass er zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt
worden war. Etwas widerstrebend und nicht ohne brieflich von König Henri III in
die Pflicht genommen worden zu sein, akzeptierte er das Amt und übte es nach
seiner Heimkehr Ende November zweimal zwei Jahre lang aus. Hierbei war er darum
bemüht, zwischen Protestanten und Katholiken zu vermitteln, wobei er z.B. 1583
versuchte, Verhandlungen zwischen Henri de Navarre und König Henri III
einzufädeln. Auch schaffte er es 1585, seine Stadt von einer militärischen
Beteiligung auf Seiten der Katholischen Liga abzuhalten, die Henri de Navarre
bekriegte, nachdem er 1584 zum nächsten Anwärter auf den Thron aufgerückt war.
Zwischendurch (1583) wurde er zum sechsten Mal Vater, doch starb die Tochter
wiederum bald nach der Geburt.
Nach dem Ende seiner Zeit als
Bürgermeister (Spätsommer 85) und der vorübergehenden Flucht vor einer
Pestepidmie setzte sich Montaigne wieder in seine Bibliothek im Schlossturm, um
neue Lektüren, Erfarungen und Erkenntnisse in den Essais zu verarbeiten, die er hierbei stark erweiterte und um einen
dritten Band vermehrte. Als er im Frühjahr 1588 nach Paris reiste, um sie dort
in Druck zu geben, wurde er unterwegs von adeligen Wegelagerern ausgeraubt,
bekam das Manuskript jedoch von ihnen zurück. In Paris angekommen, geriet er
dort in den Aufstand gegen Henri III, den am 12. Mai die Liga angezettelt
hatte. Er wurde in der Bastille eingekerkert, kam aber durch eine Intervention
der Königinmutter frei. Im Juni 88 erschien die Neuausgabe schließlich im
Druck.
Offenbar zur selben Zeit lernte er
Marie de Gournay kennen, die ihm zu einer geistigen Ziehtochter wurde.
Auf der Rückreise im Herbst nahm er als
illustrer Gast an der Versammlung der Generalstände in Blois teil.
In den nachfolgenden Jahren
überarbeitete und vermehrte er unablässig weiter die Essais. Daneben
reiste er mehrfach zu Marie de Gournay nach Paris.
1590 erlebte er die Heirat seiner
einzigen ins Erwachsenenalter gelangten Tochter und 1591 die Geburt einer
Enkelin. Er verstarb plötzlich, während einer Messe in der Schlosskapelle, am
13.9.1592.
1595 publizierte Marie de Gournay
postum in Paris eine nochmals erheblich überarbeitete dritte Version der Essais.
Grundlage
war die Abschrift eines Manuskripts der Essais, die ihr den letzten Stand der
Arbeit Montaignes darzustellen schien. Diese Ausgabe wurde immer wieder
nachgedruckt. Grundlage der heutigen kritischen Editionen ist jedoch das später
aufgefundene Original der genannten Abschrift, das „Exemplaire de Bordeaux“ ,
das weitere Änderungen von der Hand des Autors enthält.
Nachdem sie gleich bei ihrem ersten
Erscheinen 1580 auf großes Interesse gestoßen waren, wurden die Essais
jahrhundertelang viel gelesen und waren sie epochemachend als erstes
europäisches Beispiel ihrer Gattung. Montaigne hatte großen Einfluss auch auf
die ähnlich über den Menschen und die Welt nachdenkenden franz. „Moralisten“
des 17./18. Jh., die meist allerdings die gedrängtere Form des Aphorismus
bevorzugten. Er gilt heute neben Rabelais als der bedeutendste franz. Autor des
16. Jh.
(Vermutlich weil die Gattung später vor
allem in England florierte, wo 1613 auch die erste Übersetzung der Essais in
eine Fremdsprache erschienen war, dominiert bei uns die Schreibung Essay.)
Guillaume de Salluste, seigneur du
Bartas (1544–1590)
Du
Bartas, wie er in der Literaturgeschichte heißt, wurde früh zum
repräsentativsten Autor der franz. Protestanten und war vor allem bekannt, ja
berühmt durch La Semaine, ou création du monde (1578), ein Epos in
sieben Gesängen in paarweise
reimenden Alexandrinern über die Schöpfung der Welt.
Er
war Sohn eines reichen protestantischen Kaufmanns, der 1565 geadelt wurde. Er
studierte Jura in Toulouse und verbrachte sein Leben im Dienst zunächst von
Jeanne d’Albret, der Königin von Navarra, und anschließend ihres Sohnes Henri
de Navarre, des späteren Henri IV. An dessen Seite kämpfte er gegen die Truppen
der Katholischen Liga und starb an den Folgen einer Kriegsverletzung.
La Semaine ist der Versuch eines frommen, wenn auch
nicht radikalen Protestanten, Vorstellungen der älteren und neueren
Naturphilosophen sowie Erkenntnisse der sich langsam herausbildenden
Naturwissenschaften in Einklang zu bringen mit der Schöpfungsgeschichte der
Bibel. Heute ist das Epos wegen der völlig obsolet gewordenen Thematik wie auch
der abstrus wirkenden Gedankengänge und Vergleiche vergessen; zu seiner Zeit
war es jedoch enorm erfolgreich, wurde allein bis 1632 in 42 Auflagen
nachgedruckt, ins Lateinische, Italienische, Spanische, Englische, Niederländische
und Schwedische übertragen und von vielen Autoren, z.B. noch Milton, Goethe und
Byron, bewundert.
Robert Garnier (* 1544 in La
Ferté-Bernard/Dép. Sarthe;
† 20.9.1590
in Le Mans)
Obwohl
heute kaum mehr bekannt, ist er der bedeutendste franz. Dramatiker des 16. Jh.
und ein wichtiger Vorläufer der großen Klassiker des 17. Jh.. Seine moralisch
und politisch erzieherisch intendierten Stücke verarbeiten in rhethorisch
anspruchsvollen Alexandrinern überwiegend antike Vorlagen und gelten als Höhepunkt
des Humanistentheaters in Frankreich.
Garnier
studierte Jura in Toulouse, wo er sich auch literarisch zu betätigen begann. Er
schrieb zunächst Lyrik im Stil der Pléiade-Schule; sein Gedichtband Plaintes
amoureuses de Garnier von 1565 scheint jedoch verloren. 1564 und 1566
erhielt er Jahrespreise der Toulouser Académie des Jeux floraux (= Ak.
der Blumenspiele) für seine Chants royaux en allegorie, längere
allegorische Gedichte, in denen er die 1562 ausgebrochenen Bürgerkriege
zwischen Katholiken und Protestanten beklagt und, aus einer katholischen
Perspektive, die Rückkehr von Frieden und Ordnung herbeiwünscht. 1565 betätigte
er sich anlässlich eines Besuchs des jungen Königs Charles IX in Toulouse als
Texter von Grußinschriften und Autor dreier Begrüßungssonette.
1567
erhielt er die Zulassung als Anwalt am Parlement von Paris, wo er sich mit der
königstreuen Hymne de la monarchie einführte. 1569 wurde er hochrangiger
Richter in Le Mans.
In
den nachfolgenden 14 Jahren verfasste er acht Stücke, deren Handlungen zwar auf
vorgegebenen Stoffen beruhen und in mehr oder weniger ferner Vergangenheit
spielen, aber sichtlich aktualisiert sind im Hinblick auf die eigene Zeit.
Die
ersten sechs Stücke, sämtlich Tragödien, inspirieren sich an den antiken
griechischen bzw. römischen Autoren Euripides und Seneca. Es sind: Porcie (1569),
Hippolyte (1573), Cornélie (1574), Marc-Antoine (1578), La
Troade (1579) und Antigone (1580). Alle scheinen mit den
Schrecknissen und Grausamkeiten, die sie darstellen, die Wirren der
Religionskriege zu spiegeln, die allen Friedensschlüssen zum Trotz ständig neu
ausbrachen.
1582,
in einer längeren Friedensphase, verfasste Garnier das romaneske, versöhnlich
mit zwei Hochzeiten endende Stück Bradamante, das eine Episode aus
Ariostos Versepos Orlando furioso verarbeitet. Es führte zugleich die
Gattung Tragikomödie in Frankreich ein und war das erste und für lange Zeit
letzte franz. Stück, dessen Handlung im Mittelalter spielt.
Garniers
wohl bestes und jedenfalls erfolgreichstes Stück war sein letztes: die Tragödie
Les Juives (1583). Es bezieht seinen Stoff aus der Bibel und zeigt, wie
der jüdische König Sedecias nach seinem Aufstand gegen den Eroberer
Nebukadnezar grausam bestraft wird - ähnlich grausam wie die aufständischen
franz. Protestanten durch die katholisch gebliebenen Könige verfolgt wurden,
die jedoch, wie suggeriert wird, damit durchaus einer höheren Ordnung und dem
Seelenheil der Bestraften dienen.
Mit
seiner Übernahme antiker Stoffe sowie der antiken Form der Tragödie, insbes. in
Gestalt des Chores, folgte Garnier, wie vorher schon sein älterer Kollege
Étienne Jodelle (s.o.), einer aus Italien gekommenen Mode sowie den Lehren der
Pléiade-Gruppe, wie sie z.B. 1549 von Du Bellay (s.o.) formuliert worden waren.
Nicht zuletzt dank Garnier wurden Stücke, deren Handlung in der Antike spielt,
gängig im franz. Theater. Sein Marc-Antoine wurde von Corneille (s.u.)
für La Mort de César und sein Hippolyte von Racine (s.u.) für Phèdre
als Inspirationsquelle benutzt.
1586
wurde Garnier von König Henri III (der 1589 ermordet wurde) zum Mitglied des
Staatsrats ernannt. Er war damit ein typischer Vertreter der neu entstehenden
Schicht des Amtsadels („noblesse de robe“) zwischen Bürgertum und Adel, aus der
in den nächsten 200 Jahren noch viele Autoren hervorgingen.
Seine
Gattin (seit 1573) Françoise Hubert war zu ihrer Zeit eine geschätzte
Dichterin.
17. Jh. (Barock und Klassik)
Agrippa
d’Aubigné (*8.2.1552 auf dem Herrensitz Saint-Maury
bei Pons in der Saintonge/Dep. Charente Maritime; † 29.4.1630 in
Jussy bei Genf)
Dieser
adelige Militär und glühende Verfechter des Protestantismus war, vor allem mit
seinem Epos Les Tragiques, sicher der sprachmächtigste franz. Autor
seiner Epoche, des frühen Barock. Da er jedoch seine Werke fern vom Pariser
Literaturbetrieb verfasste und jeweils sehr spät oder gar nicht publizierte,
blieb er zu seiner Zeit als Literat fast unbekannt. Den ihm gebührenden Platz
in der Literaturgeschichte verdankt er erst seiner Entdeckung durch die
Romantiker, insbes. Victor Hugo. Im klassizistisch und katholisch geprägten,
ganz auf Paris bezogenen kulturellen Gedächtnis der Franzosen ist er eine
marginale Figur.
D’Aubigné war erstes Kind seiner
Eltern, die beide der ersten schon protestantisch erzogenen Generation
angehörten. Die Mutter starb bei seiner Geburt.
Ein
prägendes Erlebnis für den Achtjährigen war, dass sein Vater auf einer
Parisreise mit ihm in Amboise Halt machte, ihm die aufgespießten Köpfe von
hingerichteten protestantischen Anführern der sog. Verschwörung von Amboise
(1560) zeigte und ihn schwören ließ „diese ehrenvollen Chefs“ zu rächen.
Da
er früh Unterricht in den alten Sprachen (auch Hebräisch) bekommen und Talent
hierfür bewiesen hatte, wurde er mit zehn zu dem protestantischen Pariser
Humanisten Béroald in Pension gegeben. Wenig später, bei Ausbruch des Ersten
Religionskrieges (1562/63), flüchtete er mitsamt seiner Schule nach Orléans,
das von protestantischen Truppen gehalten wurde und wo sein Vater stellvertretender
Befehlshaber war. Nach dem Fall der Stadt, bei dem der Vater ums Leben kam,
wurde d’Aubigné von Verwandten nach Genf geschickt, wo er bei dem Humanisten
und Reformator Théodore de Bèze seine Schulzeit fortsetzte. Mit 14 brannte er
dort durch und geriet in Lyon an einen zweifelhaften Zauberer und Magier.
Hiernach lebte er bei einem Vormund in der Saintonge.
Mit
sechzehneinhalb brannte er abermals durch, diesmal um sich den protestantischen
Truppen im inzwischen Dritten Religionskrieg anzuschließen. In dieser Zeit
lernte er den ein Jahr jüngeren Henri de Navarre kennen, den angehenden Chef
des protestantischen Lagers und dann späteren König Henri IV..
Nach
dem Friedensschluss (1570) wurde d’Aubigné von der Familie seiner Mutter in der
Beauce aufgenommen. Dort begegnete er 1571 auf einem Nachbarschlösschen Diane
Salviati, einer Nichte von Cassandre Salviati, die um 1550 von Pierre Ronsard
(s.o.) besungen worden war. Er verliebte sich und widmete ihr in den folgenden
zwei Jahren Sonette, Oden und Stanzen im Stil Ronsards und der Pléiade-Schule –
allerdings vergeblich, denn sie blieb abweisend und war überdies auch
versprochen. D’Aubigné vereinigte später die Gedichte zwar unter den Titel Printemps
(=Frühling) in einem Sammelband, ließ diesen aber ungedruckt
(erschienen erst 1874).
Am
18. Aug. 1572, anlässlich der Hochzeit von Henri de Navarre mit Marguerite de
Valois (der Schwester von König Charles IX) war auch d’Aubigné in Paris, floh
aber wenige Tage später, weil er bei einer Rauferei einen Soldaten der Stadtwache
verletzt hatte. Er entging so dem Massaker der Bartholomäusnacht (23./24.8.),
bei dem die katholische Partei das protestantische Lager zu enthaupten
versuchte. Kurz darauf, da die Massaker sich auch auf die Provinzen ausdehnten,
wurde er bei einem Anschlag auf ihn schwer verletzt und schleppte sich ins nahe
Schlösschen Dianes, um in ihren Armen, wie er sich ausmalte, zu sterben.
Auf
dem Krankenlager will er unter dem Eindruck der blutigen jüngsten Ereignisse
eine Vision gehabt haben, die ihm den Plan zu einem Epos eingab, Les
Tragiques. Es sollte vom tragischen Schicksal der franz. Protestanten
handeln, d.h. ihrer grausamen Verfolgung durch die katholische Partei und die
von ihr instrumentalisierte Staatsgewalt.
1573,
angesichts der nahenden Heirat Dianes, ging d’Aubigné nach Paris und trat als
„Schildknappe“ (écuyer) in den Dienst von Henri de Navarre, der seit der
Bartholomäusnacht am Hof wie ein Gefangener lebte. Nicht unmöglich scheint,
dass er hierbei, wie Henri selbst, eine Konversion zum Katholizismus
vortäuschte. Auch nahm er offenbar als geschätzter Unterhalter durchaus am
Hofleben teil.
Darüber
hinaus hatte oder suchte er in Paris auch Kontakt zu Literaten, denn 1574 gab
er ein Gedicht auf den Tod des Dramatikers Étienne Jodelle (s.o.) in Druck,
eines Mitglieds der Pléiade-Schule.
Anfang
1576 konnte er seinem Herrn zur Flucht aus Paris verhelfen. Er blieb an Henris
Seite, als dieser, rekonvertiert, im nunmehr Sechsten Religionskrieg (1576/77)
den Kampf der Protestanten als ihr Chef wieder aufnahm. 1577 wurde d’Aubigné
schwer verletzt. Auf dem Krankenbett diktierte er angeblich erste Passagen der Tragiques.
Nach
seiner Genesung überwarf er sich mit Henri, der ihm zu politisch, d.h. nicht
radikal genug dachte, und zog sich auf ein Landgut in Westfrankreich zurück.
Hier heiratete er (1583) und bekam mit seiner Frau rasch zwei Töchter und einen
Sohn. Den Siebten Religionskrieg (1579/80) und den Beginn des langen achten und
letzten (1585) erlebte er im selbstgewählten Abseits.
1587
hielt es ihn dort nicht mehr und er kehrte er zurück in die Dienste Henris.
Dieser war nämlich 1584, nach dem Tod des Bruders des kinderlosen Königs Henri
III, zum Thronanwärter aufgerückt, sah sich aber der mächtigen Allianz der
Katholischen Liga gegenüber, die mit Hilfe Spaniens und Savoyen-Piemonts den
Protestantismus auszurotten und einen eventuellen protestantischen König zu
verhindern trachtete.
D’Aubigné
nahm nun teil an den Kämpfen gegen die Liga, bei denen es anfangs vor allem um
die Rettung des protestantischen Lagers ging, nach 1589, der Ermordung von
Henri III, zunehmend aber um die Durchsetzung der Thronansprüche Henris. In
diesen Jahren war d’Aubigné nicht nur hoher Militär, sondern bekleidete auch
hohe Verwaltungsämter in westfranz. Provinzen, die von den Protestanten
kontrolliert wurden.
1593
versuchte er vergeblich, Henri von einer neuerlichen Konversion abzuhalten,
mittels derer jener die Duldung von Teilen des katholischen Lagers zu erkaufen
gedachte. Enttäuscht über Henris „Verrat“ an der gerechten Sache zog sich
d’Aubigné erneut zurück auf sein Landgut.
Hier
erlebte er den frühen Tod seiner Frau (1595), die ihn mit den drei Kindern
zurückließ.
Vor
allem aber schrieb er nun. So stellte er endlich die Tragiques fertig,
deren „Gesänge“ eins bis drei die Not des Volkes, die Verderbtheit des Hofes
und die Willkür der von den Katholiken beherrschten Gerichtsbarkeit zeigen,
vier und fünf den Leidensweg der Protestanten, insbes. in der
Bartholomäusnacht, sechs die Rache Gottes an den Ungerechten von Kain bis in die
Gegenwart und sieben eine eindringliche Vision des Jüngsten Gerichts. Zum Druck
gab er das in paarweise reimenden Alexandrinern verfasste Versepos vorerst
jedoch nicht.
1597
begann er die romanartige Satire La Confession catholique du Sieur de Sancy,
worin er, der aufrechte Protestant, den Opportunismus geißelt, mit dem viele
protestantische Ehrgeizlinge im Gefolge ihres Königs konvertiert waren, um
besser Karriere zu machen.
Ab
1601 arbeitete er an dem Werk, das ihm sein wichtigstes war: die Histoire universelle
depuis 1550 jusqu’en 1601, eine umfangreiche Geschichte der Religionskriege
samt ihren europäischen Verästelungen aus der Sicht eines direkt Beteiligten.
Ganz
zurückgezogen blieb er allerdings nicht. So scheint er im Jahr 1600 in Paris an
fruchtlosen katholisch-protestantischen Religionsgesprächen teilgenommen zu
haben, und 1607 verhinderte er als Wortführer der Kompromisslosen, der
„fermes“, eine Annäherung der beiden Konfessionen. Denn sie hätte ja bedeutet,
dass die Protestanten ihren Peinigern hätten vergeben müssen, womit diese der
Gottesrache vielleicht entzogen worden wären, die ihnen die Tragiques
angekündigt hatten. Auch mit Pamphleten bekämpfte d’Aubigné die Kompromissler
unter den Protestanten, die „prudents“.
Ebenfalls
1607 stellte er die Confession catholique fertig, wiederum ohne das Werk
zu publizieren (das erst 1660 in Köln erschien).
Nach
der Ermordung von König Henri IV und der Übernahme der Regierungsgeschäfte
durch die Regentin Marie de Médicis (1610) gelang ihm keine dauerhafte Rückkehr
an den Hof. Vielmehr beteiligte er sich an Versuchen des wiederbelebten
protestantischen Lagers, seine Positionen im Land zu sichern. So nahm er 1611
in Saumur an einer Versammlung von Mandatsträgern protestantischer Gemeinden
teil; 1615 kämpfte er als hoher Offizier in einer protestantischen Armee gegen
königliche Truppen.
1616
erschien, in der westfranz. Kleinstadt Maillé und unter einem Pseudonym,
endlich Les Tragiques, das nun jedoch, mehr als dreißig Jahre nach
seiner Konzeption, hier und dort obsolet wirken musste, selbst wenn die
Thematik nach wie vor aktuell war.
Inzwischen
hatte d’Aubigné denn auch ein wiederum satirisches romanartiges Werk begonnen, Les
aventures du baron de Faeneste. Es kontrastiert in einer locker
strukturierten Handlung den Titelhelden, einen lächerlichen, aber
selbstbewussten katholischen Höfling, mit einem gebildeten protestantischen
Landedelmann, hinter dem der Autor selbst erkennbar ist. Teil I und II
erschienen (wiederum in Maillé) 1617, Teil III 1619.
Etwa
gleichzeitig ging in Maillé die Histoire universelle in den Druck: Band
I kam 1618 heraus, Band II 1619.
Als
eine große Enttäuschung erlebte d’Aubigné 1618, dass sein Sohn konvertierte. Er
enterbte ihn im Zorn (und bewirkte so, dass seine Nachkommen im Mannesstamm
verarmten, darunter seine Enkelin Françoise, die allerdings, nach einem
Zwischenspiel als bürgerliche Madame Scarron, Mätresse von Louis XIV und
schließlich als Mme de Maintenon dessen Gattin „linker Hand“ wurde).
1620
beteiligte sich d’Aubigné an einer Verschwörung gegen den Duc de Luynes, einen
Günstling des jungen Louis XIII. Nach deren Scheitern wurde er aus Frankreich
verbannt. Entsprechend wurde die dreibändige Ausgabe der Histoire
universelle, die im selben Jahr herauskam, in Paris vom Henker verbrannt.
D’Aubigné
fand Asyl in Genf, dem geistigen Zentrum des frankophonen Protestantismus, wo
er in Stadtnähe ein verfallenes Schlösschen restaurierte (und 1523 nochmals
heiratete).
Als
1621 die königliche franz. Armee einmal mehr einen Feldzug gegen die Truppen
der Protestanten führte, wurde er als erfahrener Militär beauftragt, die
Verteidigung von Genf gegen einen eventuellen Angriff vorzubereiten.
Seine
letzten Jahre füllte er wieder mit Schreiben. So verfasste er kleinere
staatstheoretische Schriften (Traité sur les guerres civiles und Du
devoir mutuel des rois et des sujets) sowie Pamphlete gegen Luynes. Er
überarbeitete Les Tragiques und publizierte sie, nun unter seinem Namen,
in Genf (1523 oder 25). Er führte den Faeneste fort, dessen vierter Teil
allerdings erst 1630 in seinem Todesjahr in Genf erschien. 1627 begann er einen
vierten Band seiner Histoire, der die Zeit nach 1601 darstellen sollte,
aber unvollendet blieb. Daneben schrieb er die Autobiografie Sa vie à ses
enfants (= Sein Leben, seinen Kindern [gewidmet]; gedruckt erst 1729) und
stellte unter dem Titel L’Hiver (= Winter) einen Band überwiegend
religiöser Gedichte aus seinen mittleren Jahren zusammen (gedruckt in Genf
1630).
Wohl nur bei wenigen franz. Autoren
klaffen die Entstehungszeiten und die Erscheinungsdaten ihrer Werke so oft und
so weit auseinander wie bei d’Aubigné, meist mit dem Effekt, dass er die
ursprünglich angesprochene Leserschaft nicht mehr erreichte und somit sein
Schaffen zu seiner Zeit praktisch unwirksam blieb. Offensichtlich war er auch
bei der Wahl seiner Drucker wenig auf eine effiziente Verbreitung bedacht.
Vielleicht sah er sich insgesamt mehr als literarisch nur dilettierenden
Edelmann denn als Autor. Zu seinem Glück entriss ihn die verdiente Bewunderung
der Romantiker dem Vergessen.
François de Malherbe (*1555 in Caen; †
16.10.1628 in Paris)
Heute allenfalls als Name bekannt, gilt er in der franz.
Literaturgeschichtsschreibung traditionell als eine Art Markstein zwischen
Barock und Klassik.
Malherbe wuchs auf in einer protestantischen Richterfamilie
in Caen, wo er früh in humanistischen Zirkeln verkehrte und Gedichte verfasste.
Auch er selbst studierte Jura, zunächst in Caen, dann in Basel und in
Heidelberg, kalvinistischen Hochburgen der Zeit. Die ab 1562 immer wieder
ausbrechenden Religionskriege scheinen ihn nicht direkt berührt zu haben. 1577,
beim Ende des Sechsten, konvertierte er zum Katholizismus und wurde Sekretär
des königlichen Statthalters (gouverneur)
der Provence, des literaturbeflissenen Bastards von König Henri II, Henri
d'Angoulême, der auch Grand Prieur,
d.h. Oberhaupt des Malteserordens in Frankreich war. 1581 heiratete er in Aix
die Tochter eines der Vorsitzenden Richter am obersten Gerichtshof (Parlement) der Provence.
Seine ersten Werke (kürzere und längere lyrische Texte) sind
geprägt von italienischen Vorbildern und von den Dichtungen der Pléiade-Schule, d.h. der
Lyrikergeneration vor ihm. Als 1586, kurz nach Beginn der letzten Phase der
Religionskriege, sein Protektor Henri d’Angoulême ermordet wurde, kehrte
Malherbe zurück nach Caen und wurde dort städtischer Richter. Ab 1595,
inzwischen war Frankreich fast befriedet, lebte und schrieb er wieder in Aix.
Sein Name wurde allmählich bekannt in der Literaturszene der Zeit. Dennoch
scheiterte er lange Zeit mit seinen Versuchen, erneut einen hochstehenden Mäzen
zu finden oder gar am Hof Fuß zu fassen (z.B. 1600 mittels einer Begrüßungsode
an die zweite Gemahlin von König Henri IV, Marie de Médicis).
1605 endlich wurde er Henri IV vorgestellt, dann allerdings
sogar zum écuyer (Schildknappen) du Roi und zum Königlichen Kammerherrn
(gentilhomme de la Chambre) ernannt
und somit geadelt. In den nächsten 20 Jahren war Malherbe anerkannter
Hofdichter, denn auch nach König Henris Ermordung 1610 blieb er in der Gunst
der Königin und gewann später die des allmächtigen Kardinals de Richelieu.
In seiner Hofdichterrolle verfasste er
zahllose Gelegenheitsgedichte (poésies de
circonstance) zu den unterschiedlichsten Anlässen, z.B. Prière pour le Roi allant en Limousin (1605, sein Einstiegsgedicht in Paris), Sonnets pour Alcandre (Rollenlyrik im
Namen von Henri IV an eine von dessen Geliebten), Ode au Roi Louis XIII allant châtier la rébellion des Rochelois
(1628). Zugleich beherrschte er als Kritiker mit seinem Urteil die Pariser
Literaturszene und umgab sich mit jüngeren Literaten als Schülern. In dem Maße,
wie seine Kreativität abnahm, wurde sein Stil nüchterner, klarer, ausgefeilter,
formvollendeter; und während die meisten seiner dichtenden Zeitgenossen der
typisch barocken Tendenz zum Gekünstelten und damit oft zum Hermetismus, d.h.
dem gewollten Schwierigsein, folgten, war Malherbe der Meinung, dass Dichtung
verständlich sein soll. Ebenso verurteilte er das angeblich der Inspiration
folgende Drauflosschreiben und vertrat vielemehr das Prinzip des geduldigen
Arbeitens und Feilens am Text.
Mit
den strengen formalen und sprachlogischen Maßstäben, die er so setzte, wurde er
einer der einflussreichsten Wegbereiter der franz. Klassik. Bekannt geworden
ist der Halbvers „Enfin Malherbe vint !“, mit dem der spätere Klassiker Nicolas
Boileau (s.u.) ihm Tribut zollte. Für die Romantiker des frühen 19. Jh.
allerdings, die sich von den literarischen Normen der Klassik zu befreien
versuchten, war Malherbe der Prototyp des inspirationslosen Verseschmieds – ein
Klischee, das noch heute oft sein Bild in der Literaturgeschichte bestimmt.
Honoré d'Urfé (*10.2.1567
Marseille; †1.6.1625 Villefranche-sur-Mer nahe Nizza)
Sein Name ist verbunden vor allem mit L'Astrée, einem so umfänglichen wie
erfolg- und einflussreichen Schäfer-Roman.
D'Urfé kam als fünfter von sechs Söhnen
einer altadeligen Familie im Marseiller Haus seines Onkels zur Welt, des Comte
(=Graf) de Savoie-Tende, Gouverneur der Provence. Seine Kindheit verbrachte er
jedoch überwiegend auf Schloss La Bastie im Forez am Oberlauf der Loire, das
sein Großvater, der Erzieher der Söhne von König Henri II gewesen war,
verschönert und mit einer gutbestückten Bibliothek ausgestattet hatte. Er wurde
früh für den Malteserorden bestimmt und besuchte bis 1584 das Jesuiten-Kolleg
in Tournon an der Rhône, wo er eine umfassende humanistische Bildung erwarb.
Mit 17 schrieb er ein erstes Schäfergedicht, La Sireine. Mit Anfang 20 hatte er die Idee zu einem Schäferroman
(roman pastoral) nach italienischen und spanischen Vorbildern, d.h. vor allem
Sannazaros Arcadia, Tassos Aminta, Guarinis Il pastor fido, Montemayors Diana
und Cervantes' Galatea.
Doch wurde zunächst nichts daraus, denn
1590 unterbrach d'Urfé sein Leben als lesender und schreibender (und offenbar
nicht eben mönchisch-keuscher) junger Edelmann und schloss sich der Armee der
Katholischen Liga an, die 1589 den zunächst noch protestantischen neuen König
Henri IV nicht anerkannte und im Bündnis mit dem König von Spanien und dem
Herzog von Savoyen-Piemont gegen ihn einen Bürgerkrieg führte. Zweimal geriet
er hierbei in Gefangenschaft, kam aber durch die Intervention von Verwandten
jeweils wieder frei. 1595, nach der Niederlage der Liga und seiner zweiten
Freilassung, ging er ins Exil nach Virieu in Savoyen, mit dessen Herzog er über
seine Mutter verwandt war.
In Virieu und am savoyischen Hof in
Turin schriftstellerte er wieder: Er verfasste die Versepisteln Épîtres morales (begonnen schon während
der zweiten Gefangenschaft, gedruckt in zwei Bänden 1598 und 1603) und begann
seinen seit langem projektierten Schäferroman, L'Astrée.
1600 heiratete er seine Jugendliebe,
die Frau eines älteren Bruders, nachdem ihre Ehe vom Papst für nichtig erklärt
und er selbst von seinem Ordensgelübde entbunden worden war. Allerdings
trennten sich die neuen Gatten ziemlich bald, wenn auch gütlich. L'Astrée,
die von der Liebe des Schäfers Céladon zu der Schäferin Astrée erzählt,
verarbeitet in vielerlei Hinsicht d'Urfés zunächst unerlaubte, schwierige Liebe
zu seiner Schwägerin.
1603 machte er, so wie viele andere
zuvor oppositionelle Adelige, seinen Frieden mit Henri IV und weilte hiernach
häufig in Paris. Dort versah er am Hof das Amt eines gentilhomme ordinaire (eine Art Edeldomestik des Königs), verkehrte
vor allem aber aber mit Literaten, u.a. Malherbe (s.o.), und frequentierte die
tonangebenden Salons, z.B. den der Marquise de Rambouillet. Allerdings hielt er
sich auch oft in Turin oder seinen Besitzungen auf.
Zugleich führte er L’Astrée fort: 1607 wurde der erste Band
gedruckt, 1610 und 1619 erschienen Bd. II und III. 1624 folgte Teil I von Bd.
IV, 1627 (schon postum) der Rest des Bandes, dem d'Urfés langjähriger Sekretär
Baro 1627 einen fünften Band hinzufügte, der wohl grosso modo der originalen
Konzeption d’Urfés entsprach.
Dieser nämlich hatte inzwischen trotz
seines vorgerückten Alters im Dienst des Herzogs von Savoyen an dessen Krieg um
das Veltlin teilgenommen und war bei einem Sturz mit seinem Pferd ums Leben
gekommen.
Wie der Name der Titelfigur des Romans,
Astrée, andeutet, spielt die Handlung
nicht, wie in den o.g. ital. und span. Vorbildern, in einem räumlich und
zeitlich fernen, legendären Arkadien, sondern in Frankreich, genauer in d'Urfés
Heimatgegend, dem Forez. Immerhin wird sie zurückverlegt in das 5. Jh. n. Chr.,
d.h. die Zeit der Völkerwanderung, von deren Wirren, das Forez aber ausgenommen
scheint, ebenso wie es noch frei ist von der Herrschaft einer zentralistischen
und tendenziell absolutistischen Monarchie, wie sie dem Aristokraten d’Urfé
insgeheim zuwider war. Die mehr als 5000 (!) Seiten des Werkes umfassen
eine Haupthandlung, in die nach dem Schubladenprinzip mehrere Nebenhandlungen,
zahlreiche Binnenerzählungen sowie lange Diskussionen der Figuren über alle
Aspekte der Liebe eingebettet sind. Haupthandlung ist die Geschichte der Liebe
des anfangs 14-jährigen Céladon zu der 12-jährigen Astrée, die ihn wegen seiner
vermeintlichen Untreue verstößt und erst nach langen, langen Prüfungen wieder
aufnimmt. (In Bd. III z.B. lebt Céladon als angebliche Druidentochter unerkannt
mit Astrée in engster Freundschaft zusammen, was ihn öfters in Bedrängnis
bringt.)
Die Astrée
ist von der Technik her eine Summe der Romankunst der Zeit. Vor allem aber
hatte sie wegen der psychologischen Einfühlsamkeit der Personen-Darstellung,
der salongemäß kultivierten Reden dieser Personen und des schönen Dekors, in
dem die Handlung spielt, einen enormen und langandauernden Erfolg in adeligen,
aber auch in bürgerlichen Kreisen. Sie diente als Vorlage für andere
Schäferromane, Schäfergedichte, Schäferspiele, Schäferopern und -ballette,
sowie für viele Gemälde, Stiche, Wandteppiche usw. Der männliche Protagonist
Céladon wurde zum Prototyp des schmachtenden, schüchternen Liebhabers; sein
Name ist ins franz. Lexikon eingegangen in der Wendung „être un Céladon“.
Die Astrée wurde früh auch ins
Deutsche übersetzt.
Alexandre Hardy (* um 1570 in Paris; † 1632)
Zwar ist er auch in Frankreich kaum mehr bekannt,
doch war er einer der fruchtbarsten Dramatiker der franz. Literaturgeschichte
überhaupt mit seinen offenbar mehr als 600 Stücken. Sein Einfluss auf die
Dramatiker neben und unmittelbar nach ihm sowie auf den Publikumsgeschmack der
Zeit war groß.
Die meisten seiner Tragödien, Tragikomödien und
Pastoralen schrieb er ab 1593 für die Truppe um den Schauspieler Valleran
Lecomte, die im Saal des Pariser Hôtel de Bourgogne auftrat, aber auch in der
Provinz umherzog. Sein Publikum waren demnach nicht nur die gebildeten Kreise
in Adel und Bürgertum, sondern auch ungebildete Zuschauer z. B. auf
Jahrmärkten.
Da Hardy lange ausschließlich für eine bestimmte
Truppe arbeitete, ließ er seine Stücke während dieser Zeit ungedruckt. Nach dem
Druck nämlich wären sie frei gewesen und hätten auch von
konkurrierendenTruppen aufgeführt
werden dürfen.
Seine Stoffe bezog Hardy relativ wahllos aus der
klassisch-antiken und spätantiken, aber auch der jüngeren franz., italienischen
und spanischen Literatur. Hierbei arbeitete er häufig ältere und neuere Stücke
anderer Autoren nach seinen Vorstellungen und denen seiner Schauspieler einfach
nur um. Er dramatisierte aber auch erzählende Werke und überführte z. B. den
berühmten Liebes- und Abenteuer-Roman Theagenes und Chariklea von Heliodor
(3./4. Jh.), der in Frankreich seit 1548 in der Übersetzung Jacques Amyots
(s.o.) verbreitet war, in eine Serie von acht Folgen. Naturgemäß wirken
Komposition und Stil seiner meist sehr rasch verfassten Stücke oft flüchtig,
doch war er ein routinierter Praktiker, der sein Publikum durch aktionsreiche
Handlungen, spannende, mitunter brutale Szenen und lebendig wirkende Figuren zu
fesseln verstand.
Als Hardy nach Lecomtes Tod nicht mehr für nur eine
Truppe arbeitete (auch wenn er überwiegend das Pariser Théâtre du Marais
belieferte), ließ er eine Auswahl von 34 Stücken drucken (Paris., 6 Bde.,
1624-28; Neudruck in 5 Bdn. Marburg 1883-84). Nur sie sind erhalten geblieben.
Die Autoren der Generation nach ihm, z. B. Jean
Chapelain (s.u.) oder Jean Mairet (s.u.), die um 1635 die Regeln und
Vorstellungen des klassischen französischen Theaters entwickelten, taten dies
nicht zuletzt in direkter Reaktion auf Hardy, dem sie Regellosigkeit, Mangel an
Geschmack und Rohheit vorwarfen. Schon vorher hatte es seinem Image geschadet,
dass der Pariser Literatur-Guru François de Malherbe (s.o.) seinen Stil für
unlesbar erklärte.
Claude Favre de Vaugelas (*6.1.1585 in
Meximieux/Bresse ; † 26.2.1650 in Paris)
Sein Name ist jedem Historiker der
franz. Sprache bekannt.
Vaugelas (wie er i.d.R. schlicht
genannt wird) war Sohn eines klein- bzw. neuadeligen Richters in der bis 1601
zu Savoyen gehörenden Provinz Bresse nahe dem schweizerischen Genf. 1624 erbte
er den Titel eines „baron de Pérouges“.
Er erhielt eine solide klassische
Bildung, überwiegend durch seinen Vater, und trat jung in die Dienste des Duc
de Nemours, eines Cousins des Herzogs von Savoyen. In seinem Gefolge reiste er
viel und erwarb gute Kenntnisse des Italienischen und Spanischen. Er ließ sich
schließlich in Paris nieder, wo er sich mit wechselnden Aktivitäten über Wasser
hielt, z.B. indem er einen franz. Hochadeligen als Dolmetscher nach Spanien
begleitete oder sich als Hauslehrer in einer anderen hochadeligen Familie
verdingte. Auch ließ er sich die niederen Weihen erteilen, um vielleicht
einträgliche Kirchenpfründen bekommen und möglichst kumulieren zu können.
Immerhin gelang es ihm, Zugang zu einigen mondänen Salons der Hauptstadt zu
erhalten, wo man ihn geschätzt zu haben scheint, und Kontakte mit anerkannten
Autoren zu pflegen, u.a. Malherbe (s.o).
Er selbst war als Literat nur ein mäßig
erfolgreicher Übersetzer aus dem Lateinischen und Spanischen. Doch erarbeitete
er sich hierbei einen Ruf als Grammatiker und Sprachgelehrter. 1634 gehörte er,
als Mitglied des Kreises um Valentin Conrart (s.u.), zu den
Gründungsmitgliedern der Académie Française (s.u.). Er war danach von Anbeginn
an aktiv an dem wichtigsten Projekt der Académie beteiligt, dem Wörterbuch der
franz. Sprache, dessen Konzept er entwarf, wobei er selber für die Buchstaben A
bis I zuständig war.
Unzufrieden über die Langsamkeit, mit
der dieses und die anderen Académie-Projekte vorankamen, insbes. die Grammatik
(die erst 1932 erschien und sofort als veraltet galt), brachte er seine eigenen
Überlegungen zu Papier als Remarques sur
la langue française, utiles à ceux
qui veulent bien parler et écrire, die er 1647 publizierte. Das Buch, ein
Ratgeber für das „richtige“ Sprechen und Schreiben, wurde rasch mehrfach
aufgelegt und zur allseits bekannten Autorität (die Molière in seinen Femmes
savantes ironisiert). Mit den Remarques wurde Vaugelas zum Ahnherrn
der in Frankreich (anders als im deutschen Sprachraum) sehr zahlreichen, noch
heute höchst aktiven Wächter und Hüter der franz. Sprache.
Als Norm für den „guten Gebrauch“ (le bon usage) des Franz. setzte er den
mündlichen Sprachgebrauch des überwiegend in Paris lebenden Hochadels und den
schriftlichen Sprachgebrauch der bons
auteurs, d.h. der anerkannten, in Paris arbeitenden und in Pariser Salons
verkehrenden Autoren. Er bestärkte damit den wachsenden, auf Paris
ausgerichteten politischen Zentralismus auch auf sprachlichem Gebiet und
initiierte eine Entwicklung, die bis heute alle Personen benachteiligt, die
nicht das pariserisch geprägte français
standard beherrschen.
La marquise de
Rambouillet (* 1588 in Rom; † 2.12.1665 in Paris)
Sie
war zwar keine Autorin, ist aber als Schirmherrin eines der wichtigsten
„Salons“ in die Geistes- und insbes.
die Literaturgeschichte eingegangen.
Geboren
als Tochter des französischen Marquis Jean de Vivonne und der aus altem
römischen Adel stammenden Giulia Savelli, war sie sehr jung mit dem reichen
Marquis de Rambouillet verheiratet worden. Sie war hochgebildet und beherrschte
mehere Sprachen. Da sie gesundheitlich anfällig war und die regelmäßige
Anwesenheit am Pariser Königshof scheute, schuf sie sich ab ca. 1620 eine Art
kleinen eigenen Hof in ihrem nahe dem Louvre gelegenen Stadtpalast, dem Hôtel
de Rambouillet, das mehr oder weniger nach ihren Plänen erbaut worden war. Hier
führte sie bis gegen 1660 ein offenes Haus, in dem sich geistig interessierte
Hochadelige, darunter Le Grand Condé oder Richelieu, mit kleinadeligen sowie
auch bürgerlichen Intellektuellen trafen. Zugleich, um keine reine Männergesellschaft
entstehen zu lassen, sorgte sie für die Anwesenheit adeliger Damen sowie auch
adeliger junger Mädchen, darunter, neben ihrer Tochter Julie, Marie de
Rabutin-Chantal, die spätere Mme de Sévigné (s.u.) oder Marie-Madeleine Pioche
de la Vergne, die spätere Mme de La Fayette (s.u.).
Der
sich durchaus als elitär und exklusiv empfindende Kreis um die Marquise sowie
den einfallsreichen Animateur Vincent Voiture (s.u.) übte sich vor allem in der
Kunst der geistreichen Konversation sowie der galanten Gelegenheitsdichtung.
Hierbei entwickelte man das im Prinzip egalitäre, d. h. nicht ständisch
gebundene Ideal des honnête homme (ein Begriff, der vielleicht in Analogie zu
„gentilhomme - Edelmann“ kreiert wurde und mit „Ehrenmann“ sehr unzutreffend
übersetzt ist).
Die
bewusst kunst- und anspruchsvollen Ausdrucksweisen des Kreises fanden starken
Widerhall in der Literatur der Epoche, wirkten aber auch in die Pariser
Gesellschaft hinein, wo sie bald teils nachgeahmt, teils aber auch als
„preziös“ (eigentlich „kostbar“) belächelt wurden.
Nach
dem Tod Voitures (1648) und mit Beginn der Wirren der Fronde (1648-52) war die
Glanzzeit des Hôtel de Rambouillet vorbei. Als 1661 Molière (s.u.) mit Les
Précieuses ridicules die Preziosität in Gestalt zweier überkandidelter Bügerstöchter
karikierte, war sie schon eine Art abgesunkenes Kulturgut geworden.
Théophile de Viau (*1590 in Clairac ;
† 25.9.1626 in Chantilly)
Er war zu seinen Lebzeiten ein sehr
erfolgreicher Autor, der zur Zeit der Klassik aber in Vergessenheit geriet und
erst von den Romantikern als einer der besten Lyriker des 17. Jh.
wiederentdeckt wurde.
Viau (in Literaturgeschichten häufig
liebevoll schlicht „Théophile“ genannnt) war jüngerer Sohn aus einer
protestantischen adeligen Familie und besuchte kalvinistische Schulen in
Montauban und in Leiden/Holland.
Nachdem er 1615, in einer der immer
wieder noch aufflammenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen
Protestanten und Katholiken, zunächst auf protestantischer Seite gegen die
Armee des jungen Königs Louis XIII gekämpft hatte, machte er seinen Frieden mit
diesem, um in Paris Zugang zum Hof und zur guten Gesellschaft zu erhalten und
leichter Mäzene zu finden. 1619 bekam er jedoch Schwierigkeiten mit der Justiz,
weil Jesuiten ihn als unchristlichen libertin
(Freidenker), aber auch als sittenlosen, womöglich homosexuellen Lebemann
denunzierten. Er zog es deshalb vor, vorübergehend aus Paris zu verschwinden.
1620 kämpfte er in der königlichen Armee gegen Truppen der Protestanten. 1622
konvertierte er offiziell zum Katholizismus, so wie viele französische
Protestanten, die es leid waren, Bürger zweiter Klasse zu sein. De facto war
und blieb Viau jedoch libertin und
Epikuräer (Anhänger des die Lust und den Genuss bejahenden griechischen
Philosophen Epikur), wobei vielleicht seine mutmaßliche Homosexualität eine
Rolle spielte, die ihn letztlich sowohl bei Katholiken wie bei Protestanten
Außenseiter sein ließ und ihm die Prekarität und Flüchtigkeit der menschlichen
Existenz besonders bewusst machte.
Als Lyriker, der er hauptsächlich war,
orientierte sich Viau formal an Malherbe (s.o.), akzeptierte aber nicht dessen
Nüchternheit und quasi kunsthandwerkliche Feilerei, sondern ließ der Phantasie
und der Spontaneität der Gefühle und Gedanken freieren Lauf. Ein Sammelband seiner
thematisch vielfältigen und oft sehr persönlich wirkenden Dichtungen erschien
erstmals 1621 als Œuvres poétiques,
traf ganz offenbar den Zeitgeschmack und erlebte mehrere jeweils erweiterte
Auflagen, deren letzte postum noch rd. 90 (!) Male nachgedruckt wurde.
Auch als Dramatiker war Viau
erfolgreich mit Les amours de Pyrame et
de Thisbé (1621), einem Stück, das die unglückliche Liebe der
Nachbarskinder Pyramus und Thisbe darstellt, die von beiden Familien und dazu
dem König als Nebenbuhler behindert wird und im irrtümlichen doppelten
Selbstmord endet. Das Stück wurde zwischen 1623 und 1698 73 Male nachgedruckt
und diente vielen späteren Autoren als Vorbild.
1623 floh Viau einmal mehr aus Paris,
als ihm ein anonymes erotisches Gedicht mit homosexueller Pointe zugeschrieben
wurde. In Abwesenheit zum Scheiterhaufen verurteilt, wurde er bald danach
verhaftet und 1625, nach einem nochmaligen, zweijährigen, demütigenden Prozess,
zu einer Verbannung aus Paris „begnadigt“. Offensichtlich wollte man ein Exempel
an ihm statuieren, um die anderen libertins
zu disziplinieren, mochte dann aber nicht bis zum Äußersten gehen, weil der
Prozess ein großes öffentliches Für und Wider erregte und hochstehende Personen
sich für ihn einsetzten. Viau wurde hiernach von Freunden in der Provinz
aufgenommen, starb jedoch mit 36 an den gesundheitlichen Folgen der Haft, kurz
nachdem ihm die Rückkehr nach Paris erlaubt worden war.
Jean Chapelain (* 4.12.1595 in
Paris; † 22.2.1674 ebd.)
Er stammte aus einer kleinbürgerlichen
Juristenfamilie, konnte aber gute Kenntnisse der klassischen Sprachen und des
Italienischen und Spanischen erwerben. Seinen Unterhalt verdiente er zunächst
als Hauslehrer. Dieser als Autor eher nur mittelmäßige Literat ist gleichwohl
sehr bedeutsam geworden durch seine Lettre
sur la règle des vingt-quatre heures (1630). Es ist ein poetologischer
Traktat über die aristotelische Lehre von den drei Einheiten des Dramas, wonach
die Handlung eines Stücks zielstrebig und einlinig sein soll (Einheit der
Handlung), möglichst nur an einem Ort spielen darf (Einheit des Ortes) und
innerhalb von 24 Stunden abgeschlossen sein muss (Einheit der Zeit). Chapelain
orientierte sich hierbei an italienischen Dramatikern und Theoretikern, vor
allem Giulio Cesare Scaligero. Er reagierte damit gegen das seines Erachtens
regellose Theater des fruchtbarsten Dramatikers der ersten Jahrzehnte des 17.
Jh., Alexandre Hardy (ca. 1570–1632, angeblich über 600 Stücke!, s.o.).
Nach dem Erfolg seines Traktats und
dank dem Umstand, dass er 1634 zu den Gründungsmitgliedern der Académie
Française (s.u.) gehörte, war Chapelain fast 40 Jahre lang einer der
Platzhirsche des Pariser Literaturbetriebs. Mehr nebenher betätigte er sich als
Gelegenheitsdichter im Dienste hochstehender Personen, als Chefkritiker der
Académie (die laut
Gründungsauftrag über den guten Geschmack in Sprache und Literatur wachen
sollte) sowie als Epiker. Denn die Gattung Versepos florierte, was heute kaum
mehr bekannt ist, sehr im 17. Jh.. Das epische Hauptwerk von Chapelain, La Pucelle d'Orléans (1656), war
allerdings nur deshalb kurz erfolgreich, weil er die potenziellen Leser lange
Zeit hindurch neugierig zu machen und hinzuhalten verstanden hatte.
Ab 1661 führte Chapelain im Auftrag des
neuen allmächtigen Ministers Colbert eine königliche Pensions-Liste, auf die
solche Autoren gesetzt wurden, die dem Minister und seinem jungen König Louis
XIV genehm waren und damit als einer jährlichen Gratifikation würdig
erschienen.
Vincent Voiture (* 1597 in Amiens; † 26.5.1648 in Paris)
Voiture
verkörperte perfekt den im deutschen Sprachraum der Zeit kaum bekannten Typ des
Fürstendieners, Lebemannes, Gesellschaftsmenschen und Literaten in einer
Person. Er war zugleich Produkt und Akteur der Pariser Salonkultur vor und um
1650, die ihn formte und die er maßgeblich mitgeformt hat. Viele Autoren neben
und nach ihm hat er beeinflusst.
Er
wuchs auf als Sohn eines vermögenden Weinhändlers, der sein Geschäft von Amiens
nach Paris verlegt hatte und hier den Hof belieferte. Er genoss eine gute
Bildung und kam über einen adeligen Schulfreund früh mit hochgestellten
Personen in Berührung, insbes. dem jüngeren Bruder von König Louis XIII, Gaston
d'Orléans, bei dem er sich als Sechzehnjähriger mit einem geistreichen Gedicht
einführte. Früh auch pflegte er einen quasi adeligen Lebensstil mit Mätresse,
Spiel und Duellen.
Um
seinem gesellschaftlichen Ehrgeiz eine solidere Basis zu geben, kaufte er 1626
das Amt eines Königlichen Rates (conseiller du Roi), das seinen Inhaber nach
Ablauf einer bestimmten Frist in den Adelstand erhob. Im selben Jahr erhielt er
Zugang zum „preziösen“ schöngeistigen Salon der Marquise de Rambouillet, dessen
hohe Zeit die gut zwanzig Jahre wurden, während derer er dort mit seiner
Konversation, seinen unterhaltsamen Einfällen sowie seinen Versen und Briefen
tonangebend war.
Ebenfalls
1626 wurde er von Gaston d’Orléans als „gentilhomme ordinaire“ in sein Personal
aufgenommen und bald mit der protokollarischen Aufgabe betraut, ihm die
Botschafter ausländischer Fürsten zu präsentieren. Denn Gaston war aufgrund der
langen, bis 1638 währenden Kinderlosigkeit von Louis XIII viele Jahre hindurch
potenzieller Thronfolger und wurde als solcher nicht nur häufig in
Adelskomplotte gegen den allmächtigen Minister Kardinal de Richelieu
hineingezogen, sondern auch von auswärtigen Fürsten umworben, die mit oder
gegen Frankreich am Dreißigjährigen Krieg (1618-48) beteiligt waren.
Als
1628 Gaston ein erstes Mal vom König mit Verbannung bestraft wurde, folgte Voiture
ihm ins Exil nach Lothringen, das noch zum Deutschen Reich gehörte; 1631 folgte
er ihm ins damals spanische (d.h. feindliche) Brüssel. 1633 reiste er für ihn,
denn offenbar besaß er Spanischkenntnisse, in diplomatischer Mission nach
Madrid, wobei er einen Abstecher ins nordafrikanische Ceuta machte und über
Lissabon und England zurückkehrte. Die Briefe und Versepisteln, die er jeweils
aus der Ferne an Freunde vom Hôtel de Rambouillet schickte, waren dort stets
ein Ereignis und wahrten ihm in Abwesenheit seinen Platz als zentrale Figur.
Über
das Hôtel de Rambouillet und die dort verkehrenden Autoren hatte Voiture
naturgemäß Anschluss an Pariser Literatenzirkel gefunden. Insbes. gehörte er zu
dem um Valentin Conrart (s.u.) vereinten Kreis und zählte so, als dieser 1634
von Richelieu zum Gründungskern der Académie Française erhoben wurde, zu deren
ersten Mitgliedern.
Spätestens
hierdurch trat er, trotz seiner Nähe zu Gaston d’Orléans, in ein näheres
Verhältnis auch zu Richelieu, dem er sich 1636 durch ein Gedicht über die
Rückeroberung der pikardischen Stadt Corbie empfahl, die zuvor von spanischen
Truppen eingenommen worden war.
1638
reiste Voiture, der auch über Italienischkenntnisse verfügte, in diplomatischer
Mission, nunmehr des Königs, zum Großherzog von Toscana. Bei einem Abstecher
nach Rom kümmerte er sich dort um einen Prozess der aus Italien stammenden
Marquise de Rambouillet, traf Literaten und wurde in eine „Akademie der
Humoristen“ aufgenommen.
Zurück
in Paris erreichte er den Höhepunkt seiner Höflingskarriere, als er 1639 von
Louis XIII zum Königlichen Hofmeister (maître d’hôtel du Roi) ernannt wurde,
eine Beinahe-Sinekure mit erfreulichem Gehalt, das vermehrt wurde durch eine
jährliche Zahlung (pension) von 1000 Talern (écus), die ihm die Königin aus
ihrer Schatulle gewährte. Als ihn 1642 sein alter Schulfreund, der in der
Steuererhebung tätig war, zu einer Art Bürochef mit 4000 Talern Einkommen
machte, war er mehr als nur wohlhabend.
Nach
dem Tod von Richelieu (1642) und Louis XIII (1643) schaffte es Voiture, die
Gunst auch des neuen mächtigen Mannes, des Kardinals Mazarin, zu erlangen.
Nach
wie vor verkehrte er im Hôtel de Rambouillet. So war er dort 1645 Protagonist
eines literarischen Duells in Sonetten, zu dem ihn ein gewisser Claude de Malleville
herausforderte und das lange Diskussionen auslöste. Und noch nach seinem Tod,
sorgte er für Gesprächsstoff, als 1650 der vor allem als Dramatiker aktive
Isaac de Benserade ein Sonett von ihm mit einem themengleichen Gedicht zu
übertreffen versuchte.
Da
er als Autor letztlich nur dilettierte, beschränkte Voiture sich hierbei auf
kürzere Versgattungen, d.h. Sonette, Balladen, Rondeaus, Episteln u.ä., sowie
Briefe. Das Markenzeichen dieser Texte sind Gefälligkeit, Esprit und
Leichtigkeit bei formaler Perfektion. So sind seine Verse in Metrik und Sprache
sowie in ihrer Metaphorik und Gedanklichkeit durchaus kunstvoll, wirken aber
selten angestrengt oder gar gekünstelt. Gemäß dem in der Salonliteratur
geltenden Ideal eines „mittleren“ Stils, vermeiden sie Pathos und Emphase
ebenso wie Gelehrsamkeit, Derbheit oder Schlüpfrigkeit. Ihr Gegenstand ist zum
einen meist das Thema Frauenschönheit und Liebe, das, sichtlich in Anlehnung an
Clément Marot (s.o.), spielerisch-galant behandelt wird, sowie zum anderen Fürstenlob
in verschiedenster Form, das aber unaufdringlich-launig zu sein versucht. Die
Briefe sind, ohne ihren Charakter als ausgefeilte Kunstwerke zu leugnen, nicht
für ein anonymes Publikum oder gar die Nachwelt verfasst, sondern stets an
konkrete Empfänger gerichtet. Mit ihrer Orientierung an der kultivierten
gesprochenen Sprache der Salons, ihrem Humor und ihren diskreten privaten
Anspielungen sollten sie spontan und vor allem persönlich wirken, obwohl sie
sichtlich dazu bestimmt waren, auch von Dritten, vor allem gemeinsamen
Bekannten, gelesen und goutiert zu werden.
Da
ihm der Beifall seines engeren Hörer- und Leserkreises genügte, bemühte Voiture
sich nicht um die Verbreitung seiner Texte per Druck. So wurde er einem
größeren Publikum erst postum bekannt dank einer einbändigen Sammelausgabe
seiner Gedichte und Briefe, die kurz nach seinem Tod ein Neffe besorgte. Sie
wurde bis 1745 häufig neu aufgelegt und hat viele spätere Autoren beeinflusst,
z.B. Jean de La Fontaine, Nicolas Boileau oder Mme de Sévigné.
Charles Sorel (*1599 in Paris; † 7.3.1674 ebd.)
Er ist im deutschen Sprachraum kaum
bekannt geworden, gilt in der franz. Literaturgeschichte aber durchaus als
bedeutsamer Autor.
Sorel stammte aus einer Pariser
Juristenfamilie und erhielt eine passable Bildung. 1623 betrat er als ganz
junger Mann höchst erfolgreich die literarische Bühne mit La vraie histoire comique de Francion, dem ersten französischen
Picaro-Roman nach spanischen Vorbildern (wie z.B. dem Lazarillo de Tormes von 1554). Es ist die Geschichte eines jungen
Provinzadeligen, der zunächst ein Liebesabenteuer mit einer verheirateten Frau
hat, dann aber eine ideale Geliebte wiederzufinden versucht, die nach Italien
entschwunden ist und die er schließlich auch bekommt. Eingefügt in diese Haupthandlung,
die zunächst bei und in Paris, dann in und bei Rom spielt, sind längere
Einschübe, in denen verschiedene der Figuren, darunter der Titelheld Francion
selbst, als Ich-Erzähler rückblickend aus ihrem mehr oder weniger bewegten
Leben berichten. Hierbei gibt Sorel in einer für die Zeit sehr realistischen
Weise Einblick in die Lebensverhältnisse fast aller Schichten der damaligen
franz. Gesellschaft, die im Rahmen spannender Handlungssequenzen nicht ohne
Witz und Satire dargestellt werden. Der Francion
wurde das ganze 17. Jh. hindurch ständig nachgedruckt und vielfach imitiert.
1627/28 publizierte Sorel einen
weiteren, aber deutlich weniger erfolgreichen Roman, Le Berger extravagant. Es ist die quasi mit pädagogischen
Intentionen erzählte Geschichte eines jungen Pariser Bourgeois, der nach allzu
ausgiebiger Lektüre von Schäferromanen als Hirte mit dem romanesken Namen Lysis
zu leben versucht, dank dem Spott seiner Freunde schließlich aber von seiner
Torheit geheilt wird. In diesem teilweise reichlich lehrhaften
"Anti-Roman" (so der Titel der überarbeiteten Version von 1633/34)
persiflierte Sorel die von Honoré d'Urfé (s.o.) mit seinem Schäferroman L'Astrée ausgelöste Mode der
Schäfergedichte, Schäferstücke, Schäferromane und schäferlichen
Gesellschaftsspiele aller Art.
1635 kaufte Sorel von einem Onkel das
Amt eines Historiographe [Chronisten] de
France, das zwar nur mäßig dotiert war, aber eine Beinahe-Sinekure
darstellte, die es einem Literaten erlaubte, einigermaßen unabhängig von
Mäzenen und von der Gunst des Publikums zu schriftstellern. Dies tat er denn
auch mit Fleiß noch viele Jahre, wobei er neben zwei weiteren Romanen
vorwiegend ernsthaftere „livres d'histoire, de morale et politique“ verfasste
(z.B. eine Histoire de Louis XIII,
1646). Er konnte jedoch nicht mehr anknüpfen an den großen Erfolg des Francion und den immerhin passablen des Berger, die die Entwicklung der franz.
Literatur beeinflusst haben und ihrem Autor bis heute eine gewisse Bekanntheit
sichern.
Von Interesse ist Sorel übrigens auch
als Chronist der Literatur seiner Zeit mit den Büchern La Bibliothèque française (1664) und De la connaissance des bons livres (1671), wobei er der erste in
Frankreich war, der sich an solchen Überblicken versuchte.
René Descartes (* 31.3.1596 in
La Haye/Touraine; † 11.2.1650 in Stockholm)
Er gilt den Franzosen als einer ihrer
wichtigsten Denker und hat, so das verbreitete Klischee, den franz.
Nationalcharakter im Sinne von Logik, Ordnung und Rationalität geprägt: des
nach ihm benannten esprit cartésien.
Er wurde geboren als viertes Kind einer
kleinadeligen Familie der Touraine; sein Vater war Gerichtsrat (conseiller) am Parlement von Rennes, dem
Obersten Gerichtshof der Bretagne. Da seine Mutter gut ein Jahr nach seiner
Geburt starb und der Vater sich rasch wieder verheiratete, verlebte Descartes
seine Kindheit bei einer Amme und einer Großmutter. Mit 8 kam er als
Internatsschüler auf das Jesuitenkolleg von La Flèche, das er 1614 mit einer
soliden klassischen, aber auch mathematischen Bildung verließ sowie mit
überwiegend positiven Erinnerungen an seine Lehrer und Mitschüler, von denen
einer, der spätere Pariser Privatgelehrte und Naturforscher Marin Mersenne
(1588-1648) eine enge Bezugsperson für ihn blieb.
Bis 1616 studierte Descartes Jura in
Poitiers und legte ein juristisches Examen ab, so als wolle er in die
Fußstapfen seines Vaters treten. Anschließend absolvierte er jedoch an einer
Pariser „Académie“ für junge Adelige einen Lehrgang in Fechten, Reiten, Tanzen
und gutem Benehmen und verdingte sich (ebenfalls noch 1616) bei dem berühmten
Feldherrn Moritz von Nassau im holländischen Breda, so als wolle er die andere
Option eines jungen Adeligen ausüben, nämlich eine Offizierskarriere. In Breda
lernte er den 6 Jahre älteren Arzt und Naturforscher Isaac Beeckmann kennen,
der ihn für die Physik begeisterte und dem er, dankbar für diese Initiation,
sein erstes naturwissenschaftliches Werk widmete, das mathematisch-physikalisch
orientierte Musicae compendium (1618).
1619, nach Reisen durch Dänemark und
Deutschland, verdingte sich Descartes nochmals als Soldat, nunmehr bei Herzog
Maximilian von Bayern, unter dem er auf kaiserlich-katholischer Seite an der
Eroberung Prags teilnahm, d.h. den ersten Kämpfen des Dreißigjährigen Krieges
(1618-48).
Im November 1619, kurz nachdem er in
Prag die Arbeitsstätte der Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) und Johannes
Kepler (1571-1630) besichtigt hatte, bekam er in einer Art Vision die Idee,
dass es „eine universale Methode zur Erforschung der Wahrheit“ geben müsse und
dass er berufen sei, sie zu finden, wobei er keine Erkenntnis akzeptieren dürfe
außer der, die er in sich selbst oder dem „großen Buch der Welt“ endeckt und
auf ihre Plausibilität und Logik hin überprüft habe.
1620 hängte er also den Soldatenrock an
den Nagel, machte die Pilgerfahrt, die er der Jungfrau Maria zum Dank für die
Vision gelobt hatte, und ging einige Jahre lang auf jeweils vielmonatige Reisen
durch Deutschland, Holland, die Schweiz und Italien. Sein Anliegen war,
Einblicke jeglicher Art zu gewinnen und sich im Gespräch mit den
verschiedensten Leuten, vor allem Gelehrten, zu bilden.
1625, nachdem er sein Erbe liquidiert
und so angelegt hatte, dass es ihm ein bescheiden auskömmliches Leben erlaubte,
ließ er sich nieder in Paris. Hier verkehrte er mit Intellektuellen und in der
guten Gesellschaft (bestand auch siegreich ein Duell), las, schrieb (z.B. den
kleinen Traktat Regulae ad directionem
ingenii =Regeln zur Leitung des Intellekts, 1628) und machte sich einen
Namen als scharfsinniger Kopf. Insbesondere beeindruckte er auf einer
Abendgesellschaft den Kardinal Pierre de Bérulle so sehr, dass dieser ihn zu
einer Privataudienz einlud und ihn danach aufforderte, seine Theorien
ausführlicher darzustellen und damit die Philosophie zu reformieren.
Descartes zog deshalb 1629 aus Paris
nach Holland, wohin ihn vielleicht die noch bestehende (aber bald in die Brüche
gehende) Freundschaft mit Beeckmann zog sowie zweifellos das anregende und
tolerantere geistige Klima, das in diesem multireligiösen und wirtschaftlich potenten
Land mit großer Schul- und Hochschuldichte sowie vielen Buchdruckern herrschte.
Hier verbrachte er, zwar im Austausch mit Intellektuellen unterschiedlichster
Herkunft und Ausrichtung, aber dennoch relativ zurückgezogen, die nächsten 18
Jahre, wobei er seltsam unstet die Städte und Wohnungen wechselte (mit einer
Dienstmagd aber auch ein Kind, ein Mädchen, zeugte, deren Tod ihn erschütterte,
als sie fünfjährig starb). Vor allem jedoch schrieb er fleißig, darunter
zahlreiche Briefe, die er über seinen Pariser Freund Mersenne, der allein seine
jeweilige Adresse wusste, mit Gelehrten aus ganz Europa sowie auch einigen
geistig interessierten hochstehenden Damen wechselte.
Die ersten Monate in Holland arbeitete
Descartes an einem Traktat zur Metaphysik, in welchem er einen klaren und
definitiven Gottesbeweis zu führen hoffte. Er legte ihn jedoch beiseite, um an
einem großangelegten naturwissenschaftlichen Werk zu arbeiten, das er in der
sich langsam profilierenden Wissenschaftssprache Französisch verfasste und nicht
mehr, wie seine bisherigen Texte, in dem bis dahin dominierenden Latein. Diesen
Traité du Monde (=Abhandlung über die
Welt), wie er heißen sollte, ließ er jedoch unvollendet, als er vom Schicksal
Galileo Galileis erfuhr, der soeben (1633) von der Inquisition zum Widerruf
seiner Erkenntnisse gezwungen worden war, die das heliozentrische Weltbild von
Kopernikus und Kepler bestätigten.
1637 publizierte er im holländischen
Leiden den Discours sur la méthode pour
bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la
Dioptrique, les Météores et la Géométrie qui sont des essais de cette méthode (=Rede/Vortrag
über die Methode, seine Vernunft gut zu führen und die Wahrheit in den
Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie
als Versuchsanwendungen dieser Methode). Der als populärwissenschaftliches Werk
auf hohem Niveau angelegte Discours sur
la méthode (den auch Damen lesen können sollten) wurde Descartes'
langfristig wirksamstes Buch, das nach Meinung vieler Franzosen ihr Denken im
Sinne einer auf Logik und Systematik bedachten analytischen Intellektualität
geformt hat. Fixpunkte des Discours sind
eine Erkenntnistheorie, die nur das als richtig akzeptiert, was durch die
eigene schrittweise Analyse und logische Reflexion als plausibel verifiziert
ist; eine Ethik, gemäß der das Individuum sich im Sinne bewährter
gesellschaftlicher Konventionen pflichtbewusst und moralisch zu verhalten hat;
eine Metaphysik, die zwar (durch logischen Beweis) die Existenz eines vollkommenen
Schöpfer-Gottes annimmt, aber kirchenartigen Institutionen wenig Raum lässt;
eine Physik, die die Natur als durch allgemein gültige Gesetze geregelt
betrachtet (göttliche und sonstige Wunder also ausschließt) und dem Menschen
ihre rationale Erklärung und damit ihre Beherrschung zur Aufgabe macht.
Langfristig weniger wirksam, aber in
Fachkreisen zunächst offenbar anstößiger waren die nächsten Werke von
Descartes: die 1641 gedruckten Méditations
sur la philosophie première, dans laquelle sont démontrées l'existence de Dieu
et l'immortalité de l'âme (so der Titel einer franz. Übersetzung von 1647)
und die Principia philosophiae
(=Grundlagen der Philosophie, 1644). Die letzteren veranlassten Utrechter und
Leidener calvinistische Theologen zu einer derart agressiven Polemik, dass
Descartes 1645 an einen Umzug nach England dachte und in den Folgejahren
mehrmals fluchtartig aus Holland nach Frankreich verreiste.
Sicher ließ ihn diese Situation
nachdenken über die Beweggründe menschlichen Verhaltens, und sie ist vielleicht
nicht unbeteiligt an dem Traktat Les passions de l'âme (=die Leidenschaften
der Seele, 1649), den er für seine eifrigste, kritischste und kompetenteste
Briefpartnerin, Elisabeth von Böhmen, verfasste. Hierin interpretiert er nicht
nur die direkten Reflexe, z.B. die Angst, sondern auch die spontanen
Gefühlsregungen, z.B. Liebe oder Hass, als nur zu natürliche Ausflüsse der
kreatürlichen Körperlichkeit des Menschen, verpflichtet jedoch diesen, als ein
zugleich mit einer Seele begabtes Wesen, zu ihrer Kontrolle durch den Willen
und zu ihrer Überwindung durch vernunftgelenkte Regungen wie z.B. selbstlosen
Verzicht oder großmütige Vergebung. Mit diesem Ethos der Pflicht und der
Selbstüberwindung hat Descartes die Literatur der franz. Klassik des 17.
Jahrhunderts, insbes. den Dramatiker Pierre Corneille (s.u.), stark
beeinflusst.
Um 1645 hatte er einen BriefwechseI
begonnen mit der hochgebildeten jungen Königin Christina von Schweden
(1626-89), die durch den franz. Botschafter auf ihn aufmerksam gemacht worden
war. Im Spätsommer 1649 folgte er ihrem Wunsch, er möge sie persönlich in seine
Philosophie einführen, und reiste nach Stockholm. Hier wohnte er bei dem
Botschafter, musste aber wochenlang auf die zunächst abwesende Königin warten,
ehe es Ende Januar zu einigen wenigen Audienzen kam (übrigens jeweils morgens
um fünf). Anfang Februar 1650 erkrankte Descartes und starb zehn Tage später.
Hatte man bisher der Annahme den Vorzug gegeben, er sei an einer
Lungenentzündung gestorben, so konnte kürzlich Theodor Ebert (Der
rätselhafte Tod des René Descartes, 2009) durch akribische Recherchen die
schon unter Zeitgenossen kursierende Vermutung bestätigen, dass er vergiftet
wurde. Der Täter war dann vermutlich ein franz. Augustinermönch, der ebenfalls
im Haus des Botschafters wohnte, viel mit Descartes diskutiert hatte, ihn
sichtlich nicht für einen rechtgläubigen Katholiken hielt und offenbar
verhindern wollte, dass er die Königin durch seine rationalistischen Lehren von
dem Gedanken abbringen könnte, katholisch zu werden (was sie wohl schon damals
überlegte und wenig später, 1654, tat).
Descartes’ Schriften wurden 1663 vom
Vatikan auf den Index gesetzt.
Die berühmte Maxime „cogito, ergo sum“
(=ich denke, also bin ich existent), die der Erkenntnistheorie Descartes’
zugrunde liegt, ist gebildeten Europäern bis heute geläufig. Als seine
dauerhafteste Leistung sollte sich allerdings sein Beitrag zur Mathematik
erweisen: die Entwicklung der analytischen Geometrie.
Tristan L’Hermite (eigentlich François L’Hermite, seigneur du Solier; * 1601
auf Schloss Solier/Marche; † 11.9.1655 in Paris)
Dieser als Lyriker und Dramatiker von
den Zeitgenossen sehr geschätzte Autor stammte aus einer alten, aber verarmten Adelsfamilie.
Schon als 5-Jähriger wurde er Page bei einem legitimierten Bastard von König
Henri IV, wobei er, teils als Spielgefährten, viele hochadelige Personen
kennenlernte. Mit 13 verletzte er in einem Duell einen königlichen Gardisten
tödlich und musste fliehen. Nach einem unsteten Wanderleben vor allem in
England und Schottland kam er 1619 nach Frankreich zurück, trat in die Dienste
eines höherrangigen Adeligen und wurde vom jungen König Louis XIII begnadigt.
1621 avancierte er sogar zum gentilhomme ordinaire
(einer Art Edeldomestik) bei Gaston d'Orléans, dem jüngeren Bruder des
Königs, dem er bis 1634 diente und mehrfach bei dessen Verbannungen vom Hof ins
Exil folgte.
Nachdem er sich schon seit etwa 1624
unter dem Pseudonym „Tristan“ literarisch betätigt hatte, versuchte er ab 1634
als Autor zu leben, d.h. von den Zuwendungen verschiedener Mäzene, aber auch
von der Vermarktung seiner Werke, insbes. seiner Theaterstücke – was nicht
ausschloss, dass er von Zeit zu Zeit wieder hochstehenden Personen zu Diensten
war, z.B. Gaston oder dem duc de Guise.
1633 war das Gedichtbändchen Les Plaintes d'Acante sein Durchbruch,
1638 gab er seine Lyrik gesammelt heraus als Les amours de Tristan.
1636 verfasste er das erste und erfolgreichste seiner rd. 10 Stücke, die
Tragödie La Marianne, die den
Herodes-Mariamne-Stoff aus der jüdischen Geschichte behandelt. 1642 stellte er Le Page disgrâcié fertig, einen
autobiografischen Roman im Stil der Picaro-Romane, der den jungen Tristan als
Spielball eines launischen Schicksals darstellt und als einer der ersten franz.
autobiografischen Romane von Bedeutung gilt.
1648 wurde er in die Académie Française
(s.u.) aufgenommen. Bald nach seinem Tod jedoch geriet er in den Schatten der
Generation der Klassiker, die nach ihm die literarische Bühne betrat und so gut
wie alle Autoren davor als zweitrangig erscheinen ließ.
Georges de
Scudéry (* 22. 8. 1601 in Le Havre; † 14. 5. 1667 in Paris)
Er
ist heute praktisch nur noch bekannt als Bruder der Autorin Madeleine de
Scudéry (s.u.), die einen Großteil ihres Romanschaffens unter seinem Namen
veröffentlichte, in der Literaturgeschichte aber ungleich größere Geltung
genießt.
Scudéry
stammte aus einer ursprünglich südfranzösischen adeligen Familie. Sein Vater
war jedoch Marineoffizier geworden und befehligte später den befestigten Hafen
Le Havre. Mit 12 Jahren wurde er Waise und kam zusammen mit seiner sechs Jahre
jüngeren Schwester zu einem Onkel bei Rouen, der ihnen eine gute Bildung
angedeihen ließ. Um die 20 Jahre alt hielt er sich offenbar längere Zeit in Rom
auf. Mit 22 wurde er Offizier und nahm an einigen der Feldzüge teil, mit denen
die Krone die Macht der eigentlich gleichberechtigten, aber als widerspenstig
und aufsässig geltenden Protestanten zu brechen versuchte. 1630 quittierte er den
Dienst, um sich ganz der Literatur zu widmen.
Er
ließ sich, zusammen mit seiner Schwester, die unverheiratet blieb, in Paris
nieder, wo er das Image eines adeligen Militärs und Haudegens kultivierte, der
nur nebenher und eher widerwillig schrieb.
Er
debütierte 1631 mit einem Band Gedichte im Stil von Théophile de Viau (s.o.),
doch betätigte er sich anschließend vor allem als Dramatiker mit einer Serie
von insgesamt 16 passabel erfolgreichen Theaterstücken, überwiegend
Tragikomödien. Er fand Zugang zu Pariser Salons (wo er auch seine Schwester
einführte), erlangte aber auch die Protektion des allmächtigen Ministers
Kardinal Richelieu, der das Theater für seine politischen Zwecke einzuspannen
bemüht war.
In
der Querelle du Cid, dem Literatenstreit um Pierre Corneilles erfolgreiche
Tragikomödie Le Cid (Auff. Ende 1636, s.u.), agierte er, zunächst mit
Rückendeckung Richelieus, als einer der aktivsten Kritiker seines jüngeren
Konkurrenten. Seine gehässigen Observations sur „Le Cid“ (1637) trugen
ihm jedoch auf lange Sicht nur den Ruf eines pedantischen Beckmessers ein. Die
aus den Observations entwickelte Apologie du théâtre (1639), mit
der er sich als Dramentheoretiker zu profilieren gedachte, fand nur geringes
Echo.
Gegen
1640 versuchte er sich als Romancier und verfasste gemeinsam mit Schwester
Madeleine den Roman Ibrahim, Ou l'Illustre Bassa (4 Bde., 1641).
Nach
dem Tod Richelieus (1642) verhielt er sich neutral gegenüber dessen unbeliebten
Nachfolger Kardinal Mazarin. Er wurde belohnt mit dem Posten eines Befehlshabers
des Forts Notre-Dame-de-la-Garde, das den Hafen von Marseille beschützte. Hier
blieb er mit Madeleine, die ihm gefolgt war, bis 1647, wonach er sich offenbar
vertreten lassen konnte und nach Paris zurückging.
Während
des Fronde-Aufstands (1648-52) ergriff Scudéry gegen Mazarin Partei und schloss
sich dem Fürsten Condé an. Zweifellos dank dessen Protektion wurde er 1650 als
Nachfolger von Claude Favre de Vaugelas (s.o.) zum Mitglied der Académie
française gewählt. Nach dem Sieg Mazarins wurde er seines Marseiller Postens
enthoben und in die Normandie verbannt. Er ließ sich in Rouen nieder, wo er das
lange Versepos Alaric, Ou Rome vaincue. Poème héroïque (1654) vollendete
und sich vorteilhaft verheiratete.
Als
er 1660 nach Paris zurückkehren durfte, hatte sich dort der literarische
Geschmack so stark verändert, dass ihm kein Come back gelang.
Valentin
Conrart (* 1603 in
Paris; † 23.9.1675 ebd.)
Er
ist weniger als Autor im engeren Sinn bedeutsam, denn als wichtige Figur im
Pariser Literaturbetrieb seiner Zeit.
Er
war Sohn eines wohlhabenden Pariser Kaufmanns aus der protestantischen
Minderheit Frankreichs und absolvierte zunächst eine kaufmännische Ausbildung.
1627 erwarb er das Amt eines Königlichen Rates und Sekretärs, das seinem Inhaber
wenig Mühe abverlangte, aber einen adelsartigen Status verschaffte. Hiernach
widmete er sich überwiegend seinen literarischen und gesellschaftlichen
Interessen.
Allgemein
anerkannt dank seiner verbindlichen und integrativen Persönlichkeit, war er regelmäßiger
Gast in den Salons der Marquise de Rambouillet, Madame de Sablés und später
Mlle de Scudérys (s.u.), von der er in ihrem Roman Le Grand Cyrus unter
dem Namen „Théodame“ porträtiert wurde. Er selbst versammelte in seinem Haus
einen eigenen Literatenkreis, zu dem u.a. Jean Chapelain (s.o.), Vincent
Voiture (s.o.) oder Claude Favre de Vaugelas (s.o) zählten.
Aus
diesem Kreis ging 1634 durch eine Initiative des allmächtigen Ministers
Kardinal de Richelieu die Académie Française hervor, deren erster ständiger
Sekretär Conrart wurde und bis zu seinem Tod blieb.
So
spielte er in der Anfangsphase der Académie eine wichtige Rolle bei der
Erarbeitung ihrer Statuten und bei den Verhandlungen zum einen mit Richelieu
über deren Genehmigung und zum anderen mit dem König wegen ihrer Bestätigung.
Auch gewann er den Justizminister (chancelier) Pierre Séguier als Mitglied und
Schutzherrn, bei dem hinfort die Sitzungen stattfanden, und er kümmerte sich um
die Registrierung des königlichen Bestätigungserlasses durch das Parlement von
Paris. Später führte er die Protokolle und die Akten der Académie, vertrat
diese mit Geschick und Würde nach außen und trug viel dazu bei, dass sie rasch
zu einer geachteten Einrichtung wurde.
Geschrieben
hat Conrart nur wenig, publiziert noch weniger, daher der oft angeführte Vers
von Nicolas Boileau (s.u.): « J'imite de Conrart le silence prudent ».
Außer einigen Gedichten liegt von ihm nur eine postum (1681) gedruckte
Briefsammlung und ein Bericht über die Fronde-Unruhen vor (Mémoires sur
l'histoire de son temps, abgedruckt erst 1825 in den Mémoires pour
servir à l'histoire de France von Louis Jean Nicolas Monmerqué). Die
Pariser Bibliothèque de l'Arsenal besitzt weitere als Manuskript nachgelassene
Schriften.
1635
Bestätigung der Gründungsakte der Académie
Française durch Louis XIII
Es ist ein wichtiges, fast jedem
gebildeten Franzosen geläufiges Datum, denn die Académie Française ist nicht
nur eine der ältesten Institutionen im geistigen Leben Frankreichs, sondern
auch die prestigereichste.
Das
16. und 17. Jh. waren in Mittel- und Westeuropa die hohe Zeit der Akademien.
Diese waren mehr oder weniger locker organisierte Diskussionszirkel von
Literaten, Künstlern und Gelehrten sowie auch geistig interessierten Adeligen,
die sich zunächst meist um einen arrivierten Kollegen und/oder einen (i.d.R.
fürstlichen) Mäzen herum konstituierten. Schon 1570 wurde in Paris eine erste
Académie Française ins Leben gerufen, die jedoch bald wieder einschlief. Die
jetzige Académie Française ist hervorgegangen aus einem Pariser Literatenkreis,
der sich seit 1629 bei dem heute praktisch unbekannten Autor Valentin Conrart
(s.o.) traf. 1634 wurde der zunächst 9, dann 12 Köpfe zählende Kreis durch den
regierenden Minister Kardinal de Richelieu auf 34 Mitglieder aufgestockt und zu
einer staatlichen Institution erhoben, die 1635 von Louis XIII mit Brief und
Siegel ausgestattet wurde. 1637 wurden die Statuten vom höchsten Pariser
Gericht, dem Parlement, registriert und damit rechtskräftig. 1639 wurde die
Mitgliederzahl nochmals erhöht, und zwar auf 40, wo sie seitdem blieb.
Während
der Revolutionszeit wurde die Académie 1793 zusammen mit ihren
Schwesterinstitutionen, der Académie des Sciences und der Académie des
Inscriptions et Belles Lettres, verboten. Zur Zeit des Directoire 1795 wurden
alle drei wiederbelebt und in Form von „Klassen“ zusammengefasst zum Institut
de France. Erst 1816 wurde die Académie Française in ungefähr der alten Form
und unter dem alten Namen wieder selbständig.
Die Académie verfügte lange Zeit über
keine feste eigene Bleibe, sondern versammelte sich zunächst bei Mitgliedern,
z.B. Conrart oder, später, dem Kanzler (Justizminister) Ségier. Ab 1662 tagte
man im Louvre. Seit 1805 residiert die Académie im Collège des Quatre Nations
gegenüber dem Louvre; dort hat auch der auf Lebenszeit gewählte und
wohlbeamtete „Secrétaire perpétuel“ seine Dienstwohnung. Ebenfalls seit 1805
tragen die Mitglieder bei ihren offiziellen Zusammenkünften oder Auftritten das
habit vert (grüne Jacke und
Kniebundhose, grüner zweispitziger Hut sowie Degen).
Die Mitgliedschaft in der Académie gilt
auf Lebenszeit; Ausschlüsse sind möglich, aber äußerst selten; die ebenfalls
höchst seltenen Austritte werden ignoriert. Gern werden die Académiciens (ein Begriff, der nur sie
bezeichnet, und nicht studierte Leute allgemein) auch „les 40 Immortels“ (= die
40 Unsterblichen) genannt unter Bezugnahme auf das Motto À l'immortalité! (=
auf zur Unsterblichkeit!), das das Académie-Siegel trägt. Heute wird diese
Benennung (bei allem Respekt) allerdings meist ironisch verwendet, auch im
Hinblick auf die hohe Sterblichkeitsrate der überwiegend ja betagten
Herrschaften.
Nach dem Tod eines Mitglieds wird von
den anderen durch Wahl ein Nachfolger kooptiert, der früher vom König bestätigt
werden musste und hierdurch (wenn er nicht schon adelig war) eine
Quasi-Erhebung in den Adelsstand erfuhr. Nach seiner feierlichen Aufnahme muss
das neue Mitglied eine Laudatio auf seinen Vorgänger halten, was nicht immer
als angenehme Aufgabe wahrgenommen wird. Im Laufe ihres Bestehens haben mehr
als 700 Personen der Académie angehört. Erstes weibliches Mitglied wurde 1980
gegen damals immer noch große Widerstände die Schriftstellerin Marguerite
Yourcenar.
Da mit einem Fauteuil (Sessel)
in der Académie ein hohes Prestige verbunden ist, gerät die Neubesetzung eines
vakant gewordenen Sitzes stets zu einem Pariser gesellschaftlichen Ereignis von
größtem Interesse, das von Spekulationen, Intrigen und Pressionen begleitet
wird. Naturgemäß macht nicht immer der rückblickend bessere Kandidat das
Rennen, sondern meist der angepasstere. Viele bahnbrechende Autoren (z.B.
Diderot, Rousseau, Balzac, Flaubert, Baudelaire, Zola, Sartre oder Camus) sind
nicht aufgenommen worden oder haben eine Mitgliedschaft gar nicht erst angestrebt.
Spätestens seit der Querelle des
Anciens et des Modernes von 1687 war die Académie immer wieder Schauplatz von
Machtkämpfen zwischen Traditionalisten und Neuerern. Während im 18. Jh.
überwiegend die Neuerer das Heft in der Hand hatten, dominieren seit dem späten
19. Jh. die Traditionalisten. Deshalb werfen franz. Intellektuelle der Académie
häufig Erstarrung und eitle Selbstbeschau vor.
Die
offizielle Aufgabe der Académie war und ist laut Satzung die Vereinheitlichung
und Pflege der franz. Sprache, insbes. durch die Erarbeitung eines Wörterbuchs
sowie anderer Referenzwerke (Grammatik, Rhetorik, Poetik). In diesem Sinne
werden als Mitglieder in aller Regel Leute gewählt, die sich einen Namen als
Schreibende gemacht haben, auch wenn sie im Hauptberuf häufig keine Literaten
sind, sondern z.B. Professoren, Politiker, kirchliche Würdenträger oder
hochrangige Militärs.
Die erste Ausgabe des
Académie-Wörterbuchs erschien ab 1694. Die im 19. und 20. Jh. unternommenen
Neubearbeitungen setzten die normative Tendenz schon der ersten Ausgabe fort
und bildeten, indem sie die Umgangsprache und die Fachsprachen weitgehend
ignorierten, den franz. Sprachgebrauch immer unvollkommener ab. Entsprechend
gab es schon um 1685 ein konkurrierendes Projekt: das Dictionnaire universel von Antoine Furetière (s.u.), das allerdings
erst 1690 postum und illegal in den Niederlanden gedruckt wurde.
Die Académie verwaltet ein beachtliches
Vermögen aus privaten Stiftungen. Aus den Erträgen finanziert sie u.a. diverse
Literatur-Preise, die sie jedes Jahr verleiht. Seit 1986 zählt hierzu der Grand
prix de la Francophonie, der das Interesse der Académie an der Verbreitung
der französischen Sprache in der Welt bezeugt.
Jean Mairet (* 4.1.1604 in
Besançon; † 31.1.1686 ebd.)
Er ist vor allem bekannt als Verfasser
von drei Tragödien (in fürstlichen Kreisen spielender, tragisch endender Stücke
mit historischem Stoff) sowie von etwa sieben Tragikomödien (in höheren Kreisen
spielender Stücke mit nicht-tragischem Ausgang) und gilt als der bedeutendste
franz.sprachige Dramatiker der Zeit zwischen 1625 und 1637, d.h. vor dem
Aufstieg des ältesten Klassikers, Pierre Corneille (s.u.).
Mairet war eigentlich zum Studium aus
der heimatlichen Franche-Comté (die damals der spanischen Krone gehörte) nach
Paris gekommen, verlegte sich aber rasch aufs Stückeschreiben. Mit etwa 20
bekam er ein erstes Stück von einem Theater abgenommen. 1626 schaffte er den
Durchbruch mit der „tragicomédie pastorale“ La Sylvie, einem Stück nach
Honoré d’Urfés (s.o.) Roman L’Astrée. 1631 plädierte er im Vorwort zu
seiner Tragödie Silvanire für die Einhaltung der drei Einheiten im Sinne
des soeben erschienenen Traktates von Jean Chapelain (s.o.) und trug damit
entscheidend zur Verbreitung der neuen Doktrin bei, nach der die Handlung eines
Stücks 1) nicht länger als 24 Stunden dauern, 2) an ein und demselben
Schauplatz spielen und 3) einlinig, d.h. ohne Nebenhandlungen, sein sollte
(Forderungen, die La Sylvie allesamt noch nicht erfüllt hatte).
Mairets größter Erfolg war 1634 die auf
einer italienischen Vorlage beruhende Tragödie La Sophonisbe, in deren
Zentrum eine von den Römern besiegte numidische Königin steht, die Selbstmord
begeht, um sich nicht als Schauobjekt in einem Triumphzug durch Rom geführt zu
sehen. Das Stück wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein häufig gespielt. Vor
allem aber ist es die erste gelungene franz. Tragödie nach Chapelains
Regelwerk.
1637 war Mairet einer der Wortführer in
der sog. Querelle du Cid und verfasste mehrere Pamphlete gegen Corneille,
der in seiner sehr erfolgreichen Tragikomödie Le Cid' (1636) die drei
Einheiten nicht respektiert hatte und dafür auch von der neuen Académie
Française gerügt wurde. Corneille antwortete u.a. mit einem Avertissement
au Besançonnois Mairet, dessen Titel sichtlich auf die
Tatsache anspielt, dass sein Gegner quasi ein feindlicher Ausländer war, denn
Frankreich führte gerade u.a. in der Franche-Comté Krieg gegen Spanien
(1636-44). Die beiden Autoren beendeten den Streit schließlich auf Order von
Kardinal-Minister Richelieu, und Mairet musste sein mutmaßliches Hauptziel aufgeben, nämlich
Corneille als Konkurrenten auszubremsen. Seine eigene Karriere beschloss er
1643 mit der Tragikomödie La Sidonie.
Er blieb aber weiterhin in Paris und
wurde dort 1648 zu einer Art Botschafter seiner Heimatprovinz ernannt, die nach
Beendigung des Dreißigjährigen Krieges und dem Abschluss des Westfälischen
Friedens zunehmend von Frankreich vereinnahmt wurde. 1653 wurde er wegen
angeblicher königsfeindlicher Reden während des Fronde-Aufstands (1648-52) aus
Paris ausgewiesen, durfte aber bald zurückkehren. Als 1668 Louis XIV die
Franche-Comté handstreichartig annektierte und damit den Botschafterposten
überflüssig machte, ging Mairet nach Besançon zurück, das, nachdem es von 1307 bis
1664 Freie deutsche Reichsstadt gewesen war, 1679 endgültig an Frankreich fiel.
Madeleine de Scudéry (* 1607 in Le
Havre; † 1701 in Paris)
Mlle de Scudéry (wie sie in der
Literaturgeschichte heißt) zählt zu den größten franz. Autorinnen und wurde als
erste von ihnen auch außerhalb Frankreichs viel gelesen.
Sie wurde geboren als Tochter eines
kleinadeligen Kaperschiff-Kapitäns und dann Befehlshabers des befestigten
Hafens von Le Havre. Nach ihrer frühen Verwaisung wurden sie und ihr 6 Jahre
älteren Bruder Georges (s.o.) von einem Onkel bei Rouen aufgenommen, der ihnen
eine gute Bildung angedeihen ließ. Als Georges 1630 eine siebenjährige Zeit als
Offizier beendet hatte und mit der Absicht Literat zu werden nach Paris ging,
folgte sie ihm und blieb auch, da sie offenbar nicht zu heiraten gedachte
und/oder nicht die nötige Mitgift hatte, in den nächsten 20 Jahren mit ihm in
einem gemeinsamen Haushalt zusammen. Hierbei folgte sie ihm sogar nach
Marseille, wo er 1642-47 einen militärischen Posten am Hafen bekleidete.
Über Georges kam sie, zunächst als
seine Juniorpartnerin, zum Schreiben: Gemeinsam (wenn wohl auch mit zunehmend
geringerem Anteil von ihm, der sich mehr als Dramatiker sah) verfassten sie den
Roman Ibrahim, ou l'Illustre Bassa
(1641, 4 Bde). Über Georges auch erhielt sie Zugang zu Pariser
Literatenkreisen, insbes. zum Salon der Marquise de Rambouillet, der Leitfigur
der préciosité, sowie später zum
Kreis um den großen Mäzen der 50er Jahre, Finanzminister Nicolas Fouquet.
Ihr Durchbruch – immer noch unter dem
Namen des Bruders – wurden die pseudohistorischen Romane Artamène ou le Grand Cyrus (1649-53) und Clélie, histoire romaine (1654-60), die heute als Höhepunkte des
„heroisch-galanten“ Romans gelten. Es sind zwei jeweils zehnbändige Werke, in
deren locker strukturierter Haupthandlung und vielen Einschüben es zentral nur
um drei Dinge geht: die allen Schicksalsschlägen trotzende heroisch-tugendhafte
Liebe hochstehender Damen, die Kriegs- und Heldentaten der sie verehrenden
Herren und geistreich-galante Konversationen der Damen und Herren über das
Thema Liebe. Sprichwörtlich geworden ist die „carte de Tendre“ aus Clélie, eine allegorische Landkarte des
Reiches der Liebe, in dem die Leidenschaft gezügelt und in eine Sympathie der
Seelen überführt ist. Le Grand Cyrus
und Clélie wurden in ganz Europa vor
allem von einem adeligen Publikum gelesen, aber durchaus auch im Bürgertum. Für
die Pariser Leser waren sie darüber hinaus als Schlüsselromane von Interesse:
Viele der dargestellten Ereignisse und vor allem ein Großteil der auftretenden
Personen hatten wiedererkennbare Vorbilder im zeitgenössischen Frankreich, z.B.
den hochadeligen Heerführer Fürst Condé (Cyrus), sowie im engeren Umfeld der
Autorin, z.B. die befreundeten Literaten Paul Pellisson (s.u.) oder Mme de
Sévigné (s.u.).
Nachdem Mlle de Scudéry sich aus dem
Schatten ihres Bruders herausgearbeitet hatte und dieser überdies 1652 als
„Frondeur“ in die Normandie verbannt worden war, hatte sie begonnen sich ihren
eigenen Salon zu schaffen. Hier ließ sie sich als „neue Sappho“ umschwärmen,
empfing fast alle wichtigen Autoren der Zeit und auch Besucher aus den höheren
Ständen und trat ein wenig die Nachfolge der Marquise de Rambouillet an, die es
sich zur Aufgabe gemacht hatte, die in hundert Jahren Krieg verrohten adeligen
Männer zu galant flirtenden und gepflegt parlierenden sowie bei Bedarf auch
lyrisch dilettierenden Kavalieren zu erziehen.
Die weiteren Romane, die Mlle de
Scudéry verfasste (z.B. 1661 Célinte
oder 1667 Histoire de Mathilde d'Aguilar),
waren der neuen Mode folgend deutlich kürzer und realistischer, aber auch
weniger erfolgreich.
Um 1670 war sie für einen Sitz in der
Académie Française im Gespräch (die so vielleicht schon damals ihren Charakter
als bloßer Männerclub verloren hätte), doch erhielt sie dann 1671 nur den
ersten von der Académie vergebenen „prix
d'éloquence“ (=Beredsamkeitspreis).
Nochmals erfreulichen Ruhm erlangte sie mit den mehrbändigen Conversations morales (1680-92).
Sie erreichte das für damals sehr hohe
Alter von 94 Jahren.
P.S.: Andere bedeutendere Autoren der
um 1650 florierenden Gattung „heroisch-galanter Roman“ (roman héroïco-galant) sind Marin Le Roy de Gomberville (1600–1674)
mit Polexandre (5 Bde, 1629-37) und
Gautier de Costes de La Calprenède (1610–1660, s.u.) mit Cassandre (10 Bde, 1642-45), Cléopâtre
(12 Bde, 1647-56) und Faramond (12
Bde, 1661-70).
Pierre Corneille (* 6.6.1606 in
Rouen; † 1.10.1684 in Paris)
Er
ist der älteste und einer der bedeutendsten der Autoren des „klassischen“ Zeitalters
der franz. Literatur. Im Verein mit den 15 bzw. 23 Jahren jüngeren Kollegen
Molière (s.u.) und Jean Racine (s.u.) bildet er in den Augen der Franzosen das
Dreigestirn ihrer größten Dramatiker.
Corneille
wuchs auf als erstes von sechs Kindern eines wohlhabenden königlichen Jagd- und
Fischereiaufsehers in Rouen. Hier auch besuchte er das Jesuitenkolleg, wo er
eine gediegene Bildung erhielt, insbes. in klassisch-lateinischer Literatur.
Anschließend studierte er Jura, ebenfalls in Rouen, und wurde mit 18 als Anwalt
im Praktikantenstatus am dortigen Parlement zugelassen, dem höchsten Gericht
der Normandie. Mit 22 (1628) bekam er von seinem Vater je ein kleineres
Richteramt am Parlement sowie in der Fischerei- und Jagdgerichtsbarkeit
gekauft, die er bis 1650 ausübte. Soziologisch gesehen zählte er hiermit zum
sog. Amtsadel (noblesse de robe), einer Schicht zwischen Erwerbsbürgertum und
Adel, deren meist käufliche und vererbbare Ämter, wenn sie hochrangig waren,
ihren Inhabern den erblichen Adel verschafften, wenn sie niedriger waren,
zumindest bestimmte Privilegien gewährten.
Der eigentliche Ehrgeiz Corneilles galt
jedoch schon seit der Schulzeit dem Schreiben von Gedichten (auch in
lateinischer Sprache) und von Stücken. Als 1629 der bekannte Schauspieler und
Theaterdirektor Mondory mit seiner Wandertruppe in Rouen gastierte, bot
Corneille ihm seine spätestens im Vorjahr, vielleicht sogar schon 1625
verfasste Komödie Mélite an. Dieses
Verwirrspiel um sechs junge Leute, die sich schließlich zu drei Paaren finden,
kam im Winter 1629/30 sehr erfolgreich in Paris auf die Bühne und half Mondory,
sich dort mit einem neuen Theater fest zu etablieren, dem Théâtre du Marais.
In den folgenden Jahren schrieb
Corneille für das Marais eine Serie weiterer Stücke. Das erste war die
wenig erfolgreiche Tragikomödie Clitandre, Ou l’innocence persécutée (=C,
oder die verfolgte Unschuld, 1630/31), ein unendlich kompliziertes Stück um
Liebe, Eifersucht, Hass, Mordversuche, Verwechselungen und den Zorn eines
Fürsten, der den Titelhelden, einen Höfling, als vermeintlichen Verräter
verurteilt, aber dann begnadigt. Mit Clitandre bezieht sich Corneille
zum ersten Mal, wenngleich nur vage, auf aktuelle Zeitereignisse, nämlich den
Prozess gegen den Anti-Richelieu-Verschwörer Marillac. Es war auch das erste
Stück, das er drucken ließ, wobei er unter dem Titel Mélanges poétiques eine
Auswahl seiner bis dahin verfassten Gedichte anhängte. Es folgten die Komödien La
Galerie du Palais (=der große Saal des Justiz-Palastes, 1632), La Veuve (1633), La Suivante (=die
Gesellschafterin, 1634) und La Place Royale (=der Königsplatz [sc. die
heutige Place des Vosges], 1634). Die letztere scheint in der extremen
Bindungsscheu des Protagonisten Alidor ein persönliches Problem Corneilles zu
gestalten: die Furcht sich zu binden (die vielleicht durch seine enttäuschte
Jugendliebe zu einer gewissen Catherine Hue verstärkt worden war).
Alle diese frühen Stücke gelten heute
als zwar weniger bedeutende Jugendwerke, wirkten damals aber neuartig, denn
trotz ihrer konventionellen Aufmachung schienen sie in Sprache und Geist die
zeitgenössische Gesellschaft zu spiegeln und spielten auch meist, z.T. schon am
Titel erkennbar, in Paris. Zudem hatten sie passablen bis guten, Mélite und
La Galerie sogar sehr guten Erfolg und verschafften Corneille früh den
Status eines anerkannten Autors.
Als solcher erhielt er bei seinen häufigen Paris-Besuchen
auch bald Kontakt zu Literatenkreisen und Salons, u.a. dem der Marquise de
Rambouillet. Als geistreicher Unterhalter galt er dort nicht; auch effektvoll
aus aus seinen Stücken vorzulesen lag ihm wenig. Immerhin schätzte man die
Gelegenheitsdichte, die er bei diesem oder jenem geselligen Anlass beitrug.
1633 betätigte sich Corneille erstmals
als Panegyriker, ein heute wenig bekannter Aspekt seines Schaffens. Er
verfasste im Auftrag des Bischofs von Rouen ein Lobgedicht, mit dem dieser
König Louis XIII und dessen allmächtigen Kardinal-Minister Richelieu bei einem
Besuch begrüßen ließ.
1634, nach dem großen Erfolg der
Tragödie Sophonisbe von Jean Mairet (s.o.), versuchte sich auch
Corneille, vorerst wenig überzeugend, in dieser Gattung und verfasste Médée (Auff. 1635), sein erstes einen antiken Stoff verarbeitendes Stück.
1635
wurde er, u.a. zusammen mit dem etwas jüngeren Jean Rotrou (s.u.), Mitglied
einer Gruppe von fünf Autoren im Dienst Richelieus, der das Theater zu einem
Ort der Propaganda für seine Politik der Stärkung der absoluten Monarchie zu
machen versuchte. Nach zwei im Team verfassten Stücken stellte Corneille seine
Mitarbeit zwar ein, erhielt jedoch die ihm gewährte Jahresgage (pension) von
1500 Francs (etwa dem, was eine bescheidene Person samt einem Domestiken
brauchte) bis zu Richelieus Tod 1642.
Ebenfalls ab 1635 befasste er sich
offenbar mit spanischer Literatur. Ein Grund war sicher, dass sein Kollege
Rotrou kurz zuvor begonnen hatte, spanische Stücke für das französische Theater
umzuschreiben. Ein anderes Motiv war vielleicht, dass Spanien auch politisch
aktuell war, denn Frankreich hatte sich soeben in den Dreißigjährigen Krieg
eingeschaltet und war, zunächst wenig glücklich, mit spanischen Truppen
konfrontiert, die von den Spanischen Niederlanden, dem jetzigen Belgien, her
eindrangen.
Im Winter
35/36 brachte Corneille L’Illusion comique heraus, ein
sehr erfolgreiches Stück, in dem er das beliebte barocke Motiv des Theaters im
Theater verarbeitet und zugleich, ganz im Sinne seines Dienstherrn Richelieu,
für eine Aufwertung des Schauspielerberufes wirbt. Innerhalb einer eher
märchenhaften Rahmenhandlung spielen in L’Illusion weitere,
erst am Ende als bloßes Theater erkennbare Handlungen (worin u.a. der
prahlerische, aber feige spanische Haudegen Matamoro die von ihm umworbene Frau
an einen Clindor verliert, der sich en passant als Franzose erweist). L’Illusion ist das letzte
Stück, in dem Corneille die Lehre von den „drei Einheiten“ (des Ortes, der Zeit und der Handlung) ignoriert, die in Pariser Literatenkreisen
gerade lebhaft diskutiert wurde und sich durchzusetzen begann.
Nachdem im Sommer 1636 die Spanier die
Grenz- und Festungsstadt Corbie erobert, aber nach langem Ringen wieder
verloren hatten, stellte Corneille im Spätherbst eine Tragikomödie fertig, die
Bezüge auf diesen Kampf zu enthalten scheint: Le Cid. Die Aufführung
dieses Stücks gegen Ende des Jahres war sein eigentlicher Durchbruch und gilt
zugleich als der Beginn der hohen Zeit des Theaters der Klassik. Die Handlung
spielt im 11. Jh. in Spanien und beruht auf der des Stücks Las Mocedades del Cid
(=die jugendlichen Heldentaten des Cid [d.h. des mittelalterlichen spanischen
Nationalhelden]) von Guillén de Castro (1618). Sie zeigt die Konflikte des
verlobten adeligen Paares Rodrigue und Chimène: Rodrigue muss, den Geboten der
Familienehre gehorchend, den Vater seiner Verlobten zum Duell fordern, weil der
seinen eigenen schon ältlichen Vater beleidigt hat; Chimène dagegen muss,
nachdem Rodrigue ihren Vater in dem Duell tödlich verletzt hat, beim König die
Todesstrafe gegen ihn fordern. Rodrigue wird jedoch nach einigem Hin und Her
vom König begnadigt und aufs Neue mit Chimène verlobt, weil er sich inzwischen
um das Vaterland verdient gemacht hat, indem er als Feldherr das Heer der
Mauren vor Sevilla geschlagen hat. Die im Sinne der Staatsräson getroffene
Entscheidung des Königs wird allerdings auch als menschlich richtig bestätigt,
dadurch dass Chimène sich zu ihrer Liebe bekennt, als sie einen Augenblick lang
irrtümlich annimmt, ein von ihr akzeptierter Fürkämpfer, der Rodrigue
seinerseits zum Duell gefordert hatte, habe ihn besiegt und getötet.
Le Cid
war (ähnlich wie Molières Tartuffe, Beaumarchais’ Figaro
oder Hugos Hernani) eines der großen Ereignisse der franz.
Theatergeschichte. Der Erfolg war so spektakulär, dass König Louis XIII den
Vater Corneilles in den Adelstand erhob, womit der Autor als schon adelig geboren
galt. Mehrere Nachahmer beeilten sich, die Handlung mit eigenen Stücken
fortzusetzen (z.B. Le Mariage du Cid oder La Mort du Cid); doch
traten rasch auch Neider und Mäkler auf den Plan, darunter die
Dramatiker-Rivalen Georges Scudéry (s.u.) und Jean Mairet (s.o.), die Corneille
vordergründig mit den Argumenten attackierten, er habe die Regeln der bienséance (Anstand, Sittsamkeit)
verletzt, seine spanische Vorlage schamlos plagiiert und zudem die drei
Einheiten nicht korrekt beachtet, die inzwischen als obligatorisch galten. Als
Corneille Anfang 1637 hierauf selbstbewusst mit einer kleinen Schrift, der
ironischen Excuse à Ariste, reagierte, löste er eine heftige Kontroverse
aus, die „querelle du Cid“, in die
sich weitere Literaten pro und contra mit Pamphleten einmischten (von denen ca.
35 erhalten sind). Der monatelange Streit endete mit dem Eingreifen Richelieus,
den zwar die positive Darstellung des wiederholt von ihm verbotenen Duells
unter Adeligen verärgert hatte, dem jedoch das Lob der Staatsräson gefallen
musste. Er beauftragte die junge Académie Française (s.u.), ein offizielles
Urteil abzugeben, das, überwiegend von Jean Chapelain (s.o.) verfasst, zwar
negativ, aber versöhnlich ausfiel.
Während das Publikum weiter den Cid
beklatschte, der auch auf die Dauer das meistgespielte Stück Corneilles blieb,
zog dieser sich verunsichert nach Rouen zurück (wo er 1638 vergeblich eine
Doppelbesetzung seiner Ämter und damit eine Halbierung von deren Einkünften und
ihres Wiederverkaufswerts zu verhindern versuchte).
Erst 1640, inmitten aufstandsähnlicher
Wirren in Rouen, die von kriegsbedingten Steuererhöhungen ausgelöst worden
waren und schließlich von Truppen blutig niedergeschlagen wurden, schrieb er
ein nächstes Stück: Horace. Die im frühen
Rom spielende Tragödie zeigt, dass zwar zwischenmenschliche, insbesondere
familiäre Bindungen einen hohen Wert darstellen, dass jedoch der Nutzen und der
Ruhm des Vaterlandes Vorrang haben und somit der König einen Gesetzesbrecher,
hier den Mörder im Affekt seiner Schwester, amnestieren darf, wenn der sich um
den Staat verdient gemacht hat und auch weiterhin verdient machen wird.
Corneille beachtete diesmal (wie auch in Zukunft) die drei Einheiten peinlich
genau und widmete die Druckfassung des Werkes Richelieu, der es nach einer
Privataufführung für gut befunden hatte.
Anfang 1641 schloss er Cinna, ou la clémence d’Auguste ab. Gegenstand ist die Verschwörung
republikanischer römischer Patrizier gegen Kaiser Augustus und dessen
exemplarisch großmütige, aber auch politisch kluge Vergebung, als er das
Komplott entdeckt. In diesem spiegeln sich sichtlich die zeitgenössischen
Intrigen hochstehender Adeliger, insbes. der Duchesse de Chevreuse, gegen
Richelieu und dessen Politik des antifeudalistischen Absolutismus.
Horace und Cinna
waren zwar sehr erfolgreich gewesen (das letztere Stück wurde nach dem Cid
das meistgespielte des Autors), doch stockte danach dessen Produktion. 1641 heiratete
er mit 35, d.h. für damalige Verhältnisse sehr spät, die elf Jahre jüngere
Richterstochter Marie de Lampérière, mit der er vier Söhne und zwei Töchter
haben sollte. 1642 übernahm er beim Tod seines Vaters dessen Haus und die
Vormundschaft für zwei noch unmündige Geschwister, darunter den 19
Jahre jüngeren Bruder Thomas (1625-1709), den späteren
Dramatiker.
Erst Anfang 1643 brachte er ein neues
Stück heraus, Polyeucte martyr, eine
um 250 in Armenien spielende „christliche Tragödie“. Sie wurde ein Erfolg beim
Publikum, vor allem dank einer eingebauten Liebesgeschichte, der Klerus
allerdings kritisierte die Profanierung eines religiösen Stoffs auf der Bühne.
Ebenfalls 1643 schaffte es Corneille
mit einem Lobgedicht, sich die Gunst des Nachfolgers von Richelieu,
Kardinal-Ministers Mazarin, zu sichern und von ihm eine Pension von immerhin
1000 Francs gewährt zu bekommen.
Nach dem Polyeucte verfasste
Corneille eine ganze Serie von Stücken, in denen er den mit dem Cid eingeschlagenen
Weg weiterverfolgte und sich ein bestimmtes Image erwarb. Denn die Handlungen
beruhen sämtlich auf historischen, meist antiken, überwiegend römischen
Stoffen, weisen aber in der Regel einen verdeckten Bezug zur aktuellen
politischen Realität auf und kreisen um hochgestellte Personen, die den
Konflikt zwischen Neigung oder Leidenschaft und Pflicht zugunsten der Letzteren
lösen, insbes. im Sinne der Staatsräson, aber auch allgemein der Ethik von René
Descartes (s.o.). Die wichtigsten Titel bis 1648 sind La Mort de Pompée (1643), Rodogune,
princesse des Parthes (1644)
und Héraclius (1647). Die einzigen Komödien in der Serie sind Le Menteur
(=der Lügner, 1643) und La Suite [Fortsetzung] du Menteur (1644). Der
sehr erfolgreiche Menteur gilt als die erste Charakter-Komödie vor
Molière und wichtiges Vorbild für diesen. Die Tragödie Andromède, die
Corneille 1647 auf Bestellung Mazarins verfasste, die jedoch wegen widriger
Umstände erst 1650 zur Aufführung kam, war sein erstes Stück mit
Gesangseinlagen und dem Einsatz von Maschinen.
1647 wurde Corneille in die Académie Française
aufgenommen. Schon 1644 hatte er einen ersten Sammelband seiner Stücke
veröffentlicht; 1648 brachte er einen zweiten heraus. Er schien nun bestens
etabliert.
Hiernach jedoch wurde auch er erfasst
von den Wirren der Aufstände der sog. Fronde (1648-52) gegen Königinmutter Anne
d’Autriche, die für den noch unmündigen Louis XIV die Regentschaft ausübte, und
vor allem gegen ihren Minister Mazarin, der die absolutistische Politik
Richelieus fortsetzte. So geriet 1649 das vom Publikum zunächst gut
aufgenommene Stück Dom Sanche d’Aragon letztlich zum Misserfolg, weil
der Fürst Condé, der ranghöchste der Frondeure, die gerade Paris beherrschten,
eine Huldigung an Mazarin darin sah und den Daumen senkte.
Im Gegenzug wurde Corneille Anfang 1650
von Mazarin nach dessen vorläufigem Sieg belohnt, indem er am Parlement von
Rouen das hochrangige Amt des Anwaltes der (allerdings kaum mehr tagenden)
Ständeversammlung der Normandie erhielt, das durch Absetzung des Inhabers,
eines Frondeurs, frei geworden war. Dies erlaubte ihm, seine beiden bisherigen
kleineren Ämter verkaufen.
Dennoch scheint er sich innerlich bald
von Mazarin gelöst zu haben, denn sichtlich huldigte er noch 1650 mit Nicomède dem Fürsten Condé, der gefangen
genommen worden und zu einer Art antiabsolutistischen Lichtgestalt mutiert war.
Er musste jedoch erleben, dass Condé
nach seiner Freilassung 1651 endgültig unterlag und dass daraufhin Pertharite, roi des Lombards, ein Stück um einen von einem vom Thron
verdrängten König, in Paris durchfiel, weil das Thema obsolet geworden
war nach der siegreichen Rückkehr des jungen Louis XIV und seiner Mutter Anne
in die Hauptstadt.
Corneille, der überdies sein neues Amt
an seinen inzwischen amnestierten und wieder eingesetzten Vorgänger hatte
zurückgeben müssen, zog sich enttäuscht ins Private zurück. In dieser Zeit der
Frustration arbeitete er zunächst vor
allem an einer Versübertragung der Imitatio Christi des Thomas a
Kempis. Sie erschien von 1652-54 in drei Bänden unter dem Titel L’Imitation
de Jesu-Christ, brachte ihm sehr viel Anerkennung und wurde mehrfach neu
aufgelegt. Auch dieser Aspekt, dass Corneille sich des öfteren als religiöser
Autor betätigte, findet in den Literaturgeschichten kaum Beachtung.
Erst 1658 beendete er seine innere
Emigration. Ein Faktor war zweifellos, dass im Sommerhalbjahr die Wandertruppe
von Molière längere Zeit in Rouen gastierte und dort einige Stücke auch
Corneilles spielte. Hierdurch kam dieser mit der Truppe in Kontakt und
verliebte sich in die junge Schauspielerin Marquise du Parc. Als die Truppe im
Herbst nach Paris weiterzog, zog es ihn wieder häufiger dorthin. Ein weiterer
Grund war allerdings, dass sein Bruder Thomas 1656 mit dem Erfolgsstück Timocrate
dort eine eigene Karriere gestartet hatte und dass ihn auch der neue
Groß-Mäzen, Finanzminister Nicolas Fouquet, lockte, der ihm eine Pension von
2000 Francs aussetzte. In Paris bewegte er sich nun, von dem gesellschaftlich
geschickteren Thomas lanciert und flankiert, in dem Kreis um Fouquet sowie in
anderen Salons. Schon bald beschränkte er sich nicht mehr auf eine Rolle als
anerkannter Literat und galanter Gelegenheitslyriker, sondern er versuchte sich
auch wieder als Dramatiker, indem er auf einen Vorschlag Fouquets die Tragödie Œdipe verfasste. Die Aufführung Anfang
1659 durch die Truppe Molières und mit der Du Parc als Jocaste wurde zwar ein
mondänes Ereignis, doch schien es manchen Kennern, als habe Corneille
nachgelassen.
Das nächste Stück folgte 1660: die
Tragödie La Toison d’or (=das Goldene Vlies), die im Auftrag eines
reichen normannischen Adeligen entstand und mit aufwendigen Maschinen im Sommer
auf dessen Schloss und im Winter in Paris im Marais aufgeführt wurde.
Im selben Jahr brachte Corneille eine
neue Geamtausgabe seiner Stücke heraus, nun in schon drei Bänden, wobei er
jeden Band mit einem Discours [=Abhandlung] sur la poésie dramatique
eröffnete. Auch ließ er die beflissen-pompösen Widmungsadressen an
hochgestellte Persönlichkeiten fort, die er den früheren Einzelausgaben der
Stücke vorangestellt hatte und die ihm jetzt wohl unter seiner Würde schienen.
In der Tat war er als „le grand
Corneille“ zu einer Art Platzhirsch des Pariser Theaterlebens avanciert.
Den
Sturz Fouquets, der 1661 verhaftet und wegen Bereicherung im Amt verurteilt wurde,
überstand er unbeschadet. Er fand rasch einen neuen Gönner in Duc Henri de
Guise, von dem er selbst und Thomas (der eine Schwester seiner Frau geheiratet
hatte) samt ihren Familien im herzoglichen Stadtpalast aufgenommen wurden. Nach
dem Umzug von Rouen nach Paris lebten die Brüder Corneille übrigens für immer
hier, meistens, wie schon in der Heimatstadt, im selben Haus.
Als
1663 der neue Minister Colbert eine Liste von Autoren zusammenstellte, die von
ihm und seinem jungen König als einer Pension würdig erachtetet wurden und von
denen man im Gegenzug staatstragende und panegyrische Texte erwartete, kam auch
Corneille darauf mit erfreulichen 2000 Francs. Er entsprach den in ihn
gesetzten Erwartungen sogleich mit einem Remerciement présenté au Roi en 1663
und tat es auch in der Folgezeit recht häufig. Hierbei ergaben sich
zusätzliche konkrete Motive daraus, dass er den König schon 1664 mit einem
Sonett um die Neuausstellung seines Adelsbriefes bitten musste, der zusammen
mit Hunderten anderer durch einen Erlass Colberts kassiert worden war, und dass
er ihn später bei der Etablierung seiner älteren Söhne (zweier Offiziere und
eines Geistlichen) um Unterstützung anging.
Mit dem passabel erfolgreichen Œdipe
und dem vielbestaunten La Toison d’or hatte Corneille seine Arbeit als
Dramatiker voll wieder aufgenommen. Wie vorher schrieb er vor allem Tragödien
mit Stoffen aus der älteren, meist römischen Geschichte (Sertorius,
1661/62; Spohonisbe, 1662; Othon, 1664; Agésilas, 1665/66;
Attila, 1666/67). Hierbei bevorzugte er nun, seinen inzwischen sehr
erfolgreichen Bruder Thomas imitierend, eher romaneske Handlungen. Denn
sichtlich hatte sich der Publikumsgeschmack stark verändert aufgrund der
innenpolitischen Windstille, die nach dem Sieg des Absolutismus unter Mazarin
herrschte, aber auch dank der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung, die sich nach
dem Friedensschluss mit Spanien (1659) und dem Beginn der Alleinherrschaft des
jungen Louis XIV (1661) verbreitete. Die neuen Stücke von Corneille wurden sämtlich
aufgeführt (z.T. von der Truppe Molières) und sie hatten stets auch passablen
Erfolg, doch trafen sie nicht mehr recht den Nerv der Zeit. Sichtlich gelang es
Corneille nicht, jenen Bezug zur aktuellen Realität herzustellen, der die
Stücke ausgezeichnet hatte, die in den bewegten Zeiten vor und während der
Fronde entstanden waren.
1667 betätigte er sich erneut als Panegyriker, indem er den
im August siegreich aus dem Devolutionskrieg heimkehrenden Louis XIV mit dem
Lobgedicht Au Roi sur son retour de Flandre begrüßte und ihm etwas
später mit dem epischen Gedicht Les victoires du Roi en1667 huldigte.
Als im November 1667 Racine mit seinem erfolgreichen dritten
Stück, der Tragödie Andromaque, eine neue Ära einzuleiten schien,
war Corneille so geschockt, dass er an völligen Rückzug vom Theater dachte. In dieser
Situation schrieb er 1669 wiederum ein langes frommes Werk, das Office de la
Vierge traduit en français, tant en vers
qu’en prose, par P. Corneille, avec les sept psaumes pénitentiaux, les vêpres
et complies du dimanche et tous les hymnes du breviaire romain. Es erschien Anfang 70, mit einer Widmung an Königin
Marie-Thérèse. Anders als die Imitation von 1652-54 fand das Office
jedoch kaum Beachtung und erlebte auch keine Neuauflage.
Ende 1670 versuchte Corneille, gedrängt
von alten Freunden und Bewunderern, ein neuerliches Come back als Dramatiker
mit der „comédie héroïque“ Tite et Bérénice. Allerdings brachte der
inzwischen selbstbewusste Racine zur selben Zeit das themengleiche Stück Bérénice
heraus, das vom Publikum als das deutlich bessere bewertet wurde.
Corneille
schrieb dennoch drei weitere Stücke, die aber, ohne völlig erfolglos zu sein,
keinen größeren Anklang mehr fanden: Psyché (1670/71), Pulchérie
(1671/72) und Suréna, général des Parthes (1674). Eine Sonderstellung
nimmt hierbei die „Ballett-Tragödie“ Psyché ein, deren Plan und erster
Akt von Molière stammten, während die letzten drei Viertel von Corneille
verfasst wurden. Als bestes Werk seiner gesamten Spätzeit gilt heute das
letzte, die Tragödie Suréna.
Seinen
hohen Status in der Literatenszene und in der Pariser Gesellschaft konnte
Corneille bis zum Ende seines Lebens halten, u.a. dank dem Geschick und dem
Einfluss seines sehr loyalen Bruders Thomas sowie dank der Treue einiger
befreundeter Kollegen, z.B. Jean Donneau de Visé, der in seiner 1672
gegründeten Zeitschrift Le Mercure galant zuverlässig hinter ihm stand.
Auch erhielt er oft demonstratives Lob von Feinden und Neidern Racines, die
diesen so zu kränken gedachten.
In
Pariser Adelskreisen und am Hof behielt er ebenfalls seine Bewunderer, und
gewogen blieb ihm König Louis, dem er 1672 das lange Lobgedicht Les
victoires du Roi sur les États de Hollande en l'année 1672 widmete. 1675
und 76 hatte er die Genugtuung, dass Louis am Hof vier bzw. sechs ältere Stücke
von ihm aufführen ließ.
Die
gelegentlich zu findende Angabe, Corneille sei im Alter verarmt, ist nicht
richtig.
Nach
seinem Tod wurde sein Platz in der Académie Française (deren Sitzungen er stets
gewissenhaft besucht hatte) an seinen Bruder Thomas vergeben. Hierbei hielt
Ex-Rivale Racine die Begrüßungsrede, die zugleich eine Laudatio auf den
Verstorbenen war.
Was die Wirkung und Nachwirkung
Corneilles betrifft, so hat er nicht nur alle Dramatiker neben und nach ihm beeinflusst,
darunter Racine und später Voltaire (s.u.), sondern er gilt bis heute mit
seinen rd. 35 Stücken als einer der großen franz. Klassiker und als
bedeutendster Tragöde neben Racine (der trotz seines deutlich schmaleren Œuvres gern als der etwas Größere
erachtet wird). Aufgrund seines Erfolges in Frankreich
selbst wurde er schon zu seinen Lebzeiten in Übertragungen auch von deutschen
Theatertruppen gespielt. Bruder
Thomas, der zeitweise sogar erfolgreicher war als er, ist dagegen seit langem
in der literarhistorischen Versenkung verschwunden.
Jean Rotrou (* 21.8.1609 in Dreux; † 28.6.1650 ebd.)
Obwohl zu
Lebzeiten sehr erfolgreich und auch von großem Einfluss auf die Dramatiker
neben und kurz nach ihm, verschwand Rotrou nach seinem frühen Tod rasch im
Schatten des großen Dreigestirns der „Klassiker“ Corneille, Molière und Racine.
Erst in jüngerer Zeit hat die Literaturgeschichte ihm seinen Platz als eines
der fruchtbarsten und sicher auch fähigsten Dramatiker des 17. Jh.
zurückzugeben versucht.
Über das Leben
Rotrous ist nur wenig bekannt. Er stammte aus einer Richterfamilie in Dreux
(ca. 90 km westlich von Paris) und muss auch selber, überwiegend wohl in Paris,
Jura studiert haben. In seiner Eigenschaft als Jurist erhielt er die Zulassung
als Anwalt am Pariser Hohen Gericht, dem Parlement, und kaufte er später (1639)
ein Richteramt in seiner Heimatstadt, das er bis zu seinem Tod auch ausübte.
Allerdings trat
er früh (1626?) in Kontakt mit der Truppe der „Comédiens du Roi“, die im Hôtel
de Bourgogne spielte, und begann Stücke zu schreiben. Zugleich suchte er und
fand Anschluss im Pariser Literatenmilieu. Sein erstes bekanntes Stück
verfasste er mit 18: die Tragikomödie L’Hypocondriaque Ou la Mort amoureuse (=der
Hypochonder oder der verliebte Tod, Auff. 1628). In den Folgejahren lieferte er
seiner Truppe zahlreiche weitere Stücke, die überwiegend wohl nur Bearbeitungen
vorhandener in- und ausländischer Stücke waren und auch nie im Druck erschienen.
(Dies geschah allerdings auch deshalb nicht, weil damals die Truppen die von
ihnen uraufgeführten Stücke als ihr Eigentum betrachteten, wogegen ein
gedrucktes Stück Allgemeingut wurde und damit auch von anderen Truppen gespielt
werden durfte.)
Immerhin schien
der Hypocondriaque seinem jungen Autor offenbar zu wichtig, um
ungedruckt zu bleiben. Er schaffte es ihn 1631 mit einer Widmung an den Grafen
von xxx zu publizieren, wobei er unter dem Titel Œuvres poétiques
eine Sammlung eigener Gedichte aus verschiedenen Gattungen anhängte. Unsicher
ist, ob er hiermit Pierre Corneille (s.o.) imitierte, der im selben Jahr 1631
an sein erstes gedrucktes Stück, Clitandre, ebenfalls eine
Gedichtsammlung anhängte, oder aber ob er umgekehrt ihm zum Vorbild wurde.
Rotrous nächstes
gedrucktes Stück, La Bague de l’oubli (1635), war gewissermaßen epochemachend.
Es ist eine Bearbeitung des gleichnamigen Stücks von Lope de Vega, La
sortija del olvido, und leitet die Hinwendung Rotrous, Corneilles und
anderer franz. Autoren zur spanischen Literatur ein, deren „Goldenes Zeitalter“
gerade am Ausklingen war.
(Der geplante
Rest folgt leider aus gesundheitlichen Gründen wohl nicht mehr.)
Paul Scarron (* 4. (?) 7.1610 in Paris; † 7.10.1660 ebd.)
Er war zu seiner Zeit recht erfolgreich und wird heute gern
als Realist avant la lettre betrachtet.
Er stammte aus einer Juristen-Familie der bonne bourgeoisie parlementaire parisienne,
erhielt eine gute Bildung und ließ sich 1634 die Niederen Weihen erteilen. Dies
erlaubte ihm, 1636 eine einträglichen Domherrenpfründe in Le Mans zu besetzen,
nachdem eine Rom-Reise 1635 seine Bildung vervollständigt hatte.
Als 1638 eine fortschreitende
Muskellähmung sein Leben zu erschweren begann, verkaufte Scarron 1640 seine
Pfründe und kehrte nach Paris zurück, wo er Anschluss an die Literatenkreise
fand.
Er debütierte mit humoristischen Texten: 1643 publizierte er
den Sammelband Recueil de quelques vers burlesques,
der viel nachgeahmt wurde. Von 1648 bis 1652 arbeitete er an Le
Virgile travesti [=der verkleidete Vergil], einer Parodie von Vergils Epos Æneis, das im Lateinunterricht der Zeit obligatorisch war.
Fast von Anbeginn an war er auch als Komödienautor aktiv und
blieb es u.a. mit Jodelet ou le Maître valet [=J. oder der Herr als
Diener] (1645), Don Japhet d'Arménie (1653), L'Écolier de
Salamanque [=der Student aus Salamanca] (1654), Le Marquis ridicule ou
la comtesse faite à la hâte'' (=der lächerliche Marquis oder die eilig
kreierte Comtesse (1655), La fausse apparence (=der trügerische
Schein) (1657), Le Prince corsaire [=der Piratenfürst] (1658). Mit
seinen Komödien schwamm Scarron auf der Welle der zeitgenössischen Degen und
Mantel-Stücke im spanischen Stil.
Sein größter und dauerhaftester Erfolg wurde Le Roman comique (2 Bde, 1651 und 1657,
unvollendet). Es ist ein immer noch gut lesbarer burlesker Roman, dessen
Rahmen- und Haupthandlung mit derber Komik den heroisch-galanten Roman à la
Scudéry (s.o.) und La Calprenède (s.u.) parodiert und persifliert und dessen
eingelegte Novellen und Binnenerzählungen im galant-sentimentalen Ton
spanischer Vorbilder gehalten sind.
1652 mehrte eine ganz andere Aktion den
Bekanntheitsgrad Scarrons: Er ließ sich in den weltlichen Stand zurückversetzen
und heiratete, obwohl inzwischen weitgehend gelähmt und nicht eben reich, eine
16jährige mittellose adelige Waise, die ihm durch kluge und wohlgesetzte Briefe
aufgefallen war: Françoise d'Aubignée, eine Enkelin von Agrippa d’Aubigné
(s.o.), die später als Mme de Maintenon Gattin „linker Hand“ von Louis XIV
wurde. Dank dem Witz und Galgenhumor Scarrons, aber auch dank dem Charme und
Esprit seiner jungen Frau wurde ihr Haus zum Treffpunkt von Literaten und
geistig interessierten Aristokraten, was ihnen wiederum half, die Zuwendungen
diverser Mäzene zu erlangen, in den 1640er Jahren insbes. des Kardinals de Retz
(s.u.) und in den 1650ern des Finanzministers Fouquet.
Vielleicht zu Unrecht war Scarron 1651, während des
bewaffneten Aufstands anti-absolutistischer Kräfte, der „Fronde“, verdächtigt
worden, eine gegen den Minister Kardinal Mazarin gerichtete Polit-Satire
geschrieben zu haben, La Mazarinade.
Dies brachte ihn 1653, nach dem Sieg Mazarins, kurz in Schwierigkeiten und
veranlasste ihn, für mehrere Monate aus Paris zu verschwinden.
Das
Schaffen Scarrons fällt zeitlich zusammen mit dem Höhepunkt des Einflusses der
spanischen Literatur des „goldenen Zeitalters“ um 1600, des „Siglo de oro“, auf
die französischen Autoren. Dieser Einfluss war zweifellos mitbedingt durch das
Interesse, das Spanien als Kriegsgegner Frankreichs während des Dreißigjährigen
Krieges und danach noch bis zum Pyrenäenfrieden von 1659 genoss.
La Calprenède (Gautier de
Costes, sieur de la Calprenède, * um 1610 in Sarlat/Dép. Dordogne; † 15.10.1663 in Les Andelys)
La Calprenède
(wie er in der
Literaturgeschichte heißt) war um die Mitte des 17. Jh. ein in ganz West- und
Mittel-Europa vielgelesener Romanautor.
Er stammte aus einer Familie des
mittleren Amtsadels und ging nach Abschluss seiner Schul- und Studienzeit in
Cahors und Toulouse 1632 nach Paris, wo er eine Offizierskarriere in der
königlichen Garde begann. Dank seinem Talent als fantasievoller Erzähler gelang
es ihm, der Königin aufzufallen, und er erhielt das mehr Ehre als Dienst
bedeutende Amt eines gentilhomme du roi.
Früh begann er zu schreiben, und zwar,
neben ersten Romanen, Tragödien und Tragikomödien um Figuren aus der antiken
und der englischen Geschichte. Neun seiner Stücke gelangten zwischen 1632 und
1641 auch zur Aufführung, blieben jedoch ohne größere Resonanz.
Um 1640 schwenkte er um auf vielbändige
historische Romane im Stil des zeitgenössischen "heroisch-galanten"
Romans und wurde mit ihnen erfolgreich.
Die einzelnen
Titel sind: Cassandre (10 Bde.,
1642-45), Cléopâtre (12 Bde.,
1647-56) und Faramond ou l'Histoire de
France (12 Bde, 1661-1670). Der Letztere wurde von einem Fortsetzer beendet, nachdem La
Calprenède an den Folgen eines Reitunfalls gestorben war.
Wie im heroisch-galanten Roman üblich,
sind die zentralen Figuren hochstehende, teils aus der Geschichte bekannte,
teils fiktive Personen. Die Hauptthemen sind Liebe, Leidenschaft und heroische
Taten. Die Haupthandlung versucht die drei Einheiten einzuhalten, wird aber
ständig durch zeitlich zurückliegende Nebenhandlungen und durch Reden der Figuren
verlangsamt.
François de La Rochefoucauld (* 15.9.1613 in
Paris; † 17.3.1680 ebd.)
Er entstammte einer alten adeligen
Familie, die 1622 vom Grafen- in den Herzogsstand erhoben worden war. Ehe er
nach dem Tod seines Vaters 1650 den Herzogstitel erbte, trug er den eines
"prince [=Fürst] de Marcillac". Bereits mit knapp 15 wurde er
standesgemäß verheiratet. Zwar hatte er nie ein engeres Verhältnis zu seiner
Frau, bekam aber mehrere Kinder mit ihr.
Als der Adelige, der er war, nahm La
Rochefoucauld in den 1630er Jahren als Offizier an Feldzügen in Italien und
Flandern teil, ohne sich jedoch durch mehr als die vom ihm erwartbare Bravour
auszuzeichnen.
Ebenfalls in den 30er Jahren beteiligte
er sich unter dem Einfluss der Duchesse de Chevreuse an den erfolglosen
Intrigen der Königin Anne d'Autriche und des Hochadels gegen Kardinal
Richelieu, was ihm 1637 eine Woche Haft in der Bastille und die Verbannung aus
Paris eintrug. Nach dem Tod Richelieus (1642) und von Louis XIII (1643)
erhoffte er sich einen einflussreichen Posten von Anne d'Autriche, die für den
kleinen Louis XIV die Regentschaft ausübte. Er musste jedoch erleben, wie Anne
Kardinal Mazarin begünstigte, der bald die absolutistische Politik Richelieus
fortsetzte.
1648 beteiligte sich La Rochfoucauld unter
dem Einfluss der aus einer Seitenlinie des Königshauses stammenden Duchesse de
Longueville (mit der er 1649 einen außerehelichen Sohn bekam) an der
"Fronde", einem bewaffneten Aufstand der Hohen Richter der
Parlements, des Volkes von Paris und des Hochadels gegen Mazarin und die Krone.
Hier spielte er mehrfach eine Rolle bei Verhandlungen der Parteien, erlitt in
den Bürgerkriegswirren aber auch große Vermögensverluste. 1652 wurde er, auf
der Seite des Prince de Condé gegen Mazarin kämpfend, im Gesicht verwundet und
zog sich auf eines seiner Landgüter zurück. Da er zu stolz war, nach dem Sieg
Mazarins um seine Begnadigung zu bitten, wurde er für rechtlos erklärt und floh
ins österreichische Luxemburg.
1653 machte er dann doch seinen Frieden
mit Mazarin und dem jungen Louis XIV, dem er jedoch immer suspekt blieb. Er kam
zurück nach Paris und versuchte, seine prekären Vermögensverhältnisse zu
ordnen. Um seine Enttäuschung nach dem Sieg Mazarins zu verarbeiten, verfasste
er in diesen Jahren die von 1624 bis 1652 reichenden Memoires (die 1662 gegen seinen Willen als Raubdruck in Amsterdam
erschienen und ihm schadeten, da sich darin viele noch lebende Personen
unvorteilhaft dargestellt fanden).
In Paris verkehrte La Rochfoucauld am
Hof und in adeligen Kreisen, mehr aber in Salons, z. B. dem der Marquise de
Sablé, sowie in jansenistisch inspirierten Zirkeln, wo man angesichts der
Frage, warum der eine Mensch offenbar von Gott erwählt ist und der andere
nicht, ein neuartiges Interesse für das Individuum, seine Psychologie und sein
Verhalten entwickelte.
1658 begann er mit der Abfassung
kürzerer aphoristischer Betrachtungen über die Natur des Menschen allgemein und
die Verhaltensweisen der Angehörigen der adeligen Gesellschaft im Besonderen. 1664 gab er unter dem Titel Réflexions ou sentences et maximes morales eine
Sammlung dieser pointierten, meist pessimistischen, oft sarkastischen Texte zum
Druck.
Da sich das Buch trotz der negativen
Weltsicht seines Autors gut verkaufte, ließ er 1666, 1671, 1675 und 1678 Neuauflagen
folgen, in denen die Zahl der "Sentenzen und Maximen" von zunächst
rd. 300 auf rd. 500 anwuchs. Die in der Literaturgeschichte meist unter dem
schlichten Titel Maximes laufende
Sammlung wurde so zu seinem Hauptwerk. Ein Sammelband von Texten mit dem Titel Réflexions diverses kam postum hinzu.
1671 übermachte er seinen Herzogstitel
seinem ältesten, eher ungeliebten Sohn, der als Kammerherr des Königs
fungierte, d.h. als Edeldomestik, der rund um die Uhr bereit zu stehen hatte
(und so jahrzehntlang praktisch nie aus Versailles heraus kam). La
Rochefoucaulds letzte Jahre wurden von einem starken Gichtleiden sowie dem
Verlust seiner beiden Lieblingssöhne im Krieg (1672) überschattet. Einen
gewissen Trost verschaffte ihm in dieser Zeit seine enge Freundschaft mit der
Romanautorin Madame de La Fayette (s.u.).
Er ist der erste und einer der
bedeutendsten jener über den Menschen und die Gesellschaft reflektierenden
Autoren des 17./18. Jh., die in der franz. Literaturgeschichte unter dem Namen
"les Moralistes" zusammenfasst werden (und für die es in der
deutschen Literaturgeschichte kein Pendant gibt).
Gilles Ménage (* 15.8.1613 in Angers; † 23.7. Juli
1692 in Paris)
Ménage ist heute als Autor zwar völlig
vergessen, war jedoch eine interessante Figur in der Pariser literarischen
Szene um die Mitte des 17. Jh.
Er stammte aus einer Juristenfamilie
und studierte Jura, um Anwalt zu werden wie sein Vater und sein Großvater (der
sich auch als juristischer Autor betätigt hatte). Er erhielt zwar noch die
Zulassung am Parlement von Paris, doch gab er hiernach, vielleicht aus
gesundheitlichen Gründen, die Juristerei auf. Er ließ sich statt dessen die
Niederen Weihen erteilen und kumulierte kleinere kirchliche Pfründen, die ihm
ein gewisses Einkommen sicherten, aber keine Präsenz vor Ort verlangten. So
konnte er als l’Abbé Ménage, wie er nun hieß, in Paris seinen literarischen und
philologischen Interessen nachgehen und sich in intellektuell interessierten
Kreisen bewegen.
Insbesondere verkehrte er in den 40er
Jahren im „preziösen“ Salon der Marquise de Rambouillet, wo er z.B. eine
gelehrige Schülerin und langjährige spätere Freundin fand in der jugendlichen
Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, der späteren Romanautorin Madame de La
Fayette (s.u.). Wohl ab 1643 zählte er zum Umfeld von Paul de Gondi alias de
Retz, dem ehrgeizigen Stellvertreter und designierten Nachfolger des Pariser
Erzbischofs sowie, ab 1651, Kardinal (s.u., Cardinal de Retz).
Nach
der Niederlage des Aufstandes der „Fronde“ 1652 und der Verhaftung von Retz als
Rädelsführer, schloss Ménage sich locker der Partei der Sieger unter Mazarin
an. Etwa ab derselben Zeit verkehrte er im Salon der Romanautorin Madeleine de
Scudéry (s.o), wo er sich mit der jungen Marquise de Sévigné (s.u.)
befreundete. Wenig später trat er auch in Verbindung mit dem Kreis um den neuen
Pariser Groß-Mäzen, den (1661 verhafteten) Finanzminister Nicolas Fouquet.
Inzwischen
lebte er im Domherrenstift von Notre-Dame de Paris. Hier unterhielt er selber
einen Zirkel bürgerlicher Literaten, deren Treffen er nach dem Mittwochstermin
„Mercuriales“ (lat. „dies Mercurii“) nannte.
Als Autor von Versen, die er vor allem
zum Vortrag in den von ihm besuchten Salons verfasste, dichtete Ménage nicht
nur französisch, sondern auch italienisch und lateinisch. Zentrales Thema
seiner Madrigale, Eklogen, Episteln, Epigramme usw. war die galante Verehrung
der Damen. Seine Gedichte erschienen 1656 gesammelt als Poemata latina,
gallica, graeca, et italica. Auf sein Wirken soll die Verbreitung der
„bouts-rimés“ zurückgehen, einer Modegattung in den Salons der Preziosität.
Vor allem aber war Ménage Philologe und
solcher u.a. Mitglied der Gelehrten- und Literatenvereinigung der Florentiner
Accademia della Crusca. Seine Abhandlung Origines de la langue française (1650; später ausgebaut und neu herausgegeben als Dictionnaire
étymologique) und die Origini della lingua italiana (1669) zählen zu
den ältesten Beiträgen der seriösen etymologischen Forschung in Frankreich.
Daneben war er ein streitbarer
Charakter und gefürchteter Polemiker. So wechselte er Ende der 50er Jahre
erbitterte Pamphlete mit dem Literatenkreis um Jean Chapelain (s.o.). Scharf auch ging
er z.B. mit den erfolgreichen Remarques
sur la langue française, utiles à
ceux qui veulent bien parler et écrire von Claude Favre de Vaugelas (1647,
s.o.) ins Gericht, denen er seine Observations sur la langue française (1672)
entgegenstellte.
Molière (s.u.) konnte sichtlich mit
einem gewissen Bekanntheitsgrad seiner Figur rechnen, als er ihn 1672 in der
Rolle des pedantisch-preziösen Gelehrten Vadius in den Femmes savantes auftreten
ließ. Schon vorher hatte ihn Nicolas Boileau (s.u.) satirisch verspottet.
Ein interessantes Dokument für
Literarhistoriker sind die Erinnerungen, Betrachtungen und Bonmots von Ménage,
die 1693 postum gesammelt unter dem Titel Menagiana erschienen.
Le cardinal de Retz (= Jean-François Paul de Gondi alias de Retz, * 20.9.1613 in Montmirail/Marne; † 24.8.1679 in Paris)
Dieser auch aufgrund seiner turbulenten
Biografie interessante Autor gilt den Franzosen als einer ihrer Klassiker der
Gattung Memoiren.
Retz (wie er i. d. R. schlicht genannt
wird) war Enkel eines italienischstämmigen Lyoneser Bankiers, der dank der
Protektion von Catherine de Médicis (ab 1533 Gattin und später lange Zeit
mächtige Witwe von König Henri II) zu hohen Ämtern und dem Titel eines Herzogs
der kleinen Landschaft Retz in der Bretagne gelangt war und seinem Sohn, Retz’
Vater, zu einer hochadeligen Partie und einem Generalsposten verholfen hatte.
Da Retz nur zweitgeborener Sohn war und ein jüngerer Bruder seines Großvaters
es zum Bischof gebracht hatte, wurde er mit 10 tonsuriert. Als er 13 war, starb
seine Mutter und sein frommer Vater zog sich als Mönch in ein Kloster zurück.
Er selbst kam ins Internat des von Jesuiten geführten Pariser Collège de Clermont, wo er einem
Klassenkameraden, dem späteren Literaten Tallemant de Réaux, als streitsüchtig
und geltungsbedürftig in Erinnerung blieb, aber ein begabter Schüler war, der
z.B. sechs Fremdsprachen lernte (darunter, für einen damaligen Franzosen
ungewöhnlich, auch Deutsch). Nach Beendigung des Kollegs nahm er lustlos sein
Theologiestudium auf, das ihn nicht hinderte, sich zugleich im adeligen Milieu
als Schürzenjäger zu betätigen oder 1638 eine Erzählung um den Genueser Grafen
Fiesco zu verfassen, dessen Rolle als Kopf einer Verschwörung gegen den Dogen
Andrea Doria (1547) ihn offenbar faszinierte.
1638 schloss er das Studium dennoch mit
Glanz ab, wurde zum Priester geweiht und entwickelte sich in den Folgejahren zu
einem erfolgreichen mondänen Prediger. Komplett ausgearbeitete Texte seiner
Predigten sind nicht erhalten, wohl auch deshalb, weil er offenbar weitgehend
improvisierte.
Als der Hochadelige und Ehrgeizige, der
er war, beschäftigte Retz sich aber nicht nur mit seinen kirchlichen Aufgaben
und seinen Liebschaften, sondern vor allem mit der Politik, d.h. den
Machtkämpfen vor und hinter den Kulissen am Hof. So beteiligte er sich 1638 und
1641 an den erfolglosen Intrigen der Königin Anne d’Autriche und des Hochadels
gegen den allmächtigen Kardinal de Richelieu.
Nach dem Tod von Richelieu (1642) und
König Louis XIII (1643) gelang es Retz, zum Stellvertreter und designierten
Nachfolger seines Großonkels ernannt zu werden, der inzwischen zum Erzbischof
von Paris avanciert war. Anfang 1644 wurde er in seinem Stellvertreteramt zum
Titularbischof von Korinth geweiht, einer nur auf dem Papier existierenden
Diözese. Er war nun ein einflussreicher Mann in Paris, als der er auch
Literaten und Künstler protegierte.
Die Beförderung Mazarins zum Kardinal
und Minister durch die Königinmutter und nunmehr Regentin Anne d’Autriche
spornte seinen Ehrgeiz an, eine ähnliche Karriere zu versuchen. So beteiligte
er sich als Akteur, aber auch als gefürchteter Pamphletist am Aufstand
(1648–52) des Pariser Parlements und dann des Hochadels gegen Anne und Mazarin,
der sog. Fronde. Hierbei wechselte er, zunächst glücklich, mehrfach die Seiten
und zog sich 1651 mit Hilfe Annes einen Kardinalshut an Land. 1652 geriet er jedoch
zwischen die Stühle und wurde im November, bald nach der Rückkehr des jungen
Königs Louis XIV nach Paris, als Rädelsführer verhaftet und in die Festung
Vincennes gebracht.
1654 starb sein Onkel, der Erzbischof,
und Retz gedachte die ihm eigentlich zustehende Nachfolge anzutreten. Doch der
inzwischen für volljährig erklärte Louis war nicht gewillt, dies zuzulassen,
sondern versuchte ihn zum Verzicht zu zwingen. Als Retz ablehnte, wurde er nach
Nantes geschafft, in die ferne Provinz.
Dort konnte er auf abenteuerliche Weise
aus der Gefangenschaft fliehen und verließ Frankreich, nicht ohne einen
fulminanten Protestbrief an die franz. Bischöfe zu richten. Seine Klagen
verhallten jedoch wirkungslos und er blieb im Exil, das er unstet in Spanien,
Italien, England, der Schweiz sowie (er war ja Kardinal) in Rom verlebte. 1662,
nachdem er endlich doch auf die Nachfolge seines Onkels verzichtet hatte, wurde
er von Louis begnadigt. Er erhielt als Entschädigung die reiche lothringische
Abtei Commercy zugewiesen, blieb jedoch vom Hof (wo sich für einen Hochadeligen
wie ihn alles Wesentliche abspielte) ausgeschlossen. Immerhin wurde er von
Louis mehrfach (1662, 65, 68 und 70) in diplomatischen Missionen nach Rom
geschickt bzw. bei Papstwahlen beauftragt, im Sinne Frankreichs zu agieren.
Ab 1670 zog er sich völlig zurück nach
Commercy. Hier diktierte er schließlich (1671-75?) seine Memoiren, die er einer
anonymen adeligen Dame widmete, vermutlich Mme de Sévigné (s.u.), deren
Ehevertrag er 1644 mit abgezeichnet hatte und die 1664 einige Zeit in Commercy
zu Gast gewesen war. Das Manuskript ist erhalten, allerdings nicht lückenlos.
1675 wurde Retz fromm, was ihm etliche
Zeitgenossen nicht abnehmen wollten. Er starb bei dem Besuch einer Nichte in
Paris und wurde in der Basilika Saint-Denis beigesetzt, auf Befehl des Königs
ohne Namen auf seiner Grabplatte.
Im Zentrum der Mémoires stehen
die Jahre vor und während der Fronde, d.h. Retz’ hohe Zeit als Drahtzieher und
Intrigant. Sie gelten als ein Meisterwerk der Gattung aufgrund der
psychologischen Intuition, mit der Retz beobachtet, der Präzision und
Pointiertheit, mit der er formuliert, aber auch dem Geschick, mit dem er sich
und seine Positionen in Szene setzt. Die Mémoires
waren, als sie postum 1717 in der Umbruchstimmung nach König Louis’ XIV Tod
erschienen, ein großer Publikumserfolg und wurden bis ins 19. Jh. hinein als
eine Art Lehrbuch der politischen Intrige und des Machtpokerns gelesen.
Antoine
Furetière
(1619–1688)
Ein als belletristischer Autor nur der
zweiten Reihe angehörender Literat. Er stammte aus kleinbürgerlichen Pariser
Verhältnissen, konnte sich aber eine gute Bildung verschaffen, sogar ein
Jurastudium anschließen und ein kleineres Amt kaufen. Zusätzlich ließ er sich
die Niederen Weihen erteilen, um – mit Erfolg – an Pfründen zu kommen, die ihm
ein auskömmliches Leben sicherten. Ansonsten verkehrte er in Pariser
Literatenkreisen, betätigte sich in verschiedenen Gattungen (z.B. schrieb er,
ähnlich wie Scarron, 1649 eine burleske Æneis)
und war ein gefürchteter Satiriker und Kritiker. 1662 wurde er Mitglied der
Académie française. 1666 erschien sein Roman
bourgeois, eine Abrechnung mit dem heroisch-galanten Roman, dem Furetière
ein in bürgerlichen Kreisen spielendes realistisches Pendant gegenüberzustellen
versucht (das streckenweise aber langweilig ist und bei den Zeitgenossen auf
deutlich weniger Interesse stieß als bei heutigen Literarhistorikern).
Furetière sollte vor allem als Gelehrter bedeutsam werden: Da ihn die Mitarbeit
am Wörterbuch der Académie passionierte,
dieses ihm aber zu langsam vorankam, erstellte er ein eigenes Dictionnaire universel contenant généralement tous les termes de toutes les sciences et des arts. Als das Werk 1684
fertig war, durfte es aber wegen Protests der Académie, die Furetière geistigen
Diebstahl vorwarf und ihn sogar aus ihren Reihen ausschloss, nicht erscheinen
und wurde erst 1690 postum von dem bedeutenden Frühaufklärer Pierre Bayle in
Holland gedruckt. Der Furetière gilt
heute, weil er (anders als das 1694 erstmals erschienene, puristisch und
normativ angelegte Académie-Wörterbuch) auch umgangssprachliche und
fachsprachliche Bedeutungen von Wörtern verzeichnet, als wichtige Quelle für
die franz. Sprache des 17. Jh. Er wurde zum Vorbild vieler späterer
Wörterbücher.
Hercule Savinien Cyrano de Bergerac (* 6.3.1619 in Paris, † 28.7.1655 in Sannois bei Paris)
Er ist heute vor allem als romaneske
Dramen- oder Filmfigur bekannt. Die eigentliche Bedeutung dieses Autors, der
sich in vielen Genres betätigte, liegt jedoch darin, dass er als einer der
Erfinder des Science fiction-Romans und als ein Vorläufer der Aufklärer des 18.
Jahrhunderts gelten kann.
Cyrano – wie er in den
Literaturgeschichten meistens schlicht heißt – stammte aus einer ursprünglich
bürgerlichen Familie, doch hatte sein Großvater, der Pariser Seefisch-Händler
Savinien Cyrano, 1571 das adelnde Amt eines Königlichen Notars und Sekretärs
gekauft und später, 1582, zwei Landgüter unweit der Hauptstadt erworben,
darunter eines, das einer aus dem Südwesten zugewanderten adeligen Familie de
Bergerac gehört hatte. Cyranos Vater, Abel de Cyrano, besaß ein höheres Amt am
Obersten Pariser Gericht, dem Parlement, und firmierte bei seiner Heirat unter
dem adeligen Titel „écuyer“ (eigentlich „Schildknappe“). Cyrano selbst
betrachtete sich uneingeschränkt als adelig und zeichnete meist „(de)
Bergerac“.
Seine Kindheit als vierter Sohn seiner
Eltern verbrachte er, offenbar weitgehend getrennt von ihnen, zum Teil auf
einem der Güter, zum Teil bei einem Dorfpfarrer, der ihm Unterricht erteilte.
Später besuchte er das jansenistisch orientierte Collège de Beauvais in Paris.
Ein gelehriger und braver Schüler war er anscheinend nicht. Den Direktor des
Kollegs, einen allseits geachteten Gelehrten, karikierte er später in einer
Komödie.
Nach Beendigung der Schulzeit 1638
führte er zunächst ein Dandy-Leben. Offenbar jedoch verschlechterte sich die
finanzielle Lage der Familie um dieselbe Zeit, denn schon 1636 hatte sein Vater
die Güter verkauft. Cyrano verdingte sich deshalb in einem Garde-Regiment, das
hauptsächlich aus gasconischen Kadetten bestand, so dass auch er selbst – zu
Unrecht – oft als Gascone betrachtet wurde. Bei seinen Kameraden machte er sich
einen Namen als Haudegen und Duellist, doch kannte man ihn auch als Verfasser
von Versen.
1639 und 40 nahm er mit seinem Regiment
am französisch-spanischen Krieg teil, der sich zu dieser Zeit im Nordwesten
Frankreichs abspielte. Er wurde zweimal verwundet, hängte danach den
Soldatenrock an den Nagel und kehrte nach Paris zurück.
Hier hörte er ab 1641 die Vorlesungen
des Naturphilosophen und –forschers Pierre Gassendi. Über ihn lernte er die
Theorien der antiken Naturphilosophen kennen, aber auch das heliozentrische
Weltbild nach Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei, das vom katholischen
Klerus nach wie vor als ketzerisch verdammt wurde, sich aber langsam
durchzusetzen begann. Darüber hinaus befasste er sich mit den Schriften des
Philosophen René Descartes (s.o.) sowie religionskritischer freidenkerischer
Autoren. Auch die Alchemie beschäftigte ihn.
Nebenher nahm er Tanz- und Fechtstunden
und bewegte sich in Kreisen junger Adeliger, wo man eine gewisse Freigeisterei
kultivierte. Zunehmend fand er auch Anschluss an Literaten, darunter die
relativ bekannten Autoren Paul Scarron (s.o.) und Tristan l’Hermite (s.o.)
sowie den weniger bekannten Charles d’Assoucy, mit dem er vermutlich durch ein
homosexuelles Verhältnis verbunden war.
Seine finanzielle Lage war prekär in
diesen Jahren, denn sein Vater konnte oder wollte ihn nicht unterstützen. Auch
gesundheitlich ging es ihm offenbar nicht gut, vermutlich aufgrund einer
Syphilis-Infektion. Das kleine Erbe, das ihm 1648 beim Tod des Vaters zufiel,
gab er rasch aus.
Während der politisch wirren Zeit der
Fronde (1648-52) war Cyrano zunächst auf Seiten des aufständischen Volkes von
Paris und des Pariser Parlements, d. h. der Gegner der regierenden
Königinmutter Anne d’Autriche und ihres unbeliebten Ministers, Kardinal
Mazarin. Gegen diesen verfasste er das satirische Gedicht Le Ministre d’État
flambé, sowie wohl auch anonym einige sog. Mazarinaden, d.h.
Anti-Mazarin-Pamphlete (die sich, nach dem Muster der Mazarinade von
Scarron, zu einer eigenen Gattung entwickelt hatten).
1651 jedoch, nachdem sich die Fronde zu
einer Revolte des Hochadels entwickelt hatte, wechselte Cyrano die Seite, brach
mit seinen bisherigen Freunden, insbes. Scarron und d’Assoucy, und verfasste
eine Lettre contre les Frondeurs, worin er Mazarins absolutische Politik
verteidigt.
Spätestens 1650 begann er den
zweiteiligen Roman, der sein Hauptwerk werden sollte, L’autre monde.
Hierin berichtet ein Ich-Erzähler von seiner angeblichen Fahrt zum Mond und zur
Sonne und von seinen Gesprächen und Erlebnissen mit deren Bewohnern (z. B. den
humoristisch verfremdeten biblischen Figuren des Propheten Elias und des
Patriarchen Enoch, die er auf dem Mond antrifft). Hierbei legt Cyrano den Mond-
und Sonnenbewohnerrn philosophische, naturkundliche, religiöse und
gesellschaftspolitische Gedanken in den Mund, die man in Frankreich zu dieser
Zeit nicht äußern durfte.
1652 trat er als eine Art Edeldomestik
in den Dienst des Herzogs (duc) und hohen Militärs d’Arpajon. Ihm widmete er
seine 1654 gedruckte Tragödie La Mort d’Agrippine (Der Tod des
Agrippina), ein historisches Stück im Stile Corneilles (s.o.), in das er
religionskritische Tiraden einbaute, die bei der Aufführung Ende 1653 großen
Anstoß erregten.
1654 ließ er eine Sammelausgabe bis
dahin verfasster kleinerer Werke erscheinen, insbes. die in Prosa geschriebene
Komödie Le Pédant joué (=der übertölpelte Pedant), aus dem Molière
(s.u.) für sein vorletztes Stück, Les fourberies de Scapin, geschöpft
hat, und die Lettres sur divers sujets, literarische, überwiegend
satirische Briefe zu verschiedenen Themen, in denen er sich u.a. eine
erstaunlich offene Bibel- und Kirchenkritik erlaubt.
Im selben Jahr 1654 – sein Roman von
der Mondfahrt war fertiggestellt, der der Sonnenfahrt noch in Arbeit – ereilte
ihn ein tragischer Unfall, der allerdings von manchen auch als Mordanschlag
gedeutet wurde: unter ungeklärten Umständen fiel ihm im Stadtpalast seines
Protektors ein Balken auf den Kopf. Er wurde zunächst in Paris von seiner
Schwester Catherine, einer Nonne, gepflegt und später von einem Cousin in
Sannois aufgenommen. Dort starb er ein gutes Jahr nach dem Unfall (ob an dessen
Folgen oder an einer Krankheit, ist nicht bekannt) im Alter von erst 36 Jahren.
Er erhielt ein kirchliches Begräbnis, hatte sich also vor seinem Tod mit der
Kirche arrangiert.
Sein letztes Werk (dessen Zuschreibung
allerdings nicht völlig sicher ist), ein Traité de physique, kam über
das Anfangsstadium nicht hinaus.
Die beiden utopischen Romane wurden
1657 bzw. 1662 postum unter dem Titel Les États et Empires de la Lune
und Les États et Empires du Soleil von Henri Lebret, einem Jugendfreund,
publiziert. Dieser tilgte hierbei diverse anstößige Passagen, die sich aus den
erhaltenen Manuskripten jedoch restituieren lassen. Dem Vorwort Lebrets
entstammen die meisten der Informationen, die zur Person von Cyrano bekannt
sind.
Molière (=Jean-Baptiste
Poquelin, *14.(?) 1.1622
Paris; †17.2.1673 ebd.)
Dieser Schauspieler, Theaterdirektor
und Dramatiker gilt den Franzosen als einer ihrer großen Klassiker und vielen
sogar als ihr größter Autor überhaupt. Seine bahnbrechende Leistung bestand
darin, die Komödie zu einer der Tragödie potenziell gleichwertigen Gattung zu
erheben und das Theater zumindestens für einige Jahre zum Diskussionsforum für
„richtiges“ und „falsches“ Verhalten in der Gesellschaft seiner Zeit zu machen,
d.h. vorzugsweise ihrer oberen Schichten.
Poquelin alias Molière war ältester
Sohn eines wohlhabenden Pariser Händlers für Heimtextilien (tapissier), der
1631 das Amt eines Tapissier du Roi
kaufte, d.h. eines königlichen Raumausstatters und Dekorateurs. Mit 10 verlor
er seine Mutter, mit knapp 15 auch seine Stiefmutter, beide gestorben im
Kindbett, was ihn sicher traumatisierte. Seine Schulzeit absolvierte er auf dem
von Jesuiten geführten Collège de Clermont, wo er eine solide klassische
Bildung erhielt und einige später für ihn wichtige Mitschüler hatte. Von seinem
Großvater mütterlicherseits, einem Theaternarren, wurde er häufig zu
Aufführungen mitgenommen, sowohl in das seriöse Hôtel de Bourgogne, als auch
zum volkstümlichen Jahrmarkttheater (théâtre de la foire), und erhielt so erste
Einblicke in diese ihn offenbar früh faszinierende Welt.
Mit knapp 16 legte er jedoch brav den
Amtseid als künftiger Amtsnachfolger seines Vaters ab und studierte wenig
später Jura in Orléans. Ob er sich, 1641 zurück in Paris, als Anwalt versucht
hat, ist unbekannt. Sicher ist, dass er um diese Zeit Vorlesungen des
Naturforschers und Philosophen Pierre Gassendi frequentierte, was ihm eine
gewisse Distanz zu der offiziellen aristotelischen Philosophie und den Dogmen
der Kirche vermittelte. Eine Vers-Übertragung des Werkes De natura rerum
des römischen Naturphilosophen Lukrez, die er damals offenbar begann, ist nicht
erhalten.
1641 oder 42, also mit etwa 20, lernte
er die Schauspielerfamilie Béjart und insbes. die zwei Jahre ältere Madeleine Béjart
kennen, die ihn faszinierte und in seinem Drang zum Theater bestärkte –
zweifellos gegen den Willen seines Vaters, von dem er 1642 beauftragt wurde, in
Ausübung seines tapissier-Amtes König
Louis XIII auf einer längeren Reise als Einrichter von dessen wechselnden
Nachtquartieren zu begleiten.
1643 übertrug er das ungeliebte Amt auf
einen jüngeren Bruder, ließ sich einen Vorschuss auf das Erbe seiner Mutter
auszahlen und gründete zusammen mit Madeleine Béjart und ihren Geschwistern
Joseph und Geneviève sowie sechs weiteren Schauspielern ein Theater: L'Illustre Théâtre. Spielort war ein
umfunktionierter Ballspielsaal (jeu de paume).
Das Illustre Théâtre kam
offenbar nie recht in Fahrt und ging 1645 pleite, wobei Molière, wie er sich
wohl ab 1643, spätestens aber im Juni 44 nannte, als Chef der Truppe schon
vorher vorübergehend in Schuldhaft genommen worden war.Danach schlossen er und
die Béjarts sich einer Wandertruppe an, die hauptsächlich in West- und
Südfrankreich umherzog und vom Duc (Herzog) d'Épernon protegiert wurde.
Relativ schnell arbeitete Molière sich
in der Truppe hoch zum Direktor und gewann 1653 für einige Jahre (bis 1657) als
Sponsor den Gouverneur der Provinz Languedoc, den ihm aus der Schulzeit
bekannten Prince (Fürst) de Conti. Spezialität der Truppe waren, neben einem
Repertoire aus Tragödien, Tragikomödien und Komödien zeitgenössischer Autoren,
vor allem Farcen und lustige Sketche im Stil der Commedia dell'arte. Gegen 1655
begann Molière auch eigene Stücke zu verfassen und ins Programm aufzunehmen,
z.B. die Verskomödie L'Étourdi (Der
Tolpatsch), die um einen gewitzten und pfiffigen Diener und seinen nicht eben
lebenstüchtigen jungen Herrn spielt.
1658, nach 13 Wanderjahren, in denen er
Menschen aus allen Schichten begegnet war und von Grund auf sein Handwerk als
Schauspieler, Theaterdirektor und schließlich auch Autor gelernt hatte,
gastierte Molière in Rouen (wo er dem schon berühmten Dramatiker Pierre
Corneille begegnete) und bekam Kontakt zu „Monsieur“, dem jüngeren Bruder
Philippe von Louis XIV. Er wurde von ihm nach Paris eingeladen und spielte vor
dem Hof, zuerst mit mäßigem Echo die Tragödie Nicomède von Corneille
(s.o.) und im Anschluss daran die eigene Farce Le Docteur volant (Der
fliegende Doktor). Diese gefiel dem eben 20-jährigen König Louis so sehr, dass
er der Truppe erlaubte, im Saal des an den Louvre grenzenden, zum Abriss
bestimmten Petit-Bourbon zu spielen, wo allerdings die „jours ordinaires“
Sonntag, Dienstag und Freitag schon von einer italienischen Truppe um den berühmten
Komödianten Scaramouche belegt waren.
Den Durchbruch erzielte Molière im
November 1659 mit seiner Prosa-Komödie Les
précieuses ridicules (Die
lächerlichen Preziösen). In diesem Stück, seinem ersten, das für ein
vorwiegend Pariser Publikum konzipiert war, persifliert er am Beispiel der
beiden Protagonistinnen, zwei naiver, etwas exaltierter Bürgermädchen, die
manirierte Sprache und schönfärberische Denkweise der „Preziösen“, einer Art
Emanzen-Bewegung adeliger und später auch bürgerlicher Pariserinnen. Das Stück
verschaffte ihm erste Neider und auch Feinde, darunter den Chef der Verwaltung
der königlichen Schlösser, der quasi über Nacht und just zu Beginn der
Spielzeit 60/61 den Abriss des Petit-Bourbon verfügte. Molière blieb drei
Monate ohne Spielstätte, bis er vom König den Saal des Palais-Royal zugewiesen
bekam.
Ein weiterer Schlag war Anfang 61 der
komplette Misserfolg der Tragikomödie Dom Garcie de Navarre, mit der
Molière sich als Autor offenbar dem gehobenen Genus der Tragödie anzunähern
gedachte. Zugleich scheint er mit dem Thema des Stücks, der Gefahr exzessiver
Eifersucht, ein persönliches Problem zu bearbeiten, denn sichtlich ging er auf
Freiersfüßen und warb um die offenbar kokette 18-jährige Armande Béjart, die
jüngste Schwester Madeleines (oder vielleicht auch eine Tochter von ihr).
Spätestens Ende 1662 wurde Molière für
den Misserfolg des Dom Garcie entschädigt durch den großen Erfolg von L'École des femmes (Die Schule der
Frauen), einer Vers-Komödie, in der er, der soeben das Jawort Armandes
erlangt hatte, für eine gemäßigte Emanzipation der jungen Frauen und ihr Recht
auf eine Liebesheirat wirbt. Das Stück löste eine heftige Kontroverse aus, die
er mit den Prosa-Stücken La Critique de
l'École des femmes und L'Impromptu [das Stegreifstück] de Versailles weiter anheizte (beide
1663). Dem König scheint dies gefallen zu haben, denn er setzte Molière eine
Pension von 1000 Livres jährlich aus. Im Januar 64 wurde er sogar Taufpate
seines ersten (allerdings bald danach verstorbenen) Kindes Louis, was er wohl
auch deshalb tat, um das Gerücht Lügen zu strafen, Armande sei ein Kind
Madeleine Béjarts von Molière und dieser habe demnach seine eigene Tochter
geheiratet.
Im Mai 1664 – inzwischen war er zum
„maître de plaisir“ von Louis XIV avanciert – organisierte Molière ein
dreitägiges Hoffest im neuangelegten Park von Versailles. Dort spielte er
zunächst, mit Balletteinlagen, die sein jüngerer Freund Jean-Baptiste Lully
(1632-87) komponiert und choreographiert hatte, seine unverfänglichen Stücke La Princesse d'Élide (Die Fürstin von Elis), Le Mariage forcé (Die Zwangsheirat) und Les fâcheux (Die Lästigen). Am dritten
Tag inszenierte er seine neue Vers-Komödie Le
Tartuffe, die rasch zum Politikum wurde.
Schon im Vorfeld der Aufführung hatten
etliche Fromme am Hof gegen dieses Stück um einen scheinbar frommen, in
Wahrheit aber herrschsüchtigen, raffgierigen und lüsternen Heuchler polemisiert
und ein Verbot zu bewirken versucht. Nach der Aufführung brach Empörung bei der
gesamten „vieille cour“ (=alter Hof) aus, einer Gruppierung meist älterer
Höflinge, die sich um die fromme Königinmutter Anne d’Autriche scharten und der
Zeit vor 1661 nachtrauerten, wo man unter ihr und ihrem Minister Kardinal
Mazarin die Macht gehabt hatte. Der König, dem Molières Attacke auf die
Frömmler und damit durchaus auch auf die ihm lästige „vieille cour“ zunächst
sehr recht gewesen war, hielt es nun, unter dem Druck dieser Leute (die z.T. in
einem bigotten Geheimbund, der Compagnie
du Saint-Sacrement, organisiert waren), für opportun das Stück zu
verbieten.
Die nächsten Jahre Molières waren
bestimmt von seinem Kampf für den Tartuffe
und gegen die Intrigen der „cabale des dévots“ (=Klüngel der Frommen), in der
z.B. auch sein ehemaliger Gönner mitwirkte, der nach einer Syphilisinfektion fromm
gewordene Conti. Immerhin sah sich Molière vom König insofern unterstützt, als
er im Sommer 1665 seine Jahrespension von 1000 auf stolze 6000 Livres erhöht
bekam und mit seiner Truppe den Namen Troupe
du roi annehmen durfte, beides übrigens kurz nach der Geburt seiner Tochter
Esprit-Madeleine, die als einziges Kind überlebte († 1723).
1664 und 65 brachte Molière, der mit
seiner Truppe stets auch andere Autoren spielte, die ersten Stücke von Jean
Racine (s.u.) heraus, die Tragödie La Thébaïde und die Tragikomödie
Alexandre le Grand. Er verlor ihn jedoch hiernach an das konkurrierende
Theater des Hôtel de Bourgogne, das auf Tragödien spezialisiert war. Auch büßte
er dabei eine seiner beliebtesten Schauspielerinnen ein, Mlle du Parc, die
Racine zur Konkurrenz folgte und zudem dessen Geliebte wurde. Molière rächte
sich, indem er in der Folgezeit häufig Stücke von Racines älteren Rivalen
Corneille (s.o) wieder aufnahm oder neu inszenierte.
Im Sommer 1667 versuchte er, eine
überarbeitete, um zwei auf fünf Akte verlängerte und in L’Imposteur
(=der Schwindler) umbetitelte Version des Tartuffe in sein Programm
aufzunehmen, wobei er den Protagonisten in „Panulphe“ umbenannte und nicht mehr
priesterähnlich, sondern als Adeligen kostümierte. Doch der Premier Président
des Pariser Parlements, der für den bei der Armee in Flandern weilenden König
die Polizeigewalt ausübte, reagierte sofort mit einem Verbot. Der Erzbischof
von Paris bedrohte Molière sogar mit Exkommunikation. Als dieser zwei
Schauspieler mit einer Bittschrift zum König schickte, versprach der zwar eine
wohlwollende Prüfung der Sache, tat zunächst aber nichts. Immerhin duldete er,
dass sein Bruder Philippe und danach der Prince de Condé (der ältere Bruder Contis) 1668 das
Stück privat in ihren Schlössern aufführen ließen.
Erst am 5. Februar 1669, nachdem die
„vieille cour“ sich nach Anne d'Autriches Tod 1666 aufgelöst hatte und die
Compagnie du Saint-Sacrement im selben Jahr sogar verboten worden war und vor
allem Louis nach innen- und außenpolitischen Erfolgen fest im Sattel saß und
keine Rücksicht mehr auf die frommen Gegner Molières nehmen musste, konnte
dieser das Stück, nochmals überarbeitet und in Tartuffe, ou l’Imposteur umbenannt,
frei aufführen. Der Erfolg war triumphal, die Aufführung gilt als eines
der großen Ereignisse der französischen Theatergeschichte.
In der Zwischenzeit hatte Molière
übrigens das Thema Heuchelei weiterverfolgt: Ende 1664, also bald nach dem
ersten Verbot des Tartuffe, hatte er Dom Juan verfasst, ein Prosa-Stück um
einen hochadeligen Heiratsschwindler und Freigeist, der, um sich den
Nachstellungen empörter Geschädigter zu entziehen, eine Bekehrung zu
christlicher Moral und Frömmigkeit vortäuscht, aber schließlich zur Hölle
fährt. Auch dieses Stück wurde, vermutlich wegen der nicht eindeutig negativen
Darstellung von Dom Juans Freidenkertum, nach wenigen Aufführungen verboten.
Im Juni 66 hatte Molière die
Vers-Komödie Le Misanthrope (Der Menschenfeind) herausgebracht, eine Satire auf die
geheuchelte Nettigkeit und unehrliche Schmeichelei in den Pariser Salons und am
Hof. Im Hintergrund stehen aber noch zwei andere Motive, die dieses Stück zum
wohl autobiografischsten des Autors machen: So spiegelt die Weigerung des (von
ihm selbst gespielten) „Misanthropen“ Alceste, sich opportunistisch und
diplomatisch zu verhalten, zweifellos die Unlust, aber auch das Unvermögen des
letztlich bürgerlich gebliebenen königlichen Protégés Molière, sich in adeligen
Kreisen, insbes. der Hofgesellschaft, geschmeidig und angepasst zu bewegen. Die
Enttäuschung und die Eifersucht des älteren liebenden Alceste gegenüber der
koketten jungen Célimène ähnelt sichtlich dem Groll von Molière selbst
gegenüber seiner 21 Jahre jüngeren Frau Armande, die sich gerade
(vorübergehend) von ihm getrennt hatte.
1668 (also nach dem Verbot auch der
zweiten Tartuffe-Version) hatte
Molière in der Vers-Komödie Amphitryon
erstmals leise Kritik geübt an seinem wenig zuverlässigen Gönner Louis XIV, den
er verschlüsselt darstellt in Gestalt des ganz ungeniert seinem sexuellen Lustgewinn
nachgehenden Titelhelden Amphitryon alias Jupiter. In Georges Dandin (Prosa,
ebenfalls 1668) hatte er bitter die Arroganz gebrandmarkt, mit der Adelige,
selbst wenn sie verarmt waren, die gesellschaftlich nützliche Bourgeoisie
verachten und ausbeuten zu dürfen meinten.
Insgesamt aber hatte er sich nach 1667
mehr und mehr auf nicht-kontroverse Themen zu verlegen begonnen und versuchte,
mit gefälligen Stücken sein Theater zu füllen und den König bei Laune zu
halten. So schrieb er neben anderen, heute weniger bekannten Stücken:
1668 L'Avare (Prosa), wo er den Typ des reich gewordenen, aber zwanghaft
geizig gebliebenen Bürgers karikiert, der seine lebensfroheren und
konsumfreudigeren Kinder fast erstickt;
1669 (nach dem endlichen Erfolg des Tartuffe) Monsieur de Pourceaugnac (Prosa), eine farcenartige Komödie, in der
er einen dümmlichen Provinzler die quasi schon eingekaufte Braut an einen
klügeren Rivalen verlieren läßt;
1670 Le Bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann, Prosa, mit
Gesang- und Balletteinlagen), wo er die naive Sucht der Bourgeoisie nach
Adelstiteln verspottet;
1671 Les fourberies [Schelmenstreiche]
de Scapin (Prosa), wo er in
einer turbulenten Handlung um den pfiffigen Diener Scapin alle Register der
Farce zieht;
1672 Les femmes savantes (Die gelehrten Frauen, Verse), wo er an drei
Bürgerinnen, die er als nur pseudogebildet und pseudogelehrt darstellt, eine in
seinen Augen unweibliche Sucht nach schöngeistiger Bildung und nach
Gelehrsamkeit karikiert und ihnen eine junge Frau gegenüberstellt, die ihre
Rolle als bürgerliche Haus- und Ehefrau bejaht;
1673 Le Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke, Prosa), wo er ein
altes und mehrfach auch schon von ihm selbst bearbeitetes Thema gestaltet,
nämlich die naive Medizingläubigkeit reicher Kranker und vor allem die
Inkompetenz der von keinerlei Selbstzweifeln geplagten Ärzte – eine
Inkompetenz, die dem selbst häufig kranken Molière (Tuberkulose?) nur allzu
geläufig war.
Insgesamt verdüsterte sich in diesen
Jahren rasch sein Horizont: Die langen Querelen um den Tartuffe und vor allem der ständige berufliche Stress hatten seine
Gesundheit ruiniert. Häufige Eheprobleme setzten ihm zu. 1671 kam es bei der
Einstudierung der theatertechnisch sehr aufwendigen „Ballett-Tragödie“ Psyché
(deren letzte zwei Drittel er von Corneille hatte verfassen lassen) zum Bruch
mit Partner Lully. Ein drittes Kind starb bald nach der Geburt. Anfang 1772
erkrankte und verstarb auch seine langjährige Weggefährtin Madeleine Béjart.
Molière musste erleben, wie der König den zum Rivalen gewordenen Lully zu
favorisieren begann.
Le
Malade imaginaire sollte
sein letztes Stück bleiben und der Kranke seine letzte Rolle. Bei der vierten
Aufführung am 17. Februar 1673 erlitt er einen Schwächeanfall und starb kurz
danach in seiner nahen Wohnung. Nur mühsam gelang es seiner Frau Armande, den
Widerstand des zuständigen Gemeindepfarrers zu brechen und über den König beim
Erzbischof von Paris die Genehmigung für eine halbwegs ehrbare Bestattung auf
dem Friedhof zu erwirken.
Die Truppe Molières blieb unter
Armandes Leitung zunächst bestehen. Sie schloss sich aber, als Lully den Saal
des Palais-Royal zugesprochen bekam, der Truppe des Théâtre du Marais an, wobei
sich Armande mit einem von deren Schauspielern verheiratete. 1680 fusionierte
die neue Truppe auf Anweisung von Louis XIV mit der des Hôtel de Bourgogne: die
noch heute bestehende Comédie Française war geboren.
Jean de La Fontaine (* 8.7.1621 in
Château-Thierry/Champagne ; † 12.4.1695 in Paris)
La Fontaine wird von den Franzosen in
die vorderste Reihe ihrer Klassiker gestellt und ist noch heute mit ein oder
zwei Fabeln jedem Schulkind bekannt.
Er war Sohn eines bürgerlichen, aber
mit seinen Chargen zum niederen Amtsadel zählenden Königlichen Rats (Conseiller du Roi) sowie Jagd- und
Fischereiaufsehers (Maître des Eaux et
Forêts) – ein Amt, das er später (1658) erbte, aber nie ordnungsgemäß
ausübte und schließlich (1670) verkaufte.
1636 ging er nach Paris, um dort seine
Schulausbildung abzuschließen. 1641 begann er als Novize im Predigerorden der
Oratorianer ein Theologiestudium, brach es aber ab und verließ den Orden am
Ende der Probezeit 1643. Nach zwei offenbar mehr zweckfrei, wenn auch wohl mit
viel Lektüre, zu Hause verbrachten Jahren studierte er 1645–47 Jura in Paris.
1647 ließ er sich in Château-Thierry mit einer 14-Jährigen aus ebenfalls
bürgerlich-amtsadeliger Familie verheiraten, mit der er 1653 zwar einen Sohn
bekam, aber offenbar nie eine engere Beziehung pflegte. Wohnen tat das Paar
zunächst meist in Paris, im Haus eines Onkels der Frau. Von einer juristischen
Berufstätigkeit La Fontaines in dieser Zeit ist nichts bekannt, außer dass er
1659 als am Parlement zugelassener Anwalt erwähnt wird.
Doch auch als Autor scheint er nicht
sehr aktiv gewesen zu sein, obwohl er in Literatenkreisen verkehrte. (Oder ist
außer der 1654 verfassten Übertragung einer Komödie von Terenz nur nichts
erhalten?) Erst von 1658 datiert ein erstes fertiges eigenes Werk, das
Kleinepos Adonis, das er dem
mächtigen Finanzminister und reichen Mäzen Nicolas Fouquet widmete, an den er
1657 über den Onkel seiner Frau Anschluss erhalten hatte. In den nächsten
Jahren schrieb er Gelegenheitsgedichte im Auftrag Fouquets für dessen kleinen
Hof, an dem er weitere Literaten kennen lernte, z.B. Mme de Sévigné (s.u.).
Daneben arbeitete er an einem idyllischen Gedicht, Le Songe de Vaux, das Fouquets prächtiges neuerbautes Schloss in
Vaux-le-Viconte verherrlichen sollte. Vermutlich datieren aus dieser Zeit auch
schon die ersten der Fabeln, die ihn berühmt machen sollten.
1662 wurde La Fontaine in den Strudel
hineingezogen, der um Fouquet entstand, als dieser plötzlich bei Louis XIV in
Ungnade fiel und wegen angeblicher Bereicherung im Amt inhaftiert wurde.
Nachdem er vergeblich eine Bitt-Ode für Fouquet an den König gerichtet hatte,
verreiste er 1663 vorsichtshalber für ein paar Monate nach Limoges, zusammen
mit dem sich ebenfalls gefährdet fühlenden Onkel seiner Frau. Dort vollendete
er die Nouvelles tirées de Boccace et d'Arioste: heiter-galante,
manchmal gewagt erotische Vers-Erzählungen nach Novellen von Boccaccio und
Ariosto, die er 1664 in Druck gab (und die 1665 und 1666, mehrfach erweitert,
als Contes et nouvelles en vers neu
aufgelegt wurden).
Nach seiner Rückkehr aus Limoges machte
er die Bekanntschaft Boileaus (s.u.) und Molières (s.o.). Den jungen Racine
(s.u.), einen entfernten Verwandten seiner Frau, kannte er schon länger.
1664 fand er Anschluss an Herzogin
Marguerite de Lorraine, Witwe des jüngeren Bruders von Louis XIII, Gaston
d'Orléans. Er wurde von ihr zu einem ihrer gentilshommes
ordinaires ernannt (womit er als geadelt galt) und wohnte bis zu ihrem Tod
1672 im Palais de Luxembourg – ohne seine Frau, die mitsamt dem Sohn nach
Château-Thierry zurückgekehrt war.
In den vom Wirtschaftsaufschwung unter
Minister Colbert und von der Offenheit des jungen Louis XIV geprägten
optimistischen Jahren um 1665, die durch die 1667 beginnende, anfangs
erfolgreiche Serie von Expansions-Kriegen gegen Spanien, Holland und das
Deutsche Reich zunächst noch nicht verdüstert wurden, verfasste La Fontaine in der Hauptsache Fabeln. Die
Stoffe für sie, die zu seinem Hauptwerk werden sollten, bezog er aus den
verschiedensten antiken und zeitgenössischen Quellen. Eine erste Ausgabe in
zwei Bänden erschien 1668 als Fables choisies, mises en vers par M. de La Fontaine. Sie enthielt die meisten der
heute aus Anthologien bekannten heiter-ironischen Stücke. 1669 brachte er den
rokkokohaften kleinen Roman Les amours de
Psyché et de Cupidon heraus.
1672 wurde er Dauergast im Haus der
Bankierswitwe Mme de La Sablière, die einen der führenden schöngeistigen Salons
von Paris unterhielt. 1674 schrieb er das Libretto zu der Oper Daphné, die Lulli vertonte. 1675 bekam
er direkt zu spüren, dass der Wind in Frankreich sich zu drehen begann: eine
gerade erschienene (die gewagten Stücke bevorzugende) Auswahl der Contes et nouvelles wurde verboten. Die
1677 und 1679 gedruckten Bände III und IV der Fabeln zeigen denn auch eine
erheblich skeptischere Sicht La Fontaines von der Welt, insbesondere des Verhältnisses
von oben und unten, Mächtigen und Subalternen.
1683 inszenierte die junge Comédie Française sein Stück Le Rendez-vous, das aber nur viermal
aufgeführt wurde und nicht erhalten ist. Ebenfalls 1683 wurde La Fontaine in die
Académie française gewählt, allerdings von Louis XIV, der inzwischen unter dem
Einfluss der fromm gewordenen Mme de Maintenon stand, erst nach längerem Zögern
als Mitglied bestätigt. Bei der 1687 in der Académie ausgelösten „Querelle des
Anciens et des Modernes“ stand er auf der Seite der Anciens, d.h. der Anhänger
der Vorstellung, dass die Kultur der griechisch-römischen Antike
unübertrefflich sei und bleibe.
1691 versuchte er sich nochmals als
Librettist für das Singspiel Astrée,
das aber ein Misserfolg wurde. Ende 1692, bald nachdem er eine durchgesehene
Gesamtausgabe der Fabeln herausgebracht hatte, erkrankte er schwer und wurde
danach fromm. Als Mme de La Sablière, die schon vor ihm fromm geworden war,
1693 starb, zog La Fontaine in das Haus eines letzten Gönners, des Bankiers
d’Hervarth. Hier starb er 1695, nicht ohne sich vorher öffentlich von seinen
ganz unzeitgemäß gewordenen Contes
distanziert zu haben.
Blaise Pascal (* 19.6.1623
Clermont-Ferrand; † 19.8.1662 Paris)
Obwohl er vor allem Mathematiker und
Naturwissenschaftler und eher nur nebenher Literat war, wird er in seiner
Eigenschaft als exzellenter Stilist, Pamphletist und Satiriker doch zu den
großen Autoren der franz. Klassik gerechnet. In Deutschland läuft er eher unter
der Kategorie ‚Philosoph’.
Pascal stammte aus einer alten
auvergnatischen, in zweiter Generation amtsadeligen Familie. Sein Vater hatte
in Paris Jura studiert, dann in Clermont das Amt eines Steuereinnehmers („élu“)
und etwas später das des zweiten Vorsitzenden Richters am Obersten
Steuergerichtshof der Auvergne gekauft. Die Mutter, Antoinette Begon, kam aus
einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, die ebenfalls in den Amtsadel strebte.
Pascal hatte zwei Schwestern, die drei Jahre ältere Gilberte (die später seine
Nachlassverwalterin und erste Biographin wurde) sowie die zwei Jahre jüngere
Jacqueline, von deren Geburt sich die Mutter nicht erholte, so dass Pascal mit
drei Jahren Halbwaise wurde. Als er acht war, zog die Familie samt Gouvernante
nach Paris, weil der Vater den Kindern, zumal dem offensichtlich hochbegabten
Jungen, bessere Entfaltungsmöglichkeiten schaffen wollte. Sein Richteramt
verkaufte er an einen Bruder und legte sein Vermögen in Staatsanleihen an.
Pascal war als Kind sehr kränklich (und
blieb dies auch sein Leben lang), deshalb wurde er von seinem sehr gebildeten
und naturkundlich interessierten Vater sowie von Hauslehrern privat
unterrichtet. Spätestens mit zwölf erwies er sein hervorragendes mathematisches
Talent und fand über seinen Vater, der in Pariser Gelehrten- und
Literatenzirkeln verkehrte, Anschluss an den Kreis von Mathematikern und
Naturforschern um den Père Mersenne. Hier beeindruckte er als 16-Jähriger mit
einer Arbeit über die Berechnung von Kegelschnitten.
1638 wurde der Vater verdächtigt,
Mitorganisator eines Protest von Betroffenen gegen Zinsmanipulationen des
Staates zu sein. Er zog es vor, unterzutauchen und aus Paris zu flüchten. Ende
1639 wurde er jedoch dank der Fürsprache hochstehender Personen von Richelieu
begnadigt und durfte diesem sogar seinen Sohn vorstellen. 1640 wurde er zum
königlichen Kommissar und obersten Steuereinnehmer für die Normandie in Rouen
ernannt. Hier erfand Pascal 1642 für ihn die „roue [=Rad] Pascale“ oder
„Pascaline“, die erste bekannte Rechenmaschine. Sie ermöglichte zunächst nur
Additionen, wurde im Lauf der nächsten zehn Jahre aber ständig verbessert, und
konnte schließlich auch subtrahieren. Pascal erhielt ein Patent auf sie, doch
der Reichtum, den er sich von der Erfindung und einer eigens gegründeten
kleinen Firma erhofft hatte, blieb aus. Die einzeln handgefertigten Maschinen
(mehrere von insgesamt wohl 50 sind erhalten) waren zu teuer, um größeren
Absatz zu finden.
In Rouen, einer Stadt mit Universität,
hohem Gericht (Parlement) und reicher Kaufmannschaft, zählte die Familie Pascal
zur guten Gesellschaft, auch wenn der Vater sich durch eine harte Amtsführung
unbeliebt gemacht hatte. Pascal sowie seine literarisch begabte jüngere
Schwester Jacqueline, deren dichterische Versuche von dem Dramatiker Pierre
Corneille (s.o.) gefördert wurden, bewegten sich elegant in diesem Milieu.
Schwester Gilberte heiratete 1641 einen jungen Verwandten, Florin Périer, den
sich Vater Pascal als Assistenten aus Clermont-Ferrand geholt hatte.
1646, während der Rekonvaleszenz des
Vaters nach einem Unfall, kam die bis dahin nur lax religiöse Familie durch
zwei Krankenpfleger in Kontakt mit den Lehren des holländischen Reformbischofs
Jansenius, der einen dem Calvinismus ähnlichen katholischen Fundamentalismus
vertrat. Vater und Kinder wurden fromm, Jacqueline beschloss sogar Nonne zu
werden, und Pascal, der unter Lähmungserscheinungen an den Beinen und starken
Schmerzen litt, interpretierte seine Krankheit als ein Zeichen Gottes und
begann ein asketisches Leben zu führen.
Anfang 1647 demonstrierte er seinen
neuen Glaubenseifer, als er den Erzbischof von Rouen eher gegen dessen Willen
dazu nötigte, einen Priesterkandidaten zu maßregeln, der ihm und Freunden
gegenüber eine Sicht der Religion vertreten hatte, die ihnen zu rationalistisch
erschien.
Allerdings ließ er sich von seiner
Frömmigkeit nicht hindern, weiterhin naturwissenschaftlich-mathematische
Studien zu treiben. So wiederholte er noch 1646 erfolgreich die schon 1643 von
Evangelista Torricelli angestellten Versuche zum Nachweis der Existenz des
Vakuums, die er 1647 in einer Abhandlung beschrieb.
Ab Mai 1647 lebte er mit Jacqueline und
wenig später auch dem Vater überwiegend wieder in Paris, wo er mit führenden
Jansenisten in Kontakt trat, aber auch seine Forschungen weiterführte. Angesichts
des Widerstandes vieler Theologen und Naturforscher, u.a. von René Descartes
(s.o.), den er Ende Sept. 47 zweimal in Paris traf, diskutierte Pascal die
Frage des Vakuums jedoch nur noch indirekt, insbes. in einer Abhandlung über
den Luftdruck, dessen Abhängkeit von der Höhe des jeweiligen Ortes er 1648
durch entsprechende Versuche seines Schwagers Périer am Puy de Dôme
nachgewiesen hatte. 1648 begründete er in einer weiteren Abhandlung das Gesetz
der kommunizierenden Röhren.
Als im Frühling 1649 die im Vorjahr
ausgebrochenen bürgerkriegsartigen Wirren des „Fronde“-Aufstands das Leben in
Paris erschwerten, wichen die Pascals zu den Périers in die Auvergne aus und
blieben dort bis Herbst 1650.
Im Herbst 51 starb Pascals Vater. Kurz
danach ging Tochter Jacqueline gegen seinen und auch Pascals Wunsch ins
Kloster, und zwar in das streng jansenistische Port-Royal in Paris.
Pascal war nun, mit 28, zum ersten Mal
auf sich allein gestellt. Da er, wenn auch nicht reich, so doch wohlhabend und
zudem adelig war, begann er als junger Mann von Welt in der guten Pariser
Gesellschaft zu verkehren. Er befreundete sich mit einem philosophisch
interessierten jungen Hochadeligen, dem Duc (Herzog) de Roannez. Von ihm wurde
er 1652 zusammen mit einigen von dessen freidenkerischen Freunden, insbes. dem
Chevalier de Méré, auf eine längere Reise mitgenommen, während der er in die
neuere Philosophie eingeführt wurde, aber auch in die Kunst geselliger
Konversation. Dank seines Verkehrs im schöngeistigen Salon von Mme de Sablé kam
er auch mit der belletristischen Literatur der Zeit in nähere Berührung. Er
dachte kurz sogar an den Kauf eines Amtes und ans Heiraten. Ein ihm lange
zugeschriebener, weil gewissermaßen in diese mondäne Lebensphase passender
anonymer Discours sur les passions de l'amour (Rede über die
Leidenschaften der Liebe) stammt offensichtlich aber nicht von ihm.
Die Diskussionen, die er mit den neuen
Bekannten, insbes. Méré, über die Gewinnchancen im Glückspiel führte, einem
typisch adeligen Zeitvertreib, brachten Pascal 1653 dazu, sich der
Wahrscheinlichkeitsrechnung zuzuwenden, die er 1654 im brieflichen Austausch
mit dem Toulouser Richter und großen Mathematiker Pierre de Fermat vorantrieb.
Ebenfalls 1654 schrieb er je eine Abhandlung über das sog. Pascalsche Dreieck (Traité
du triangle arithmétique), über Zahlenordnungen (Traité des ordres
numériques) und über Zahlenkombinationen (Combinaisons).
Im Herbst 1654 wurde Pascal offenbar
von einer depressiven Verstimmung erfasst. Er näherte sich Jacqueline wieder
an, die er häufig im Kloster besuchte, und er zog in ein anderes Stadtviertel,
um sich seinem mondänen Freundeskreis zu entziehen. Am 23. Nov. (möglicherweise
nach einem Unfall mit seiner Kutsche, der aber nicht verlässlich bezeugt ist)
hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis, das er noch nachts auf einem
erhaltenen Blatt Papier, dem sog. Mémorial, aufzuzeichnen versuchte. Er
zog sich aus der Pariser Gesellschaft zurück, um völlig seiner Frömmigkeit zu
leben. Sein einziger Verkehr waren nunmehr die jansenistischen „Einsiedler“
(solitaires), d.h. Gelehrte und Theologen, die sich im Umkreis des
Hauptklosters von Port-Royal, Port-Royal des Champs bei Versailles,
niedergelassen hatten und die er häufig dort für kürzer oder länger besuchte.
Wohl 1655 führte er hier das legendäre Gespräch mit seinem neuen Beichtvater A.
Le Maître de Sacy (Conversation avec M. de Saci sur Épictète et Montaigne'),
worin er zwischen den beiden Polen der montaigneschen Skepsis und der stoischen
Ethik Epiktets schon eine Skizze der Anthropologie entwirft, die er später in
den Pensées entwickelte.
Zugleich begann er, im gelehrten Dialog
mit den „solitaires“, insbes. Antoine Arnauld oder Pierre Nicole, religiös und
theologisch motivierte Schriften zu verfassen. Nebenher beschäftigte er sich,
wie immer, auch mit praktischen Fragen, so 1655 mit der Didaktik des Erstlesens
für die Schule, die die „solitaires“ betrieben.
Bei seiner Bekehrung war er in eine
Situation eingetreten, in der die orthodox frommen und rigoros moralischen
Jansenisten den laxeren und konzilianteren, aber auch machtbewussten Jesuiten
ein Ärgernis geworden waren. Als es 1655 zum offenen Streit kam, weil Arnauld
als Jansenist aus der Pariser theologischen Fakultät, der Sorbonne,
ausgeschlossen wurde, mischte Pascal sich 1656 ein, und zwar mit einer Serie
anonymer satirisch-polemischer Broschüren, die wie eine Bombe einschlugen und
1657 in Holland als Buch gedruckt wurden unter dem Titel Provinciales, ou
Lettres de Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux R.R. PP. Jésuites
sur la morale et la politique de ces pères („Provinzler[briefe], oder
Briefe von L. de M. an einen befreundeten Provinzler sowie an die Jesuiten über
die Moral und die Politik dieser Patres“). Es sind 18 Briefe eines fiktiven
Paris-Reisenden namens Montalte, von denen die ersten zehn an einen fiktiven
Freund in der heimatlichen Provinz gerichtet sind, die nächsten sechs an die
Pariser Jesuitenpatres insgesamt und die letzten beiden speziell an den
jesuitischen Beichtvater des Königs. In diesen Briefen beschreibt Montalte
zunächst in der Rolle eines theologisch unbeschlagenen und naiven jungen
Adeligen, wie Jesuiten ihm altklug und herablassend ihre Theologie erklären.
Später, nachdem er quasi seine Lektion gelernt hat, beginnt er mit ihnen zu
diskutieren und so scharfsinnig wie witzig ihre Lehren zu zerpflücken. Pascal
persiflierte und attackierte so die zwar gewissermaßen verbraucherfreundliche,
aber tendenziell opportunistische und oft spitzfindige Theologie – die berühmte
Kasuistik – der Jesuiten und entlarvte ihren sehr weltlichen Machthunger. Die Lettres
provinciales hatten, obwohl sie nach der Nr. 5 verboten, bei Erscheinen der
Buchausgabe auf den Index gesetzt und 1660 sogar vom Henker verbrannt wurden,
großen und langandauernden Erfolg und bedeuteten längerfristig den Anfang vom
Ende der Allmacht der Jesuiten, zumindest in Frankreich. Wegen ihrer Klarheit
und Präzision gelten sie als ein Meisterwerk der franz. Prosa, das ihrem Autor
einen Platz unter den Klassikern der franz. Literatur verschaffte.
Weniger bekannt wurden die vier
bissigen Streitschriften, mit denen sich Pascal 1658 (neben Arnauld und Nicole)
in eine Fehde zwischen jansenistisch orientierten Pariser Pfarrern und den
Jesuiten einschaltete.
Kurzfristig behielten allerdings die
Jesuiten mit Hilfe von König und Papst die Oberhand, was die nächsten Jahre
Pascals verdüsterte. Denn während viele seiner Gesinnungsfreunde unter dem
Druck der obrigkeitlichen Schikanen einknickten oder taktierten, blieb er
unbeugsam.
In dieser Situation begann er 1658,
systematischer an einer großen Apologie der christlichen Religion aus
jansenistischer Sicht zu arbeiten, für die er sich 1656 erste Notizen gemacht
hatte und deren Grundlinien in den 1657 verfassten, aber unvollendeten Écrits
sur la grâce („Schriften über die Gnade“) zu finden sind, wo er die von den
Jansenisten vertretene Form der augustinischen Gnadenlehre als Mitte zwischen
der fast fatalistischen calvinistischen Prädestinationslehre und der
optimistischen jesuitischen Gnadenlehre darstellt und dem freien Willen des
Menschen die Entscheidung über sein Heil zugesteht. Ziel des neuen Werkes
sollte es sein, atheistischen Freidenkern und Skeptikern aller Art die
Prekarität der menschlichen Existenz zu Bewusstsein zu bringen und sie von der
Richtigkeit und den Vorzügen der christlichen Religion zu überzeugen.
Mit der ohnehin schlechten Gesundheit
Pascals ging es in diesen Jahren immer rascher bergab, sicher auch aufgrund
seiner äußerst asketischen, ihn zusätzlich schwächenden Lebensweise. 1659 war er
lange Wochen arbeitsunfähig; 1660 verbrachte er mehrere Monate als
Rekonvaleszent auf einem Schlösschen seiner älteren Schwester und seines
Schwagers bei Clermont.
Neben seiner Arbeit an den Pensées betrieb
er immer wieder auch praktische Dinge. So beschäftigte er sich 1658 mit der
Berechnung von Zykloiden (wie sie z.B. eine Roulettekugel beschreibt) und
veranstaltete für die Lösung dieser Aufgabe, nachdem er selbst sie gefunden
hatte, ein Preisausschreiben, was ihm viele (unzureichende) Vorschläge und eine
heftige Polemik mit einem Unzufriedenen eintrug. 1659 war er Mitglied eines
Komittees, das eine neue Bibelübersetzung zu initiieren versuchte. Anfang 1662
gründete er zusammen mit seinem Freund Roannez ein Droschkenunternehmen („les
carosses à cinq sous – Groschenkutschen“), das den Beginn des öffentlichen
Nahverkehrs in Paris markierte.
Im Juni erkrankte er schwer, ließ
seinen immer noch recht ansehnlichen Hausstand zugunsten mildtätiger Zwecke
verkaufen und zog sich in das Pariser Haus der Périers zurück. Hier verbrachte
er seine letzten Wochen in absoluter Frömmigkeit. Er starb mit eben 39, nachdem
Schwester Jacqueline schon ein Jahr zuvor verstorben war.
Die Pensées
Bekanntlich konnte Pascal aufgrund seines
frühen Todes die geplante große Apologie nicht fertigstellen. Er hinterließ nur
Notizen und Fragmente, rd. 1000 Zettel in rd. 60 Bündeln, auf deren Grundlage
1670 von jansenistischen Freunden eine Ausgabe unter dem Titel Pensées de M.
Pascal sur la religion et sur quelques autres sujets („Gedanken [...] über
die Religion und einige andere Themen“) besorgt wurde. Diese Erstausgabe ist
verdienstvoll, weil sie - ungewöhnlich für die Epoche - ein unfertiges Werk
gleichwohl zu publizieren und zugänglich zu machen versuchte. Sie ist aber
problematisch insofern, als sie sich nicht am Originaltext orientierte, obwohl
er als Autograph, wenn auch nur in Zettelform, erhalten war, sondern eine der
beiden Abschriften benutzte, die die Périers kurz nach Pascals Tod von den
Zettelbündeln hatten anfertigen lassen. Sie ist noch problematischer dadurch,
dass sie das erhaltene Textmaterial nach unterschiedlichen Kriterien kürzte
und, anders als die benutzte Abschrift, die die Anordnung der Zettel und Bündel
weitgehend beibehalten hatte, eine eigene, plausibler erscheinende Ordnung der
Fragmente einführte. Die Herausgeber des 18. und frühen 19. Jh., z.B. Condorcet
(1776) oder Voltaire (1778), folgten dieser Praxis, meist unter nochmaligen
Kürzungen und/oder weiteren Umstellungen.
Die Geschichte der modernen Ausgaben
beginnt 1842 damit, dass der Philosoph Victor Cousin in einem Bericht an die
Académie française auf die Notwendigkeit einer neuen Edition der Pensées gemäß
den inzwischen entwickelten philologischen Prinzipien hinwies. Tatsächlich
versuchte schon 1844 Prosper Faugère eine komplette Edition nach den originalen
Zetteln Pascals, die jedoch auch er weitgehend frei nach inhaltlichen Kriterien
zu Abschnitten und Unterabschnitten neu ordnete. Dieses Prinzip wurde fortgesetzt
und vermeintlich jeweils perfektioniert von weiteren Herausgebern, deren
bekanntester Léon Brunschvicg mit seiner Ausgabe von 1897 (2. Aufl. 1904)
wurde.
Nach 1930 trennte sich die Forschung von dem etablierten
Vorurteil, dass Pascals Zettel letztlich nicht geordnet gewesen seien. Vielmehr
erkannte man, dass zumindest 27 Bündel (d.h. rd. 40% der Zettel) ebensovielen
von Pascal intendierten Kapiteln entsprachen und durchaus eine interne Ordnung
aufwiesen. Auch andere Bündel stellten sich als homogener und geordneter heraus
als bis dahin gedacht, so dass man (insbes. Z. Tourneur und L. Lafuma) zu
Editionen überging, die im Text den Autographen entsprechen und in der
Anordnung weitgehend den beiden Abschriften, bzw. der besseren von ihnen,
folgen (denn 1710/11 hatte Pascals Neffe Louis Périer in bester Absicht alle
Zettel umsortiert und auf große Bögen geklebt). Gleichwohl sind auch die
neueren Editionen nur hypothetische Annäherungen. Die Frage, wie das Werk
aussähe, wenn Pascal es hätte vollenden können (und ob er es je hätte
fertigstellen können), bleibt notwendig offen.
Die Pensées sind ein für die franz., aber auch die
gesamte europäische Geistesgeschichte zentraler Text geworden. Fast alle
Philosophen und Theologen von Rang, aber auch viele bedeutende Literaten haben
sich sowohl zustimmend als auch ablehnend mit ihm beschäftigt.
Paul Pellisson (* 30.10.1624 in Béziers; † 7.2.1693 in Paris)
Obwohl
selbst als Autor nicht allzu bedeutend, war Pellisson in den 1650er Jahren eine
wichtige Figur im Pariser Literaturbetrieb.
Er
stammte aus einer wohlhabenden protestantischen Familie und wuchs auf in
Castres, wo sein Vater Richter war. Nach Schulbesuch in Castres und Montauban,
einem Zentrum des südfranzösischen Protestantismus, studierte er Recht in
Toulouse. 1645 erhielt er die Zulassung als Anwalt und ging nach Paris, wo er
Anschluss fand an den ebenfalls protestantischen Literaten Valentin Conrart
(s.o.), Gründungsmitglied der jungen Académie Française und ihr Sekretär auf
Lebenszeit. Über ihn erlangte er Zutritt zum schöngeistigen „preziösen“ Salon
der Marquise de Rambouillet, wo er u.a. die Autoren Gilles Ménage (s.o) und
Madeleine de Scudéry (s.o.) kennen lernte. Die turbulentesten Phasen der 1648
beginnenden Fronde-Unruhen verbrachte er im heimatlichen Castres.
Zurück
in Paris, kaufte er 1652 das adelnde, aber nicht sehr absorbierende Amt eines
Königlichen Sekretärs (secrétaire du roi) und hatte die Idee, sich zum
Historiografen der Académie zu machen. So publizierte er 1653 die Histoire
de l’Académie française depuis son établissement jusqu’en 1652, eine dank
seinem engen Kontakt zu Conrart wohlinformierte und -dokumentierte Geschichte
der Gründungsphase der Institution. Die dankbaren Académiciens reservierten ihm
den nächsten frei werdenden Sessel (den er im Folgejahr bekam) und erteilten
ihm das nie zuvor und niemals danach vergebene Recht, bis dahin schon an ihren
Sitzungen teilzunehmen.
Auch
seine mondänen Aktivitäten nahm Pellisson nach 1652 wieder auf. So zählte er zu
den Getreuen des schöngeistigen Salons der Scudéry, der die Nachfolge des Hôtel
de Rambouillet angetreten hatte. Zweifellos nur platonisch, umschwärmte er die
fleißige Romanautorin, die ihn ihrerseits verschlüsselt auftreten ließ in
Gestalt des „Acante“ in Artamène, ou le grand Cyrus (1649-1653) und des
„Herminius“ in Clélie, histoire romaine (1654-1660).
Aus
dieser Zeit, d.h. den 1650er Jahren, stammen eine Reihe verstreut gedruckter
Gedichte Pellissons im galanten Stil der Salons und andere kleinere Schriften.
Von besonderem Interesse ist heute sein längeres Nachwort zu einer Ausgabe der
Gedichte des früh verstorbenen Jean-François Sarrasin von 1656, wo er eine
Theorie der galanten Poesie entwirft als einer Dichtung in einem zugleich
kultivierten und natürlichen „mittleren“ Stil, wie er den „honnêtes gens“ in
den Salons gemäß sei.
1657
stieß Pellisson zum Literaten- und Künstlerkreis um den mächtigen
Finanzminister und großen Mäzen Nicolas Fouquet und wurde dessen Vertrauter,
als der er z.B. die Sponsorengelder verwaltete und u.a. das Talent von Jean de
La Fontaine (s.u.) erkannte und förderte.
Nachdem
er 1659 nicht hatte verhindern können, dass der Satiriker Gilles Boileau (ein
ältererer Bruder von Nicolas Boileau, s.u.), der seine Freunde Ménage und
Scudéry verhöhnt hatte, in die Académie gewählt wurde, blieb Pellisson deren
Sitzungen fern und erschien erst wieder nach dem frühen Tod Boileaus 1669.
Ebenfalls
1659 (nach Verkauf des Sekretärsamtes und mit Hilfe Fouquets?) erwarb er ein
höheres Amt in der Finanzverwaltung in Montpellier und 1660 das Amt eines
„Staatsrates“ (Conseiller d’État).
Das
Jahr 1661 brachte einen tiefen Einschnitt. Zusammen mit anderen Getreuen geriet
auch Pellisson in den Strudel, der um Fouquet entstand, als dieser unter dem
Vorwurf der Bereicherung im Amt verhaftet und eingekerkert wurde. Denn als er
mutig versuchte, seinen Gönner zu rechtfertigen mittels der Schriften Discours
au roi, par un de ses fidèles sujets sur le procès de M. de Fouquet und Seconde
défense de M. Fouquet, landete er selbst in der Bastille, aus der er erst
1666 freikam.
Hiernach
fand er sichtlich Personen, die sich unter Hinweis auf seine Fähigkeiten als
Geschichtsschreiber für ihn einsetzten, denn 1668 wurde er zum Königlichen
Chronisten (historiographe du Roi) ernannt.
Hiernach
hielt er es 1670 für geraten, zum Katholizismus zu konvertieren und sich wenig
später sogar die (niederen?) Weihen erteilen zu lassen, wonach ihm Louis XIV
einige einträgliche kirchliche Pfründen ohne Präsenzpflicht zuweisen ließ.
Pellisson
bedankte sich mit einem Lobgedicht auf den König (1671), das angeblich in
mehrere Sprachen übertragen wurde. 1676 hielt er im Namen der Académie eine
Lobrede auf ihn, der gerade einige Erfolge im Krieg gegen die Niederlande
erzielt hatte.
Im
selben Jahr übergab er sein Chronistenamt an Jean Racine (s.u.) und Nicolas
Boileau.
In
seinen letzten Lebensjahren beteiligte er sich mit mehreren Schriften an den
religiösen bzw. konfessionellen Kontroversen seiner Zeit.
Von
Voltaire stammt das Diktum, Pellisson sei ein « poète médiocre à la vérité,
mais homme très savant et éloquent » gewesen (ein eigentlich mittelmäßiger
Dichter, aber ein sehr gelehrter und beredter Mann).
Mme de Sévigné (*5.2.1626 Paris;
†16.4.1696 Grignan/Dép. Drôme)
Sie gilt den Franzosen als ihre
Briefschreiberin par excellence und ist auch den weniger gebildeten als
historische Figur ein Begriff. Als Autorin zählt sie zum Kreis der Klassiker.
Sie wurde geboren als Marie de
Rabutin-Chantal und war einziges überlebendes von drei Kindern eines Offiziers
aus altem, aber etwas verarmtem burgundischen Adel und einer Mutter, die der
reichen neuadeligen Bankiersfamilie de Coulanges entstammte. Mit anderthalb
Jahren verlor sie ihren Vater in einem der religiös bedingten Bürgerkriege der
Zeit und mit sieben auch die Mutter. Sie blieb zunächst im weltoffenen Pariser
Haus der Großeltern Coulanges, wo sie seit ihrer Geburt gelebt hatte. Nachdem
sie aber mit acht ihre Großmutter und mit zehn auch den Großvater verloren
hatte, versuchten ihr Onkel und ihre Tante väterlicherseits sie, die reiche
Erbin, in die Bourgogne zu holen und für ein Leben als Nonne oder als Gattin
eines der Söhne der Tante zu bestimmen. Ihre andere Großmutter, Jeanne
Françoise de Chantal (die später heilig gesprochene Mitgründerin des
Nonnenordens der Visitation), setzte jedoch durch, dass sie in Paris blieb als
Ziehkind in der Familie des ältesten Onkels mütterlicherseits, Philippe de
Coulanges, und seiner Gattin Marie d’Ormesson, die aus dem hohen Pariser
Amtsadel kam. Hier erhielt sie die übliche adelige Mädchenausbildung in
Konversation, Singen, Tanzen und Reiten, lernte aber auch Italienisch, etwas
Latein und Spanisch und konnte sich vor allem eine gute literarische Bildung
aneignen. Früh auch wurde sie eingeführt in den Kreis von Literaten und geistig
interessierten Adeligen um die Marquise de Rambouillet, das Zentrum der
„Preziösen“. Zu ihren eifrigsten Förderern zählte ein weiterer, jüngerer,
Onkel, der Abbé Christophe de Coulanges, der ihr eng verbunden blieb.
Nach einer trotz der Todesfälle um sie
herum eher glücklichen Kindheit und Jugend im Kreis der vielköpfigen
Coulanges-Sippe, ließ sie sich 1644, 18jährig und versehen mit der stattlichen
Mitgift von 300.000 Francs, verheiraten, und zwar mit dem 21jährigen, aus altem
bretonischen Adel stammenden Marquis Henri de Sévigné, einem Gefolgsmann des
mächtigen Familien-Clans der Gondis. Diese stellten denn auch mit dem
Erzbischof von Paris sowie dessen Koadjutor und designierten Nachfolger Paul de
Gondi alias de Retz (s.o.) zwei der Zeugen des Ehevertrags.
Das junge Paar blieb zunächst in
Paris und lebte dort auf großem Fuß. 1646 bekam es sein erstes Kind, Françoise
Marguerite. Wenig später ging es in die Bretagne, wo Henri dank der Mitgift
seiner Frau das Amt eines Gouverneurs gekauft hatte. Auf dem Familienschloss
der Sévignés, Les Rochers bei Vitré, kam 1648 Sohn Charles zur Welt.
Nach
der Geburt des Stammhalters erklärte Mme de Sévigné ihre ehelichen Pflichten
für erfüllt und überließ ihren Mann seinen wechselnden Geliebten. Sie selbst
ließ sich, sicher nur platonisch, von diversen Provinzadeligen und
Schöngeistern anhimmeln und verfasste in diesem Rahmen Briefe und offenbar auch
Verse.
1651
wurde ihr Mann in Paris bei einem Duell (es ging um die Ehre einer Geliebten)
tödlich verletzt. Bei ihrem nachfolgenden längeren Aufenthalt in der Hauptstadt
fand die junge Witwe Aufnahme bei Retz, der, soeben zum Kardinal erhoben, zu
den Chefs des kurzzeitig erfolgreichen Adelsaufstandes der „Fronde“ (1648-52)
gegen den Minister Kardinal Mazarin gehörte. Ihre Nähe zu Retz wurde jedoch
schon bald zur Belastung, denn als dieser nach dem Sieg Mazarins 1652 zum
Rädelsführer erklärt und festgenommen wurde, zählte sie zur Partei der
Verlierer, ähnlich wie eine junge neue Freundin, die spätere Madame de La
Fayette (s.u.), die darunter zu leiden hatte, dass ihr Stiefvater René de
Sévigné (ein Onkel Henris) mit Verbannung bestraft word war.
Sie
verzog sich in die Bretagne,
kehrte aber schon 1653 zurück nach Paris, nunmehr für
ständig. An eine neue Ehe dachte sie nicht, vielmehr genoss sie ihre relative
Freiheit als vermögende Witwe. Ansehnlich und geistreich, wie sie war, scharte
sie rasch einen Kreis z.T. hochgestellter Verehrer um sich, hielt sie aber klug
auf Distanz. Vor allem erlangte sie als anregende Konversationspartnerin
Wertschätzung in Salons und geistig interessierten Kreisen, z.B. dem um den
Finanzminister und großen Mäzen Nicolas Fouquet, der sie umwarb und bei dem sie
u.a. den Fabel-Dichter La Fontaine (s.o.) kennenlernte. Auch andere Literaten
schwärmten sie an, z.B. der hochgeachtete Gilles Ménage (s.o.), den sie schon
vom Hôtel de Rambouillet her kannte, oder Madeleine de Scudéry (s.o), in deren
Salon sie verkehrte und die sie in ihrem Erfolgsroman Clélie (1657) sehr
schmeichelhaft porträtierte. Eine wichtige Bezugsperson in diesen Jahren war
ein etwas älterer Cousin, der Militär, Höfling und Literat Roger Bussy-Rabutin
(1618-1693). Er wäre gern wohl auch ihr Geliebter geworden, brach jedoch 1658
für einige Zeit mit ihr, als sie sich weigerte, ihm eine größere Geldsumme zu
leihen. Unbekannt ist, ob sie gelegentlich auch am Hof auftrat, was aufgrund
ihres gesellschaftlichen Ranges und ihrer hochgestellten Freunde ohne Weiteres
möglich gewesen wäre. Ihre Mutterpflichten scheint sie eher nebenher erfüllt zu
haben. Die Verwaltung ihrer Finanzen überließ sie ihrem Onkel Christophe de
Coulanges, der inzwischen zum Abt des Klosters Livry bei Paris avanciert war,
wo sie ihn häufig mit ihren Kindern besuchte.
Schon in diesen Jahren
korrespondierte sie mit zahlreichen Personen, und früh genoß sie einen gewissen
Ruf als Verfasserin interessanter und unterhaltsamer Briefe, die oft
herumgezeigt, ganz oder auszugsweise vorgelesen sowie häufig abgeschrieben
wurden.
Ein ihrer Briefpartner war auch
Fouquet, weshalb sie kurz neue Schwierigkeiten befürchtete, als er im Herbst
1661 wegen Bereicherung im Amt verhaftet und angeklagt wurde. In der Tat wurden
ihre Briefe an ihn dem jungen König Louis XIV vorgelegt. Doch der war angetan
von ihnen, und statt die Schreiberin als eine von Fouquets Getreuen zu ächten,
öffnete er ihr 1662 den Hof. Ihre Tochter Françoise durfte sogar mehrfach in
Ballettaufführungen mit ihm tanzen, und beide Damen gehörten im Mai 1664 zu den
Gästen des prächtigen Festes, mit dem der Park von Versailles eingeweiht wurde.
In der Folgezeit jedoch lockerte sich die Verbindung Mme de Sévignés zu Louis,
zunächst vielleicht, weil sie dessen Annäherungsversuche an Françoise blockiert
hatte. Später bewirkten sicher auch ihre Kontakte mit ehemaligen Frondeuren
(wie dem Duc de la Rochefoucauld, s.o.) und anderen regimekritischen, z.B.
jansenistisch orientierten Adelskreisen eine gewisse Distanz zu dem zunehmend
autoritären Monarchen. Dies hieß nicht, dass sie sich ihm und dem Hof gänzlich
entfremdete, und 1689 war sie geschmeichelt, als Louis sie, wie sie in einem
Brief stolz berichtet, nach einer Theateraufführung ansprach und um ihre
Meinung fragte.
Die Briefe von Mme de Sévigné aus
den 40er bis 60er Jahren sind überwiegend verloren. Eine Ausnahme bildet
insbes. eine Briefserie von Ende 1664, worin sie einen in die Provinz
verbannten anderen Getreuen Fouquets über dessen Prozess auf dem Laufenden
hielt mittels der Informationen, die sie von einem der Richter bekam, Olivier
d’Ormesson, einem Bruder ihrer Ziehmutter, den sie vielleicht sogar im Sinne
einer Abmilderung des zunächst anvisierten Todesurteils beeinflussen konnte.
Eine tiefgreifende Wende in ihrer
Rolle als Briefschreiberin brachte schließlich der Umstand, dass Tochter
Françoise, die 1669 den schon zweimal verwitweten Comte François de Grignan
geheiratet hatte, Anfang 1671 mit ihm in die Provence entschwand, wo er die
Amtsgeschäfte des Gouverneurs übernahm. Hiernach nämlich begann Mme de Sévigné,
neben ihren gelegentlichen Schreiben an sonstige Adressaten, regelmäßig zwei
oder drei Briefe pro Woche an Françoise zu verfassen (ausgenommen natürlich die
Zeiten, in denen man sich gegenseitig besuchte, entweder in Aix oder auf
Schloss Grignan bei Montélimar bzw. umgekehrt in Paris, wo Mme de Sévigné, um
ein einladendes Ambiente bieten zu können, 1677 das Hôtel de Carnavalet
gemietet hatte, das heutige Paris-Museum).
Es
ist das Korpus dieser Briefe an die Tochter, das mit 764 Stück wohl fast
komplett erhalten ist, das das Bild der Autorin letztlich bestimmt hat, nämlich
als Prototyp der liebenden Mutter und treusorgenden Großmutter. In diesen als
ganz private Mitteilungen gedachten Texten versichert sie die Tochter immer
wieder ihrer fast abgöttischen Liebe und wirbt um die Gegenliebe der ihrerseits
etwas Spröden. Eher als Zutat, um nicht gar zu sehr in sie zu dringen und sie
bei Laune zu halten, schildert sie effektvoll und lebendig, ungeschminkt und
manchmal auch drastisch, oft mit einem Körnchen Selbstironie sowie Witz und
Humor sowohl ihre wechselnden Befindlichkeiten und Erlebnisse, aber auch das,
was sich in Paris oder anderswo, z.B. auf Schloss Les Rochers, auf Reisen und
bei Kuraufenthalten, um sie herum tat und was als Reflex der großen Politik
oder auch als Klatsch aus dem gemeinsamen adeligen Bekanntenkreis und vom Hof
an ihre Ohren gelangte.
Im
Laufe der Jahre entwickelte Mme de Sévigné ihre Briefkunst zu einer
literarischen Gattung sui generis, deren Stil sie im Sinne des Anscheins
größtmöglicher Leichtigkeit, Natürlichkeit und Spontaneität kunstvoll variierte
und, zumal beim Schreiben an andere Adressaten, gelegentlich auch reflektierte.
Trotz des keineswegs unbeträchtlichen Aufwandes an Zeit und Überlegung, den sie
in die Briefe investierte, dachte sie selbst anscheinend nie daran, eine von
ihr besorgte oder auch nur lizensierte Sammlung drucken zu lassen, was sich
auch daran zeigt, dass sie keine Kopien anfertigte.
Der erste Abdruck von Briefen von ihr
erfolgte denn auch erst nach ihrem Tod, und zwar im Rahmen von ebenfalls postum
publizierten Werken von Cousin Bussy-Rabutin, nämlich seinen Memoiren (1696)
sowie seiner Korrespondenz mit ihr (1697). Hierbei hielten Bussy selbst bzw.
die Herausgeber, sein Sohn und seine Tochter, es für angebracht, die insgesamt
115 Briefe Mme de Sévignés zu kürzen und im Sinne eines konventionelleren,
literarischer wirkenden Stils zu bearbeiten.
Dieselbe Kürzung, Glättung und Dämpfung
meinten auch die Herausgeber der ersten Einzelausgaben vornehmen zu müssen, die
übrigens auf der Basis von Abschriften erschienen. Es waren 1725 ein nicht sehr
umfangreiches Bändchen mit historisch interessanten Briefen bzw. Briefauszügen
und 1726 ein zweibändiger Raubdruck mit 137 Briefen an die Tochter, die von
einer Enkelin aus dem Nachlass ihrer Mutter ausgewählt und zwecks Publikation
an Bussy junior geschickt worden, jedoch in fremde Hände gefallen waren, als
jener plötzlich starb.
1734 gab deshalb dieselbe Enkelin eine
quasi offizielle Publikation aller ihr vorliegenden Briefe ihrer Großmutter in
Auftrag. Hierbei stimmte sie mit dem Herausgeber, Denis-Marius Perrin, darin
überein, dass allzu privat erscheinende Passagen getilgt werden sollten (womit
wohl ungefähr ein Drittel der Textmenge fortfiel) und dass die Texte moralisch
zu reinigen und stilistisch zu glätten seien. Die Originale sowie auch die bis
dahin noch erhaltenen Antwortbriefe ihrer Mutter vernichtete sie. Die
sechsbändige Sammlung, deren letzte beiden Bände 1737 kurz nach ihrem Tod
erschienen, umfasste 614 Briefe. 1754 brachte Perrin eine vermehrte Neuauflage
mit 722 Briefen heraus.
Spätere Editionen wurden, wie schon die
von 1754, dadurch erweitert, dass man, nachdem Mme de Sévigné berühmt geworden
war, systematisch in adeligen Nachlässen und Familienarchiven recherchierte.
Hierbei fand man nicht nur an die 250 bis dahin unbekannte Briefe (darunter die
o.g. Serie von Ende 1664), sondern man stieß immer wieder auch auf Abschriften
oder Teilabschriften, deren Text dem jeweiligen Originaltext offenkundig näher
war als schon im Druck erschienene Versionen derselben Briefe. Insgesamt
beläuft sich die Zahl der erhaltenen Briefe auf rd. 1120, wobei nur ca. 5% als
Autographen vorliegen. Der allergrößte Teil der an andere Adressaten als die
Tochter gerichteten Briefe muss als verloren gelten, darunter ca. 600 Briefe,
von denen man durch indirekte Informationen weiß.
Insgesamt sind von 1725 bis heute
mehrere hundert Ausgaben Sévignéscher Briefe erschienen. Neben den als kritisch
intendierten Gesamtausgaben von 1862-67 und 1972-78 handelt es sich um
Auswahl-Editionen, deren Texte nach unterschiedlichen Kriterien in dieser oder
jener Hinsicht bearbeitet, d.h. für ein bestimmtes Publikum, z.B. Jugendliche,
aufbereitet sind.
Für
historisch interessierte Leser sind die Briefe eine unschätzbare
Informationsquelle über Personen aus dem Umfeld der Autorin sowie über den
Alltag und die Vorstellungswelt des franz. Hochadels unter Louis XIV.
Jacques Bénigne Bossuet (*27.9.1627
Dijon; †12.4.1704 Paris)
In Deutschland auch als Name kaum
bekannt, gilt er in Frankreich als der Größte unter den franz. Kanzelrednern
und zählt in der Literaturgeschichte zum Kernbestand der Klassiker.
Bossuet wuchs auf in einer bürgerlichen
Richter-Familie, ließ sich aber früh für die Priesterlaufbahn bestimmen und
erhielt mit neun die Tonsur. Seine Schulbildung erwarb er zunächst im
Jesuiten-Kolleg von Dijon, dann im Collège de Navarre in Paris. Als
Theologiestudent in Paris verkehrte er in einigen mondänen Salons und glänzte
dort mit seiner Beredsamkeit (z.B. in einer zu vorgerückter Stunde improvisierten
Predigt). Nach der Priesterweihe und dem Doktorat 1652 erhielt er eine Pfründe
als Domherr im 1633 von Frankreich annektierten Metz, wo sein Vater ein
Richteramt am neu gegründeten Parlement erhalten hatte. Hier tat er sich als
Protestanten-Bekehrer hervor und publizierte 1655 seine erste Schrift: die
gegen einen protestantischen Pfarrer, P. Ferri, gerichtete Réfutation
[Widerlegung] du catéchisme de Paul Ferri. Daneben hielt er sich häufig in
Paris auf und war dort Schüler des großen Predigers Saint Vincent de Paul
(1576-1660).
Ab 1660 lebte er ganz in Paris und
machte sich rasch einen Namen als Kanzelredner und Panegyriker (=Lobredner).
1662 durfte er im Louvre die Fastenpredigt halten vor Louis XIV und dem Hof.
Hiernach war er in Mode, obwohl er sich nicht scheute, gelegentlich den jungen
König zu mehr Sittenstrenge zu ermahnen oder die Reichen an ihre
Fürsorgepflicht gegenüber den Armen zu erinnern. Immer öfter wurde er auch
gebeten, bei der Totenmesse für hochstehende Verstorbene eine
Trauerrede zu halten, z.B. 1667 für Anne d'Autriche, die fromme
Königin-Mutter, oder 1670 für Henriette d'Angleterre, die jung verstorbene
Schwägerin von Louis XIV.
1669 wurde er zum Bischof der kleinen
Diözese Condom in SW-Frankreich ernannt, die er aber von einem Stellvertreter
verwalten lassen konnte. 1671 wurde er Mitglied der Académie Française, vor
allem in seiner Eigenschaft als brillanter Redner.
Kurz zuvor (1670) war er zum Hauslehrer
(précepteur) des Kronprinzen (Dauphin) Louis berufen worden (der aber 1711 vor
seinem Vater Louis XIV starb, d.h. nicht auf den Thron kam). Für seinen
königlichen Zögling, der als nicht eben bildungshungrig galt, verfasste er im
Lauf seiner insgesamt 10 Präzeptor-Jahre eine Reihe von Traktaten: eine Exposition de la doctrine catholique,
dann La Politique tirée des propres
paroles de l'Écriture Sainte, d.h. ein Lehrbuch der Praxis des Königseins
gemäß den Hinweisen, die Bossuet aus der Bibel entnehmen zu sollen glaubte;
weiter den philosophisch-theologischen Traité
de la connaissance de Dieu et de
soi-même und vor allem den Discours
sur l'histoire universelle (1681),
eine kurzgefasste Geschichte der Welt, in der er als lenkende Kraft nicht so
sehr materielle Ursachen und Wirkungen erkennt, als vielmehr den Willen Gottes
zur Ausbreitung des Christentums. Der Discours ist einer der letzten
Versuche, die Geschichte im christlichen Sinne teleologisch, d.h. auf ein
höheres Ziel hin ausgerichtet, zu erklären.
1681, nach der Heirat seines Zöglings,
wurde Bossuet zum Bischof von Meaux nahe Paris befördert. Obwohl er sein Amt
vor Ort sehr ernst nahm, war er weiterhin oft in Paris und Versailles,
beschäftigt u.a. mit Predigten und Trauerreden, z.B. 1687 beim Tod des zum
Königshaus gehörenden Prince de Condé. 1689, nachdem er seine Rolle als Redner
(vielleicht auch aus stimmlichen Gründen) für beendet erklärt hatte, erschien
erstmals eine Auswahl seiner Reden im Druck. Sie prägte sein Bild in der
Literaturgeschichte.
Bossuet war aber auch, dank seiner langen
Nähe zum König und seiner intimen Kenntnis der Machtverhältnisse am Hof, sehr
aktiv in der Politik im engeren und weiteren Sinne, wobei er direkt handelnd
sowie mittels zahlreicher Schriften indirekt einzuwirken versuchte. Als
Mitglied des Grand conseil de l'Église de France wuchs er zunehmend in die
Rolle eines Primus der franz. Bischöfe hinein und wurde bekannt als streitbarer
„aigle de Meaux“. Als dieser half er 1682 die Rechte Roms in Frankreich im
Sinne nationaler Interessen einzuschränken, weshalb er auch den
Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes ablehnte. Zugleich bekämpfte er an allen
Fronten den Protestantismus, z.B. mit einer Histoire des variations des
Églises protestantes (1688), worin er die notorisch divergenten und
wechselnden Lehrmeinungen der protestantischen Kirchen und Sekten zu entkräften
und gegen einander auszuspielen versucht, um die Einheitlichkeit der
katholischen Lehre herauszustellen. 1685 war er nicht unbeteiligt daran, dass
Louis XIV das Toleranzedikt von Nantes aufhob, mit dem sein Großvater Henri IV
1598 den Protestanten Religionsfreiheit und Bürgerrechte zugestanden hatte.
1687 stellte Bossuet sich in der Querelle des Anciens et des Modernes, einem
von Charles Perrault (s.u.) ausgelösten, auch kulturpolitisch motivierten Literatenstreit
auf die Seite der Traditionalisten unter Boileau (s.u.). Daneben zog er gegen
den Jansenismus zu Felde und bekämpfte vor allem den mystisch frommen
Quietismus, der um 1690 von Mme Guyon in Mode gebracht wurde und der im
kriegsgeschüttelten, verarmenden und entsprechend evasionsbedürftigen
Frankreich rasch Verbreitung und aktive Sympathisanten fand. Unter dem Vorwurf,
er stütze den Quietismus, attackierte er auch einen anderen Bischof,
Kronprinzen-Präzeptor und Autor, den er sichtlich als Rivalen empfand: Fénelon
(s.u.).
1694 rügte er mit seinen Maximes et réflexions sur la comédie das
angeblich die Sitten und die Seelen korrumpierende Theater und trug damit sein
Teil bei zur relativen Erstarrung des geistigen Lebens in Frankreich unter dem
alternden Louis XIV.
In seinen letzten Jahren musste er
allerdings erleben, dass zahlreiche der von ihm bekämpften Strömungen stärker
waren als er und weiterbestanden oder gar sich durchzusetzen begannen.
Charles Perrault (* 21.1.1628
Paris; † 16.5.1703 ebd.)
Dieser sehr vielseitige und fruchtbare
Autor ist heute praktisch nur dank seiner Märchen bekannt.
Perrault wuchs auf als jüngster von
vier Brüdern in einer wohlhabenden Pariser Familie von Juristen und hohen
Beamten, wo man, wie so häufig in diesem Milieu, dem frommen und rigiden
Jansenismus nahestand. Er trieb Jurastudien und wurde 1651 als Anwalt
zugelassen. Schon vorher hatte er begonnen zu schreiben, und zwar im gerade
modischen Genre der Burleske. So hatte er 1648 eine Parodie von Vergils Æneis (L'Énéide burlesque)
verfasst und 1649 die ebenfalls parodistische Vers-Satire Les murs de Troie ou L'Origine du burlesque, in der er sich über
das aufständische Pariser Volk mokiert, mit dessen Revolte der Fronde-Aufstand
1648 begann, aber auch den Kardinal-Minister Mazarin nicht schont, der zunächst
unterlag und abtreten musste. Schon in diesen Texten zeigt sich eine gewisse
Respektlosigkeit gegenüber der Antike.
1653, der Aufstand war beendet und
Mazarin war wieder an der Macht, trat Perrault in die Dienste seines ältesten
Bruders, der einen hohen Posten in der Finanzverwaltung der Krone bekleidete.
Von ihm wurde er am Hof eingeführt. Dort und vor allem in Pariser Salons
brillierte er als guter Unterhalter und vielseitiger Literat.
Hierbei fiel er dem älteren Literatenkollegen
Jean Chapelain (s.o.) positiv auf und wurde von ihm dem neuen Minister Colbert
empfohlen, der seit dem Tod Mazarins (1657) und dem Sturz des Finanzministers
Fouquet (1661) als rechte Hand des jungen Louis XIV fungierte. Dank Colbert
wurde Perault 1662 zum Sekretär der sog. Petite Académie ernannt, einer Art
Prüfinstanz für alle Kunst- und Literaturwerke, die dem König zum Kauf
angeboten wurden oder ihm gewidmet werden sollten. Wenig später wurde er so
etwas wie ein oberster Kulturbeamter. Als solcher wachte er z.B. über die
künstlerische Qualität der königlichen Bauvorhaben und war damit maßgeblich an
Umbauten des Louvre sowie an der Planung und Erbauung des Versailler Schlosses
beteiligt. Gegen 1670 übernahm er von Chapelain die Führung der Liste von
Literaten, die Colbert und König Louis genehm waren und einer „Pension“ (jährl.
Gratifikation) aus der königlichen Schatulle würdig schienen. 1671 wurde er mit
Nachhilfe Colberts in die Académie Française gewählt und kurz darauf zu deren
Sekretär bestellt.
Wenig später (1672) heiratete er, wurde
rasch vierfacher Vater, aber bald auch (1678) Witwer.
Mit dem Tod Colberts 1683 verlor er
seine Funktionen im Staatsdienst und wendete sich wieder mehr der
Schriftstellerei zu. So verfasste er ein christliches Vers-Epos (Saint Paulin, évêque de Nole, 1686).
1687 verlas er in
der Académie seinen Vers-Traktat Le
Siècle de Louis le Grand. Hierin
postulierte er, nicht ohne auf den Beifall des Königs zu schielen, die
Überlegenheit der eigenen Epoche über die klassische Antike, die bis dahin
rundherum als vorbildhaft und als kaum zu übertreffen galt. Er löste hiermit
unerwartet die heftige „Querelle des Anciens et des Modernes“ aus, den wohl
berühmtesten Literatenstreit der an querelles
so reichen franz. Literaturgeschichte. Interessanterweise waren fast alle
großen Autoren seiner Generation (z.B. La Fontaine, Bossuet, Racine und vor
allem Boileau) zunächst vehement gegen die These, dass die Neuzeit sich in den
Künsten und der Wissenschaft mit der Antike nicht nur messen könne, sondern
diese inzwischen überflügelt habe.
Perrault warb deshalb weiter für seine
Position mittels der Dialogserie Parallèles
des Anciens et des Modernes (4 Bde., 1688-97) sowie mit einer Serie von
Porträts bedeutender Zeitgenossen (Les
hommes illustres qui ont paru en France pendant ce siècle, 4 Bde.
1696-1700). Allerdings arbeitete auch die Zeit in seinem Sinne: gegen 1700 war
die Vorstellung von der Gleichwertigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Moderne
praktisch Allgemeingut geworden. Schon 1694 war sie vorsichtig auch von Boileau
akzeptiert worden, der sich demonstrativ mit Perrault versöhnte.
1694 veröffentlichte dieser die drei
märchenartigen Vers-Erzählungen La
Patience de Grisélidis, Peau d'Âne
und Les souhaits ridicules, die gut
einschlugen und die er 1695 mit einem längeren Vorwort neu auflegte. Nach
diesem Erfolg publizierte er 1697 anonym, bzw. unter dem Namen seines
19jährigen dritten Sohnes Pierre, den er die vorangestellte Widmung an eine
hochstehende Dame zeichnen ließ, die Märchensammlung Histoires ou contes du temps passé. Contes de ma mère l'oie (=Geschichten oder Erzählungen der
Vergangenheit. Erzählungen meiner Mutter Gans). Es sind 8 Märchen teils
volkstümlichen, teils literarischen Ursprungs, die Perrault in kunstvoll-schlichter,
leicht archiisierender Prosa erzählt und jeweils am Schluss mit einer
ironischen Moral (manchmal auch zwei divergierenden) in Versen witzig
kommentiert. Seine immer wieder nachgedruckte Sammlung bedeutete den Durchbruch
einer anschließend sehr erfolgreichen Gattung, der contes de fées, d.h. Märchen.
Vielleicht hatte Perrault die Märchen
deshalb nicht mit eigenem Namen zeichnen wollen, weil er im selben Jahr 97
erneut ein religiöses Epos publizierte, Adam
ou La Création de l'homme.
1701 begann er mit der Abfassung von
Memoiren, die aber erst postum (1755) gedruckt wurden.
Sechs seiner Märchen figurieren
übrigens (ohne ironisch-witzige Moral natürlich und auch sonst leicht oder
stärker verändert) in den vermeintlich so typisch deutschen Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder
Grimm. Es sind La Belle au bois dormant
als Dornröschen, Le petit Chaperon
rouge als Rotkäppchen, Le Chat
botté als Der Gestiefelte Kater, Les
fées als Frau Holle, Cendrillon
als Aschenputtel und Le petit
poucet als Der Kleine Däumling. Ein siebtes, La Barbe bleue, ist dank Ludwig Bechstein als König Blaubart in
Deutschland bekannt; das achte, Riquet à
la houppe (= R. mit dem Wuschelhaar), ist bei uns nicht heimisch geworden –
vielleicht bezeichnenderweise, denn die Vorstellung, dass ein hässlicher junger
Mann und eine unscheinbare junge Frau dennoch, dank ihrer Fähigkeit zum
geistreichen Parlieren, Anerkennung finden können, wirkt hierzulande eher
fremd.
Marie-Madeleine, comtesse de La Fayette (* 18.3.1634 in Paris; † 26.5.1693
ebd.)
Diese in den Literaturgeschichten
schlicht „Mme de La Fayette“ genannte Autorin ist Verfasserin des wohl besten
franz. Romans des 17. Jh.
Ihr Vater, der aus dem Amtsadel
stammende Marc Pioche, Seigneur de La Vergne, war Offizier und Ingenieur für
Festungsbau gewesen, 1622 aber aufgrund seiner Bildung und seiner vielseitigen
Interessen Erzieher eines Neffen von Père Joseph geworden, der rechten Hand von
Kardinal Richelieu. 1630 war er von diesem selbst als Erzieher eines Neffen
eingestellt worden. Er war schon kinderlos verwitwet, als er im Palais des
Kardinals seine zweite Frau kennenlernte, die aus ähnlichen Verhältnissen wie
er stammende Isabelle Péna, mit der er rasch drei Töchter bekam.
ObwohI ihr Vater in den 1640er Jahren
erfolgreich seine Offizierskarriere weiterführte und häufig abwesend war,
lernte Marie-Madeleine, die älteste, in seinem neuerbauten Pariser Haus früh
zahlreiche Intellektuelle kennen. Über ihn auch gelangte sie schon als junges
Mädchen in die schöngeistigen „preziösen“ Salons der Marquise de Rambouillet
und, etwas später, der Romanautorin Mlle de Scudéry (s.o.). Hierbei blieb ihr
wacher Intellekt und ihr Talent, Beziehungen zu knüpfen, nicht unbemerkt.
Inbes. fiel sie dem älteren Literaten Gilles Ménage auf (s.o.), der sie
umschwärmte und bedichtete, ihr Latein und ihr Italienisch verbesserte und sie
mit den neuesten Büchern versorgte.
1649 starb ihr Vater. Ihre Mutter
heiratete schon 1650 wieder, und zwar einen aus altem Adel stammenden Chevalier
de Sévigné, den die sechzehnjährige Marie-Madeleine zunächst für ihren eigenen
Zukünftigen gehalten hatte. Über ihn lernte sie seine 25jährige angeheiratete
Nichte näher kennen, die Marquise de Sévigné (s.o.) - eine Freundschaft, die
stets von einer gewissen Rivalität geprägt blieb.
Während sie selbst dank ihrer
hochadeligen Taufpatin, einer Nichte Richelieus, zur Ehrenjungfer (demoiselle
d'honneur) der Königin befördert wurde und so gelegentlich am Hof auftrat,
machte ihr Stiefvater, ein Parteigänger des Kardinals de Retz (s.o.) ihr
elterliches Haus zu einem Treffpunkt der oppositionellen „Frondeure“, die seit
1648 einen z.T. bewaffneten Widerstand betrieben gegen die Versuche von
Kardinal-Minister Mazarin, Frankreich weiter zu zentralisieren und den Adel
weiter zu entmachten.
1652, nach der Niederlage der Fronde,
wurde Sévigné ins Anjou verbannt. Dies war ein Schicksalsschlag für die
18jährige Marie-Madeleine, für die als Stieftochter eines Verbannten nun kaum
eine gute Partie zu finden war. Drei Jahre später (1655) ließ sie sich deshalb
von einer aus altem Adel stammenden Pariser Nonne, von der sie geschätzt wurde,
an deren Bruder vermitteln, den 18 Jahre älteren, verwitweten und
hochverschuldeten Comte de La Fayette. Ihre Heirat - immerhin in den
Grafenstand – war nicht billig: die erforderliche Mitgift war nur dadurch
aufzubringen, dass ihre energische Mutter die beiden jüngeren Schwestern für
den kostengünstigeren Eintritt ins Kloster bestimmte.
Nach der Hochzeit folgte sie ihrem Mann
auf seine Güter in der Provinz. Da dort eine erste Schwangerschaft mit einer
Fehlgeburt geendet hatte, reiste sie gegen Ende der nächsten nach Paris. Hier
brachte sie 1658 ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn. Ihm folgte 1659 ein
weiterer, ebenfalls in Paris, wo sie nun überwiegend wieder lebte, und zwar im
elterlichen Haus, das sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter (1656) geerbt hatte.
Während ihr Mann die Güter der Familie
profitabel zu bewirtschaften versuchte, hatte Mme de La Fayette gleich nach der
Heirat den juristischen Kampf gegen seine Gläubiger übernommen, den sie mit
Energie und zunehmender Kompetenz führte. Hierbei hatte sie zunächst ihren
alten Verehrer Ménage als ihren Beauftragten eingesetzt, den sie brieflich
instruierte. Ab 1658/59 kämpfte sie selber vor Ort in Paris, wo sie geschickt
die ihr von früher verbliebenen Beziehungen reaktivierte und neue knüpfte.
Insbes. pflegte sie ihre Bekanntschaft mit Henriette d'Angleterre, der im
Kloster ihrer Schwägerin aufgewachsenen Tochter des 1649 geköpften englischen
Königs Charles I, die den Bruder von Louis XIV heiratete. Über Mme de Sévigné
versuchte sie auch den mächtigen Finanzminister Fouquet für ihre Sache zu
interessieren.
Mehr nebenbei debütierte sie 1659 als
Autorin mit einem Porträt Mme de Sévignés für einen Sammelband, den zwei etwas
ältere Literaten, Pierre Daniel Huet und Jean Regnault de Segrais
vorbereiteten. Vielleicht angeregt von ihnen, sicher aber mit der Unterstützung
von Ménage schrieb sie 1661 eine historische Novelle, La Princesse de Montpensier,
die sie 1662 anonym erscheinen ließ, denn eigentlich hielt sie das
Schriftstellern für unter der Würde der Gräfin, die sie ja war. Wohl aus
derselben Zeit stammt eine zweite historische Novelle, La Comtesse de Tende, die aber erst postum 1724 erschien. Beide
behandeln das Thema der großen, aber problematischen und letztlich
unglücklichen außerehelichen Liebe einer Frau, die in einer Konventionalehe
verheiratetet ist – ein Thema, das Mme de La Fayette auch weiter interessieren
sollte.
Hiernach ließ sie die Feder ruhen,
schloss mit Erfolg ihre juristischen Demarchen ab (wonach sie, auf den
Geschmack gekommen, gelegentlich Freunde bei deren Prozessen beriet) und genoss
das prickelnde gesellschaftliche und geistige Leben, das Paris in den 1660er
Jahren bot. Denn es war eine Zeit des Aufbruchs unter dem jungen Louis XIV und
seinem neuen Minister Colbert, der Theatererfolge z.B. Molières und des jungen
Racine, aber auch der heftigen ideologischen Querelen zwischen „Molinisten“
(Parteigängern der Jesuiten) und Jansenisten.
Von Henriette 1661 zu ihrer Ehrendame
(dame d'honneur) ernannt und wohlgelitten auch beim König selbst, hatte Mme de
La Fayette ab 1661 Zutritt zum Hof. Zugleich verkehrte jedoch sie in Kreisen
der fundamental-oppositionellen, streng-religiösen Jansenisten. Hier lernte sie
1662 den 21 Jahre älteren schriftstellernden Duc de La Rochefoucauld kennen
(s.o.), der ihre spontane Sympathie nur zögernd erwiderte, dann aber ihr
engster Freund wurde – zweifellos ohne ihr Liebhaber zu sein.
1668/69 verfasste sie, unterstützt von
Segrais, Huet und La Rochefoucauld, einen erneut um die Probleme der Liebe
kreisenden, im Spanien des 9. Jh. angesiedelten Roman, Zaïde, dessen 2 Bde 1670/71 unter dem Namen von Segrais erschienen.
Literarhistorisch bedeutsam wurde Zaïde auch dank eines Traité de
l'origine des romans, den Huet als Vorspann beisteuerte und der als eine
der ersten Theorien des Romans gilt.
1669 begann sie im Auftrag Henriettes
eine Histoire de Madame, die
allerdings, da Henriette 1670 mit 26 starb, unvollendet blieb und erst postum
1720 als Histoire d'Henriette
d'Angleterre gedruckt wurde.
Ab 1672 schrieb Mme de Lafayette, wie
gewohnt mit Unterstützung, diesmal von Segrais und La Rochefoucauld, an ihrem
rückblickend wichtigsten Werk, dem eher kurzen historischen Roman La Princesse de Clèves (=die Fürstin von
Kleve), der anonym 1678 erschien. Die Handlung spielt gegen 1560 am Hof von
Henri II (dessen Beschreibung sich am Hof von Louis XIV orientiert) und sie
dreht sich um die große Liebe der jungverheirateten Princesse zu dem Duc de
Nemours, der sie ebenfalls liebt, den sie aber aus Sittenstrenge und aus Treue
zu ihrem Gatten (der trotzdem eifersüchtig und todkrank wird, als sie ihm ihre
Liebe beichtet) nicht erhört und den sie auch dann nicht heiratet, als sie dies
nach ihrer Verwitwung eigentlich könnte, wobei sie ihm als Grund nennt, dass
sie ihn liebe und nicht durch seine mutmaßliche spätere Untreue enttäuscht
werden möchte, dass sie vor allem aber ihren inzwischen gefundenen
Seelenfrieden nicht gefährden wolle.
Der psychologisch einfühlsame und (bis
auf Anfang und Ende) spannende Roman war sofort ein großer Erfolg und löste
heftige Diskussionen aus, vor allem darüber, ob eine Frau gut tut, dem Ehemann
eine Liebschaft zu beichten. Heute gilt er als einer der besten franz. Romane
überhaupt, auch wenn der jansenistisch kompromisslose Schluss, wonach der
Mensch eher auf irdisches Glück als auf sein Seelenheil verzichten soll,
modernen Lesern wenig akzeptabel erscheint.
Der Tod des schon länger stark
gichtkranken La Rochefoucauld 1680 bedeutete einen tiefen Einschnitt für Mme de
La Fayette, zumal sie selbst seit langem kränkelte. Sie führte jedoch, da sie
1656 durch das Erbe ihrer Mutter, 1676 das ihres Stiefvaters und 1683 auch das
ihres Mannes wohlhabend geworden war, ein für Standesgenossen und Intellektuelle
offenes Haus. Auch verkehrte sie weiterhin am Hof, wo sie immer noch die Gunst
des Königs besaß. Daneben kümmerte sie sich um die Zukunft ihrer Söhne, indem
sie dem älteren, der Mönch geworden war, mehrere Abt-Posten (die man kumulieren
konnte) verschaffte und dem jüngeren, der Offizier geworden war, zu einem
Regiment verhalf sowie zu einer vorzüglichen Partie.
Gegen 1680 aktivierte sie als Vertraute
des Ministers Louvois ihre Korrespondenz mit der Mutter des jugendlichen
Herzogs von Savoyen-Piemont, die sie einst im Kloster ihrer Schwägerin kennen
gelernt hatte und die seit 1675 als Regentin die Regierungsgeschäfte in Turin
führte. Hierbei diente sie einerseits privaten Belangen der Herzogin in Paris,
vor allem aber den außenpolitischen Interessen Frankreichs, das das damals
politisch selbständige Savoyen-Piemont zu einem Satellitenstaat zu machen, wenn
nicht gar zu annektieren hoffte.
Das letzte Werk Mme de La Fayettes
wurden die nur fragmentarisch erhaltenen, 1720 postum gedruckten Mémoires de la cour de France pour les
années 1688 et 1689, in denen sie nicht nur das Hofleben beschreibt,
sondern auch mit scharfem Blick politische und militärische Probleme
analysiert. Hiernach zog sie sich vom Hof zurück, zumal sie 1690 auch ihre
diplomatische Mission als gescheitert betrachten musste, weil der in Turin nun
selbst regierende junge Herzog dem Bündnis gegen Frankreich beitrat.
Zunehmend kränklich erlebte sie noch,
dass sie Großmutter wurde, aber nicht mehr, dass ihr jüngerer Sohn mit 35 in
der von den Franzosen gehaltenen Festung Landau/Pfalz einer Krankheit erlag.
Nicolas Boileau alias Despréaux oder Boileau-Despréaux (*1.11.1636 ; †13.5.1711)
Nachdem er lange uneingeschränkt zu den
großen Klassikern gerechnet wurde, gilt Boileau (wie er in den Literaturgeschichten
meistens heißt) heute eher nur als wichtige Figur in der Entwicklung der franz.
Literatur. Hierzulande war und ist er in seiner Eigenschaft als sehr spezifisch
französischer, wenn nicht Pariser Autor wenig bekannt.
Er wurde geboren als insgesamt
fünfzehntes Kind (aus der zweiten Ehe) seines Vaters, eines bürgerlichen, wenn
auch stolz auf adelige Vorfahren verweisenden Pariser Juristen. Mit anderthalb
verlor er seine Mutter. Er war ein kränklicher Junge, den eine ungeschickte
Entfernung von Steinen aus der Blase zudem der „Gaben der Natur“ beraubte. So
ließ er sich noch vor Ende seiner Schulzeit im Collège de Beauvais (das, wie auch das vorher von ihm besuchte Collège d'Harcourt, dem Jansenismus nahestand) die
niederen Weihen erteilen. Nach kurzen Theologiestudien, sattelte er 1652 jedoch
um auf Jura und erhielt 1656 die Zulassung als Anwalt.
1657 starb sein Vater; Boileau erbte
und war auf keinen Broterwerb mehr angewiesen. Da er schon seit längerem Verse
machte, verlegte er sich nun ganz auf die Literatur und ließ sich von seinem
fünf Jahre älteren Bruder Gilles, der ebenfalls schriftstellerte (und 1659, mit
28, in die Académie Française aufgenommen wurde, aber schon mit 38 starb), in
literarisch interessierte Zirkel einführen. Hier lernte er so gut wie alle
Pariser Autoren der Zeit kennen, d.h. der Jahre auf die man später den Beginn
der Klassik datieren wird. Er mischte mit in ihren Querelen und befreundete
sich u.a. mit drei angehenden Erfolgsautoren, den rd. 15 Jahre älteren La
Fontaine (s.o.) und Molière (s.o.) und vor allem dem wenig jüngeren Racine
(s.u.).
Er selbst debütierte 1661, unter dem
ihn von Bruder Gilles unterscheidenden Namen Despréaux, mit einer so witzigen
wie spöttischen Verssatire, der er in den nächsten sieben Jahren acht weitere
folgen ließ. Gegenstand dieser Texte, in denen er sich an antike (Horaz und
Juvenal) und zeitgenössische Vorbilder (u.a. Bruder Gilles) anlehnte, war vor
allem die Welt der Pariser Salons und der sie frequentierenden Schöngeister und
Literaten, deren Manien und Eitelkeiten er, bei literarischen Gegnern durchaus
unter Namensnennung, sezierte und karikierte. Nur in Satire VI (Les embarras
de Paris, 1664), die drastisch und humorvoll die Misshelligkeiten des
Alltags im lärmerfüllten, dreckigen und übervölkerten Paris der Zeit darstellt,
gestaltet er ein realeres Sujet. Angesichts seiner Erfolge als
Vortragskünstler, der in Abendgesellschaften seine Texte effektvoll und ständig
aktualisiert darzubieten verstand, unterließ Boileau es lange Zeit, sie drucken
zu lassen. Als 1666 ein Raubdruck mit sechs Satiren erschien, erklärte er ihn
empört für nicht authentisch.
1668, nach Satire IX (der erst 1692,
1698 und 1705 noch drei weitere folgten), versuchte er, sein Image als Enfant
terrible des Pariser Literaturbetriebs abzustreifen, und wechselte von der
agressiven Satire zu moralisierenden und philosophierenden Versepisteln (épîtres). In der ersten verherrlichte er
Louis XIV, der gerade im sog. Devolutionskrieg gegen die spanische Krone die
Franche Comté besetzen und Teile Flanderns erobern lassen hatte. 1669 durfte er
dem König die Epistel vortragen. Er erhielt die hübsche Pension von 2000 Livres
jährlich zugewiesen und reihte sich ein in den Kreis der quasi staatstragenden
Literaten, die sich um Minister Colbert scharten.
Seine kritische Beschäftigung mit
Autoren der Zeit hatte ihn immer wieder auch zu grundsätzlicheren Überlegungen
geführt, bei denen die Poetik des klassisch-lateinischen Dichters Horaz (1. Jh.
v. Chr.) ein wichtiger Bezugspunkt für ihn war. Darüber hinaus hatte er im
Nachlass seines 1669 verstorbenen Bruders Gilles eine von diesem begonnene
Übertragung einer anderen antiken Poetik, des sog. Pseudo-Longinus (1. Jh. n.
Chr.), gefunden und sie als Traité sur le sublime fertiggestellt (publiziert
1674). Aus diesen literartheoretischen Interessen ging 1669-1674 eine als
Versepistel in vier „Gesängen“ verfasste Poetik hervor: L'Art poétique. Hierin definiert Boileau die Rolle und Aufgabe des
Autors, fordert die Einhaltung allgemeiner Vorgaben wie „vraisemblance“
(Realitätsadäquatheit) oder „bienséance“ (moralische Akzeptierbarkeit) und
kodifiziert die diversen lyrischen und dramatischen Genera sowie das Epos. Den
Roman berücksichtigt er nicht, ihn hatte er schon 1668 in seinem Dialogue
des héros de roman als unseriös verworfen. Boileau hatte Glück mit seinem Art poétique: Dank des langandauernden
Erfolgs der Autoren, gemäß deren Dichtungspraxis er seine Theorien formulierte
(u.a. der befreundeten La Fontaine, Molière und vor allem Racine), wurde sein
Werk auch selbst zu einem maßgeblichen, „klassischen“ Text.
1674 ließ er unter dem Titel Œuvres diverses du sieur D*** eine Werkgabe drucken. Sie enthielt
neben dem kürzlich vollendeten Art
poétique die neun fertigen (nachträglich wohl etwas abgemilderten) Satiren,
vier Episteln sowie die „Gesänge“ I-IV eines noch nicht abgeschlossenen
„heroisch-komischen“ Epos, Le Lutrin (=das Notenpult), worin er in
Gestalt einer burlesken Epenparodie die ihm wohlbekannte Welt der Pariser
Stiftsherren karikiert.
Hinfort verwaltete er, nicht mehr viel
schreibend, geschickt seine Position als anerkannter Sachwalter des guten
literarischen Geschmacks und verkehrte, den angeblichen Adel seiner Familie
herauskehrend, in besten Pariser Kreisen sowie auch am Hof. 1676 wurde er
zusammen mit Racine sogar zum Historiographe
du roi ernannt, d.h. zum offiziellen Chronisten vor allem der inzwischen
zahlreichen Feldzüge von König Louis, auf denen sie ihn, der anfangs selbst
gern mitzog, unbequem begleiten mussten. Seine und Racines Aufzeichnungen
gingen später allerdings bei einem Brand verloren.
1683 publizierte Boileau eine um vier
Episteln und die letzten zwei Gesänge des Lutrin vermehrte zweite
Werkausgabe. 1684 wurde er, nicht ohne etwas Nachhilfe von Louis (denn
natürlich hatte er viele Literatenkollegen mit seinen Satiren verärgert), in
die Académie Française gewählt. Der Erwerb eines Landhauses bei Auteuil
konsekrierte seine erfreuliche Situation.
Als 1687 Charles Perrault (s.o.) in der
Académie seinen Vers-Traktat Le Siècle de
Louis le Grand vorlas, worin er, die Überlegenheit seiner eigenen Epoche
über die bis dahin in Allem als vorbildhaft geltende klassische Antike
postulierte, war Boileau Wortführer der Traditionalisten, die Perrault
attackierten und damit den berühmten Literatenstreit „La Querelle des Anciens
et des Modernes“ auslösten. Allerdings schwenkte er wenig später, da die Zeit
ganz offensichtlich für Perrault und dessen These arbeitete, langsam um und
versöhnte sich 1794 öffentlich mit ihm.
Zu einem kleineren Schlagabtausch unter
seinen Gesinnungsgenossen und Gegnern führte 1692 seine frauenfeindliche Satire
XI, in der er, der mit Impotenz
Geschlagene, wohl auch persönliche Ressentiments verarbeitet hatte.
Nachdem er sich, ähnlich wie Racine, in
den späten 80er und den 90er Jahren erst heimlich und dann offen dem
rigoristisch-frommen Jansenismus seiner Jugend wieder angenähert hatte, zog er
sich mehr und mehr in seine kleine Wohnung im Stift von Notre-Dame zurück, wo
er schon seit vielen Jahren lebte. Die Veröffentlichung seiner letzten
Verssatire, in der er indirekt die Jesuiten, jene Intimfeinde der Jansenisten,
angriff, wurde ihm 1705 vom König untersagt. Boileau starb, schon seit längerem
krank und eher verbittert, einige Jahre vor seinem Ex-Protektor und ungefähren
Altersgenossen Louis XIV (1638-1715).
Jean Racine (*21.12.1639
Ferté-Milon/Champagne; †21.4.1699 Paris)
Er gilt den Franzosen als einer ihrer
großen Klassiker und speziell als ihr – neben oder sogar vor Corneille –
größter Tragödienautor. Zusammen mit dem Letzteren und Molière wird er
traditionell als ein Dreigestirn großer Dramatiker gesehen.
Er wurde geboren als erstes Kind eines
dem niederen Amtsadel angehörenden königlichen Salzsteuer-Beamten. Auch seine
Mutter stammte aus diesen Kreisen, doch verlor Racine sie als Zweijähriger bei
bei der Geburt einer Schwester. Mit gut drei verlor er auch seinen Vater (der
sich kurz zuvor wiederverheiratet hatte) und wurde von den Großeltern
mütterlicherseits in Pflege genommen, wogegen die Schwester zu den anderen
Großeltern kam. Als der Großvater 1649 starb, zog sich die Großmutter in das
jansenistisch orientierte Kloster Port-Royal des Champs (ca. 10 km südwestlich
von Versailles) zurück und gab ihren Enkel in die kleine, aber vorzügliche
Schule, die von namhaften jansenistischen Theologen und Gelehrten betrieben
wurde, die sich als asketische „solitaires“ (=Einsiedler) um das Kloster herum
angesiedelt hatten.
Sicherlich traumatisiert durch den
sukzessiven Verlust fast aller Bezugspersonen, fand Racine in der Schule ein
gewisses Zuhause und erwarb solide Latein- sowie (was damals eher die Ausnahme
war) Griechischkenntnisse. 1653/54 absolvierte er das „rhétorique“ heißende
Schuljahr als Internatsschüler im jansenistisch ausgerichteten Pariser Collège
de Beauvais. 1655, mit 15, kam er zurück nach Port-Royal, wo er wieder bei
den Jansenisten lernte. Zwar wurde er tief von ihrer fundamentalistischen
Frömmigkeit geprägt, doch las er zugleich klassische lateinische und
griechische Theaterstücke, und zwar
sowohl im Original als auch in moralisch und religiös „gereinigten“
französischen Übertragungen, die einer seiner Lehrer verfasste, Isaac Lemaistre
de Sacy. Daneben begann er zu schreiben: Oden auf die Natur um
Port-Royal, aber auch fromme Verse, z.T. auf Latein.
Ab 1656 wurde er Zeuge der
Schikanierung der Jansenisten durch die Staatsgewalt und ihre Verbündeten, die
Jesuiten, und wurde 1658 von der Schließung der Schule von Port-Royal
betroffen. Er wechselte nach Paris auf das jansenistische Collège d'Harcourt, wo er seine Schulzeit mit der
„philosophie“-Klasse abschloss (1659).
Hiernach fand er, knapp 20jährig,
Aufnahme bei einem Verwandten, der im Stadtpalast einer Herzogsfamilie lebte
und als „intendant“ deren Haus, Liegenschaften und Geld verwaltete. Von ihm wurde
er in einige schöngeistige Zirkel eingeführt, wo er u.a. den späteren
Fabeldichter Jean de La Fontaine (s.o.) kennenlernte, einen entfernten
Verwandten. Zum Vortrag in diesem Ambiente und im allgemeinen Stimmungshoch
nach dem Ende des langen Krieges mit Spanien (1659) verfasste Racine allerlei
Gelegenheitsgedichte, darunter diverse galante. Auch die Welt des Theaters, das nach dem Friedensschluss einen starken
Aufschwung nahm, erfuhr er nun als Realität und versuchte sich an einem
ersten Stück, der Tragödie oder Tragikomödie Amasie (oder Amasis?), die jedoch nicht angenommen wurde und
verloren ist. Hiernach scheint er ein
Stück um die Figur des römischen Dichters Ovid begonnen zu haben, stellte es
aber, vielleicht wegen einer längeren Krankheit, nicht fertig.
1660 fiel er dem einflussreichen Autor
Jean Chapelain (s.o.) positiv auf mit der Ode La Nymphe de la Seine à la Reine, wo er in der Rolle einer fiktiven
Seine-Nymphe die Ankunft der spanischen Prinzessin Maria-Teresa und ihre
Hochzeit mit Louis XIV besingt. Auf Vorschlag Chapelains erhielt er die
beachtliche Gratifikation von 100 Goldstücken (2400 Francs) aus der Schatulle
des Königs.
Insgesamt war er angetan von seiner
mondänen Existenz in Paris und schien dem strengen Jansenismus den Rücken zu
kehren. Seine Verwandten und seine Lehrer waren allerdings entsetzt über über
diese unfromme Entwicklung. 1661 drängten sie ihn, nach Uzès in Südfrankreich
zu einem Bruder seiner Mutter zu gehen, der Stellvertreter des dortigen
Bischofs war. Hier sollte er sich auf den Empfang zumindest der niederen Weihen
vorbereiten, damit man ihm anschließend eine kirchliche Pfründe verschaffen
konnte, die ihn, die mittellose Waise, für den Rest seines Lebens versorgte.
In Uzès jedoch, wo er sich pflichtgemäß mit Theologie befasste, aber wie im Exil
fühlte, wurde Racine sich endgültig seiner dramaturgischen Ambitionen bewusst.
Er ließ sich brieflich durch Pariser Bekannte auf dem Laufenden halten und
begann offenbar ein Stück nach dem Liebes- und Abenteuer-Roman Äthiopica
von Heliodor (3. Jh. n. Chr.), d.h. der Geschichte von Theagenes und der
schönen Chariklea, die in Frankreich in der vielgelesenen Übertragung von
Jacques Amyot (s.o.) bekannt war. Doch scheint er über das Anfangsstadium nicht
hinaus gekommen zu sein.
1663 brach er
seinen Aufenthalt in Uzès ab, kehrte zurück nach Paris und versuchte, seine Kontakte
wiederzubeleben und neue zu knüpfen. Hierbei schloss er Freundschaft mit dem
wenig älteren Nicolas Boileau (s.o) und lernte u.a. Molière (s.o.) kennen.
Seine panegyrische Ode sur la
convalescence [=die Genesung] du Roi brachte ihm erneut den Beifall
Chapelains, der ihm eine königliche Pension von jährlich 600 Francs
verschaffte, etwa der Hälfte dessen, was eine sparsam wirtschaftende Person
benötigte. Über Chapelain auch erlangte er die Protektion des hochadeligen Duc
[=Herzog] d’Aignan, der ihn dem König vorstellte. Vor allem jedoch verfasste er
für die Truppe Molières, vielleicht sogar in seinem Auftrag und mit seiner
Hilfe, die Tragödie La Thébaïde ou les
frères ennemis, die von dem
blutigen Streit der Zwillingssöhne des Ödipus um die Herrschaft im antiken
Theben handelt. Das Anfang 1664 aufgeführte Stück hatte aber nur geringen
Erfolg.
Sein nächstes Stück, die Tragikomödie Alexandre le Grand (1665), war eher
romanesk. Racine übte sich darin erstmals in der nüancierten Darstellung der
Liebe und der ihr inhärenten Konflikte, eine Thematik, die von nun an eine
Schlüsselrolle bei ihm spielte. Aufgeführt wurde das Stück wiederum von der
Truppe Molières, doch war Racine mit der Inszenierung nicht zufrieden. Er
reichte es deshalb hinter dem Rücken Molières weiter an die auf Tragödien und
Tragikomödien spezialisierte Truppe des Hôtel de Bourgogne. Den jungen König
Louis, der beide Truppen sponsorte, hatte er vor seinem Wechsel offenbar
eingeweiht und für sich gewonnen, denn er durfte ihm 1666 die Druckfassung des Alexandre
widmen, was sicher auch deshalb gelang, weil Louis es liebte, mit Alexander
verglichen zu werden. Das Verhältnis Racines zu Molière dagegen ging in die Brüche,
zumal er eine von dessen beliebtesten Schauspielerinnen mitgenommen hatte,
Thérèse alias „Marquise“ Du Parc, die bis zu ihrem frühen Tod Ende 1668 auch
seine Geliebte war.
Nach dem zwar nicht rauschenden, aber
achtbaren Erfolg des Alexandre und seinem Aufstieg zum Günstling des
herrschenden Regimes hatte Racine offenbar das Bedürfnis, sich demonstrativ von
den Jansenisten und ihrer lustfeindlichen Religiosität zu lösen und sich von
ihrer latenten politischen Opposition zu distanzieren: 1666 attackierte er mit
einem ironischen offenen Brief einen seiner Ex-Lehrer, den Moral-Theologen
Pierre Nicole, der Romanciers und Dramatiker als „öffentliche Seelenvergifter“
gebrandmarkt hatte.
1667 intensivierte sich Racines Kontakt
zum Hof, denn er fand Anschluss an Henriette d’Angleterre, die junge Schwägerin
von König Louis, die ihn (nach einer Fehlgeburt und dem Verlust eines Kindes
durch Krankheit) als Unterhalter schätzte und ihn aus dem neuen Stück vorlesen
ließ, an dem er schrieb. Seine Pension wurde erhöht auf 800 Francs.
Ende 1667 erzielte Racine mit diesem
Stück, der Tragödie Andromaque,
seinen Durchbruch. Zugleich hatte er sein Thema gefunden: die schicksalhafte,
leidenschaftliche, aber unerfüllte Liebe, die die Liebenden in ihrer Eifersucht
und/oder Enttäuschung bis zum Äußersten - Mord und Selbstmord eingeschlossen –
und damit in den Untergang treibt. In Andromaque,
schreibt treffend Henry Bidou, „Racine,
tout adolescent, est déjà maître de son système dramatique; et ce premier état
de son théâtre ne diffère pas beaucoup de ce qu’il sera par la suite. Le
principe qu’il a découvert, c’est de placer le point de départ de sa pièce tout
près du point d’arrivée. C’est peut-être là le trait le plus racinien. Au
moment où le rideau se lève, la machine qui doit faire éclater la catastrophe
est toute montée, toute chargée, toute armée. Le poète emploie cinq actes à la
retenir; au dénouement, il n’a qu’à retirer sa main.“ (in: Joseph Bédier/Paul
Hasard, Histoire de la littérature
française illustrée, 2 Bde, Paris
1924; II, p. 16).
Nach dem Triumph von Andromaque, zu dem die Du Parc in der
Titelrolle sehr viel beigetragen hatte, wurde Racine von seinen Bewunderern auf
eine Stufe gestellt mit dem eine Generation älteren „großen Corneille“ (s.o.),
der seinerseits so deprimiert war, dass er sich für zwei Jahre vom Theater
zurückzog. Racine verkehrte weiterhin am Hof und erhielt ab 1668 hübsche 1200
Livres Pension. Ebenfalls 1668 bekam er ein Priorat im Anjou als Pfründe
zugewiesen, wobei er, denn er war ja nicht geweiht, einen Teil der Einkünfte
dem Priester abtreten musste, der als offizieller Inhaber figurierte und ihn
vor Ort vertrat.
Beflügelt durch den schmeichelhaften
Vergleich mit Corneille, versuchte Racine auch mit Molière gleichzuziehen (der
gerade eines seiner besten Stücke, Le Misanthrope, herausgebracht
hatte). In diesem Sinne verfasste er Les
plaideurs (1668). Die etwas
konstruiert wirkende Komödie um einen monomanischen Richter, zwei Prozesshansel
(plaideurs), ein Liebespaar und zwei pfiffige Diener kam beim Pariser Publikum
jedoch erst an, nachdem Louis es ostentativ beklatscht hatte. Es blieb die
einzige Komödie Racines.
Hiernach trat er wieder in Konkurrenz
zu Corneille und begab sich mit der Tragödie Britannicus (1669) auf dessen Spezialgebiet, die Verarbeitung von
Stoffen aus der römischen Geschichte. Auch das nächste, „römische“, Stück, die
Tragikomödie Bérénice (1670), war
eine Herausforderung an Corneille, der zur gleichen Zeit ein thematisch
ähnliches Stück, Tite [=Kaiser Titus] et
Bérénice, von Molière herausbringen ließ. Nachdem Racine tatsächlich
Corneille in der Gunst des Publikums geschlagen hatte (und inzwischen auch bei
dem allmächtigen Minister Colbert aus und ein ging), wechselte er mit dem
Intrigenstück Bajazet (1672), das am
Hof von Istanbul spielt, in die jüngere türkische Geschichte. Frankreich war
nämlich gerade mit dem Sultan gegen den deutschen Kaiser im Bunde, und
„turqueries“ waren in Mode.
Nach dem Erfolg von Bajazet beherrschte Racine das Pariser
Theater. 1673 wurde er in die Académie française gewählt. Mit Mithridate (1673) schrieb er nochmals
ein „römisches“, Corneille Konkurrenz machendes Stück. Hiernach kehrte er in
die Welt der griechischen Antike zurück mit Iphigénie
en Aulide (1674), die auf einem Fest uraufgeführt wurde, mit dem der König
mitten im Niederländischen Krieg die formelle Annexion der Franche-Comté
feierte.
Im selben Jahr erhielt Racine das nicht
unbedeutende, ihn aber kaum belastende Amt eines trésorier [Schatzmeister] de France für den Bezirk Moulins
übertragen. 1776 ließ er eine Sammelausgabe seiner Stücke erscheinen, die er
hierbei gründlich überarbeitet hatte.
Anfang 77 wurde Phèdre aufgeführt, sein neben Andromaque
wohl bestes und quasi tragischstes Stück. Der Erfolg war jedoch nur mäßig. Als
dagegen ein gleichnamiges mittelmäßiges Stück von Jacques Pradon allgemein
gelobt und beklatscht wurde, zog sich Racine frustriert zugunsten seiner
anderen Aktivitäten vom Theater zurück. Auch heiratete er: die fromme und
reiche, entfernt verwandte Catherine de Romanet, mit der er bis 1792 einen
Sohn, fünf Töchter und nochmals einen Sohn bekam.
Schon 1676 war er, zusammen mit seinem
Freund Boileau, zum Historiographe du Roi
ernannt worden und musste hinfort an Feldzügen von Louis XIV teilnehmen, um
sie zu protokollieren (u.a. 1678 Belagerung von Gent im Niederländischen Krieg,
1692 Belagerung von Namur im Pfälzischen Krieg). Seine und Boileaus
Aufzeichnungen wurden jedoch bei einem Brand vernichtet.
1685 wurde Racine Vorleser bei Louis
und seiner morganatisch („linker Hand“) angetrauten frommen Gattin Mme de
Maintenon. Von dieser ließ er sich 1688 und 1690 nochmals zum Stückeschreiben
bewegen und verfasste die biblische Stoffe behandelnden Esther und Athalie. Sie
waren zur Aufführung in dem adeligen Kloster und Mädchenpensionat Saint-Cyr
bestimmt und wurden dort von Schülerinnen inszeniert.
Theologen bekrittelten sie allerdings als weltliche Profanierung geistlicher
Gegenstände.
1690 erreichte Racine den Höhepunkt
seiner Höflingskarriere mit der Ernennung zum Königlichen Kammerherrn (gentilhomme ordinaire de la chambre du Roi).
Gegen Ende der 70er Jahre war er wieder
fromm geworden, was zu der allgemein gedrückten Stimmung passte, die Louis’
pausenlose, zunehmend ruinöse Krieg in Frankreich bewirkten. Allmählich,
zunächst aber nur heimlich, kehrte er auch zu dem strenggläubigen Jansenismus
seiner Jugendzeit zurück und versöhnte sich unter der Hand
mit einigen seiner alten Lehrer. Sicher auch als Reflex dieser Stimmung verfasste er
geistliche Lyrik, die gesammelt 1694 als Chants
spirituels erschien.
Nachdem er sich unter der Hand mit
einigen seiner alten Lehrer versöhnt hatte, erregte er 1694 den Unwillen des
Königs, als er beim Pariser Erzbischof für das Kloster Port-Royal einzutreten
versucht hatte, das nach wie vor als geistiges Zentrum der Jansenisten
fungierte. Als er 1698 mit einem Abrégé
[=Abriss] de l'histoire de Port-Royal seine Sympathien auch öffentlich
zeigte, ließ Louis ihn in Ungnade fallen. Abseits vom Hof verlebte Racine die
letzten Monate seines Lebens in Verbitterung, wenn auch als reicher Mann und
als Patriarch im Kreise seiner großen Familie.
Seinem Wunsch gemäß wurde er in
Port-Royal begraben, nahe bei seinem Lieblingslehrer Hamon.
Sein jüngster Sohn Louis (1692-1763),
ein schrifstellernder Jurist, wurde sein erster Biograf mit dem Mémoire sur
la vie de Jean Racine (1747).
Racine
hat die französischen Dramatiker neben ihm und nach ihm bis ins 19. Jahrhundert
hinein stark beeinflusst. Die Eleganz und Musikalität seiner Verse galt und
gilt als beispielhaft, die Intensität seiner Darstellung der Gefühle als kaum
zu übertreffen. Als meisterhaft erscheint auch seine Kunst, Spannung nicht aus
einer bewegten Handlung, sondern aus den inneren Konflikten der Figuren und
ihrer Entwicklung zu erzeugen.
Im
deutschen Sprachraum scheint er nie wirklich heimisch geworden zu sein, auch
wenn Goethe die Iphigénie kannte und Schiller kurz vor seinem Tod die Phèdre
übertrug.
Jean de La Bruyère (*16.8.1645
Paris; †1696 Versailles)
Er wird als „Moralist“ (eine im deutschen
Sprachraum praktisch inexistenten Autoren-Spezies) zu den großen franz.
Klassikern gerechnet.
La Bruyère stammte aus einer
bürgerlichen, wohl erst kürzlich aus der Provinz nach Paris gekommenen Familie
und erhielt nach einem Jurastudium in Orléans 1665 die Zulassung als Anwalt am
höchsten Pariser Gericht, dem Parlement. 1671, 26jährig, beerbte er mit seinen
drei Geschwistern einen reichen Onkel und kaufte 1673 in Caen ein Amt in der
Finanzverwaltung, das ihn pro forma adelte, ihm aber keine Präsenz vor Ort
abverlangte. Er lebte vielmehr weiter als Rentier in Paris und dilettierte als
Privatgelehrter.
Hierbei stieß er auf die
Charakterstudien des antiken Polygraphen und Aristoteles-Schülers Theophrastos
(4. Jh. v. Chr.), die er aus dem Griechischen zu übertragen begann.
1684
empfahl ihn der Bischof, Prinzenerzieher und große Prediger Bossuet (s.o.), dem
Prince de Condé, Chef einer Seitenlinie des Königshauses, als Hauslehrer
(précepteur) für dessen Enkel, des duc de Bourbon. Nachdem dieser 1687
verheiratet worden war, blieb La Bruyère als Edeldomestik (gentilhomme
ordinaire) und Sekretär in seinen Diensten und lebte als Mitglied seines
Gefolges überwiegend in Paris, Chantilly und Versailles.
Als Randfigur im hocharistokratischen
Milieu wurde er zu einem scharfen Beobachter und bereicherte in der Folge die
Theoprastschen „Charaktere“ um die Darstellung sozialer Typen der eigenen Zeit,
wobei er mit Vorliebe bestimmte adelige und pseudoadelige Verhaltensweisen,
aber auch allgemeine menschlich-allzumenschliche Schwächen, Manien und Ticks
aufs Korn nahm.
1688 ließ er ein
Bändchen mit dem Titel Les Caractères de
Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce
siècle erscheinen. Das
Werk war dank seiner Thematik, seiner Einteilung in kurze, gut lesbare
Abschnitte sowie seiner pointierten, oft ironischen Formulierungen sofort ein
Erfolg, und La Bruyère erweiterte es von einer zur nächsten der neun Auflagen,
die rasch nacheinander erschienen, die letzte kurz nach seinem Tod. In Paris
zirkulierten bald auch Schlüssel, die einzelne Porträts bekannten Zeitgenossen
zuzuordnen versuchten.
Nach einem ersten vergeblichen Anlauf
1691 erfüllte sich 1693 der Traum La Bruyères: Er wurde in die Académie
française gewählt – mit Nachhilfe des Königs und als Kandidat der
traditionalistischen „Anciens“, gegen den Widerstand der progressiven
„Modernes“, die dort inzwischen tonangebend waren und die er mit seiner
Antrittsrede bewusst provozierte.
Kurz vor seinem plötzlichen Tod durch
einen Schlaganfall verfasste er noch die Schrift Dialogues sur le quiétisme, mit denen er seinen einstigen Förderer
Bossuet in dessen Kampf gegen Mme de Guyon (s.u.) und Fénelon (s.u.)
unterstützte.
Fénelon (=François de
Salignac de la Mothe-Fénelon, *6.8.1651 auf Schloss Fénelon/Perigord; †7.1.1715
Cambrai).
Heute langsam in Vergessenheit
geratend, hat er bis ca. 1900 mit seinem vielgelesenen Abenteuer- und
Bildungsroman Les Aventures de Télémaque
in ganz Europa eine Wirkung ausgeübt, die kaum zu überschätzen ist. Das 1694-96
entstandene Werk gilt als einer der Marksteine der Frühaufklärung.
Fénelon (wie er bei Historikern und
Literaturhistorikern schlicht heißt) stammte aus einer alten, aber verarmten
Adelsfamilie des Périgord. Da er jüngerer Sohn war (zweitjüngstes von insgesamt
14 Kindern seines Vaters aus zwei Ehen), und die Familie schon mehrere Bischöfe
hervorgebracht hatte, wurde auch er früh für die kirchliche Laufbahn bestimmt.
Er ging erst in Cahors, später in Paris bei den Jesuiten zur Schule und
studierte dann im elitären, ebenfalls den Jesuiten nahestehenden Pariser
Priesterseminar Saint-Sulpice.
Nachdem er als junger Priester durch
schöne Predigten auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde er 1678 zum Direktor
des Institut des Nouvelles Catholiques ernannt, einer Pariser Internatschule
zur Umerziehung junger Mädchen aus guter Familie, deren Eltern angesichts des
brutaler werdenden Drucks der Staatsmacht konvertiert, d.h. vom Protestantismus
zum Katholizismus übergetreten waren. 1681 reflektierte er seine pädagogische
Praxis im Traité de l'éducation des
filles (=Traktat über die Mädchenerziehung, publiziert erst 1687).
Ende 1685, nachdem Louis XIV das 1598
von seinem Großvater Henri IV erlassene Toleranzedikt aufgehoben hatte,
unternahm Fénelon eine erste von mehreren Missionsreisen in damals
protestantische Regionen Südwestfrankreichs, war offenbar aber nur mäßig
erfolgreich.
Kurz zuvor, 1685, war er mit einer
ersten theologischen Schrift hervorgetreten, dem Traité de l'existence de Dieu et de la réfutation du système de
Malebranche sur la nature et sur la Grâce (=Traktat über die Existenz
Gottes und über die Widerlegung von M.s System der Natur und der Gnade), worin
er sich im Sinne der katholischen Amtskirche und der Staatsmacht an der Bekämpfung
der Jansenisten beteiligte, die eine rigoristische Gnadenlehre ähnlich der des
kalvinistischen Protestantismus vertraten. Im selben Jahr äußerte sich Fénelon
zur Rhetorik in seinen Dialogues sur
l'éloquence (=Dialoge über die Beredsamkeit, 1685).
Er zählte in diesen Jahren zum Kreis um
Bossuet (s.o.), den streitbaren Primus der franz. Bischöfe. 1688 wurde er Mme
de Maintenon vorgestellt, der „linker Hand“ angetrauten zweiten Gattin von
Louis XIV. Diese sympathisierte zu jener Zeit noch mit der mystisch-frommen Mme
Guyon, deren „Quietismus“ offenbar vielen Franzosen, zumal auch adeligen, als
eine Art Evasionsmöglichkeit erschien angesichts des permanenten
Kriegszustandes, der aufgrund der Expansionskriege Louis’ herrschte. Auch
Fénelon war fasziniert von Mme Guyon, als er sie im Winter 88/89 kennenlernte,
und stand danach bis zu ihrem Tod unter ihrem Einfluss.
Im Sommer 1689 wurde er auf Vorschlag
von Mme de Maintenon, die er inzwischen in Fragen des Seelenheils beriet, von
Louis zum Hauslehrer (précepteur)
seines 7-jährigen Enkels und eventuellen Thronfolgers, des Duc de Bourgogne,
berufen – ein Posten, der ihm Einfluss am Hof verschaffte und sicherlich
ausschlaggebend war für seine Wahl in die Académie Française (1693) sowie für
seine Ernennung zum Erzbischof von Cambrai (1695).
Für seinen fürstlichen Zögling (der
jedoch 1712 sterben und ebensowenig König werden sollte wie sein 1711 kurz vor
ihm gestorbener Vater) schrieb Fénelon mehrere unterhaltende und zugleich
belehrende Werke: eine Sammlung von Fabeln, die Aventures d'Astinoüs, die Dialogues
de morts (=Totendialoge) und vor allem einen umfänglichen Roman: Les Aventures de Télémaque, fils d'Ulysse (fertiggestellt
1698, gedruckt 1699, 1733 auf deutsch erschienen als Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, Sohn des Odysseus).
In diesem pseudo-historischen und
zugleich utopischen Roman führt Fénelon den jungen Télémaque und dessen Lehrer
Mentor (in dem sich Minerva alias Athene verbirgt und der sichtlich Sprachrohr
Fénelons ist) durch diverse antike Staaten, die meist durch Schuld ihrer von
Schmeichlern und falschen Ratgebern umgebenen Herrscher ähnliche Probleme haben
wie das in pausenlose Kriege verstrickte und verarmende Frankreich der 1690er
Jahre, wobei er jedoch einen Herrscher zeigt, der dank der Ratschläge Mentors
seine Probleme zu lösen vermag durch friedlichen Ausgleich mit den Nachbarn und
durch ökonomische Reformen im Inneren, und zwar insbesondere durch die
Entwicklung der Landwirtschaft und die Zurückdrängung der Luxusgüterproduktion.
Der Télémaque,
der ab 1698 in handschriftlichen Kopien am Hof zirkulierte, wurde sofort als
kaum verschlüsselte Kritik am autoritären Regierungsstil von Louis XIV sowie an
seiner kriegerischen Außenpolitik und seiner exportorientierten
merkantilistischen Wirtschaftslenkung interpretiert. Fénelons größter Gegner am
Hof, sein einstiger Förderer Bossuet, gewann nun die Oberhand, nachdem er ihn
schon ab 1694 in scheinbar theologisch motivierte Querelen über den Quietismus
gezogen hatte und 1697 versucht hatte, eine Verteidigungsschrift Fénelons für
Mme Guyon (die nach und nach zum Quasi-Staatsfeind avanciert und 1698
inhaftiert worden war) vom Papst verurteilen zu lassen. Anfang 1699 verlor
Fénelon seinen Erzieherposten, und als im April sein Télémaque (anonym und ohne seine Zustimmung) im Druck erschien,
wurde er vom Hof verbannt.
Er zog sich zurück in sein Bistum
Cambrai und versuchte dort, nicht ohne weiterhin als theologischer und
politischer Autor tätig zu sein, ein exemplarisches Regiment gemäß den Lehren
seiner Figur Mentor zu führen.
Pierre Bayle (*18.11.1647 in
Le Carla [heute Carla-Bayle]/Dep. Ariège; †28.12.1706 in Rotterdam)
Er gilt zusammen mit dem 10 Jahre
jüngeren Fontenelle (s. u.) als zentrale Figur der sog. Frühaufklärung.
Geboren und aufgewachsen in einem
Pyrenäendorf als Sohn eines hugenottischen Predigers, besuchte er ab 1666 die
protestantische Akademie von Puylaurens (Dép. Tarn). Von religiösen Zweifeln
geplagt, wechselte er 1699 auf das Jesuiten-Kolleg von Toulouse und
konvertierte zum Katholizismus. Ein gutes Jahr später bereute er unter neuen
Zweifeln seine Konversion kehrte zum Protestantismus zurück und flüchtete als
„relaps“ (Renegat) ins kalvinistische Genf. Hier und etwas später in Rouen, das
zu dieser Zeit noch eine große kalvinistische Gemeinde hatte, verdingte er sich
als Hauslehrer (précepteur) und beschäftigte sich mit Philosophie, insbes. der
von Descartes.
1675 wurde er Philosphieprofessor an
der protestantischen Akademie von Sedan in Lothringen, das formell noch Teil
des Deutschen Reiches war. Als die Akademie 1681 im Rahmen der zunehmenden
Einschnürung des franz. Protestantismus und der zunehmenden Vereinnahmung
Lothringens durch Frankreich geschlossen wurde, ging Bayle, wie so viele
kalvinistische franz. Intellektuelle, nach Holland und bekam in Rotterdam an
einer neueröffneten Hochschule eine Professur für Philosophie und Geschichte.
1682 publizierte er sein erstes Buch: Lettre sur la comète de 1680, das er
1683 erweiterte zu Pensées diverses sur la comète und an das er 1704 noch
eine Continuation des Pensées diverses
anfügte. In diesem Buch widerlegt er zunächst die abergläubischen
Vorstellungen, die man mit Kometen verband und die von vielen Theologen zur
Verängstigung und Disziplinierung der Gläubigen ausgenutzt wurden, und er propagiert
die Idee, dass alles Wissen, aber auch alle Glaubenssätze ständig kritisch
überprüft werden müssen. In einem zweiten Arbeitsgang entwirft er die
Grundlagen einer nicht religiös bestimmten Moral bzw. Ethik, wobei er die
seinerzeit unerhörte These entwickelt, dass ein Atheist nicht zwangsläufig
sittenlos sein und unmoralisch handeln müsse.
Wenig später denunzierte er in seiner
Schrift Critique générale de l’Histoire du Calvinisme du P[ère] Maimbourg (1684)
die prokatholische Parteilichkeit des Autors und propagierte religiöse
Toleranz.
Von 1684-87 war er Herausgeber und
wichtigster Beiträger der Zeitschrift Nouvelles
de la République des Lettres, die den Beginn eines literaturkritischen und
populärwissenschaftlichen Journalismus bedeutete und sich an jenes über ganz
Europa verstreute geistig interessierte Publikum richtete, das das Französische
als die Sprache von Bildung und Wissen beherrschte. In Frankreich selbst
allerdings wurde die Zeitschrift verboten.
Als 1685 Louis XIV das von Henri IV
erlassene Toleranz-Edikt aufhob (das berühmte Édit de Nantes) und damit die
Flucht von über 200.000 Protestanten bewirkte, die nicht eingekerkert werden
wollten wie ein Bruder von Bayle, reagierte dieser mit zwei kritischen
Schriften: Ce que c'est que la France
toute catholique sous le règne de Louis le Grand (1686) und Commentaire philosophique sur ces paroles de
Jésus-Christ "Contrains-les d'entrer" (1687). Hierin brandmarkt er
die religiöse Intoleranz des franz. Staates und die unheilige Allianz von Thron
und Altar und fordert einmal mehr
Toleranz und Gewissensfreiheit, auch für Andersgläubige und Atheisten, und zwar
nicht nur als moralisches Prinzip, sondern als ein Gebot der Vernunft.
Schon seit den Pensées war Bayle nicht nur den Katholiken suspekt, sondern auch
vielen Protestanten, die seine demonstrativ unkritische Haltung in Konfessions-
und Glaubensfragen (später „Fideismus“ genannt) als verkappten Deismus, wenn
nicht Atheismus betrachteten. Von ihnen, zumal von seinem ebenfalls nach
Holland gegangenen Sedaner Ex-Kollegen Pierre Jurieu, der sich zu seinem
Spezialfeind entwickelte, wurde er deshalb heftig attackiert, als man ihm die
volle oder teilweise Autorschaft des Avis
important aux réfugiés (1690) zuschrieb, einer anonymen Schrift, in der vor
den Umtrieben der Scharfmacher unter den emigrierten Hugenotten gewarnt wird,
die Holland und England in einen Rachekrieg gegen Louis XIV zu treiben
versuchten.
1693 wurde Bayle seiner Professur
enthoben und widmete sich nun ganz der Arbeit an dem Dictionnaire historique et critique (2 Bde 1695/96, 4 Bde 1702),
das ein holländischer Verleger quasi bestellt und vorfinanziert hatte. Dieses
war ursprünglich als verbesserte Version des Grand Dictionnaire historique (1674 u.ö.) geplant, eines Namens-
und Personenlexikons des Jesuiten Louis Moreri, wuchs sich aber aus zu einen
Nachschlagewerk neuen Typs. Bayle nämlich beschränkte sich nicht auf eine
Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Wissens über historische Personen und
Figuren (insbes. auch solche der Bibel), sondern er versuchte darüber hinaus
und vor allem eine kritische Sichtung dieses Wissens. Hierzu führte er als
bahnbrechende Neuerung ein, dass er die eigentlichen Artikel auf das Faktische
beschränkte, ihnen aber sehr ausführliche Fußnoten beigab, in denen er Quellen
und Autoritäten zitiert, und zwar nicht zuletzt solche, die sich widersprechen,
womit er den Leser unvermerkt zum Hinterfragen scheinbar verbriefter
Tatbestände und dadurch zum eigenen Denken und Entscheiden zwingt.
Das Lexikon erzielte bis 1760 mehr als
10 Auflagen und wurde ein Brevier der Aufklärer. Eine dt. Übersetzung, verfasst
von einem Autoren-Team um den bekannten Literaten Johann Christoph Gottsched,
erschien 1741-44 als Peter Baylens
historisches und kritisches Wörterbuch. Auch die 1746 von Diderot (s.u.)
und D’Alembert initiierte Encyclopédie nahm sich das Werk zum Vorbild.
Bayle selbst erlebte seine Anerkennung
jedoch nicht mehr. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er mit
Verteidigungsschriften gegen die Anwürfe, die ihm sein Lexikon eintrug, und in
Polemiken mit seinem Feind Jurieu sowie anderen dogmatischen reformierten
Theologen.
Madame Guyon (eigentlich Jeanne Marie
Guyon du Chesnoy, geb. Bouvier de la Motte, * 13.4.1648 in Montargis; † 9.6.1717 in Blois)
Mme Guyon (wie sie bei Historikern schlicht heißt)
war eine in den 1680er und 90er Jahren sehr erfolg- und einflussreiche Autorin
religiös motivierter, mystisch orientierter Schriften. Ihre Nachwirkung war,
politisch bedingt, in katholischen Ländern wie Frankreich selbst eher gering,
in deutschen sowie englischen protestantischen Kreisen dagegen bedeutend.
Laut ihrer Autobiografie La Vie de Mme J.-M.
Bouvier de La Motte Guyon, écrite par elle-même (postum Köln 1720) war sie
Tochter eines wohlhabenden, vom Bürgertum in den Adel strebenden Juristen,
Claude Bouvier. Von ihrer Mutter ungeliebt, verbrachte sie ihre Kindheit und
Jugend z.T. im Klosterpensionat und spielte selbst mit dem Gedanken, Nonne zu werden.
Mit 16 ließ sie sich jedoch verheiraten mit den 22 Jahre älteren, ebenfalls aus
Montargis stammenden und wohlhabenden Jacques Guyon, seigneur du Chesnoy. Ihre
Ehe erlebte sie als unglücklich, nicht zuletzt wegen ihrer sehr dominanten
Schwiegermutter und deren sie bespitzelnder Dienstmagd. Als sie in einer
Blatternepidemie zwei ihrer drei Kinder, darunter ihren Lieblingssohn, verlor
und sich selber entstellt sah, geriet sie in eine Glaubenskrise. In dieser
Situation ließ sie sich von ihrem Beichtvater, dem Barnabitermönch Lacombe, zu
dessen mystischer Frömmigkeit bekehren.
1676 starb ihr schon länger kränkelnder Mann,
nachdem er nochmals zwei Kinder mit ihr gezeugt hatte. Einige Jahre später ließ
die rd. 30jährige Witwe ihre Kinder (zweifellos von Domestiken wohlversorgt) zu
Hause zurück und begann ein Wanderleben. Dieses führte sie zunächst nach Genf
und an verschiedene Orte Savoyens, wobei sie 1681 in Thonon Lacombe wiedertraf.
Zugleich fing sie an, ihre neue Frömmigkeit zu verbreiten und entsprechende
Schriften zu verfassen. Hierbei geriet sie bald in Konflikte mit der
Amtskirche. So wurde sie z.B. vom Genfer Bischof gebeten, seine Diözese zu
verlassen. Sie folgte deshalb dem ebenfalls ausgewiesenen Lacombe nach Turin
und ging später nach Grenoble, wo sie 1685 ihr erstes gedrucktes Werk
publizierte, eine „kurzgefasste und leichtverständliche Anleitung zum Beten“: Moyen
court et très facile pour l’oraison que tous peuvent pratiquer aisément.
Das populärtheologische Buch hatte enormen Erfolg, erregte aber auch die Kritik
vieler Geistlicher, so dass der Grenobler Bischof Mme Guyon aufforderte, seine
Diözese zu verlassen. (Wäre fortzusetzen!)
Jean-François
Regnard (*7.2.1655
Paris; † 4.9.1709)
Regnard gilt als der beste franz.
Komödienautor zwischen Molière und Marivaux, die jeweils etwa eine Generation
älter bzw. jünger sind.
Er war Sohn eines reichen Pariser
Kaufmanns, der jedoch zwei Jahre nach seiner Geburt starb, so dass er unter der
Obhut seiner Mutter und seiner älteren Schwester aufwuchs. Ab 12 verfasste er
Verse. Mit 16 (1671) ließ er sich einen Teil seines ansehnlichen Erbes (120.000
Frs.) auszahlen und begab sich (zweifellos mit einem Leibdiener) auf eine
zweijährige Reise, die ihn über Italien bis nach Istanbul und von dort über
Italien wieder zurück führte. In Venedig will er sich mit Glück als Spieler
betätigt haben, so dass er mit 10.000 Talern in der Tasche heimgekehrt sei.
1676
trat er zusammen mit Leibdiener und einem adeligen Freund eine neuerliche lange
Italienreise an, auf der sie u.a. in Bologna das franz. Ehepaar de Prade
kennenlernten. Bei der gemeinsamen Rückreise 1678 (Regnard hatte sich
inzwischen in Mme de Prade verliebt) nahmen sie ein Schiff von Genua nach
Marseille. Dieses wurde jedoch von nordafrikanischen Seeräubern gekapert, und
die fünf Franzosen wurden in Algier als Sklaven verkauft, wobei Mme de Prade
von den Freunden, aber auch von ihrem Mann getrennt wurde.
Nach
acht Monaten gelang es 1679 einem auf solche Fälle spezialisierten Mönch des
Lazaristen-Ordens, den Freikauf Regnards, des Freundes, des Dieners und Mme de
Prades zu vermitteln. Zu der ins Auge gefassten Heirat Regnards mit ihr kam es
aber nicht, weil auch ihr verschollener und tot geglaubter Gatte wieder
auftauchte.
1681
begab sich Regnard mit zwei Freunden auf eine Nordeuropa-Reise, die über
Flandern, Dänemark und Schweden bis nach Lappland und zurück über Polen,
Ungarn, Österreich und Deutschland ging. Die Schilderung der Lappland-Etappe
gilt als interessantester Teil des Reiseberichts, den er später verfasste.
Nach
seiner Rückkehr 1682 kaufte Regnard das hochrangige, aber nicht sehr belastende
Amt eines Trésorier (Schatzmeister) de France und lebte in der Folgezeit teils
in Paris und teils auf dem Schlösschen Grillon, das er in der Normandie
erworben hatte. Sein Haus in der Pariser Rue de Richelieu, aber auch Grillon
wurden rasch zum Treffpunkt lebenslustiger und geistreicher Personen
unterschiedlichster Herkunft.
Zugleich
begann Regnard, seine Muße mit Schriftstellerei auszfüllen. Zunächst versuchte
er sich in Tragödien, von denen jedoch nur eine zur Aufführung kam. Danach
erkannte er seine Gabe der Beobachtung und Darstellung allgemeinmenschlicher
Schwächen, aber auch spezifisch zeitgenössischer Untugenden und verlegte sich
ab 1687 auf komische Stücke, die er für das Pariser Theater der Comédiens
italiens verfasste, an deren Aufführungsstil und personelle Gegebenheiten er
sich anpasste. Es waren: Le Divorce (=die Scheidung/Trennung, 1688); La
Descente de Mezzetin aux Enfers (=die Reise M.s in die Hölle, 1689); Arlequin,
homme à bonnes fortunes (=A., der Mann mit Glück bei den Frauen, 1690).
Durch
das letztere Stück wurde Regnard bekannt, erregte aber auch Anstoß, was er
ausnutzte und sofort (ähnlich wie Molière in einer vergleichbaren Situation)
ein zweites Stück hinterherschob, La Critique de l’Homme aux bonnes fortunes.
Noch
1690 folgte Les filles errantes (=die herumirrenden Mädchen). 1691 kam La
Coquette ou L’Académie des dames heraus, dessen Titel auf Molière verweist,
an dem Regnard sich insgesamt häufig inspiriert.
1692/93
produzierte er aufgrund der guten Nachfrage drei Stücke mit dem ebenfalls nicht
unbekannten Dufresny als Co-Autor: Le Chinois (=der Chinese); La Baguette de Vulcain (=der Stab
Vulkans) und L’Augmentation [Vermehrung, Verlängerung] de „La Baguette“.
1694
war La Naissance d’Amadis (=A.s Geburt) das letzte Stück Regnards für
die Italiens. Noch im selben Jahr wechselte er zum renommierteren Théâtre
Français, zunächst mit zwei Einaktern: Attendez-moi sous l’orme
(=erwarten Sie mich unter der Ulme) und La Sérénade.
Ebenfalls
94 unterhielt er die Pariser Literatenwelt mit einer Fehde, in die er den
ältlichen Satiriker Boileau (s.o.) verwickelte, indem er auf dessen Satire
contre les femmes mit einer Satire contre les maris replizierte und
ihn zu einer giftigen Reaktion animierte. Eine ironische Verssatire, mit der
Regnard hierauf antworten wollte, kam nicht mehr zum Druck, weil die Herren
sich versöhnten.
Vor allem aber schrieb er weitere Komödien für das
Théâtre Français: La Foire [Jahrmarkt] Saint-Germain (1695); La
Suite [Fortsetzung] de „la Foire St.-G.“ ou Les Momies [Mumien]d’Égypte
(1696); Le Bal ou Le Bourgeois de Falaise (1696).
Ende
96 wurde Le Joueur (=der Spieler) ein großer Erfolg. Dies veranlasste Regnard,
sein Trésorier-Amt zu verkaufen und sich ganz seiner Rolle als anerkannter
Autor, wohlhabender Lebemann (mit Mätresse) und Schlossherr zu widmen.
Seine
nächsten Stücke kamen jedoch nur mäßig gut an. Es waren: Le Distrait (=der Zerstreute, 1697); Le
Carnaval de Venise (Oper, 1699); Démocrite amoureux und Le Retour
imprévu (=die unverhoffte Heimkehr, beide 1700); Les Folies
[Torheiten] amoureuses (1704); Les Ménechmes (=die Zwillinge,
1705).
Anfang
1708 kam das Stück heraus, das als Regnards bestes gilt und ihm seinen Platz in
der Literaturgeschichte sicherte: die Verskomödie Le Légataire universel
(=der Alleinerbe). Die Handlung kreist um einen reichen alten Geizkragen,
seinen Neffen, der ihn beerben möchte, und dessen pfiffigen Diener Crispin, der
in verschiedenen Verkleidungen seinem jungen Herrn zu dem Testament verhilft,
das er braucht, sich aber auch selbst die Taschen etwas füllt.
Regnard
starb plötzlich ein Jahr später auf Grillon an ungeklärter Todesursache, eher
wohl einem Unfall oder einem Schlaganfall als dem Selbstmord, der auch vermutet
wurde.
Neben
seinen Stücken verfasste Regnard auch immer wieder Texte anderer Gattungen. So
schrieb er zahlreiche Gelegenheitsgedichte, mehrere Épîtres (Versepisteln),
einige Satires (gereimte Satiren, vgl. oben), Reiseberichte und den
kleinen autobiografischen Roman La Provençale, der von seiner Liebe zu
Mme de Prade inspiriert ist.
Fontenelle (=Bernard Le
Bovier de Fontenelle, *11.2.1657 Rouen; †9.1.1757 Paris =100 Jahre!)
Fontenelle (wie er in der Literaturgeschichte
schlicht heißt) zählt neben dem anderen bedeutenden „Frühaufklärer“ Pierre
Bayle (s. o.) zu den wichtigsten Wegbereitern der Aufklärung.
Er entstammte einer amtsadeligen
Juristenfamilie und war Neffe der Dramatiker Pierre und Thomas Corneille. Nach
Studien am Jesuiten-Kolleg von Rouen ging er nach Paris, wo er, von Thomas
Corneille eingeführt, als galanter Lyriker, Komödienautor, Opernlibrettist,
Verfasser eines Briefromans und nicht zuletzt als gesuchter Salon-Animateur
reüssierte.
1683 erschienen seine Dialogues de morts, fiktive Dialoge
zwischen berühmten Toten aus der Antike und der jüngeren Vergangenheit, z.B.
zwischen Sokrates und Montaigne. Hauptthema sind die nach Fontenelle ganz
unberechtigten Vorurteile seiner Zeitgenossen zugunsten der Antike, Vorurteile,
die er seine antiken Sprecher voller Witz ironisch oder pseudo-naiv ad absurdum
führen lässt.
1686 erschienen
seine Entretiens sur la pluralité des
mondes. Es
ist ein fiktiver Dialog, in dem ein gebildeter Mann von Welt einer interessierten
adeligen Dame samt ihrer Tochter (und mit ihnen einem wohl als überwiegend
weiblich vorgestellten Publikum) bei einem nächtlichen Spaziergang im Park
Vorträge über das astronomische Wissen der Zeit gemäß Kopernikus, Galilei,
Kepler und Descartes hält und dabei die Möglichkeit nicht ausschließt, dass es
auch auf anderen Sternen vernunftbegabte Wesen gibt. Von der Kirche wurde das
Werk deshalb, aber auch, weil es insgesamt dem ptolemäischen Weltbild
widersprach, auf den Index gesetzt, doch tat das seinem Erfolg keinen Abbruch.
Ebenfalls 1686 publizierte Fontenelle
seine Histoire des oracles, worin er
in elegantem Plauderton einen lateinischen Traktat zum gleichen Thema
verarbeitet und verschiedene in antiken Quellen beschriebene Weissagungen und
Wunder kritisch in einer Weise beleuchtet, die von den Jesuiten sehr richtig
als Infragestellung auch biblischer Weissagungen und Wunder verstanden wurde.
Als 1687 in der Académie Française die Querelle des Anciens et des
Modernes ausbrach, wurde Fontenelle im Sinne seiner Dialogues de morts einer der ersten Parteigänger Perraults (s. o.)
und griff 1688 auf Seiten der „Modernen“ in den Streit ein mit seiner Digression sur les Anciens et les Modernes.
In den Folgejahren betätigte er sich
weiterhin fleißig als Lyriker, Tragödienautor, Erzähler und
Literaturtheoretiker, war aber nur noch mäßig erfolgreich. 1691 wurde er in die
Académie Française gewählt. 1697 wurde er Mitglied auch der 1666 gegründeten
Académie des Sciences, 1699 avancierte er zu deren Secrétaire perpétuel. Er gab
die Literatur nun weitgehend auf und schrieb in Wahrnehmung seines Amtes
zahlreiche "éloges" von Naturforschern und Erfindern, deren
Leistungen er mit seiner eleganten Feder einem größeren Publikum vorstellte.
1701 wählte ihn auch die Académie des Inscriptions et des Belles Lettres zum
Mitglied.
Bis etwa 1725 war er eine wichtige
Figur im Pariser geistigen und gesellschaftlichen Leben sowie auch etwas in der
Politik, ehe sein Ruhm zu verblassen begann.
Wie so viele Franzosen der Zeit, nahm
Fontenelle die bahnbrechenden Arbeiten Isaac Newtons lange Zeit nicht zur
Kenntnis, sondern blieb der Physik seines Landmanns Descartes verhaftet.
Er verkörperte als erster den dann für
die Epoche der Aufklärung so charakteristischen Typ des „philosophe“, d.h.
eines allseitig interessierten, sowohl belletristische, als auch philosophische
und naturwissenschaftliche Werke verfassenden Autors (wie es auch z.B. Goethe
noch zu sein versuchte).
18. Jahrhundert (Zeitalter der
Aufklärung / Le Siècle des Lumières)
Alain René Lesage (*8.5.1668
Sarzeau/Bretagne; †17.11.1747 Boulogne-sur-Mer)
Lesage ist wahrscheinlich der erste
Autor der franz. Literatur, der ganz vom Verkauf seiner Produkte am
Literaturmarkt lebte, der sich um 1700 herauszubilden begann.
Er stammte aus einer gutbürgerlichen
Juristenfamilie, verlor aber mit 14 seinen Vater und büßte in den Folgejahren
auch sein Erbe ein, das ein Vormund veruntreute. Nach seiner Schulzeit bei den
Jesuiten in Vannes (Morbihan/Bretagne) studierte er Jura in Paris, wurde als
Anwalt zugelassen und erhielt einen Posten in der (damals privat organisierten)
Steuereintreibung bzw. Steuerpacht der Bretagne. Nachdem er aus unbekannten
Gründen diesen Posten bald verloren hatte und sich als Anwalt nicht hatte
etablieren können, ging er 1698 nach Paris, um dort als Autor tätig zu sein.
Er begann mühsam mit wenig
erfolgreichen Übertragungen und Bearbeitungen spanischer Theaterstücke. Sein
Durchbruch war 1707 die eigene Komödie Crispin, rival de son maître (=C.
als Rivale seines Herrn), ein Stück um den cleveren Diener C., der seinem Herrn
beim Gewinnen einer reichen Braut behilflich sein soll, jedoch die Gelegenheit
zu nutzen versucht, die Mitgift für sich selbst zu angeln, daran zwar durch
Pech am Ende gehindert wird, aber vom Brautvater als fähiger Bursche erkannt
und zum Steuereinnehmer befördert wird. Auch der auf einer spanischen Vorlage
beruhende Roman Le Diable boiteux (=Der hinkende Teufel), der im
gleichen Jahr erschien, schlug gut ein. 1709 erzielte Lesage einen
Skandalerfolg mit der Komödie Turcaret, die in der Figur des Titelhelden
das von allerlei neureichen Arrivisten durchsetzte Milieu der Pariser Bankiers
und Steuerpächter, der „financiers“, an den Pranger stellt und verspottet. Das
schon während der Einstudierung an der Comédie Française von Betroffenen bekämpfte Stück
kam nur dank einem Machtwort des Dauphins zur Aufführung. Es gilt heute als
eine der besten franz. Komödien des 18. Jh.
Nach seinen schlechten Erfahrungen mit
dem Turcaret und der Comédie Française wandte sich Lesage dem
volkstümlichen Pariser Théâtre de la
Foire zu. Für dieses verfasste er in den nächsten Jahrzehnten, z.T. mit
Co-Autoren, wohl mehr als hundert witzig-satirische, wenn auch weniger
aggressive Stücke. Daneben schrieb er einige heute vergessene Romane. Gegen
1715 begann er das Buch, das als sein Hauptwerk und als bester französischer
Picaro-Roman gilt. Es ist die aktionsreiche, immer noch gut lesbare Histoire de Gil Blas de Santillane (4
Bde, 1715-1735). Die 100 Jahre zurück und nach Spanien verlegte Handlung
spiegelt in Wahrheit zeitgenössische franz. Verhältnisse, wobei aus der
Perspektive des Ich-Erzählers und Protagonisten die verschiedensten Milieus von
ganz unten bis ganz oben kritisch vorgeführt werden. Zugleich, und das ist neu
für das Genre, ist Lesages Picaro eine relativ gebildete Person, die im Verlauf
der Handlung auch eine charakterliche Reifung erfährt, womit Züge der späteren
Gattung Bildungsroman vorweggenommen sind.
Die Figur des Gil Blas war als Prototyp
des scharfsichtigen, aber abgeklärten Spötters bis ins frühe 20. Jh. hinein
allen gebildeten Franzosen geläufig, nicht zuletzt auch als Namenspatron der
von 1879 bis 1914 existierenden satirischen Zeitschrift Gil Blas (in der z.B. Maupassant viele seiner Novellen
publizierte).
Jean-Baptiste
Rousseau (* 6.4.1671 in Paris; † 16.3.1741 bei Brüssel)
Er galt Anfang des 18. Jh. als der
beste franz. Lyriker seiner Zeit und wurde als „prince des poètes“ gefeiert.
Wegen der formalen Kunst seiner Verse verglich man ihn mit dem großen Malherbe
und wegen der Treffsicherheit seiner satirischen Texte mit Boileau, der ihn als
einen würdigen Nachfolger betrachtete und anleitete. Mit etwa 40 begann er
jedoch, sich das Leben durch eine wachsende Manie zu erschweren, Kollegen und
auch Gönner mit Spottversen (Epigrammen) nicht nur zu verärgern, sondern zu
verunglimpfen. Immerhin wurde er um 1745 noch als „le grand Rousseau“ von dem
jüngeren Jean-Jacques Rousseau unterschieden, als dieser in den Pariser
Literaturbetrieb eintrat. Von den Romantikern, die ihn immerhin noch als einst
angesehenen Lyriker kannten, wurde er endgültig als gefühlskalter Verseschmied
abgestempelt. Erst in neuerer Zeit wird diese oder jene Ehrenrettung versucht
und vor allem sein Talent als Satiriker anerkannt.
Er wuchs auf als einziges Kind eines
kleinbürgerlichen, aber relativ wohlhabenden Schuhmachers, der ihm den Besuch
eines Jesuitenkollegs ermöglichte. Nach Berichten von Zeitzeugen dankte er dies
seinem Vater später damit, dass er sich seiner schämte und in der
Öffentlichkeit nicht von ihm gekannt zu werden wünschte.
Nachdem er zunächst als Sekretär eines
Anwalts gearbeitet hatte, trat er in die Dienste des Comte de Tallart, den er
1697 auf einer längeren Mission als Botschafter nach London begleiten durfte.
Auch andere Türen der guten Pariser Gesellschaft öffneten sich ihm, z.B. die
des Baron de Breteuil, des Vaters von Émilie du Châtelet, der späteren
Mathematikerin und Naturwissenschaftlerin sowie Partnerin Voltaires.
Die dichterische Produktion Rousseaus
scheint zunächst vor allem vom Ehrgeiz bestimmt. Er begann mit einer
Psalmen-Nachdichtung, die er über einen frommen Höfling am fromm gewordenen Hof
des späten Louis XIV zu lancieren schaffte, was ihm den Auftrag einbrachte,
religiöse Lyrik zur Erbauung des Enkels des Königs zu liefern. Zugleich, denn
er hatte auch Anschluss an Philippe de Vendôme, den Statthalter des
Malteserordens in Frankreich, gefunden, verfasste er für dessen
freidenkerischen Kreis erotisch anzügliche und irreligiöse Gedichte.
Sein größter Ehrgeiz war jedoch ein
Erfolg als Dramatiker. So verfasste er zwischen 1694 und 1702 zwei
Opernlibretti und vier Komödien, von denen aber nur eine, Le Flatteur (=der
Schmeichler, 1698), beim Publikum halbwegs ankam. Vier spätere Komödien blieben
ungedruckt und unaufgeführt.
Seinen Ruhm als „Dichterfürst“ (prince
des poètes) verdiente sich Rousseau schließlich mit sakralen und profanen
Kantaten und Oden. In ihnen verarbeitete er, ähnlich wie die Maler der Zeit,
meist Stoffe und Situationen aus der biblischen und antiken Geschichte und vor
allem der antiken Mythologie, die er in kunstvoll ziselierten Versen und
Strophen, einem hochrhetorischen Stil und einer Sprache und Metaphorik voller
literarischer, besonders klassisch-antiker Reminiszenzen darstellte.
1701 wurde er in die Académie des
Inscriptions et Belles-Lettres aufgenommen. Das Angebot eines hochstehenden
Gönners, ihm ein Amt in der Finanzverwaltung zu verschaffen, lehnte er hiernach
stolz als mit seiner Dichterrolle unvereinbar ab.
In den Folgejahren wurde er mehr und
mehr zum Opfer seines schwierigen Charakters. So vermutete er die Ursache
seines Misserfolgs als Dramatiker in einer Verschwörung von Kollegen, die wie
er im Kaffeehaus der Witwe Laurent verkehrten. Als er seinem Ärger mit anonymen
Epigrammen auf sie Luft machte, die er heimlich dort auslegte, erhielt er
Hausverbot und bekam es schließlich sogar mit der Polizei zu tun, als er die
Kollegen per Post noch weiter drangsalierte.
1710 unterlag er deshalb kläglich bei
seiner Kandidatur für die Académie Française gegen Antoine Houdar de la Motte,
was ihn zu neuen gehässigen Epigrammen auf Literaten-Kollegen, insbes. den
einst befreundeten La Motte, aber auch auf höherstehende Personen animierte.
Nachdem
er wegen einiger besonders boshafter Epigramme Schwierigkeiten bekommen hatte,
versuchte er die Autorschaft zu leugnen und sie einem Kollegen zuzuschreiben.
Als dieser seine Verantwortung bestritt, bot Rousseau eine gekaufte
Zeugenaussage gegen ihn auf und brachte
ihn für geraume
Zeit sogar ins Gefängnis. 1712 wurde er jedoch zur Zahlung von 4000 Francs
Schmerzensgeld verurteilt und wegen Verunglimpfung von Personen, aber auch der
Religion, auf Lebenszeit aus Frankreich verbannt.
Nach Aufenthalten in Solothurn/Schweiz
(als Gast beim dortigen franz. Botschafter!), in Wien (wo er drei Jahre lang
von Prinz Eugen alimentiert wurde) sowie in Holland, ließ er sich 1717 in
Brüssel nieder (wo ihn ein Graf von Aremberg aufnahm). Hier erreichte ihn im
selben Jahr das Angebot einer Begnadigung, die der Baron de Breteuil für ihn erwirkt
hatte. Rousseau verlangte jedoch seine gerichtliche Rehabilitierung, für die
aber niemand einzutreten bereit war.
In Brüssel besuchte ihn 1722 Voltaire,
der ihm 1710 in Paris als hoffnungsvoller junger Dichter vorgestellt worden
war. Die beiden Männer schieden im Zorn. Auch andere zunächst wohlwollende
Personen, die Rousseau dank seines Ruhmes immer wieder als Gönner gewann, stieß
er fast regelmäßig vor den Kopf.
Schon 1712 hatte er in Solothurn eine
Werkausgabe publiziert. 1723 ließ er in London unter dem Titel Odes,
cantates, épigrammes et poésies diverses eine zweibändige Ausgabe seines
lyrischen Schaffens erscheinen, die bis 1734 mehr als zehnmal nachgedruckt
wurde. Gegen die Jahrhundertmitte geriet seine Stellung als großer Autor ins
Wanken. Der literarische Geschmack hatte sich in Richtung Rokoko verändert,
d.h. zu mehr Leichtigkeit und Schlichtheit, so dass seine dem barocken
Klassizismus verpflichteten Texte nun als überladen und schwülstig erschienen.
1737, nach einem Schlaganfall,
versuchte er die Erlaubnis zur Rückkehr nach Paris zu bekommen und hielt sich
1738 mehrere Monate unter falschem Namen dort auf. Die Demarchen einiger
letzter Gönner blieben jedoch erfolglos. Auch die ostentative Frömmigkeit, zu
der er sich bekehrt hatte, nutzte offenbar nichts. Die wenigen Literaten, die
er noch kannte, nahmen ihn nicht mehr ernst. Die der Aufklärung nahestehenden
Autoren betrachteten ihn sogar als Unperson. Aus dieser Zeit stammt die anonym
gedruckte spöttisch-herablassende Rousseau-Biografie aus der Feder Voltaires,
die eine wichtige Informationsquelle zu seiner Person darstellt.
Er musste 1739 zurück nach Brüssel, wo
er seine letzten Jahre verbrachte.
Antoine
Houdar de La Motte (auch La Motte oder La Motte-Houdar
genannt; *17.1.1672 in Paris; †26.12.1731 ebd.)
La
Motte (wie er in Literaturgeschichten meistens heißt) ist heute nur noch
bekannt als wichtige Figur in der Pariser Literatenszene der Zeit und als ein
Hauptakteur der sog. zweiten „Querelle des Anciens et des Modernes“ (siehe oben
unter Perrault). Er war aber dreißig Jahre hindurch ein geachteter Lyriker,
Dramatiker und Literaturtheoretiker.
Er
war Sohn eines Hutmachers namens Houdar, besuchte ein Jesuitenkolleg und begann
ein Jurastudium. Sein eigentliches Interesse galt jedoch früh dem Theater. Nach
dem Misserfolg seines ersten aufgeführten Stücks, der Komödie Les originaux (1693),
beschloss er, Mönch zu werden, brach sein Noviziat aber ab und wurde wieder
Literat. Er schrieb nun eine ganze Serie von Tragödien, Komödien und vor allem
Ballett- und Opernlibretti, von denen einige, z.B. die Ballettkomödie L’Europe
galante, die „heroische Pastorale“ Issé (beide 1697), das Ballett Le
Triomphe de l’Art (1700) oder die vertonte Tragödie Semelé (1709)
sehr erfolgreich waren, während die meisten anderen gewissermaßen nur
Verbrauchsware darstellten und mit Ende der jeweiligen Spielzeit nicht neu
aufgenommen wurden.
Nach
seinen ersten Erfolgen fand La Motte Zutritt zu den literarischen Salons der
Hauptstadt z.B. dem der Duchesse du Maine oder der Marquise de Lambert, wo er
effektvoll seine Gedichte, meistens Oden, vorzutragen verstand. 1709 gab er sie
gesammelt in dem Band Odes heraus, in dem man, was neu war für Lyrik,
gelegentlich auch die von König Louis XIV und seinen endlosen Kriegen
verfinsterte politische Gegenwart thematisiert findet.
1710
wurde er in die Académie Française gewählt, gegen den einst befreundeten
Kollegen Jean-Baptiste Rousseau (s.o.), der seiner Enttäuschung mit wütenden
Epigrammen auf ihn und andere Literaten Luft machte, Attacken, die ganz Paris
unterhielten, aber auf Rousseau selbst zurückfielen.
1714
setzte La Motte (inzwischen übrigens erblindet) ein größeres Stück aus einer
kürzlich erschienenen Prosaübersetzung der Ilias in Verse um und hängte
einen Discours sur Homère daran an, in dem er den antiken Autor als für
seine eigene Zeit zwar anerkennenswert, jedoch für die moderne Zeit nicht mehr
mustergültig beurteilte. Als ihn hierauf die Übersetzerin, Mme Dacier, eine
Verehrerin der Literatur der Antike, heftig kritisierte, antwortete La Motte
mit der Schrift Réflexions sur la critique und löste damit eine
Fortsetzung der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 aus, bei der er
von so bekannten Autoren wie Fontenelle (s.o.) aber auch dem jungen Marivaux
(s.u.) unterstützt wurde. Im Kontext dieses Streites plädierte er nun
paradoxerweise für den Gebrauch der Prosa anstelle von Versen in allen
erzählenden und dramatischen Gattungen, was z.B. den jungen Voltaire (s.u.) auf
der Gegenseite zu einer ironischen Attacke animierte.
Sein
Plädoyer für die Prosa hinderte La Motte allerdings nicht, 1719 ein Bändchen
mit gereimten Fabeln zu publizieren und, nach dem Misserfolg dreier
Prosa-Komödien, ab 1722 seine letzten Stücke, vier Tragödien, wieder in
Alexandrinern zu verfassen.
1723
kam sein auch längerfristig erfolgreichstes Werk heraus, die am Königshof vom
Portugal des 14. Jh. spielende Tragödie Inès de Castro. Es ist ein für
heutige Begriffe sehr rührseliges, psychologisch flaches Stück um die (wohl
historische) edelmütige Hofdame Ines und ihre (nicht historische) böse Feindin,
die Königin, von der vergiftet sie am Ende stirbt, sehr zum Entsetzen der
anderen, allesamt edelmütigen Personen. La Motte nahm hierbei Elemente des
späteren, ebenfalls meist hochmoralischen Drame bourgeois (Bürgerliches
Trauerspiel) vorweg und wagte es als Erster, in einer Tragödie Kinder auftreten
zu lassen, wenngleich nur flüchtig und stumm.
In
den 1720er Jahren befasste er sich auch mit der Theorie des Theaters und
veröffentlichte 1730 vier Discours sur la tragédie und eine Suite des
réflexions sur la tragédie. Hierin plädiert er für eine Flexibilisierung
des klassischen Prinzips der drei Einheiten, wonach eine Tragödie nur einen
einzigen Schauplatz haben, höchstens 24 Stunden Zeit umfassen und keine
Nebenhandlungen enthalten durfte. Da die Forderung La Mottes offenbar in der
Luft lag, setzte sie sich mehr oder weniger zügig durch.
Prosper Jolyot de
Crébillon (eigentlich Prosper Jolyot, sieur de Crais-Billon;
*13.1.1674 in Dijon; † 17.6.1762 in Paris)
Heute auch gebildeten Franzosen
höchstens noch als historische Figur bekannt, war Crébillon (wie er in den
Literaturgeschichten schlicht heißt) der bedeutendste Tragödienautor der
Generation zwischen Racine und Voltaire.
Er wuchs auf als Sohn eines Melchior
Jolyot, eines höheren Justiz-Amtsträgers, dem das kleine Landgut Crais-Billon
nahe Dijon gehörte, dessen Namen er nach amtsadeliger Manier an den
eigentlichen Familiennamen angehängt hatte.
Crébilon begann seine Schulbildung auf
dem Jesuitenkolleg von Dijon und beendete sie auf dem Pariser Collège Mazarin.
Danach blieb er in der Hauptstadt und absolvierte hier ein Jurastudium. Zwar
erhielt er die Zulassung als Anwalt, wurde aber Sekretär eines Staatsanwaltes.
Daneben genoss er das Leben in der Hauptstadt und im Umkreis der „Basoche“, des
Vereinswesens der Angestellten der hohen Pariser Gerichte.
Erst nachdem sein Chef seine
Theaterleidenschaft bemerkt und ihn zum Schreiben ermuntert hatte, versuchte
sich Crébillon (wie er sich nun nannte) als Tragödienautor. Er begann 1703 mit La
Mort des enfants de Brutus, das jedoch nicht angenommen wurde. 1705 war Idoménée
sein Durchbruch, dem er mit Erfolg eine Serie weiterer historisierender
Tragödien folgen ließ: Atrée et Thyeste (1707), Électre (1708)
und Rhadamiste et Zénobie (1711, sein wohl bestes Sück).
1707 heiratete er unauffällig
Marie-Charlotte Péage, Tochter eines kleinbürgerlichen Pariser Apothekers, die
kurz darauf einen Sohn gebar: den späteren Romancier Claude Crébillon.
Crébillons Spezialität und sicher sein
Erfolgsrezept in seiner besten Zeit waren schaurige Effekte auf der Bühne (ein
Vater trinkt beinahe das Blut seines von seinem Bruder ermordeten Sohnes, ein
anderer bringt erst seinen Sohn um, dann sich selbst). Hiermit ging er bewusst
bis an die Grenzen der „bienséance“ (Sittsamkeit), die sich die klassische
Dramaturgie à la Corneille oder Racine gesetzt hatte, als deren würdiger
Nachfolger er eine Weile galt.
Mit Xerxès (1714) und Sémiramis
(1717) stellte sich jedoch der Misserfolg ein. Crébillon zog sich
enttäuscht vom Theater zurück. Finanzielle Schwierigkeiten (sein Vater hatte
statt des erhofften Erbes Schulden hinterlassen) sowie eine frühe Verwitwung
machten ihm zusätzlich zu schaffen und ließen ihn vereinsamen.
Erst 1726 gelang ihm ein Comeback mit
einem neuen Stück: Pyrrhus. Dessen passabler Erfolg ließ ihn wieder Fuß
fassen im Pariser Literaturbetrieb. 1731 wurde er in die Académie Française
aufgenommen, wo er mit einer gereimten Antrittsrede Aufsehen erregte. 1733
wurde er als Günstling der theaterbegeisterten neuen königlichen Mätresse
Madame Pompadour zum „königlichen Zensor für schöngeistige und historische
Schriften“ ernannt, 1735 darüberhinaus zum „Polizei-Zensor“. 1745 erhielt er
zudem eine „Pension“ (jährliche Gratifikation) von 1000 Frs. aus der Schatulle
des Königs zugesprochen, so dass er nun finanziell gutgestellt war.
1748 wurde sein neues Stück Catalina
auf Kosten des Königs aufgeführt und von den Höflingen demonstrativ
beklatscht und gelobt, um einen anderen Günstling Mme de Pompadours zu
demütigen, der König Louis XV lästig geworden und gerade in Ungnade gefallen
war: Voltaire.
Da er von diesem ohnehin als Feind
betrachtet wurde, nachdem er 1742 dessen Stück Mahomet verboten hatte,
musste Crébillon erleben, dass Voltaire sich an ihm rächte, indem er in den
Folgejahren parallele Versionen zu nicht weniger als fünf seiner Tragödien
verfasste, um deren Mittelmäßigkeit zu erweisen und die eigene Überlegenheit zu
demonstrieren.
Das letzte Stück Crébillons, Le
Triumvirat (1754), blieb ohne Erfolg.
Sein Sohn Claude Crébillon (1707-1777)
wird von Literarhistorikern als relativ bedeutsam für die Entwicklung der
Gattung Roman im 18. Jahrhundert
eingeschätzt.
Saint-Simon (=Louis de
Rouvroy, duc de Saint-Simon; *16.1.1675 Versailles; †2.3.1755 Paris)
Saint-Simon (wie er in der
Literaturgeschichte heißt) gilt als ein, wenn nicht sogar als der Klassiker
unter den franz. Memoirenautoren.
Er war einziger Sohn eines schon alten,
reich begüterten Adeligen, der von Louis XIII in den Herzogsrang erhoben worden
war. Seine Taufpaten waren Louis XIV und die Königin. Er wuchs auf in Paris und
Versailles und hatte als Spielkameraden die „enfants de France“, d.h. die
Kinder der königlichen Familie, insbes. den späteren Regenten Philippe
d'Orléans. Er erhielt eine vorzügliche Bildung; unter anderem lernte er, was
damals selten war in Frankreich, deutsch sprechen und schreiben.
Mit 16 wurde er offiziell dem König
vorgestellt und begann seine Ausbildung als Offizier. 17jährig erhielt er die
Feuertaufe im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1686–97), in dem es erstmals einer
Allianz europäischer Staaten gelang, den aggressiven Imperialismus von Louis
XIV zu bremsen. Mit 18 erbte Saint-Simon beim Tod seines Vaters den
Herzogstitel und kam am Hof in Kontakt mit latent oppositionellen Adelskreisen,
wo man von der Beschränkung der absoluten Macht des Königs und der
Wiederherstellung der alten Rechte des Adels träumte.
19jährig las er in einem Feldlager in
der Pfalz einen Memoirenband und hatte die Idee, selber auch so etwas zu schreiben.
Er begann in der Tat mit dem Aufzeichnen von Überlegungen und Beobachtungen,
kam dann aber jahrzehntelang über Fragmente nicht hinaus. 20jährig ließ er sich
mit einer wohldotierten 17jährigen Hocharistokratin verheiraten, in die er sich
anschließend verliebte und mit der er drei Kinder bekam. Mit 22 hatte er eine
religiöse Krise und stand hinfort dem strenggläubigen Jansenismus nahe, was
seine latente Opposition gegenüber König Louis verstärkte, der seinerseits die
Jesuiten stützte, die Intimfeinde der Jansenisten.
Mit 27 – inzwischen hatte Louis den
Spanischen Erbfolgekrieg (1701-13) begonnen – quittierte Saint-Simon ostentativ
den Dienst als Offizier, weil eine erhoffte Beförderung ausgeblieben war.
Hiernach lebte er überwiegend im
Schloss von Versailles als hochrangiger Höfling, der eifersüchtig über seinen
Status wachte. Langsam wuchs seine innere Distanz zu dem alternden,
despotischer werdenden König. Denn er war nicht nur Jansenist, sondern
sympathisierte auch mit den politischen Reformern, die sich in der Hoffnung auf
den baldigen Tod des Königs um den Dauphin (Thronfolger) scharten. Als dieser
1711 plötzlich starb und 1712 auch sein Sohn, der neue Hoffnungsträger der
Reformer, schwankte Saint-Simon enttäuscht zwischen Rückzug ins Private und Flucht
nach vorn.
Er entschied sich für das Letztere und
schrieb z.B. anonym einen fulminanten (seinem Adressaten aber sicher unbekannt
gebliebenen) offenen Brief an den alten Louis XIV, dem er nicht weniger
vorwarf, als dass er Frankreich und die Monarchie mit seinen Kriegen und seinem
Despotismus ruiniert habe. Etwas später stellte er in der Schrift Projets de gouvernement (1714)
Überlegungen an für eine von Ministerräten statt Ministern geführte Regierung.
Zugleich versuchte er Stimmung für seinen Jugendfreund Philippe d'Orléans zu
machen, einen der Anwärter auf den Posten des Regenten, der nach dem für bald
erwarteten Tod des Königs die Herrschaft für dessen noch unmündigen Urenkel
Louis XV würde ausüben müssen.
Nach dem schließlichen Ableben des
77jährigen Louis XIV (1715) und der Einsetzung Philippes als Regent konnte
Saint-Simon endlich eine aktive politische Rolle spielen als einflussreiches
Mitglied des nach seinen Ideen neu geschaffenen Kronrats. Allerdings wurde er
dort von geschickteren Leuten, vor allem dem Ex-Erzieher Philippes, dem
Kardinal Dubois, langsam an den Rand gedrängt und beim plötzlichen Tod des
Regenten 1723 praktisch ausgebootet.
Er zog sich auf seine Ländereien zurück
und überlegte einmal mehr, ob er weiter politisch aktiv zu sein versuchen oder
sich eher schriftstellernd, insbesondere als Historiker, betätigen sollte.
Schließlich tat er das Letztere. 1729 bekam er das Tagebuch geliehen, das ein
Versailler Höfling, der Marquis de Dangeau, von 1684 bis 1720 geführt hatte,
und er begann es aus seiner Sicht zu kommentieren. Daneben schrieb er eine
Reihe historischer Abhandlungen über sehr spezielle Themen, z.B. die
Verheiratungen legitimierter außerehelicher Töchter von franz. Königen mit
Söhnen aus dem franz. Hochadel.
Erst 1739, mit 64 und im geistigen
Ambiente der sich durchsetzenden Aufklärung, kehrte Saint-Simon zu seiner Idee
von 1694 zurück und begann sein bedeutendstes, heute allein noch bekanntes
Werk: die Mémoires. Diese decken die
Zeit von 1691 bis 1723 ab, d.h. vom Beginn bis zum Ende der Höflingskarriere
Saint-Simons in Versailles. Das sehr umfangreiche Werk enthält nicht nur die
persönlichen Erinnerungen des Autors, sondern auch viele dokumentarische
Materialien und Informationen. Es war erst gegen 1750, nach zehn Jahren Arbeit,
abgeschlossen und wurde, von Auszügen abgesehen, sogar erst 1829/30, d.h.
postum, gedruckt. Hiernach erlangte es rasch Anerkennung als ein Meisterwerk
der Gattung Memoiren und fand beachtliche Verbreitung, nicht zuletzt bei
zahlreichen Schriftstellern von Stendhal bis zu Proust, die an Saint-Simon eine
Darstellungsweise schätzten, die trotz häufiger Bandwurmsätze sehr spontan und
im Ton unverwechselbar wirkt.
Für Historiker sind Saint-Simons Mémoires darüber hinaus eine wichtige,
naturgemäß nicht eben neutrale Quelle über das Alltagsleben und über die
Machtkämpfe in Versailles unter dem späten Louis XIV und dem frühen Louis XV.
Marivaux (=Pierre Carlet,
auch Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux, *4.2.1688 Paris; †12.2.1763 ebd.)
Marivaux, wie er in der Literaturgeschichte
heißt, ist einer der bedeutendsten franz. Romanciers und Dramatiker der Zeit um
1730. Unklar ist, woher der Name Marivaux stammt, den er, offenbar erstmals
1716 in der längeren Form „Carlet de Marivaux“ benutzte. (Der vor allem in Lexika
zusätzlich zu findende Name „de Chamblain“ war eigentlich der eines älteren
Cousins, des bekannten Architekten J.-B. Bullet de Chamblain, und wurde von
Marivaux wohl allenfalls gelegentlich benutzt.)
Geboren wurde er in Paris als Pierre Carlet,
Sohn eines nichtadeligen mittleren königlichen Beamten, der wenig später
Kontrolleur an der Münze in Riom wurde, der damaligen Hauptstadt der Provinz
Auvergne. Seine Mutter Marie Anne war Schwester des erfolgreichen Pariser
Architekten Pierre Bullet und blieb zunächst auch mit den Kindern in Paris. Die
Jugendjahre ab 12 verlebte Marivaux dann doch in Riom, wo er seine Schulbildung
auf einem Kolleg der Oratorianer erhielt und vielleicht noch sein erstes Stück
verfasste, Le Père prudent et équitable [=Der kluge und gerechte Vater],
sowie einen Roman begann, Les effets surprenants de la sympathie [=Die
überraschenden Wirkungen der Sympathie].
Spätestens 1710 war er wieder in Paris,
jedenfalls immatrikulierte er sich in diesem Jahr dort für ein Jurastudium.
Doch studierte er offenbar kaum, sondern schriftstellerte. Auch fand er in dem
Zensor, der 1712 die ersten drei Bände der Effets genehmigte, dem
bedeutenden Frühaufklärer Fontenelle (s.o.), einen Protektor, der ihn in
Literatenzirkel einführte. 1713 schrieb er einen weiteren Roman, Pharsamon, Ou les folies [=Verrücktheiten]
romanesques (den er erst 1737 drucken ließ); 1714 verfasste er die längere
Erzählung La Voiture embourbée [=Die festgefahrene Kutsche] und
vollendete mit Band 4 und 5 die Effets. 1715 gab er einen Télémaque travesti in Druck, eine Parodie von Fénelons
vielgelesenem Bildungsroman Les aventures
de Télémaque (1699). 1716 ließ er eine Homer-Parodie folgen, L'Iliade travesti, mit der er sich in
den Literaten-Streit um Homer einmischte, der gerade wogte, wobei er, zusammen
mit Fontenelle, A. Houdar de la Motte (s.o.) gegen die Homer-Übersetzerin Mme
Dacier unterstützte, die die traditionalistische These von der Überlegenheit
der antiken Literatur über die moderne verfocht.
Nach seiner Heirat 1717 investierte
Marivaux 1718 sein eigenes Geld sowie vor allem wohl das seiner wohlhabenden
Frau in Aktien der Compagnie de l’Occident, einer Bank- und
Handelsgesellschaft, die soeben von dem schottischen Bankier John Law gegründet
worden war nach dem Vorbild der großen niederländischen und englischen
Übersee-Handelsgesellschaften. Als 1720 die spekulativ überbewerteten Aktien
der Compagnie in den Keller gingen
und das „Lawsche System“ zusammenbrach, waren auch Marivaux, seine Frau und
seine kleine Tochter (*1719) über Nacht arme Leute.
Er legte nun offenbar noch ein
Jura-Examen ab, betätigte sich dann aber doch nicht als Anwalt oder Ähnliches.
Vielmehr verfasste er Theaterstücke, vor allem Komödien, die er der Truppe der
Comédiens italiens und ihren Stars quasi auf den Leib schrieb. Sein Durchbruch
war gleich 1720 Arlequin poli par l’amour. Seine Spezialität wurde rasch
die Darstellung des unvermerkten und ungewollten Sich-Verliebens zweier
Partner, und zwar insbesondere solcher, die zunächst durch große Standesunterschiede
getrennt zu sein scheinen, sich dann gottlob jedoch als sozial gleichrangig und
damit als passend erweisen (z.B. La
Surprise de l'amour, 1722; La double
inconstance, 1723; Le Prince travesti,
1723; Le Jeu de l'amour et du hasard,
1730). Daneben behandelte er genuin aufklärerische Themen, so z.B. in L'Ile des esclaves (1725), wo er zeigt,
wie zufällig und ungerecht in der Kastengesellschaft der Zeit die Diener- und
die Herrenrollen verteilt sind; oder in L'Ile
de la Raison (1727), wo er
sehr vernünftige „Wilde“ mit sich als sehr unvernünftig und vorurteilsvoll
erweisenden Europäern konfrontiert. Der beachtliche Erfolg seiner Stücke
verschaffte ihm den Zutritt zu den renommiertesten Salons der Hauptstadt.
Wohl Ende 1726 (inzwischen war er
verwitwet) begann Marivaux den Roman La
Vie de Marianne, der heute als sein bestes Werk gilt. Es ist die Geschichte
eines Findelkindes, das einzig dank seiner Qualitäten (Schönheit, Geist, Gefühl
und Tugend) von einem Adeligen geheiratet und so in den Adel aufgenommen werden
sollte, um vermutlich anschließend als auch adelig geboren erkannt zu werden.
Bis hierhin war der Autor aber noch lange nicht gekommen, als er 1737 nach
vielen hundert Seiten und acht schon gedruckten Bänden die Haupthandlung abbrach
und 1742 eine ebenfalls nach zwei Bänden aufgegebene längere Binnenhandlung um
die eher unglückliche Nonne Tervire anfügte. Vermutlich hatte er das Utopische
seines Konzepts der Figur Mariannes erkannt und hatte er sich danach anhand der
Figur Tervires klar gemacht, dass er auch seine eigene Tochter letztlich nur
Nonne werden lassen konnte (wie es 1745 geschah), weil er ihr keine
ordentlichen Mitgift zu geben imstande war.
1734/35 schrieb er fünf Bände eines
weiteren Romans, Le Paysan parvenu,
der die Geschichte vom Aufstieg eines tüchtigen aber dennoch rechtschaffenen
jungen Dörflers bis zum reichen „financier“ (=Bankier) erzählen sollte. Obwohl
ebenfalls unvollendet, gehört auch der Paysan zu den besten Werken
Marivaux’.
Neben Theaterstücken und Romanen
verfasste er immer wieder auch Feuilletonserien nach dem Vorbild des berühmten Spectator, den 1711 Joseph Addison in
London gegründet hatte: Lettres sur les
habitants de Paris (1717/18), Le
Spectateur français (1721-24), L'indigent
philosophe (1726) und Le Cabinet du
philosophe (1734).
1742 wurde er schließlich Mitglied der
Académie Française und kurz darauf ihr Secrétaire perpétuel. Diese Funktion,
die ihm Dienstwohnung, adelsähnliche Privilegien und erfreuliche
Prestigemöglichkeiten bot, ließ ihn als Autor praktisch verstummen und bildete
bis zum Tod seinen Lebensinhalt.
Die besondere Leistung des Dramatikers
Marivaux war die Übertragung der spielerisch-eleganten Sprache der Pariser
Salons seiner Zeit in seine Stücke. Nachdem diese Sprache sich spätestens mit
der Revolution überlebt hatte, erschien sein Stil den Romantikern nur noch als
manieriertes „marivaudage“. Ende des 19. Jh. wurde diese negative Sicht jedoch
revidiert, und Le Jeu de l'amour et du
hasard zählt seitdem wieder zu den meistgespielten, mitunter auch bei uns
aufgeführten, franz. Komödien. Die Romane La
Vie de Marianne und Le Paysan parvenu
gelten zu Recht als zwei der lesenswertesten franz. erzählenden Werke des 18.
Jh.
(Eine Deutung von La Vie de Marianne findet man in meinem Buch Interpretationen, Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1997)
Montesquieu (=Charles Louis
de Secondat, Baron de Montesquieu; *18.1.1689 auf Schloss La Brède bei
Bordeaux; †10.2.1755 Paris)
Montesquieu, wie er in der
(Literatur-)Geschichte schlicht heißt, war zunächst als belletristischer Autor
erfolgreich. Seinen Nachruhm verdankt er jedoch vor allem seinen geschichtsphilosophischen und
staatstheoretischen Schriften. Er gilt als einer der großen franz. Autoren der
europäischen Aufklärung.
Er war ältester Sohn seiner Eltern und
verbrachte seine Kindheit auf dem Landgut La Brède, das seine Mutter in die Ehe
eingebracht hatte. Sein Vater war jüngerer Sohn aus der altadeligen Familie
derer de Secondat, die protestantisch geworden, im Gefolge von Henri IV aber zum
Katholizismus zurückgekehrt und mit der Erhebung ihres Familiensitzes
Montesquieu zur „baronnie“ belohnt worden waren. Der Großvater hatte mit der
Mitgift, die er erheiratet hatte, das Amt eines Gerichtskammer-Präsidenten (président à mortier) am Parlement von
Bordeaux gekauft, dem höchsten Gericht der Aquitaine, womit er zum hohen
Amtadel zählte, der sog. noblesse parlementaire.
Mit sieben verlor Montesquieu seine
Mutter. Von 1700 bis 1705 besuchte er als Internatschüler das Kolleg der
Oratorianer-Mönche in Juilly unweit Paris, das für den kritischen Geist bekannt
war, der dort herrschte, und wo er auf mehrere Cousins aus seiner
weitverzweigten Familie traf. Er erwarb fundierte Kenntnisse in Latein,
Mathematik und Geschichte und verfasste ein historisches Drama, von dem sich
ein Fragment erhalten hat.
Von 1705 bis 1708 studierte er Jura in
Bordeaux. Nach dem Abschluss (licence) und der Zulassung als Anwalt bekam er
vom Oberhaupt der Familie, dem kinderlosen ältesten Bruder seines Vaters, den
Baron-Titel überschrieben, den jener, nachdem er den höherrangigen
Präsidententitel seines Vaters geerbt hatte, nicht mehr brauchte. Da später
Montesquieu den Titel und das Amt erben sollte, ging er nach Paris, um sich
juristisch und anderweitig fortzubilden. Dort fand er Anschluss an geistig
interessierte Kreise und begann in einer Art Tagebuch Gedanken und Überlegungen
der verschiedensten Art niederzuschreiben.
Als 1713 sein Vater starb, kehrte er
zurück nach La Brède. 1714 erhielt er, sicher über seinen Onkel, das Amt eines
Gerichtsrats (conseiller) am Parlement von Bordeaux.
1715 heiratete er, durch Vermittlung
des Onkels, Jeanne de Lartigue, eine Hugenottin, die 100.000 Frs. Mitgift
einbrachte. Das Paar bekam rasch einen Sohn
und eine Tochter (1716 und 1717) sowie 1727 eine weitere Tochter, lebte
aber sehr häufig von einander getrennt.
Neben seiner Tätigkeit als Richter
interessierte sich Montesquieu auch weiterhin intensiv für die verschiedensten
Wissensgebiete. So verfasste er u.a. eine wirtschaftspolitische Denkschrift (Mémoire
sur les dettes de l’État) an die Adresse von Philippe d’Orléans, der nach
dem Tod von Louis XIV (Sept. 1715) als Regent für den noch unmündigen Louis XV
die Herrschaft ausübte.
1716 wurde er in die Académie von
Bordeaux aufgenommen, einen jener locker organisierten Zirkel, die in größeren
Städten Gelehrte, Literaten und sonstige
Intellektuellen vereinten. Hier betätigte er sich mit Vorträgen und
kleineren Schriften, z.B. einer Dissertation sur sur la politique des
Romains [=Römer] dans la religion, worin er nachzuweisen versucht, dass
Religionen ein nützliches Instrument zur Moralisierung der Untertanen eines
Staatswesens sind.
Ebenfalls 1716, d.h. kurz nachdem der
Regent die von Louis XIV beschnittene politische Macht der Parlements wieder gestärkt
hatte, erbte Montesquieu von seinem Onkel dessen Amt als Gerichtspräsident.
Seine geistigen Interessen verfolgte er, wie zuvor, nebenher weiter.
1721 wurde er über Nacht berühmt durch
einen kleinen Briefroman, den er 1717 begonnen hatte und der bald nach seinem
anonym Erscheinen in Amsterdam von der Zensur verboten wurde: die Lettres persanes. Den Inhalt des Werkes,
das heute als ein Schlüsseltext der Aufklärung gilt, bildet die fiktive
Korrespondenz zweier fiktiver Perser, Usbek und Rica, die von 1711 bis 1720
Europa bereisen und Briefe mit Daheimgebliebenen wechseln. Hierbei schildern
sie – und dies ist der aufklärerische
Kern des Werkes - ihren Korrespondenzpartnern die kulturellen, religiösen und
politischen Verhältnisse vor allem in Frankreich und besonders in Paris mit
einer Mischung aus Staunen, Kopfschütteln, Spott und Missbilligung (was
spätestens seit Pascals Lettres
provinciales ein beliebtes Verfahren war, um den Leser quasi zum Teilhaber
einer Sicht von außen zu machen und ihm so einen kritischen Blick auf das
eigene Land zu ermöglichen). Daneben findet Montesquieu Gelegenheit, auch
andere Themen im Sinne der Aufklärung zu behandeln, wie Religion und
Priestertum, Sklaverei, Polygamie, Benachteiligung der Frauen u.a.m.
Darüberhinaus ist in die Lettres ein
romanesker, mitunter flirrend erotischer Handlungsstrang um die daheim
gebliebenen Haremsdamen Usbeks eingeflochten, der an dem Erfolg des Buches
nicht ganz unbeteiligt war.
Nachdem er mit den Lettres
bekannt geworden war, entwickelte Montesquieu die Gewohnheit, jährlich einige
Zeit in Paris zu verbringen. Hier verkehrte er in einigen mondänen Salons, z.B.
dem von Mme de Lambert, sowie gelegentlich am Hof, vor allem aber in
intellektuellen Zirkeln.
1725 erzielte er nochmals einen
beachtlichen Bucherfolg mit dem rokokohaft-galanten pastoralen kleinen Roman Le Temple de Gnide, den er angeblich in
einem älteren griechischen Manuskript gefunden und übersetzt hatte. Das heute
völlig vergessene Werk wurde bis zum Ende des 18. Jh. viel gelesen und mehrfach
in andere Sprachen übertragen, u.a. in italienische Verse. Es bekam als
einziges der Werke Montesquieus schon bei seiner Erstveröffentlichung das
Plazet der Zensurbehörde.
1726 verkaufte er sein offenbar wenig
geliebtes Präsidentenamt, um mehr Zeit und auch Geld für seine Aufenthalte in
Paris zu haben.
1728 wurde er, allerdings erst im
zweiten Anlauf, in die Académie française gewählt. Im selben Jahr (bald nach
der Geburt seiner jüngsten Tochter) brach er auf zu einer dreijährigen
Bildungs- und Informationsreise, die ihn durch Österreich, Ungarn, Italien,
mehrere deutsche Staaten, Holland und vor allem England führte, wo er sich
länger aufhielt und in London Mitglied der gelehrten Royal Society sowie einer
Freimaurerloge wurde.
1731 kehrte er nach La Brède zurück, wo
er von nun an überwiegend blieb. 1734 publizierte er in Holland das Buch
Considérations sur les causes de la
grandeur des Romains et de leur décadence. Hierin versucht er am Beispiel des Aufstiegs des Römischen
Reichs und seines Niedergangs (den er mit Cäsars Alleinherrschaft einsetzen
sieht) so etwas wie gesetzmäßige Verläufe im Schicksal von Staaten nachzuweisen
und übt dabei verdeckte Kritik am franz. Absolutismus.
Sein wichtigstes Werk wurde jedoch die
geschichtsphilosophische und staatstheoretische Schrift De l'esprit des lois (Genf 1748), Resultat von zwanzig Jahren
Arbeit. Hierin versucht er einerseits, die Determinanten zu finden, nach denen
einzelne Staaten ihr jeweiliges Regierungs- und Rechtssystem entwickelt haben
(z.B. Größe, Geographie, Klima, Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Religion,
Sitten und Gebräuche); andererseits versucht er – nicht zuletzt in Opposition
gegen den im Milieu der Parlements ungeliebten Absolutismus – die theoretischen
Grundlagen eines universell möglichen Regimes zu entwickeln. Zentrales Prinzip
ist hierbei für ihn die sog. Gewaltenteilung, d.h. die institutionelle Trennung
von Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) und Staatsgewalt
(Exekutive). Montesquieus Buch fand sofort große und weitgestreute Beachtung
und löste heftige Attacken der Generalversammlung des frz. Klerus, der Sorbonne
und vor allem der Jansenisten aus. 1751 wurde es von der kath. Kirche auf den
Index der verbotenen Bücher gesetzt. Eine 1750 publizierte Verteidigungsschrift
Montesquieus, die Défense de l’Esprit des lois, war nutzlos geblieben.
Seine letzten Lebensjahre verbrachte er
zunehmend erblindend, teils in Paris, teils auf La Brède, wobei ihn seine jüngste
Tochter als Sekretärin unterstützte, z.B. bei der Abfassung des Artikels „goût“
für die Encyclopédie. Er starb an einer vermutlich relativ banalen
Infektion bei einem winterlichen Paris-Aufenthalt, der sein letzter hatte sein
sollen und es, anders als gedacht, auch wurde.
Das Montesquieu’sche System der
Gewaltenteilung kam dauerhaft zum ersten Mal 1777 in der Verfassung der
Vereinigten Staaten zum Tragen und ging 1791 in die kurzlebige erste Verfassung
ein, die von der Nationalversamlung im Rahmen der Französischen Revolution
verabschiedet wurde. Heute ist es zumindest im Grundsatz in allen
demokratischen Staaten verwirklicht.
L'Abbé Prévost (=Antoine-François
Prévost [d'Exiles], *1.4.1697 Hesdin/Artois; †23.11.1763 Courteuil bei Paris)
Dieser in der Literaturgeschichte als
„l'Abbé Prévost“ figurierende Vielschreiber ist nur mit einem einzigen seiner
zahllosen Werke bekannt geblieben, dem kleinen, immer noch gut lesbaren Roman Manon
Lescaut.
Er wuchs auf in Hesdin als zweiter Sohn
eines aus dem reichen Bürgertum stammenden königlichen Richters (procureur du roi), dem sein (gekauftes) Amt
adelsähnliche Privilegen verschaffte, ohne ihn jedoch schon de jure zu adeln.
Seine glückliche Kindheit endete abrupt, als er mit 14 seine Mutter und seine
wenig jüngere Lieblingsschwester verlor. Ein Jahr später (1712) überwarf er
sich offenbar mit seinem Vater, beendete (vorzeitig?) seine Studien auf dem
heimischen Jesuitenkolleg, wurde Soldat und nahm am Spanischen Erbfolgekrieg
teil. Bei dessen Ende 1713 verließ er das Militär, und absolvierte am
jansenistisch orientierten Pariser Collège d'Harcourt das „rhétorique“ genannte
letzte Schuljahr. Hiernach wurde er Novize im Jesuitenorden, dem er aber 1715
den Rücken kehrte, um für kurze Zeit wiederum Soldat zu werden. Nach einem
neuerlichen Zwischenspiel bei den Jesuiten nahm er ab 1718 als
Offiziersaspirant am franz.-spanischen Krieg teil, desertierte jedoch 1719 und
flüchtete sich 1720 nach einigen unsteten und schwierigen Monaten in den
Benediktinerorden, wo er 1721 sein Gelübde ablegte, angeblich unter inneren
Vorbehalten.
In den nächsten Jahren lebte er in
verschiedenen, überwiegend jansenistisch ausgerichteten Klöstern, studierte
Theologie, wurde zum Prieser ordiniert und betätigte sich als Prediger. Da er
seinen Oberen offenbar als Mann mit einer guten Feder auffiel, wurde er 1727 in
das Pariser Kloster Saint-Germain-des-Prés abgeordnet, wo er an einem
historiographischen Gemeinschaftswerk der Benediktiner, der vielbändigen Gallia christiana mitarbeiten sollte.
Seine eigenen Vorstellungen waren
sichtlich aber andere: Er hatte inzwischen einen Roman begonnen, dessen Bände I
und II er 1728 zu veröffentlichen schaffte: Mémoires
et Aventures d'un homme de qualité qui s'est retiré du monde. Hiernach versuchte
Prévost, der schon länger Schwierigkeiten mit seinem Abt hatte, sich in ein
Kloster mit laxeren Regeln versetzen zu lassen, um mehr Zeit zum Schreiben zu
bekommen. Als dies nicht gelang, verließ er heimlich sein Pariser Kloster und
schrieb in einem Versteck. Mit dem Honorar der Bände III und IV der Mémoires ging er über Holland nach
London, um sich dem königlichen Haftbefehl (lettre de cachet) zu entziehen, den
sein Abt wegen unerlaubten Sich-Entfernens gegen ihn erwirkt hatte.
In London konvertierte Prévost zum
Anglikanismus und wurde Hauslehrer eines jungen Mannes aus bester Familie,
schmiedete aber heimlich Heiratspläne mit dessen Schwester und wurde auf
Betreiben des Vaters ausgewiesen. Er ging nach Holland, wo er 1731 die Bände V
und VI der Mémoires publizierte,
denen er rasch noch einen nur locker damit verbundenen siebten Band anhängte: L'Histoire du chevalier des Grieux et de
Manon Lescaut (so der korrekte Titel), einen Roman, der sichtlich seine
eigene, offenbar so leidenschaftliche wie frustrierende und Schuldgefühle
auslösende Liebe zu der Haager Edelkurtisane Lenki Eckhardt verarbeitet, die er
kurz zuvor kennengelernt hatte.
Ebenfalls 1731 publizierte Prévost in
Utrecht vier Bände eines schon in England begonnenen Romans: Histoire de Cleveland, fils naturel de
Cromwell. Hiernach vollendete und publizierte er eine schon früher
begonnene Übertragung der lateinisch verfassten Memoiren des
Anti-Richelieu-Verschwörers François de Thou (1733).
Inzwischen hatte er zusammen mit Lenki
Schulden angehäuft; er floh nach London, wo er eine Ein-Mann-Zeitschrift nach
dem Muster von Addisons Spectator produzierte,
Le Pour et le Contre, die in Paris
erschien und hier das neue England-Interesse der gebildeten Leser bedienen
sollte. 1734 saß er wegen Wechselbetrugs kurz im Gefängnis und wurde aus
England ausgewiesen. Er ging heimlich zurück nach Frankreich (wo ein separater
Nachdruck von Manon Lescaut gerade
von der Zensur verboten und beschlagnahmt worden war). Aus einem Versteck nahm
er Kontakt mit dem Benediktinerorden auf und erhielt vom Papst Vergebung für
seine Apostasie (Abfall vom kath. Glauben) sowie die Erlaubnis für ein
verkürztes zweites Noviziat (1735).
Offenbar war der Orden weitgehend mit
der Einhaltung eines frommen Scheins zufrieden, denn Prévost schrieb pausenlos
weiter: neben den Faszikeln von Le Pour
et le Contre erschien 1735 der Roman Le
Doyen de Killérine. Nach seinem Noviziat wurde Prévost Almosenier
(aumônier) beim Prince de Conti, d.h. eine Art Privatpfarrer in hochadeligem
Haus. Hier schrieb und schrieb er: 1737/38 die letzten Bände des Cleveland, 1739/40 die des Doyen de Killérine, 1740 das 20. und
letzte Faszikel von Le Pour et le Contre.
Danach entwickelte er sich zum Spezialisten für romanähnliche historische
Sachbücher und Biografien (Mémoires pour
servir […] l'histoire de Malte, Histoire
de Marguerite d'Anjou, Histoire de
Guillaume le Conquérant), sowie für Reisebeschreibungen (Voyages du capitaine Robert Lade). 1746
begann er eine Histoire générale des
voyages, zunächst als Übersetzer englischer Reisebücher, dann in eigener
Autorschaft. (1760, bei Bd. 15 hörte er auf und ließ Andere weiterschreiben.)
Daneben erwarb er sich Meriten als
Übersetzer von Werken eines der Großen des europäischen „empfindsamen Romans“,
Samuel Richardson (1689-1761): 1751 gab er die Lettres anglaises, ou Histoire de Miss Clarisse Harlowe (Orig.
1748) in Druck, 1755 die Nouvelles
lettres anglaises, ou Histoire du chevalier Grandisson (Orig. 1754). Ob
auch die 1742 erschienene Richardson-Übersetzung Paméla, ou la vertu récompensée (Orig. 1740) schon von Prévost
stammt, ist zweifelhaft.
1753 veröffentlichte er eine etwas
erweiterte und leicht moralisierte Fassung von Manon Lescaut, dem Roman, der als sein Meisterwerk gilt. Es ist die
Geschichte des jungen Kleinadeligen Des Grieux, der vor dem Beginn seines
geplanten Theologiestudiums der hübschen, ihrerseits fürs Kloster bestimmten
Manon Lescaut begegnet, mit ihr nach Paris durchbrennt und aus Liebe zu ihr
(die Geld en masse verbraucht) nach und nach alle seine Vorstellungen von
Anstand und Ehre über Bord werfen muss, bis er schließlich, nach dem tragischem
Tod der nach Amerika deportierten und dort endlich geläuterten Manon, von
seinem alten Freund Tiberge an ihrem amerikanischen Verbannungsort
wiedergefunden und zu einer braven Theologenexistenz nach Frankreich
zurückgeleitet wird.
(Eine Interpretation des Romans findet
man in meinem Band Interpretationen,
Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1997)
Voltaire (=François Marie
Arouet, *21.1.1694 Paris; †30.5.1778 ebd.)
Dank seines immensen Œuvres als
Lyriker, Epiker, Dramatiker und Romancier sowie als Historiker, Philosoph,
Publizist und Briefschreiber galt er schon zu Lebzeiten als der bedeutendste
franz., vielleicht sogar der bedeutendste europäische Autor seines Jh., das die
Franzosen gern als „le siècle de Voltaire“ bezeichnen. Mit seiner Kritik am
ineffizienten Absolutismus der franz. Monarchie, an der ständischen und
konfessionellen Befangenheit der franz. Justiz und am weltanschaulichen Monopol
der Katholischen Kirche in Frankreich war er einer der Wegbereiter der
Revolution von 1789. Auch im deutschsprachigen Raum gehört er zu den
bekanntesten franz. Autoren, und zwar vor allem in seiner Eigenschaft als
Philosoph, was er aber nur mit einem Bruchteil seines Schaffens war. Viele
seiner Werke wurden schon bald nach ihrem Erscheinen auch ins Deutsche
übersetzt. Goethe z.B. übertrug das Stück
Tancrède.
Voltaire, wie er sich ab seinem 24.
Lebensjahr nannte, wuchs auf als jüngstes (und drittes überlebendes) Kind des
vermögenden Juristen und zunächst Notars François Arouet. Dieser war als Sohn
eines wohlhabenden Textilkaufmanns zwar bürgerlicher Herkunft, hatte aber
einige Jahre vor der Geburt seines Jüngsten das adelnde Amt eines Gerichtsrates
(conseiller du roi) gekauft und versah den einträglichen Posten eines
Gebühreneinnehmers am Pariser Obersten Finanzgericht. Bereits mit sechseinhalb
verlor der spätgeborenen Junge seine ebenfalls aus Pariser Juristenkreisen
stammende Mutter, und da er sich von seinem strengen, jansenistisch-frommen
Vater wenig geliebt fühlte, hielt er sich früh – vermutlich sogar zu Recht –
für das außerehelich gezeugte Kind eines adeligen Freundes der Familie, des als
Dichter dilettierenden Ex-Offiziers de Rochebrune. Vielleicht war diese Überzeugung
ein wichtiger Faktor seiner Auflehnung gegen die väterliche Autorität sowie
seines frühzeitig selbstbewussten Auftretens in adeligen Kreisen.
1704 kam er, nachdem ihn zuvor seine
acht Jahre ältere Schwester betreut hatte, als Internatsschüler in das Jesuitenkolleg
(heute Lycée) Louis-le-Grand. Hier erwarb er eine solide humanistische Bildung
und hatte ein überwiegend gutes Verhältnis zu seinen Lehrern, die seine
Begabung erkannten und ihn trotz einer gewissen Aufmüpfigkeit förderten.
Bereits als junger Schüler schrieb er Verse und wurde deshalb 1706 von seinem
Patenonkel, dem Abbé de Châteauneuf, in den epikuräisch-freidenkerischen Kreis
um Philippe de Vendôme eingeführt, den Statthalter des Malteserordens in
Frankreich, wo er sich als frühreifes Talent bewundern ließ. Auch seine
Theaterbegeisterung nahm schon auf dem Kolleg ihren Anfang. Vermutlich von 1706
datieren erhaltene Fragmente einer Tragödie. 1710 wurde er mit mehreren
Schulpreisen ausgezeichnet und bekam von Lehrern seine Ode auf die Hl. Genoveva
gedruckt herausgegeben. Im selben Jahr wurde er dem seinerzeit anerkanntesten
Lyriker vorgestellt, Jean-Baptiste Rousseau (s.o.). Darüber hinaus gewann er
unter seinen überwiegend adeligen Mitschülern einige Freunde, die ihm von
Nutzen sein sollten, so den späteren Maréchal de Richelieu und die Brüder
d'Argenson, die Außen- bzw. Kriegsminister wurden.
Da er nach dem Willen des Vaters Jurist
werden sollte wie dieser selbst und auch sein neun Jahre älterer Bruder,
schrieb er sich 1711 an der Pariser juristischen Hochschule ein. Doch betrieb
er die Juristerei ohne Eifer, zumal er sich in weitere schöngeistige und
intellektuelle Zirkel hatte einführen lassen, wo er mit seinen
spielerisch-eleganten und geistreichen Versen beeindruckte. Im Frühjahr 1713
wurde er vom unzufriedenen Vater in die Provinzstadt Caen geschickt, wo er als
Notariatsangestellter arbeiten sollte, doch verkehrte er auch hier bald in
freidenkerischen literarischen Kreisen. Im Herbst wurde er deshalb einem Bruder
seines Patenonkels, der als franz. Gesandter zu Friedensverhandlungen nach Den
Haag reiste, als Sekretär mitgegeben. Als er dort die vielleicht einzige
leidenschaftliche Liebschaft seines Lebens begann, und zwar mit einer
17jährigen Exil-Hugenottin, die er zu konvertieren und zu entführen versuchte,
kam es zum Eklat, weil die erschrockene Mutter sich bei dem Gesandten
beschwerte. Er wurde nach Paris zurückgeschickt und vom Vater mit Enterbung und
Deportation nach Amerika bedroht.
Wieder in Paris, arbeitete er 1714
nochmals kurze Zeit bei einem Anwalt, war aber mehr und mehr als Literat aktiv,
was der Vater schließlich akzeptierte. Er verkehrte wie zuvor in literarischen
und intellektuellen Zirkeln und machte sich erste Feinde, z.B. mit einem
Pamphlet gegen die Académie Française, die eine von ihm eingereichte Ode auf
Louis XIII nicht preisgekrönt hatte, oder mit einer Verssatire auf den
arrivierten Autor und Literaturtheoretiker Antoine Houdar de la Motte
(1672-1731, s.o.), der für die Benutzung von Prosa statt Versen in Dramen und
in erzählenden Werken eintrat – eine Ansicht, die Voltaire später als Erzähler
und gelegentlich auch als Dramatiker durchaus teilen sollte. Die Ode Le vrai Dieu (1715) könnte sein erster
philosophischer Text gewesen sein.
Zunehmend öffneten sich ihm auch
adelige Häuser, wo man ihn als vielseitigen Lyriker, vor allem aber als Autor
witziger, häufig spöttischer Gedichte und geistreichen Unterhalter schätzte.
Eine seiner vornehmsten Adressen war der kleine Hof eines legitimierten
Bastards (außerehelichen Sohnes) von Louis XIV, des Duc (=Herzog) du Maine und
seiner kunstliebenden Gattin. Maine war 1715 von seinem sterbenden Vater
testamentarisch zum Regenten für den 5-jährigen Louis XV bestimmt, jedoch von
seinem Cousin Philippe d'Orléans mit Hilfe des Pariser Parlements ausgebootet
worden. Bei den Maines las Voltaire 1716 ein satirisches Gedicht auf Philippe
vor, in dem er auf dessen mutmaßliches inzestuöses Verhältnis zu seiner Tochter
anspielte. Natürlich erfuhr Philippe davon und verbannte in seiner Eigenschaft
als Stellvertreter des Königs Voltaire für mehrere Monate aus Paris, die dieser
größtenteils als Gast auf dem Schloss des jungen Duc de Sully verlebte. Nachdem
er von dort erfolgreich eine Bitt- und Huldigungsepistel an Philippe gerichtet
hatte und zurückgekehrt war, dichtete er eine neuerliche Satire auf ihn.
Diesmal war die Strafe härter: im Mai 1717 wurde er in der Pariser Stadtfestung
La Bastille inhaftiert, die als Gefängnis für meist höhergestellte Delinquenten
diente.
Hier las und reflektierte er und stellte
seine mit den Ödipus-Stücken von Sophokles und Corneille rivalisierende erste
Tragödie Œdipe fertig. Vor allem
begann er unter dem Titel La Ligue (=die Liga) ein Versepos über die
schlimmste Phase der Religionskriege und ihre Beendigung durch König Henri IV,
der 1597 die Katholische Liga besiegt und mit dem Edikt von Nantes 1598
religiöse Toleranz in Frankreich eingeführt hatte. Das mit Vergils
Romgründungsepos Æneis rivalisierende Werk sollte den Franzosen ihr nationales
Epos geben und verschaffte später seinem Autor in der Tat den Ruf des größten
franz. Epikers seiner Zeit.
Nach elf Monaten Haft kam er dank der
Fürsprache hochstehender Gönner frei, blieb allerdings zunächst noch aus Paris
verbannt. Als er dort im Oktober 1718 nach fast anderthalb Jahren wieder
auftauchte, tat er dies unter dem Namen „Voltaire“, vermutlich einem Anagramm
aus A-R-O-V-E-T--L[e]--I[eune] (unter Vertauschung der handschriftlich damals
identischen Buchstaben v/u und j/i). Das adelige „de“, das er voransetzte, war
wahrscheinlich insofern legitim, als sein Vater inzwischen durch seine adelnden
Ämter in den erblichen Adelsstand getreten war.
Nachdem er durch die sehr erfolgreiche
Aufführung von Œdipe im November 1718
schlagartig bekannt geworden war, verkehrte Voltaire wieder in den geistig
interessierten Zirkeln der Hauptstadt und war auch gern gesehener Gast in den
Landschlössern des Hochadels rund um Paris. Hierbei lernte er u.a. den
exilierten Politiker Lord Bolingbroke kennen, der ihm England näherbrachte.
Natürlich schrieb er, wie immer: neben Gedichten und weiteren Teilen von La Ligue verfasste er u.a. die Tragödie Artémire (1720) oder die Versepistel Épître à Uranie (1722), wo er explizit
seine theistischen Vorstellungen formuliert.
Als 1722 sein Vater starb, erbte Voltaire
seinen Anteil an dessen nicht unbeträchtlichen Vermögen. Da er im gleichen Jahr
vom Regenten Philippe eine „pension“ (jährliche Gratifikation) aus der
königlichen Schatulle zugesprochen bekam, war er finanziell nun gut gestellt.
Ebenfalls 1722 unternahm er als Begleiter einer adeligen Dame seine erste
größere Reise, nämlich in die österreichischen Niederlande (das jetzige
Belgien). Hierbei besuchte er in Brüssel den 1713 aus Frankreich verbannten
J.-B. Rousseau (s.o.), der sich jedoch mit ihm zerstritt. 1723/24 demonstrierte
er seine erfreuliche neue soziale Position auch mittels der Liaison mit der
adeligen Madame de Bernières, Gattin eines Vorsitzenden Richters am Pariser
Parlement.
1723 machte er mit der Zensur
Bekanntschaft, als er keine Druckerlaubnis für La Ligue, ou Henri le Grand erhielt, obwohl er das Epos Louis XV zu
widmen angeboten hatte. Er ließ es deshalb anonym in Rouen mit angeblichem
Druckort Genf erscheinen. Ein weiterer Schlag war 1724 der Misserfolg seiner
Tragödie Mariamne, die jedoch im Jahr
darauf, nachdem er sie überarbeitet und in Hérode
et Mariamne umbenannt hatte, stattliche 27 Aufführungen in Folge erlebte.
Ebenfalls 1725 erhielt Voltaire dank
Mme de Prie, der einflussreichen Geliebten des neuen Chef-Ministers, des Duc de
Bourbon, den Auftrag, zur Hochzeit von Louis XV Theateraufführungen zu
organisieren, darunter von drei eigenen Stücken. Hierdurch erhielt er Zutritt
zum Hof sowie eine zweite „pension“, diesmal aus der Schatulle der jungen
Königin. Er schien nun bestens in die herrschenden Verhältnisse integriert.
Im Februar 1726 wurde er von Dienern
des hochadeligen Chevalier de Rohan verprügelt, weil er im Theaterfoyer auf
dessen spöttische Frage nach der Herkunft seines neuen Namens eine schnippische
Antwort gegeben und die Lacher auf seine Seite gebracht hatte. Empört nahm
Voltaire Fechtunterricht, um den Chevalier zum Duell zu fordern. Die Rohans
erwirkten aber einen königlichen Haftbefehl gegen ihn, und wieder saß er in der
Bastille. Da er inzwischen jedoch eine bekannte Persönlichkeit war, bekam er
vom König die Freilassung angeboten unter der Bedingung, dass er Frankreich
verließ.
Voltaire akzeptierte und ging im Mai
1726 nach England, das gerade dabei war, als erstes Land der Welt in die
industrielle Revolution einzutreten. Er war fasziniert von der philosophischen,
wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Aufbruchstimmung sowie
von der relativ großen geistigen Freiheit und sozialen Mobilität in dieser
multikonfessionellen Gesellschaft, in der die Religion Privatangelegenheit war
und die Macht des Königs und die Privilegien des Adels durch Bürgerrechte
eingeschränkt waren. Für einen Franzosen damals keineswegs selbstverständlich,
lernte er Englisch sprechen sowie schreiben und las englische Autoren, u.a. den
Philosophen John Locke und Shakespeare. Er ließ sich von Lord Bolingbroke in
die besten gesellschaftlichen und intellektuellen Kreise Londons einführen und
wurde auch dem König vorgestellt. 1728 publizierte er in London, mit einer
Widmung an die Königin, eine überarbeitete Version von La Ligue, deren
neuer Titel La Henriade sich
sichtlich an den des unvollendeten Epos La Franciade von Pierre Ronsard
(s.o.) anlehnte.
Ende 28 durfte Voltaire nach
zweieinhalb Jahren zurück nach Frankreich, zunächst nur nach Dieppe, mit einem
Koffer voller fertiger und angefangener Schriften, darunter sein erstes
historiographisches Werk, Histoire de
Charles XII, roi de Suède (=Geschichte
König Karls XII von Schweden), 1730
gedruckt, aber sofort verboten), oder die Tragödien Brutus und Zaïre, die
1730 bzw. 1732 sehr erfolgreich aufgeführt wurden.
Spätestens in England hatte er erkannt,
wie wichtig finanzielle Unabhängigkeit für einen Autor wie ihn war. Deshalb
spekulierte er nach seiner Heimkehr nach Paris (1729) geschickt mit seinem Geld
und stieg u.a. mit Hilfe der Brüder d'Argenson als stiller Teilhaber bei
Heereslieferanten ein. Tatsächlich war er bald mehr als nur wohlhabend und
damit in hohem Umfang frei im Äußern seiner Meinungen.
So empörte er sich z.B. öffentlich mit
seiner Ode sur la mort de (=Ode über den Tod von) Mlle Lecouvreur, als 1730 die Leiche
der bekannten, noch relativ jungen Schauspielerin (mit der er befreundet
gewesen war) nach ihrem plötzlichen Tod auf den Schindanger geworfen wurde.
1733 nahm er sich die Freiheit, mit dem satirischen Gedicht Le Temple du
goût (=der Tempel des [guten]
Geschmacks) die Welt der Pariser Literaten zu karikieren und deren Zorn zu
erregen. Im Juni desselben Jahres liierte er sich erneut mit einer verheirateten
adeligen Dame, Émilie du Châtelet (1706-1749).
Im April 1734 erschienen zugleich in
London und Paris die Lettres (=Briefe) philosophiques oder Lettres
anglaises, die den Franzosen England als Vorbild vor Augen führen sollten,
von den Herrschenden in Frankreich aber als Affront empfunden wurden. Besonders
verärgert waren die meist jansenistisch-frommen Hohen Richter des Pariser
Parlement, die sich an einer religionskritischen Diatribe gegen den Jansenisten
Blaise Pascal stießen, die an die Briefe angehängt war: Sie verboten das Buch
und erließen einen Haftbefehl gegen Voltaire. Dieser tauchte ab und zog sich
auf das Schlösschen Cirey in der Champagne zurück, das dem Ehemann von Mme du
Châtelet gehörte und von wo aus er notfalls schnell ins nahe Lothringen fliehen
konnte, das de jure noch Teil des Deutschen Reiches war.
In den nächsten zehn Jahren führte er
ein unstetes Wanderleben mit Cirey als Zentrum und mit Mme du Châtelet, die ihm
dorthin nachgefolgt war, als engster Bezugsperson. Er besuchte Paris, wenn es
ihm möglich schien, z.B. zu Uraufführungen seiner Stücke; er blieb in Cirey
oder floh weiter, wenn er sich gefährdet fühlte. Daneben war er viel auf
Reisen, hielt sich aber länger auch in Brüssel auf sowie des öfteren in
Holland, das zur Druckerei Europas avanciert war. Hier publizierte er
insbesondere die anstößigeren seiner Werke, die dann zum Verkauf nach
Frankreich geschmuggelt wurden.
Dank Mme du Châtelet, die aktive
Naturforscherin und Mathematikerin war, entwickelte auch Voltaire vertieftes Interesse
für die Naturwissenschaften. So reagierten sie 1734 beide auf eine Preisfrage
der Pariser Académie des Sciences zur Natur des Feuers und reichten jeder eine
Abhandlung ein, worin er wie sie eine physikalische Erklärung versuchten.
Angeregt durch die Beschäftigung seiner Freundin mit dem englischen Physiker
und Astronomen Isaac Newton (dessen Philosophiae
naturalis principia mathematica [=die
mathematischen Grundlagen der Naaturkunde] sie später übersetzte),
verfasste Voltaire 1736/37 das sachbuchartige Werk Éléments (=Grundzüge) de la
philosophie de Newton, worin er in allgemeinverständlicher Form dessen
bahnbrechende Erkenntnisse vorstellte, die in Frankreich noch wenig bekannt
waren. Seine philosophischen Diskussionen mit Mme du Châtelet, einer Verehrerin
von Leibniz, könnten 1735 seinen religionskritischen Traité (=Abhandlung)
de métaphysique angeregt haben, den er auf ihr Drängen aber unpubliziert
ließ (gedruckt erst postum 1785).
Voltaires Domäne blieb jedoch die
Literatur. 1736 lobte er in der Versepistel Le Mondain (etwa: das
Weltkind) demonstrativ den Luxus und Komfort der Moderne und lud den Leser ein,
sich mit ihm lustig zu machen über bestimmte, vor allem geistliche
Verzichtprediger und ihr Lob der frugalen und deshalb angeblich glücklichen
alten Zeiten, die in Wahrheit nur Zeiten der Armut und der Unwissenheit gewesen
seien. Dass der gelobte Luxus und Komfort zu seiner eigenen Zeit nur Wenigen
zugänglich waren, bedeutete ihm sichtlich kein Problem. Des weiteren schrieb er
Tragödien und (seltener) Komödien, die er mit Freunden und Bekannten sowie, in
Nebenrollen, sich selbst probeweise in dem kleinen Theater inszenierte, das er
in dem Schlösschen hatte einrichten lassen, als er es auf seine Kosten hatte
renovieren lassen. Die wichtigsten Titel dieser Zeit sind: Adélaïde du Guesclin, 1734; La
Mort de César =Caesars Tod),
1735; Alzire, 1736; Mérope,
1737; Zulime, 1740; Mahomet,
1741. Die letztere Tragödie musste, nach ihrer erfolgreichen Uraufführung in
Lille, 1742 nach der dritten Pariser Aufführung abgesetzt werden. Sie erschien
dem königlichen Chefzensor Crébillon (s.o.) und Teilen des katholischen Klerus
nicht zu Unrecht als generell religionskritisch wegen ihrer Darstellung des
Propheten Mohammed als eines zynischen Machtmenschen, der z.B. fanatisierte
Jünger zur Ermordung politischer Gegner anstiftet und ihm lästig gewordene
Ex-Jünger umbringen lässt.
Daneben wandte Voltaire sich in Cirey
wieder der Geschichtsschreibung zu und arbeitete an dem seit 1732 geplanten Siècle
(=das Jahrhundert) de Louis XIV. Auch schrieb er weiter an dem
bewusst respektlosen burlesken Epos La
Pucelle (=die Jungfrau, sc. die 1920 heiliggesprochene „Jungfrau von
Orléans“, Jeanne d'Arc), das er wohl 1730 als Parodie eines gleichnamigen Epos
von Jean Chapelain (s.o.) begonnen hatte und das lange nur in privaten
Abschriften und Raubdrucken zirkulierte, die oft von dritter Hand verändert
worden waren.
Schon seit 1736 stand er in
Briefkontakt zu Kronprinz Friedrich von Preußen (1712-86) und wurde er von ihm
umworben. Im September 1740, bald nach Friedrichs Regierungsantritt, hatte er
ihn in Kleve getroffen und war im November sogar einer Einladung nach Berlin
gefolgt. 1742 hatte er ihn in Aachen nochmals gesehen. Im Juni 1743 wurde er
deshalb vom neuen franz. Kriegsminister, seinem Schulfreund d'Argenson, mit dem
Auftrag zu Friedrich geschickt, ihn zum Wiedereintritt in das Bündnis gegen
Habsburg zu bewegen, aus dem er 1742 ausgetreten war, nachdem er im
Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) seine Ziele erreicht hatte.
Die diplomatische Mission Voltaires
blieb zwar ohne konkretes Ergebnis, doch galt er nun als Verbindungsmann zu
Friedrich und durfte wieder am Hof verkehren, obwohl Louis XV ihn nicht mochte.
Hier brachte er 1745 zur Hochzeit des Dauphins (Kronprinzen) seine
Ballettkomödie La Princesse de Navarre zur
Aufführung und etwas später das Singspiel Le
Temple de la Gloire (Musik von Jean Philippe Rameau). Darüber hinaus wurde
er, auch dank der Protektion der neuen Mätresse Mme de Pompadour, die er schon
seit längerem kannte, zum Königlichen Chronisten (historiographe du roi) sowie
1746 zum Königlichen Kammerherrrn (gentilhomme de la chambre) ernannt, womit er
offiziell in den Adelstand erhoben war. Ebenfalls 1746 wurde er, nicht zuletzt
aufgrund des langandauernden Erfolges der Tragödie Mérope (Urauff.
1743), zum Mitglied der Académie Française gewählt (was der König 1743 noch
verhindert hatte).
Bald hiernach jedoch ging seine
Karriere als Höfling in Versailles jäh zu Ende. Schon länger hatte er Mme de
Pompadour verdrossen mit seiner Eifersucht auf einen anderen ihrer Protégés,
den Tragödienautor und Königlichen Zensor Crébillon (s.o.). Als er 1747 Mme du
Châtelet am Spieltisch der Königin auf Englisch vor Falschspielern warnte,
nutzte Louis die Gelegenheit, ihn in Ungnade fallen zu lassen. Voltaire zog
sich zurück zu der inzwischen verwitweten Duchesse du Maine, die er auf ihrem
Schloss Sceaux mit seinen ersten erzählenden Prosa-Werken unterhielt, u.a. dem
Kurzroman Memnon, dem späteren Zadig.
Immerhin war er dem Hof noch nahe
genug, um gekränkt zu sein, als dort 1748 Crébillons jüngstes Stück, Catilina,
auf Kosten des Königs aufgeführt, demonstrativ beklatscht und gelobt wurde, um
ihn zu demütigen. Seinen Groll gegenüber dem Rivalen vergaß er nicht so rasch,
denn in den Folgejahren verfasste er, um die eigene Überlegenheit zu beweisen,
parallele Versionen zu nicht weniger als fünf von dessen Tragödien.
1748/49 lebte er mit Mme du Châtelet
meist im Schloss von Lunéville, bei dem Schwiegervater von Louis XV, Stanislaus
Leszczynski, der 1735 die polnische Köngiskrone hatte aufgeben müssen und mit
der Grafschaft Lothringen entschädigt worden war. Hier verliebte sich Mme du
Châtelet in den zehn Jahre jüngeren Offizier, Höfling und Dichter Saint-Lambert
und starb im September 1749 nach der Geburt eines Kindes von ihm, das ebenfalls
nicht überlebte. Voltaire war betroffen, auch wenn er schon seit ca. 1745 intim
mit der früh verwitweten Tochter seiner Schwester, Madame Denis liiert war.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris
verließ er im Sommer 1750 die Stadt (die er erst 1778 wiedersehen sollte) und
folgte endlich der Einladung Friedrichs nach Potsdam, wo schon andere
französische Literaten und Gelehrte Hofämter innehatten und wo er zum gut
dotierten Königlichen Kammerherrn ernannt wurde.
Das Verhältnis zu Friedrich bekam
allerdings schon Anfang 1751 einen Riss, als Voltaire in Berlin (wo er eine
Wohnung unterhielt) ein Spekulationsgeschäft mit in Preußen verbotenen
sächsischen Staatsschuldverschreibungen tätigte, sich mit seinem Vermittler,
dem Bankier Hirschel, zerstritt, gegen ihn prozessierte und hierbei in den wohl
berechtigten Verdacht geriet, den beiderseitigen Vertrag nachträglich
manipuliert zu haben. Er konnte sich nur mühsam aus der Affäre ziehen.
1751 brachte er, nach 20 Jahren Arbeit,
in Berlin sein Siècle de Louis XIV heraus,
eine Darstellung der franz. Geschichte des 17. Jh., mit der er, wegen der
zentralen Rolle, die er darin der Institutions–, Wirtschafts- und
Kulturgeschichte zuweist, in der Geschichtsschreibung neue Maßstäbe setzte.
Seine kulturhistorische Ausrichtung wurde noch deutlicher im Abrégé de l'Histoire universelle (=Abriss
der Weltgeschichte), den er 1750/51 stückweise im Mercure de France
publizierte. Ebenfalls 1751 ließ er eine dritte Gesamtausgabe seiner Werke
drucken, in nun schon 11 Bänden.
Eifersüchtig und rechthaberisch, wie er
durchaus sein konnte, verfeindete er sich in Sanssouci bald mit einigen seiner
Kollegen. Vor allem hatte er es auf einen alten Bekannten von Mme du Châtelet
abgesehen, den Präsidenten der Berliner Akademie, Maupertuis, einen verdienten
Mathematiker und Naturforscher, den er selber Friedrich einst empfohlen hatte.
Insbes. unterstützte er (zu Recht) dessen Gegner in einem Prioritätsstreit, den
Mathematiker Samuel König, wobei er 1753 eine spöttische Satire auf Maupertuis
verfasste, La Diatribe du Docteur
Akakia. Als er sie entgegen der Bitte Friedrichs, der seinerseits zu
Maupertuis hielt, publizierte und mit Verbot und sogar Verbrennung der Schrift
bestraft wurde, musste er enttäuscht erkennen, dass er in Potsdam nur einer
neben anderen Höflingen war. Er bat um seine Entlassung, wurde aber nur zu
einer Kur beurlaubt. Von Leipzig aus attackierte er nochmals Maupertuis und
wurde nun in Ungnade entlassen. Bei einem Aufenthalt in der
Freien Reichsstadt Frankfurt wurde er auf Ersuchen Friedrichs sogar festgesetzt
und unter dem Verdacht, er habe unbefugt ein Manuskript von ihm mitgenommen,
einer demütigenden Gepäckkontrolle unterzogen. Schon 1757 jedoch vermittelte
Friedrichs Schwester Wilhelmine eine Versöhnung zwischen beiden Männern und sie
wechselten wieder höfliche Briefe.
Nach Stationen an einigen kleineren
deutschen Höfen (Gotha, Kassel, Mainz, Mannheim) wartete Voltaire in den
elsässischen Städten Straßburg und Kolmar vergeblich auf die Erlaubnis, nach
Paris zurückkehren und wieder in seine Versailler Hofämter eintreten zu dürfen.
1755 schließlich kaufte er sich in der schweizerischen Stadtrepublik Genf eine
Villa am Stadtrand und gedachte sich dort niederzulassen. Doch während in Paris
mit Erfolg sein neues Stück L'Orphelin de
la Chine (=das Waisenkind aus China) aufgeführt wurde, bekam er in Genf
ersten Ärger mit dem theaterfeindlichen kalvinistischen Kirchenrat, weil er,
wie einst in Cirey, private Aufführungen in seinem Haus organisierte.
Wie fast alle aufgeklärten Europäer war
auch Voltaire Ende 1755 erschüttert und sah er sich in seinem bisherigen
Theismus verunsichert durch das verheerende Erdbeben von Lissabon. Seine
Reaktion war das Langgedicht Poème sur le
désastre de Lisbonne (=Gedicht
über die Katastrophe von L.), in dem er u.a. den naiven Optimismus des
englischen Autors Alexander Pope zurückweist, wonach „alles was ist, richtig
ist“. 1756 veröffentlichte er seinen monumentalen Essai sur l'histoire générale et sur les mœurs et l'esprit des nations,
eine aus dem Abrégé erwachsene
Kulturgeschichte der Menschheit, die er insgesamt auf dem Weg des Fortschritts
sieht, auch wenn er selbst seinen einstigen Optimismus weitgehend eingebüßt hatte
und weiter einbüßte angesichts der Gräuel des beginnenden Siebenjährigen
Krieges (1756-63).
Ebenfalls 1756 begann er seine
Mitarbeit an dem 1746 von Denis Diderot (s.u.) und Jean d'Alembert initiierten
Groß-Lexikon, der Encyclopédie, was
ihm sogleich neuen Ärger in Genf eintrug, weil er d'Alembert für dessen
kritischen Artikel „Genève“ mit Informationen versorgt hatte.
1757 kehrte Voltaire Genf den Rücken
und ging einmal mehr auf Reisen. 1758 schrieb er (z.T. im Schloss von
Schwetzingen) sein wohl erfolgreichstes und heute bekanntestes Werk, den
philosophischen Kurzroman Candide ou
l'optimisme (gedruckt 1759). Hierin demonstriert er in einer aktionsreichen
Handlung, die den damaligen Liebes- und Abenteuerroman mit seinen oft
unwahrscheinlichen Wendungen parodiert, wie die Welt vom Zufall beherrscht wird
und keineswegs von einer ordnenden höheren Macht, an die zu glauben naiv ist
angesichts von Kriegen, Naturkatastrophen und menschlichen Grausamkeiten. Und
scheinbar lakonisch, de facto aber voller Ironie und Sarkasmus führt er den ihm
als illusorisch erscheinenden Optimismus von Leibniz, Christian von Wolff und
anderen Philosophen der Zeit ad absurdum, um am Schluss die tägliche Arbeit als
einziges probates Mittel gegen das Unglück in der Welt zu empfehlen.
Obwohl fern von Paris, beteiligte er
sich gegen 1760 mit Pamphleten, Satiren und Epigrammen, u.a. gegen den
Literaturkritiker und Feuilletonisten Fréron (s.u.), an der Abwehrschlacht der
Autoren und Sympathisanten der Encyclopédie
gegen deren konservative Gegner, die 1758 ein zweites Druckverbot erwirkt
hatten und 1759 sogar die Indizierung des Werkes durch den Papst.
Mit 64 befolgte Voltaire das berühmte
Schlusswort von Candide, wonach man
„seinen Garten bestellen“ soll, und kaufte 1758 bzw. 1759 im franz. Grenzgebiet
nahe Genf die Landgüter Ferney und Tourney. Diese bewirtschaftete er bis zu
seinem Tod sehr innovativ und effizient, durchaus auch zum Vorteil seiner
Pächter und Landarbeiter, für die er im Winter einträgliche Heimarbeit
organisierte, z.B. die Produktion von Seidenstrümpfen und Uhren. Zusammen mit
Madame Denis, seinem treuen Sekretär Wagnière und einigen anderen Vertrauten
verbrachte er in Ferney seinen letzten Lebensabschnitt, der den Zenith seiner
Karriere bedeuten sollte.
Wie eh und je schrieb er weiterhin
unablässig, und zwar Dutzende von Werken. So beteiligte er sich 1760 mit dem
gegen seine Gewohnheit in Prosa verfassten Stück Le Café, ou L’Écossaise
erfolgreich an der Durchsetzung der neuen Gattung „drame (bourgeois)“, die
kürzlich von Diderot lanciert worden war. Daneben schrieb er nach dem Erfolg
des Candide weitere Erzählungen, u.a. den meisterhaften
empfindsam-philosophischen Kurzroman L'Ingénu/Das
Naturkind (eigentl. der Unbedarfte, 1767). Aber auch die
Geschichtsschreibung blieb auf seinem Programm, mit z.B. der Histoire de l'Empire de Russie sous Pierre
le Grand (=Geschichte des
russischen Reiches unter Peter dem Großen, 1763). Ein anderer
Schwerpunkt seines Schaffens waren philosophische Werke im engeren Sinne,
darunter zahlreiche Dialogues philosophiques oder, als Reaktion auf eine
religiös motivierte Justizmord-Affäre, der Traité
sur la tolérance (1763) oder das Dictionnaire
philosophique portatif (etwa: Philosophisches Taschenlexikon, 1764). Das Dictionnaire, das den Typ des „tragbaren“
einbändigen Konversationslexikons schuf, war sehr erfolgreich und wurde häufig
nachgedruckt. Es deckte die zahlreichen Widersprüche innerhalb der Bibel und
viele Schwachstellen der katholischen Theologie auf und versorgte so die
europäischen Intellektuellen der Zeit mit bibel- und religionskritischen
Argumenten. Noch im 19. Jh. diente es der laizistischen und antiklerikalen
franz. Bourgeoisie bei ihrem Kampf um die Emanzipation der Zivilgesellschaft
und des Staates von der Kirche und war eines der wichtigsten Motive für den
Hass, der Voltaire in katholisch-konservativen Kreisen bis ins späte 19. Jh.
entgegengebracht wurde.
Vor allem aber empfing er als
„patriarque de Ferney“ in seinem Schlösschen Besucher aus ganz Europa (1777
sogar den inkognito angereisten Kaiser Joseph II.) und wechselte Briefe mit
zahllosen, meist hochstehenden Personen. Zugleich kämpfte er mit der Macht
seiner stetig wachsenden Autorität publizistisch gegen staatliche Willkür,
Rückständigkeit, Obskurantismus und Intoleranz. Als er sich z.B. 1762 und 1766
unter dem Beifall des gesamten aufgeklärten Europas in die Justizmord-Affären
um den Protestanten Jean Calas und und den angeblichen Atheisten (und Dictionnaire-Leser)
La Barre einschaltete, konnte er die Opfer zwar nicht retten, erreichte aber
die nachträgliche Rehabilitierung zumindestens von Calas. (La Barre wurde erst
1793 rehabilitiert.) Für den ebenfalls von einem Justizmord bedrohten
Protestanten Sirven (1764) erkämpfte er eine Revision des Urteils mit
Freispruch und Entschädigung.
1775 ließ er einmal mehr eine
Gesamtausgabe seiner Werke drucken, nunmehr in schon 40 Bänden.
Anfang 1778 reiste er nach Paris, um
der Uraufführung seines neuen Stücks Irène
beizuwohnen. Er wurde wie in einem Triumphzug empfangen und konnte sich kaum
retten vor Einladungen und Ehrungen, darunter der Aufnahme in eine
Freimaurerloge. Nach drei Monaten Paris brach der 84-Jährige entkräftet
zusammen und starb. Ein geschickt agierender Neffe verschaffte ihm ein
kirchliches Begräbnis in aller Stille.
Erst postum wurde nach und nach die
umfängliche Korrespondenz Voltaires publiziert. Sie umfasst mehr als 22.000
Briefe (darunter gut 15.000 von ihm) und erscheint nachträglich als ein
bedeutender Teil seines Schaffens.
Voltaire war kein systematischer Denker,
d.h. kein Philosoph nach deutschem Verständnis, sondern ein „philosophe“ im
Sinn der franz. Aufklärung, d.h. ein Autor, der deren Theoreme sowohl in
philosophischen als auch belletristischen, historischen und
naturwissenschaftlichen Schriften vertrat sowie auch publizistisch aktiv war.
Er selbst sah sich aufgrund seiner an die 50 z.T. sehr erfolgreichen Stücke
wohl in erster Linie als bedeutenden Dramatiker. Epochemachend gewirkt haben
vor allem jedoch die historiografischen Werke, und zwar einerseits durch ihre
neue kulturhistorische Ausrichtung und zum andern dank ihrer stilistischen
Eleganz und ihrer Allgemeinverständlichkeit. Sie eröffneten eine Tradition, die
die franz. Geschichtsschreibung geprägt hat. Bis in die heutige Zeit lebendig
geblieben sind einige seiner kurzen „philosophischen Romane“ wie Zadig, L’Ingénu
und vor allem Candide.
Die theologische Position Voltaires war
(und blieb zumindest nach außen) die des Theismus, d.h. des Glaubens an die
Existenz eines Schöpfergottes, der sich auch weiterhin um seine Schöpfung und
speziell die Menschen wohlwollend kümmert und dabei gutes Handeln noch zu
Lebzeiten belohnt bzw. böses bestraft. Das bekannte Diktum „Wenn es Gott nicht
gäbe, müsste man ihn erfinden“ sowie auch andere Indizien zeigen Voltaire allerdings
eher als Agnostiker, wenn nicht als verkappten Atheisten.
Denis
Diderot
(*5.10.1713 Langres; †30.7.1784 Paris)
Zu seinen Lebzeiten weniger berühmt als
Voltaire oder Rousseau, gilt Diderot inzwischen als ebenbürtig und als einer
der originellsten Köpfe der europäischen Aufklärung insgesamt. Er war als
Philosoph in vielen Bereichen und als Literat in vielen Genera (außer Lyrik)
aktiv. Nach Deutschland hinein wirkte er vor allem als Theoretiker des
„bürgerlichen Trauerspiels“ (drame bourgeois). Heute scheint er hier nur als
ein Aufklärer unter vielen andern bekannt.
Er wuchs auf in der Bischofstadt
Langres (Champagne) als ältester Sohn eines wohlhabenden, jansenistisch-frommen
Messerschmiedemeisters. Da er später die Domherren-Pfründe eines Onkels übernehmen
sollte, wurde er schon mit 13 tonsuriert. Zur Schule ging er zuerst bei den
Jesuiten in Langres, dann im jansenistisch orientierten Collège d'Harcourt in
Paris.
Statt jedoch nach dem Abschluss der
propädeutischen Studien mit der maîtrise
ès arts (1732) Theologie zu studieren (was dann sein jüngerer Bruder für
ihn tun musste), führte Diderot in Paris ein ungebundenes Leben, jobbte, las,
fand Anschluss an andere junge Intellektuelle (d'Alembert, Rousseau, Condillac,
Melchior Grimm) und begann zu schreiben sowie aus dem Englischen zu übersetzen.
Als er 1743 den Segen seines Vaters für
die Heirat mit einer besitz- und aussteuerlosen Wäsche-Verkäuferin einholen
wollte, ließ dieser ihn kraft seiner väterlichen Autorität in einem Kloster
einsperren. Naturgemäß bestätigte diese Erfahrung Diderots Antipathie gegen die
Kirche und ihre Institutionen, speziell die Klöster – eine Antipathie, die sich
später noch dadurch verstärkte, dass seine jüngste Schwester (die freiwillig
Nonne geworden war) in ihrem Kloster geisteskrank wurde. Diderot konnte jedoch
nach einigen Wochen aus der Gefangenschaft fliehen, kehrte nach Paris zurück
und heiratete heimlich. Allerdings fand er seine Frau nach der baldigen Geburt
einer Tochter (die sehr schnell starb) offenbar langweilig und liierte sich
1745 nebenher mit einer gebildeten aventurière,
Mme de Puisieux. Trotzdem hatte er 1746 wieder einen Sohn (der 5-jährig starb),
1750 einen weiteren Sohn (der als Säugling starb) und 1753 wieder eine Tochter
(die als Einzige ihre Eltern überlebte).
Da er schon eine Geschichte der alten
Griechen, ein medizinisches Lexikon und einen philosophischen Traktat von
Shaftesbury aus dem Englischen übersetzt hatte, erhielt er 1746 von einem
Pariser Buchhändler-Verleger das Angebot, die kürzlich abgeschlossene Cyclopedia or Universal Dictionary of the
Arts and Sciences zu übersetzen. Er nahm an, beschloss aber, das Werk
beträchtlich zu erweitern um daraus eine Summa des gesamten Wissens seiner Zeit
zu machen. Hierzu gewann er als Mitherausgeber seinen Freund Jean Le Rond
d'Alembert, einen Mathematiker und Naturwissenschaftler, sowie nach und nach
als Mitarbeiter andere Autoren, die teils sonst wenig bekannte Spezialisten
waren, wie der junge Musikologe Jean-Jacques Rousseau, teils aber auch schon
berühmte Leute wie Montesquieu und Voltaire.
1749 allerdings musste er einige Monate
pausieren, als er wegen seiner mehr nebenher verfassten religionskritischen
Schrift Lettre sur les aveugles in
der Festung Vincennes inhaftiert wurde. Diderot war deshalb in Zukunft
vorsichtiger und ließ, um den Fortgang der Encyclopédie
nicht zu gefährden, viele andere seiner philosophischen Schriften
unpubliziert.
1750 verfasste er einen in ganz Europa
verschickten prospectus, in dem er
Interessenten zur Subskription der Encyclopédie
aufrief. 1751 erschienen die beiden ersten Bände der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des
arts et métiers, par une société de
gens de lettres. Der
buchhändlerische Erfolg war enorm, doch die Jesuiten und die Sorbonne diagnostizierten
eine unchristliche Tendenz des Ganzen und erwirkten beim königlichen Conseil
d'État ein Verbot. Da aber Mme de Pompadour (die Geliebte von Louis XV), einige
Minister, viele einflussreiche Freimaurer und der Chefzensor Malesherbes auf
der Seite der Encyclopédisten standen, konnten trotz des Verbots 1753-56 vier
weitere Bände erscheinen. Danach jedoch wuchs der Druck der Gegner, einer
unheiligen Allianz von neidischen Literaten und orthodoxen Frommen. 1758, nach
dem Attentatsversuch eines gewissen Damiens auf Louis XV, wurde das Verbot
erneuert, 1759 setzte Papst Clemens VII das Werk auf den Index. Inzwischen
hatte aber die franz. Regierung die Deviseneinnahmen schätzen gelernt, die
trotz des Siebenjährigen Krieges (1756-63) der Verkauf der Encyclopédie aus ganz Europa hereinholte, und man ermutigte Diderot
unter der Hand zum Weitermachen. Er brachte die letzten zehn Bände samt 5
Bänden Abbildungen heraus (1765), zog sich dann aber – nach 20 Jahren Arbeit –
zurück und überließ seinen Nachfolgern die Herausgabe der letzten
Abbildungsbände, die, wie schon die ersten, viel zum Ruhm des Unternehmens
beitrugen.
Neben der Encyclopédie hatte Diderot immer auch andere Werke in Arbeit. Schon
1746 hatte er im Anschluss an die Shaftesbury-Übersetzung seine Pensées philosophiques publiziert, worin
er erstmals materialistische und atheistische Vorstellungen vertrat. 1748
schrieb und druckte er einen libertinen Roman, Les bijoux indiscrets, der ein Skandalerfolg wurde (und in
Literaturgeschichten für Schüler und Studenten oft unerwähnt bleibt). 1749
publizierte er, wie erwähnt, die philosophische Schrift Lettre sur les aveugles, worin er ausgehend von der These, dass ein
blind Geborener keine Möglichkeit habe, die Existenz Gottes als Schöpfers der
Welt zu erdenken, diese Existenz überhaupt bezweifelt. Die Strafe waren,
nachdem schon zwei Jahre vorher sein Gemeindepfarrer ihn als gottlosen
"homme très dangereux" denunziert hatte, einige Monate Haft in
Vincennes (s.o.) 1751 trug Diderot bei zu einer Grundlegung der philosophischen
Ästhetik mit der Lettre sur les sourds et
muets.
In den Jahren hiernach beschäftigte er
sich mit Kunstgeschichte sowie den Techniken der Malerei und wurde einer der
ersten professionellen Kunstkritiker mit den Artikeln, die er von 1759 bis 1771
sowie gelegentlich auch danach für die Zeitschrift Correspondance littéraire seines Freundes Melchior Grimm verfasste,
um über die Verkaufsausstellungen (Salons) zu berichten, die alle zwei Jahre
von den Mitgliedern der Académie de peinture et de sculpture im Verein mit
Pariser Galeristen veranstaltet wurden.
Als Naturwissenschaftler betätigte sich
Diderot in den Pensées sur l'interprétation de la nature (1754),
einem Plädoyer für das Prinzip des Experiments und gegen die oft nur
pseudo-rationalen Naturerklärungen der Cartésiens, d.h. der rationalistischen
Denker im Gefolge von René Descartes (1596–1650).
Daneben wurde Diderot sehr bedeutsam
für die Entwicklung der Gattung Drama. Er verfasste einige Stücke, die heute
wegen ihrer ereignisarmen und oft unwahrscheinlichen Handlung kaum mehr
aufgeführt werden, zu ihrer Zeit aber erfolgreich waren dank ihrer
eindringlichen Darstellung widersprüchlicher Gefühle und innerer Konflikte in
einem als zeitgenössisch und real intendierten Milieu (das wohl als großbürgerlich-neuadelig
vorzustellen war). Am bekanntesten wurden Le
Fils naturel (1757), worin ein junger Mann sich tugendhaft dazu durchringt,
seinem Freund die Braut nicht auszuspannen, in die er sich wider Willen
verliebt hat und die auch ihrerseits sich magisch von ihm angezogen fühlt (und
sich am Ende als seine Halbschwester herausstellt), sowie Le Père de famille (1758), worin ein Familienvater, der für seine
beiden heiratsfähigen Kinder eigentlich passende Konventionalehen anstrebt,
ihnen erst nach langen inneren Konflikten die Liebesheiraten gestattet, die sie
selber wünschen (und die sich nachträglich als sozial akzeptabel erweisen).
Wichtiger noch als die Stücke wurden die theoretischen Abhandlungen Diderots
(u.a. De la poésie dramatique, 1758).
Sie begründeten ein neues Genre: das außerhalb der traditionellen Gattungen
Tragödie und Komödie angesiedelte drame
bourgeois (bürgerliches Trauerspiel), das besser als jene die Realität der
Epoche darstellen und selbstverständlich keine Verse, sondern Prosa verwenden
sollte.
Zugleich arbeitete Diderot immer wieder
auch an Romanen und Erzählungen, die rückblickend erstaunlich modern wirken,
meist aber erst postum erschienen. So verfasste er 1760/61 den
kirchenkritischen und zugleich empfindsamen meisterlichen kleinen Roman La Religieuse, der den Leidensweg einer
unfreiwilligen Nonne beschreibt und heute wohl sein meistgelesenes (und
verfilmtes) Werk ist (gedruckt erst 1796). 1760-64 schrieb er den
experimentellen Roman Le Neuveu de Rameau
(erstmals gedruckt in Goethes deutscher Übersetzung 1805, in einer franz.
Rückübersetzung 1821, im endlich wiederentdeckten Originaltext erst 1891). 1773
stellte er den schwer klassifizierbaren Roman Jacques le Fataliste fertig (gedruckt erst 1796).
Hauptanliegen Diderots waren aber seine
philosophischen Schriften. Hierin vertrat er neben den erwähnten kirchen- und
religionskritischen Positionen eine sehr optimistische „natürliche Moral“, in
der typisch aufklärerischen Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut sei
und dass in einer Gesellschaft selbständig denkender und emanzipierter
Individuen das persönliche Glück und allgemeines Wohlergehen zusammenfallen
müssten.
Neben der unermüdlichen Arbeit führte
Diderot ein reges gesellschaftliches Leben in Kreisen der philosophes, d.h. der kritisch eingestellten Pariser
Intellektuellen (Condillac, Turgot, Helvétius, d'Holbach usw.), aber auch in
einigen adeligen Salons. Ab 1755 stand er in einem regen „empfindsamen“
Briefwechsel mit der hochgebildeten Sophie Volland.
Ähnlich wie Voltaire war auch Diderot
auf der Suche nach dem aufgeklärten Monarchen. Er fand ihn in der (aus
Deutschland stammenden) russischen Zarin Katharina, die ihm 1765 pro forma
seine Bibliothek abkaufte, ihn generös als Bibliothekar besoldete sowie mit
Geld für Neuanschaffungen ausstattete und ihn 1773 einige Monate am Hof von
Sankt-Petersburg verwöhnte (wohin nach seinem Tod 1784 denn auch die Bibliothek
verfrachtet wurde).
Jean-Jacques Rousseau (*28.6.1712 Genf;
†2.7.1778 Ermenonville bei Paris)
Er war als Person ein Leben lang
schwierig und ist als Autor schwer klassifizierbar. Er zählt jedoch zu den
zentralen Figuren der französischen Geistesgeschichte des 18. Jh. Seine
literarische Nachwirkung in ganz Europa wie auch sein Einfluss auf die
Pädagogik und auf die politische Theorie der Revolutionszeit und des 19. Jh.
sind kaum zu überschätzen. In Deutschland figuriert er meist in der Rubrik
‚Philosoph’.
Er wurde geboren als Sohn eines
protestantischen Genfer Uhrmachers franz. Herkunft, der vor der Heirat einige
Jahre im türkischen Istanbul gearbeitet hatte. Seine Mutter, Tochter eines
protestantischen Pfarrers, starb kurz nach seiner Geburt, woraufhin eine der
zahlreichen Schwestern des Vaters einzog und sich offenbar liebevoll um Kind
und Haushalt kümmerte. Der Vater scheint sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um
die Erziehung des häufig kränkelnden Knaben bemüht und die Lust zur Lektüre in
ihm geweckt zu haben. Er verließ jedoch nach einer Rauferei mit einem Offizier
fluchtartig Genf und verschwand so aus dem Leben Rousseaus. Dieser kam nun – er
war eben 10 - kurz zu einem Pfarrer in Pension, wo er öfter gezüchtigt wurde.
Danach lebte er einige Zeit als Randfigur im Haushalt einer anderen Tante
väterlicherseits.
Mit 12 wurde er als Lehrling zu einem
Gerichtsschreiber gegeben und ein Jahr später zu einem Graveur, der ihn wegen
seiner Bockigkeit schlug. Als er 1728 bei der Rückkehr von einem
Sonntagsausflug das Genfer Stadttor schon verschlossen fand, folgte er
kurzentschlossen einer schon länger gehegten Idee und ging auf Wanderschaft.
Einige Tage später, in Savoyen, geriet er an einen katholischen Pfarrer, der
ihn an die knapp 30-jährige Mme de Warens in Annecy verwies, die gerade
konvertiert war und eine Pension vom Herzog von Savoyen erhielt, um ihrerseits
Protestanten zu bekehren. Sie nahm sich Rousseaus an, schickte ihn aber rasch
weiter nach Turin, wo er sich im Hospice des catéchumènes kurz unterweisen und
katholisch taufen ließ.
Nachdem er ein Jahr als Diener und als
Sekretär in vornehmen Häusern Turins verbracht hatte, kehrte er 1729 zurück zu
Mme de Warens. Ihrem Vorschlag folgend ließ er sich in das Priesterseminar in
Annecy aufnehmen, hielt es aber dort nicht lange aus. Da er sich gern als
Sänger an ihren Hausmusikabenden beteiligt hatte, vermittelte Mme de Warens ihn
nun an den Leiter der Dom-Musikschule, der ihn zu sich nahm und in Chorgesang
und Flötenspiel unterrichtete. Es folgten einige fruchtbare Monate, in denen
Rousseau die Grundlagen seiner musikalischen Kenntnisse erwarb. Als der
Musikmeister 1730 Annecy verließ und nach Lyon ging, begleitete Rousseau ihn
dorthin, trennte sich aber bald von ihm.
Zurück in Annecy, stellte er fest, dass
Mme de Warens eine Reise nach Paris angetreten hatte. Er ging deshalb ebenfalls
auf Wanderschaft, versuchte sich u.a. als Musiklehrer in Lausanne und Neuchâtel
und marschierte 1731 zu Fuß nach Paris, wo er den Sommer als Diener eines
reichen jungen Schweizers verbrachte. Nachdem er erfahren hatte, dass Mme de
Warens wieder in Savoyen war, nunmehr in Chambéry, wurde er im Herbst wieder
bei ihr vorstellig und wie ein Ziehsohn aufgenommen.
Bei ihr wohnend arbeitete er zunächst 8
Monate beim Katasteramt, verlegte sich 1732 aber auf Musikunterricht. Es
folgten fünf glückliche und für seine Bildung sehr fruchtbare Jahre. Er las, musizierte,
trieb naturkundliche Studien und begann zu schreiben. Auch ließ er sich – etwas
widerstrebend – von "Maman" (die nur 13 Jahre älter war als er) in
die Kunst der Liebe einführen. Den Winter 1737/38 verbrachte er in Montpellier,
um eine Augenverätzung behandeln zu lassen, die er bei einem chemischen
Experiment erlitten hatte. Als er zurückkehrte, fand er einen Rivalen vor: den
neuen Sekretär und Hausverwalter von Mme de Warens. Er blieb dennoch zwei
weitere Jahre in Chambéry und verdingte sich anschließend (1740) als Hauslehrer
in Lyon.
1742 reiste er nach Paris, um ein von
ihm entwickeltes Notensystem von der Académie des Sciences patentieren zu
lassen. Er durfte es dort präsentieren, bekam auch ein Zertifikat und ließ Anfang
1743 seine Präsentation als Dissertation sur la musique moderne gedruckt
erscheinen, doch setzte sein System sich nicht durch.
Immerhin erhielt er in Paris Zugang zu
dem bekannten literarischen Salon von Madame Dupin und konnte einige
Verbindungen knüpfen. Auch begann er eine Oper: Les Muses galantes. Im
Sommer 1743 wurde er dem neuernannten franz. Botschafter in Venedig als
Privatsekretär empfohlen und reiste dorthin. Das Verhältnis endete aber bald im
Streit, und Rousseau kehrte im Herbst 1744 zurück nach Paris.
Hier fand er 1745 Anschluss an diverse
Mäzene (bei denen er seine inzwischen fertige Oper aufführen konnte) und an
Diderot (s.o.), über den er andere junge Intellektuelle im Umkreis der späteren
Encyclopédistes oder „philosophes“ kennenlernte, insbes. Jean Le Rond
d’Alembert, den Mitherausgeber der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie.
Ebenfalls 1745 liierte er sich mit dem 23-jährigen Zimmermädchen Thérèse
Levasseur.
Die nächsten Jahre waren, ohne
eigentlich erfolglos zu sein, eine Zeit des Tastens (z.B. schrieb er 1747 eine
Komödie, L’Engagement téméraire) sowie der materiellen Unsicherheit.
Letztere führte auch dazu, dass er und Thérèse ihre 1746 und 48 geborenen
Kinder jeweils in der Kinderklappe eines Nonnenklosters abluden, wo sie, wie
die allermeisten der so entsorgten Säuglinge, wahrscheinlich nicht überlebten.
Rousseau entschuldigte diese damals durchaus gängige Problemlösung später
damit, dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht honoriert worden sei, so dass
Thérèse für beider Lebensunterhalt habe aufkommen müssen und sich nicht mit
Kindern habe belasten können.
1749 war das entscheidende Jahr für
Rousseau. Zu Jahresbeginn wurde er von d'Alembert mit der Abfassung
musikologischer Artikel für die Encyclopédie betraut. Im Herbst besuchte
er den in der Festung Vincennes inhaftierten Diderot und las unterwegs in der
Zeitschrift Mercure de France die Preisfrage der Académie von Dijon: Le
Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs? (Hat
die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die
Sitten reiner werden zu lassen?) Er hatte die provokante Idee, die Frage zu
verneinen, und schrieb seinen Discours sur les Sciences et les Arts (Abhandlung
über die Wissenschaften und die Künste), worin er die nach Luxus strebende
zeitgenössische europäische Gesellschaft in die sittliche Dekadenz abgleiten
sieht. Der im Mercure abgedruckte Discours lief den Vorstellungen
der meisten Intellektuellen der Zeit zwar völlig entgegen, stieß aber trotzdem
auf starkes Interesse. Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis und wurde dank
der heftigen Diskussionen, die er auslöste, über Nacht bekannt.
Inzwischen verdiente er auch etwas Geld
und konnte mit Thérèse zusammenziehen, was sie beide nicht hinderte, 1751 auch
ein drittes Neugeborenes zu entsorgen.
Ende 1752 wurde mit großem Erfolg seine
neue Oper Le Devin de village in
Versailles vor dem Hof und danach, 1753, auch in Paris aufgeführt. Rousseau
sollte sogar dem König vorgestellt werden, doch entzog er sich der Ehrung (und
verpasste damit wahrscheinlich die Zuweisung einer jährlichen „Pension“). Nach
dem Erfolg des Devin wurde vom Théâtre-Français auch seine Komödie Narcisse, ein Jugendwerk, angenommen.
Er hätte sich nun etablieren können,
doch fing er an, in eine Art Fundamentalopposition abzugleiten. Noch 1753
begann er eine zweite höchst kritische Preisschrift (s.u.) und ließ eine Lettre
sur la musique française erscheinen, worin er die franz. Musik gegenüber der italienischen
herabsetzte. Das Opernorchester reagierte mit dem Erhängen einer
Rousseau-Puppe. 1754 reiste er (mit Zwischenstation bei Mme de Warens) nach
Genf, nahm die dortige Staatsbürgerschaft wieder an und schwor dem
Katholizismus ab.
1755 wurde er der Staatsgewalt und
allen Etablierten verdächtig, als er, vorsichtshalber in Amsterdam, seinen Discours sur l'origine et les fondements de
l'inégalité parmi les hommes
erscheinen ließ, eine Antwort auf die Preisfrage der Académie von Dijon
im Jahr 1753: Quelle est l'origine de l'inégalité parmi les hommes, et
est-elle autorisée par la loi naturelle? Denn Rousseau, der
kleinbürgerliche Habenichts, erklärt hierin die soziale Ungleichheit aus der
Herausbildung der Arbeitsteilung und der dadurch ermöglichten Aneignung der
Erträge der Arbeit Vieler durch einige Wenige, die anschließend autoritäre
Staatswesen organisieren, um ihren Besitzstand zu schützen. Rousseau wurde mit
dieser wahrhaft revolutionären Schrift einer der Väter des europäischen
Sozialismus.
Anfang 1756 lehnte er den
Bibliothekarsposten ab, den ihm die Stadtrepublik Genf anbot. Stattdessen zog
er (mit Thérèse, die ihm inzwischen wohl nur noch als Haushälterin diente) nach
Montmorency nördlich von Paris, als Gast der vielseitig interessierten und selbst
schriftstellernden Mme d'Épinay, einer Freundin von Diderot. Mit diesem und dem
Kreis der „philosophes“ verfeindete er sich allerdings 1758, als er auf den
kritischen Artikel „Genf“, den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst
hatte, mit der Lettre à d'Alembert sur
les spectacles reagierte, worin er das Theater, ein Lieblingskind der
Aufklärung und zunächst ja durchaus auch von ihm selbst, als potentiell
unsittlich und als unnütz anprangerte.
In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen
für sich und Thérèse mietete, vorübergehend aber auch Gast des hochadeligen Duc
de Luxembourg war, schrieb er – teilweise nebeneinander – innerhalb von knapp
sechs Jahren seine erfolgreichsten und langfristig wirksamsten Werke. Dies
waren: der empfindsame Briefroman La
Nouvelle Héloïse (1756-58), der die letztlich unmögliche Liebe des
bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux zu der adeligen Julie d'Étanges
darstellt und z.T. von Rousseaus Leidenschaft für die Schwägerin von Mme
d’Épinay, Mme d’Houdetot, inspiriert war; weiter der pädagogische Roman Émile (1758-61), der das Ideal einer
"natürlichen" kindgemäßen Erziehung entwickelt; sowie der
staatsphilosophische Traktat Le Contrat
social (1760/61), der die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, aber
auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen zu definieren und zu begründen
versucht und den heute so wichtigen Begriff der Volkssouveränität kreiert, auf
dem die Legitimität von Volksentscheiden und allgemeinen Wahlen gründet.
La
Nouvelle Héloïse
war sofort nach dem Erscheinen Anfang 61 ein großer Erfolg und löste eine Flut
von Briefromanen in ganz Europa aus, darunter 1774 Goethes Werther. Der Contrat social und
der Émile dagegen wurden nach ihrem Erscheinen im April bzw. Mai 1762
verboten. Vor allem entfesselte die im Émile als Einschub enthaltene Profession de foi d'un vicaire savoyard
(=Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars) einen Sturm der Entrüstung bei
allen orthodoxen Christen, gleich ob Katholiken oder Protestanten, die nicht
gewillt waren, Rousseaus Verklärung der Natur zu einer Quasi-Gottheit
hinzunehmen. Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni und das Pariser
Parlement erließ einige Tage später Haftbefehl gegen Rousseau. Dieser flüchtete
sofort Richtung Schweiz, nicht ahnend, dass noch im Juni auch in Genf ein
Verbot samt Haftbefehl erlassen wurde.
Er fand Aufnahme bei einem Freund im
Kanton Bern, wurde dort aber rasch ausgewiesen. Im Juli 62 wandte er sich über
den Gouverneur des damals preußischen kleinen Fürstentums Neuenburg/Neuchâtel
an Friedrich den Großen, der ihm im August Asyl und später sogar Bürgerrecht
gewährte. Er ließ sich im neuenburgischen Städtchen Môtiers nieder, holte
Thérèse dorthin nach und begann, sich als Armenier zu kleiden. Noch von Ende 62
datiert seine erste Verteidigungsschrift, ein offener Brief an den Pariser
Erzbischof, der im August den Émile verurteilt hatte. Anfang 1763
stellte er in Môtiers sein Dictionnaire de la musique fertig. 1764 fing
er dort an, botanische Studien zu treiben.
Als er sich Ende 1665 auch in Môtiers
unwillkommen und verfolgt fühlte, nahm er eine Einladung des Philosophen David
Hume nach England an und ließ sich einen Durchreise-Pass für Frankreich
ausstellen. Unterwegs konnte er feststellen, dass er inzwischen durchaus auch
Bewunderer hatte: Bei einem Aufenthalt in Straßburg wurde er mit einer
Aufführung seines Devin de village geehrt, in Paris logierte er bei dem
Prince de Conti und empfing in dessen Haus Besuche.
1766 und die erste Jahreshälfte 67
verbrachte er überwiegend in England, anfangs bei Hume, mit dem er sich aber
zerstritt und der ihn attackierte. Immerhin fand Rousseau auch in England
Sympathisanten vor, die z.B. den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren
1767/68 lebte er an verschiedenen Orten
Frankreichs, unter anderem auf einem Schloss von Conti. Hierbei bewegte er
sich, denn der Haftbefehl war ja nicht aufgehoben, unter falschem Namen und gab
Thérèse als seine Schwester aus. 1769/70 lebten sie beide auf einem
Bergbauernhof in der fernen Dauphiné, nachdem sie im August 68 dort endlich geheiratet
hatten.
In diesen unsteten Jahren nach 1762
wurde Rousseaus tatsächliche Verfolgung und Verunglimpfung nach und nach
verschlimmert durch einen Verfolgungswahn. Dieser speiste einen Erklärungs- und
Rechtfertigungszwang, aus dem heraus er ab 1763 eine ganze Reihe kürzerer und
längerer autobiografischer Werke verfasste. Am bekanntesten wurden die auch die
Intimsphäre und das Ego des Autors nicht schonenden umfangreichen Confessions (1765-70, aber erst postum
publiziert), die die Untergattung der selbstentblößenden Autobiografie
begründeten.
Im
Frühjahr 1770 verließ Rousseau seinen Bauernhof Richtung Paris. Bei einem
Aufenthalt in Lyon wurde er vom Vorsteher der Kaufmannschaft mit Aufführungen
seines Devin und seines lyrischen Kleindramas Pygmalion geehrt.
Ab Juni lebte er dann, zurückgezogen und von den Behörden stillschweigend geduldet, mit Thérèse in Paris. Er
wurde hin und wieder in Salons zu Lesungen eingeladen und es scharte sich (denn
seine Ideen breiteten sich aus) nach und nach ein Kreis von Jüngern um ihn,
darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor Bernardin de Saint-Pierre.
1772-75 verfasste er den
autobiografischen Dialog Rousseau juge de Jean Jacques. 1774 gab er sein
Dictionnaire des termes d’usage en
botanique in Druck. 1776-78
schrieb er sein letztes längeres Werk: die Rêveries
du promeneur solitaire (=Träumereien
des einsamen Spaziergängers), die auf neue Art Gegenwartsmomente zum
Ausgangspunkt von autobiografischen Rückblicken machen und mit ihrer Kunst des
Einfangens von Naturstimmungen in lyrischer Prosa als eine Vorbereitung der
Romantik gelten.
Im Mai 78 nahm er, weil er kränkelte,
die Gastfreundschaft des Marquis de Girardin auf Schloss Ermenonville an. Kurz
danach starb er und wurde auf der "Île des peupliers" (=Insel der
Pappeln) im Schlosspark begraben. 1794, im Gefolge der Revolution, wurden seine
Gebeine triumphal ins Pariser Panthéon überführt.
Thérèse heiratete ein Jahr nach
Rousseaus Tod einen jungen Engländer.
Élie
Catherine Fréron (* 20.1.1718 in Quimper; † 10.3.1776
in Montrouge)
Zu
seinen Lebzeiten ein geachteter und von den Autoren der Aufklärung gefürchteter
Literaturkritiker und Polemiker, ist Fréron heute meist nur noch dank seiner
Fehden mit Voltaire bekannt.
Er
war Sohn eines Goldschmiedes und erhielt seine Schulbildung bei den Jesuiten,
zunächst in seiner Heimatstadt Quimper (Bretagne) und dann in Paris auf dem
Collège Louis-le-Grand. 1737 wurde er Novize im Jesuitenorden und war kurze
Zeit auf dem Louis-le Grand als Lehrer tätig.
1739,
am Ende seines Noviziats, entschied sich für eine Existenz als freier Literat
und wurde Mitarbeiter in der anti-aufklärerisch orientierten
Literaturzeitschrift Observations sur les écrits modernes des Abbé
Desfontaines. Als diese 1745 beim Tod des Abbé eingestellt wurde, gab Fréron sogleich
eine eigene Zeitschrift heraus, die Lettres de Mme la comtesse de *** sur
quelques écrits modernes. Hierin profilierte er sich als so scharfsinniger
wie unerschrockener und spitzzüngiger Kritiker auch etablierter Autoren,
insbes. solcher, die der Aufklärung nahe standen. Schon 1746 bekam er es
erstmals mit der Staatsgewalt zu tun, als auf Betreiben der königlichen
Mätresse, Mme de Pompadour, seine Zeitschrift verboten und er selbst
vorübergehend in Vincennes inhaftiert wurde.
1748
wurde Fréron Sekretär und Mitarbeiter des literarisch dilettierenden Duc
[Herzog] d'Estouteville, mit dem zusammen er eine Teilübertragung von
Gianbattista Marinos Versepos Adone (=Adonis) verfasste.
1749
gründete er eine neue Zeitschrift, die Lettres sur quelques écrits de ce
temps, die jedoch schon im Folgejahr verboten wurde. 1752 reaktivierte er
sie und benannte sie 1754 um in L'Année littéraire. Diese alle 10 Tage
ein Heft publizierende Zeitschrift wurde dann sein Lebenswerk, das er, auch
wirtschaftlich höchst erfolgreich, bis zu seinem Tod führte. Die Tendenz der Année
war wiederum anti-aufklärerisch; ästhetisch war sie den Idealen der Klassik
verpflichtet. Sie wurde in konservativ-katholisch und
royalistisch-absolutistisch denkenden Kreisen geschätzt und viel gelesen und
fungierte als ein zentrales Organ der Gegner die Aufklärung.
Hin
und wieder betätigte sich Fréron auch als Historiker. Er verfasste eine Histoire
de Marie Stuart (zusammen mit dem Abbé de Marsy, 1742) und eine Histoire
de l’empire d’Allemagne (8 Bde., 1771).
Nachdem
er zunächst ein Bewunderer Voltaires gewesen war, machte Fréron sich diesen
schon zur Zeit der Observations mit sachlich-höflichen, aber bissigen
Kritiken zu einem Feind, der ihn später geradezu rachsüchtig verfolgte, ihn 1760/61
mit Schmähgedichten und Pamphleten überzog und ihn sogar, in Gestalt des
widerwärtigen Klatschkolumnisten Frélon, als Nebenfigur in seinem „drame“ L'Écossaise
(=die Schottin, 1760) auftreten ließ. Häufig zitiert findet man auch das folgende
boshafte Epigramm Voltaires:
L'autre jour,
au fond d'un vallon,
Un serpent mordit Jean (sic) Fréron.
Que croyez-vous qu'il arriva?
Ce fut le serpent qui creva.
(Neulich, auf dem Grund eines Tales,
biss eine Schlange J. F. Was meinen Sie, was geschah? Die Schlange war es, die
krepierte.)
Fréron geriet, nach dem weitgehenden
Sieg der Aufklärung, im Fortgang der Geistesgeschichte endgültig auf die
Verliererseite, doch hatte er schon zu seinen Lebzeiten keinen leichten Stand.
Obwohl auch er über einflussreiche Protektoren verfügte, schafften es seine
Gegner, die um die Encyclopédie vereinten „philosophes“, immer wieder
seine Zeitschrift verbieten zu lassen. Zweimal wurde er sogar kurz inhaftiert.
Auch sein plötzlicher Tod wurde möglicherweise durch den Ärger über ein
neuerliches Verbot seiner Zeitschrift bewirkt (die dann aber noch 15 Jahre lang
von seinem Sohn weitergeführt wurde). Heute wird er meistens aus der
Perspektive Voltaires gesehen, d.h. als böswilliger Kritikaster und selten als
der intelligente Kritiker und talentierte Pamphletist, der er war.
Paul-Henri
Thiry d’Holbach (* 8. 12.1723 in Edesheim bei
Landau/Pfalz; † 21.1.1789 in Paris)
D’Holbach
(wie er bei den Historikern schlicht heißt) war einer der Begründer des
philosophischen Materialismus. Sein Buch Le Système de la Nature (1770)
gilt als eines der einflussreichsten Werke der franz. Aufklärung.
Er
wurde geboren als Paul-Heinrich Dietrich, Sohn eines Winzers und Enkel
mütterlicherseits eines Steuereinnehmers. Er kam früh in die Obhut seines
Onkels Franz Adam Holbach, der gegen 1720 durch glückliche Spekulationen an der
Pariser Börse reich geworden war und sich einen franz. Baron-Titel verschafft
hatte, aber in die Pfalz zurückgekehrt war.
Nachdem
1731 sein Hauslehrer, ein franz. Geistlicher, als Jansenist verdächtigt und die
Bibliothek des Onkels beschlagnahmt worden war, zog dieser mit seiner Familie
wieder nach Paris und nahm den 8-jährigen Neffen dorthin mit.
1744-48
studierte er Jura im holländischen Leiden, ging dann nach Paris zurück und
erhielt die Zulassung als Anwalt. Praktizieren tat er aber nie, vielmehr führte
er das Leben eines finanziell unabhängigen Privatgelehrten, wobei er sich vor
allem für Naturwissenschaften interessierte. 1749 heiratete er eine Tochter
seiner Cousine, d.h. der Tochter seines Onkels. Um dieselbe Zeit wurde er von
diesem adoptiert und nannte sich nun Paul Thiry d’Holbach, wobei ‚Thiry’ (als
franz. Entsprechung von ‚Dietrich’) erster Teil seines Nachnamens war.
Als
1753 der Onkel starb, erbte d’Holbach zusammen mit seiner Cousine bzw.
Adoptivschwester dessen Vermögen (was ihm angeblich enorme 60.000 Livres
Jahreseinkünfte bescherte) und übernahm seinen Titel eines Barons.
1754
starb seine Frau und er ging mit einem Freund, dem in Paris lebenden deutschen
Baron Melchior Grimm, auf Reisen, um Abstand zu gewinnen. Danach heiratete er
(mit einem teuren Dispens des Papstes) die ältere Schwester seiner Frau, mit
der er mehrere Kinder bekam.
Um
1750 hatte er begonnen, in Paris einen Salon zu führen, der nach und nach zum
Treffpunkt insbesondere solcher Personen der Pariser Gesellschaft wurde, die
sich der Aufklärung verbunden fühlten. Einer der ersten ständigen Gäste war
Denis Diderot (s.o.), mit dem d’Holbach lebenslang befreundet blieb. Von ihm
ließ er sich 1751 als Mitarbeiter an dem Großlexikon Encyclopédie anwerben
und verfasste in den Folgejahren – stets anonym – an die 400 Artikel in den
Bereichen Geologie, Chemie, Mineralogie, Metallurgie und Medizin.
Daneben
übersetzte er, als einer der raren Franzosen seiner Zeit, die des Deutschen
mächtig waren, naturwissenschaftlich-technische Werke deutscher Autoren ins
Franz..
Um
1765 begann d’Holbach seine Karriere als philosophischer Autor, weiterhin
anonym oder unter Pseudonymen, weshalb seine Autorschaft bei einigen ihm
zugeschriebenen Werken unsicher ist. Er gab zunächst zwei Schriften des 1759
verstorbenen Aufklärungsautors Nicolas Boulanger heraus und publizierte 1766
unter dessen Namen sein erstes eigenes Werk: Le Christianisme dévoilé (=das
enttarnte Christentum). Diesem ließ er 1768 La Contagion sacrée (=die
geheiligte Ansteckung) und La Théologie portative (=Theologie im
Taschenbuchformat) folgen. Hauptthema dieser Schriften ist der Nachweis, dass
Religion, zumal die christliche, den Menschen unglücklich macht, weil sie ihn
entmündigt und zum Obekt gieriger und machthungriger Priester macht, weshalb
man gut tut, sich vom Glauben an einen ohnehin inexistenten Gott zu lösen und
stattdessen seiner Vernunft zu vertrauen und seinem legitimen Wunsch nach
Verwirklichung des eigenen Glücks zu folgen.
Wie
eine Bombe schlug dann 1770 das Buch Le Système de la Nature ein, das
d’Holbach unter dem Namen des 1760 verstorbenen Autors Mirabaud
veröffentlichte. Es wurde sofort verboten, erreichte aber trotzdem zehn
Auflagen in einem Jahr und provozierte zahlreiche Gegenschriften katholischer
wie protestantischer Theologen. Le Système wurde ein Manifest des
Materialismus, d.h. der Überzeugung, dass der Mensch ein Stück bloße Natur und
damit ein rein materielles Wesen sei, dessen körperliche, aber auch geistige
und psychische Regungen quasi mechanische Reaktionen auf äußere Reize und
Gegebenheiten sind. Es war zugleich implizit erneut Religions- und
Kirchenkritik in dem Sinne, dass d’Holbachs Theorien den christlichen
Vorstellungen eines persönlichen Gottes, einer unsterblichen Seele, eines
freien Willens und einer gottgewollten (von der Kirche kontrollierten) Moral
zuwiderliefen.
Noch
erfolgreicher war 1772 eine Kurzfassung des Système, die unter dem Titel
Le Bon sens (=der gesunde Menschenverstand) erschien und vermutlich von
J.-A. Naigeon, dem Sekretär d’Holbachs, redigiert worden war.
Dieser
selbst hatte sich inzwischen moralphilosophischen Überlegungen zugewandt, die
er vor allem in der Schrift Le Système social (1773) formulierte. Ausgehend
von der These, dass der Mensch von Natur aus vor allem nach Verbesserung seiner
Situation und nach Lustgewinn strebt, erklärt d’Holbach diese Eigenschaften,
weil sie keinen Stillstand dulden, zum Motor des Fortschritts. Zugleich
vertraut er jedoch darauf, dass die ichbezogenen Strebungen des Menschen
dadurch gezügelt und kanalisiert werden, dass er zugleich ein tugendhaftes
Wesen ist, das über einen angeborenen Sinn für Gerechtigkeit verfügt und sein
eigenes Glück nicht zuletzt im Glück seiner Mitmenschen findet. Eine ideale
Gesellschaft wäre demnach die, der es gelingt, die Strebungen des Einzelnen
sich entfalten zu lassen, sie aber dank einer entsprechenden Erziehung der ihm
angeborenen Tugend für das Gemeinwohl nutzbar zu machen. Diese Gesellschaft der
Tugendhaften verträgt sich für d’Holbach durchaus mit dem Bestehen
unterschiedlicher Besitzverhältnisse, denn der Besitzende, der in der Regel
auch tugendhaft ist, vergilt seinen Vorteil mit der Übernahme größerer
Verantwortung für das Ganze, wobei der Arme ja die Möglichkeit hat, durch Fleiß
und Arbeit ebenfalls zu Besitz zu gelangen.
Als
1776 der junge Louis XVI auf den Thron kam und sich mit reformwilligen
Ministern umgab, verfasste d’Holbach für ihn die Schrift L’Éthocratie.
Hierin fordert er eine moralische Erziehung aller, Pressefreiheit, Abschaffung
der Adelsprivilegien, Trennung von Kirche und Staat, Reform des Justizwesens,
Gleichberechtigung der Frau, Recht auf Ehescheidung u.ä. und schlägt ein
Programm von konkreten Maßnahmen zur Verwirklichung vor. Bekanntlich siegten
gegen 1780 aber noch einmal die Kräfte der Beharrung und trennte sich der König
von den Reformatoren.
Wie
erwähnt, führte d’Holbach ein offenes Haus, doch scharte er zugleich einen
engeren Kreis um sich, der sich scherzhaft „La Coterie (=Klüngel) d’Holbach“
benannte, nach der böse gemeinten Bezeichnung Rousseaus (s.o.), der zunächst
dazugehört hatte, sich dann aber ausgeschlossen und sogar verfolgt fühlte. Zu
den 15 bis 20 Mitgliedern gehörten vor allem Autoren der Encyclopédie,
die dort ohne Scheu Gedanken diskutieren konnten, die außerhalb des Kreises,
sogar z.B. in d’Holbachs Salon, tabu waren. Auch auswärtige und ausländische
Intellektuelle, die der Aufklärung nahe standen, z.B. David Hume oder Benjamin
Franklin, durften bei Paris-Aufenthalten die „Coterie“ frequentieren.
Beaumarchais (=
Pierre-Augustin Caron, *24.1.1732 Paris; † 18.5.1799 ebd.)
Er ist in die Literaturgeschichte
eingegangen als Schöpfer der wohl bekanntesten franz. Komödienfigur, des
Figaro.
Als Sohn eines Pariser Uhrmachers
lernte er zunächst auch selbst dieses Handwerk und machte mit 20 eine
Erfindung, die den Bau sehr kleiner Uhren erlaubte. Stolz führte er dem horlogier du roi Lepaute die Neuerung
vor und erlebte, wie dieser sie danach als seine eigene propagierte. Er wehrte
sich mit einem fulminanten offenen Brief an die Académie des Sciences, die ihm recht gab, und wurde hierdurch schlagartig so bekannt, dass er Zutritt zum
Hof erhielt.
Hinfort führte er, unter dem Namen
Beaumarchais, ein ungewöhnlich bewegtes Leben als Höfling (er war z. B.
Harfenlehrer der Töchter von Louis XV), als Salon-Animateur, Geschäftsmann,
Richter für Jagddelikte, Diplomat, Häftling, Geheimagent, Vorsitzender des
Verbandes der Theaterautoren, Verleger, Millionär, Politiker, Emigrant und –
mehr nebenher – als Literat.
Virtuos wie niemand vor ihm beherrschte
und manipulierte er die im Entstehen begriffene Öffentlichkeit und ihre
Hauptmedien Druckerpresse und Theater. So machte er z. B. 1773/74 mit
Denkschriften (mémoires) gegen einen angeblich korrupten Pariser hohen Richter
einen privaten Rechtsstreit zum Politikum und kippte ganz nebenbei eine kurz
zuvor durchgeführte Justizreform.
Heute ist Beaumarchais vor allem
bekannt als Autor der Erfolgskomödien La Précaution
inutile, ou Le Barbier de Séville (1775) und vor allem La folle journée, ou le mariage de Figaro (verfasst und mehrfach
überarbeitet 1775-78, uraufgeführt 1784). Le
Mariage de Figaro ist die Geschichte eines jungen Bourgeois, der trotz
aller seiner Intelligenz, Geschicklichkeit und Tüchtigkeit nur mit Mühe und
Glück seinen Herrn, den eher dümmlichen, aber arroganten Grafen Almaviva, davon
abhalten kann, an seiner Verlobten das "jus primae noctis" auszuüben.
Das damals revoluzzerhaft wirkende und von Louis XVI nach einer Lesung spontan
verbotene Stück wurde nach seiner schließlichen Freigabe und Erstaufführung ein
triumphaler Erfolg, nicht zuletzt weil es offenbar die vorrevolutionäre
Bourgeoisie in ihren anti-aristokratischen Ressentiments bestätigte, ohne die
überwiegend relativ liberale Pariser Aristokratie zu verschrecken.
(Eine Langfassung des Artikels schließt
sich im Folgenden an.)
Beaumarchais (=Pierre-Augustin
Caron, *24.1.1732 Paris; †18.5.1799 ebd.)
Beaumarchais, wie er in der Literaturgeschichte
schlicht heißt, ist in sie eingegangen als Verfasser einer der bekanntesten
franz. Komödien, Le
Mariage de Figaro. Er
ist aber auch interessant als Subjekt einer ungewöhnlichen, sehr bewegten
Biografie, die zugleich aufschlussreich ist für die Probleme eines ehrgeizigen
Intellektuellen bürgerlicher Herkunft in der immer noch von Hof und Monarchie
dominierten Gesellschaft des späten Ancien Régime.
Geboren als Sohn eines tüchtigen,
zugleich schöngeistig und musikalisch interessierten Pariser Uhrmachermeisters,
erhielt der junge Caron (ganz wie auch seine fünf älteren Schwestern) eine
passable Bildung, erlernte vor allem jedoch das väterliche Handwerk sowie
nebenher mehrere Musikinstrumente.
Als 20-Jähriger machte er eine
Erfindung, die den Bau sehr kleiner und trotzdem ganggenauer Uhren erlaubte.
Stolz zeigte er dem Hofuhrmacher (horlogier du roi) Lepaute die Neuerung und
erlebte, dass dieser sie anschließend als seine eigene propagierte. Er wehrte
sich mit einem geschickt gemachten und wohlformulierten, 1753 vom Mercure de France abgedruckten offenen
Brief an die Académie des Sciences, die ihm Anfang 1754 Recht gab.
Dank der Affäre (die ein instruktiver
Beleg ist für die sich langsam herausbildende Macht der bürgerlichen
Öffentlichkeit) wurde der junge Uhrmacher so bekannt, dass er zahlreiche neue
Kunden gewann, darunter König Louis XV und dessen einflussreiche Mätresse Mme
de Pompadour, wonach er selbst den Titel Horlogier du roi führen durfte.
Als eine weitere Kundin, und damit nahm
sein Leben einen gänzlich veränderten Lauf, lernte er die 34jährige Frau des
schon ältlichen und kranken Contrôleur de la bouche du Roi kennen, d.h. des für
die Speisen des Königs zuständigen Hofbeamten. Diesem kaufte er, die
Uhrmacherei aufgebend, 1755 sein Amt ab und heiratete nach seinem baldigen Tod
1756 die Witwe, die einen kleinen Landsitz namens Beaumarchet mit in die Ehe
brachte, allerdings schon 1757 einer Infektion erlag.
Als der ansehnliche junge Mann und gute
Unterhalter, der er war, erlangte Monsieur Caron de Beaumarchais, wie er sich
nun nannte, in seinem Amt des Contrôleur die Gunst der vier unverheirateten
Töchter von Louis XV und avancierte zu ihrem Harfenlehrer,
Hauskonzert-Organisator, Gesellschafter und Faktotum. Natürlich wurde er bald
auch vom König sowie von Mme de Pompadour gekannt. Über diese erhielt er
Kontakt zu ihrem Pro-forma-Gatten Lenormant d'Étioles, einem reichen und
geselligen Mann, der ihn in seinen Kreis zog.
Für Lenormants Privattheater verfasste
Beaumarchais in den nächsten Jahren erste Stücke, sog. Paraden (parades),
heitere, gern auch derbe Sketche um das Thema Liebe, insbesondere vor und neben
der Ehe, wobei er die üblichen Gesangseinlagen selbst komponierte.
1760 nahm sein Leben wieder eine neue
Wendung, als es ihm gelang, zunächst die Töchter des Königs und dann diesen
selbst zum Besuch und damit zur offiziellen Anerkennung der Offiziersschule zu
bewegen, die der Bankier und Heereslieferant Pâris-Duverney errichtet und
vorfinanziert hatte (denn Frankreich führte gerade an der Seite Österreichs den
Siebenjährigen Krieg gegen Preußen und England). Beaumarchais wurde von dem
dankbaren Geschäftsmann zum Juniorpartner gemacht und konnte 1761 mit einem
Kredit von ihm den sehr teuren, weil unmittelbar adelnden, aber wenig Arbeit
fordernden Titel eines Secrétaire du roi kaufen.
1762 demonstrierte er seinen neuen
Status, indem er, wiederum mit Hilfe Pâris-Duverneys, das nur Adeligen
zugängliche Amt eines Richters für Jagddelikte in den Wäldern und Feldern rund
um Paris erwarb, ein Amt, das er jahrzehntelang gewissenhaft ausübte. Hiernach
war ein schönes Haus in Paris an der Reihe, in das er zwei seiner Schwestern
aufnahm sowie seinen verwitweten Vater, den er, als nunmehr Adeliger, zur
Aufgabe seines kleinbürgerlichen Handwerks bewegte.
1764-65 weilte Beaumarchais zehn Monate
teils geschäftlich für Pâris-Duverney, teils mit diplomatischen Aufträgen
betraut in Madrid. Hier verkehrte er in besten Kreisen und versuchte nebenher
dem spanischen König eine frankophile Mätresse anzudienen. Auch versuchte er
den Verlobten einer dort lebenden Schwester, einen gewissen Clavijo, zur
Einhaltung seines Eheversprechens zu zwingen (eine undurchsichtige Affäre, die
er 10 Jahre später aber zu einem rührenden Mini-Roman verarbeitete, aus dem
Goethe 1774 sein Stück Clavigo
machte).
Neben seinen Geschäften und Reisen
blieb Beaumarchais stets auch literarisch tätig. Von der heiteren Parade
wechselte er in die ernsthafte, neu von Diderot lancierte Gattung
"Drama" (drame) und verfasste das Stück Eugénie, das Anfang 1767 mit mäßigem Erfolg an der Comédie
Française aufgeführt wurde. 1767 auch betätigte er sich als Theatertheoretiker
im Sinne Diderots, indem er der Druckausgabe von Eugénie einen Essai sur le
genre dramatique sérieux voranstellte.
1768 heiratete er eine reiche junge
Witwe (die aber schon Ende 1770, bald nach der Geburt eines zweiten Kindes,
starb). Anfang 1770 wurde Beaumarchais' nächstes, etwas eilig verfasstes Drama Les deux amis ein kompletter Misserfolg.
Im Sommer 70 nahm sein Leben eine
weitere, diesmal unglückliche Wendung: Sein Seniorpartner und Protektor
Pâris-Duverney starb, ohne ihm eine formell beglaubigte Bestätigung seines mit
15.000 F. eher symbolischen Anteils am Firmenkapital zu hinterlassen.
Beaumarchais musste erleben, wie ein vorhandenes informelles Papier von dem ihn
hassenden Urgroßneffen und Alleinerben Pâris-Duverneys, dem Comte de la Blache,
gerichtlich angefochten wurde. Zwar gewann Beaumarchais 1772 in erster Instanz,
doch verlor er 1773 die Revision vor dem Obersten Gerichtshof (Parlement),
wobei er lernte, dass ein bürgerlicher Emporkömmling, und sei er wohlhabend und
geadelt, dort schlechte Karten hatte gegenüber einem Prozessgegner, der reich
und hochadelig war. Zugleich musste er erfahren, dass er sich in Paris und am
Hof viele Neider und Feinde gemacht hatte, die ihm jetzt zu schaden versuchten.
La Blache hatte übrigens den Zeitpunkt
für die Revision gut gewählt: Beaumarchais saß Anfang 1773 per königlichem
Haftbefehl (lettre de cachet) einige Monate in der Pariser Festung For-l'Évêque,
denn er hatte sich von einem cholerischen hochadeligen Bekannten, dem Duc de
Chaulnes, in eine handgreifliche Auseinandersetzung wegen einer gemeinsamen
Mätresse verwickeln lassen.
Bei einem Freigang, der ihm gewährt
wurde, gelang es ihm zwar, nach Zahlung einer angemessenen Summe (wie damals
üblich), den für seinen Fall zuständigen Richter zu sprechen, einen gewissen
Goëzman, aber nicht auch diesem seine Sicht der Dinge darzulegen. Ein Versuch,
sich durch Geschenke an Goëzmans Gattin eine neue Audienz zu verschaffen,
scheiterte. Nachdem er (Apr. 73) die Revision verloren hatte und durch
Pfändungen sowie die Prozesskosten finanziell ruiniert war, beschuldigte
Beaumarchais Goëzman, dieser habe ihn benachteiligt und ihm überdies nur einen
Teil der Geschenke an die Gattin zurückerstattet. Goëzman verklagte ihn wegen
Bestechungsversuchs und Verleumdung, worauf vor dem Parlement ein nächster
Prozess gegen Beaumarchais begann.
Dieser griff nun zu der Waffe, die ihm
schon einmal den Sieg gebracht hatte: er ging an die Öffentlichkeit, nun in der
Form von Denkschriften (mémoires), wie sie die Anwälte der Epoche für ihre
Mandanten verfassten. Zug um Zug publizierte er von Sept. 73 bis Febr. 74 vier
„mémoires“, in denen er seine Position sowie auch seine Person geschickt zur
Geltung brachte, seine Gegner dagegen ins Unrecht setzte und lächerlich machte.
Die mémoires fanden als Broschüren gedruckt eine enorme Verbreitung, besserten
Beaumarchais' Finanzen auf und gewannen vor allem ganz Paris mitsamt dem Hof
sowie halb Europa, z.B. auch Goethe, für seine Sache. Doch widerstand das
Parlement dem Druck der öffentlichen Meinung, rügte ihn (sowie auch Mme de
Goëzman) und erklärte ihn seiner Ehre verlustig, d.h. praktisch rechtlos (Febr.
74).
Das mit knapper Mehrheit beschlossene
Urteil fiel allerdings auf die Richter zurück: Goëzman war zur Witzfigur
geworden und das ganze Gericht so diskreditiert, dass Louis XV es auflöste und
zugleich die sehr vernünftige Justizreform, die ihm 1771 der Kanzler Maupeou
abgerungen hatte, rückgängig machte, womit der Rebell Beaumarchais ungewollt
zur Schwächung derjenigen Kräfte beitrug, die Frankreich zu reformieren
versuchten.
Als er hiernach ankündigte, er wolle
Revision einlegen, wurde er vom König gebeten, dies vorerst zu lassen und stattdessen
als Geheimagent nach London zu gehen um dort eine Schmähschrift gegen die
königliche Favoritin Mme Du Barry aus dem Verkehr zu ziehen. Beaumarchais
erledigte den Auftrag, fand aber bei seiner Rückkehr den König im Sterben (†
10. Mai) und den jungen Louis XVI, der ihn nicht mochte, wenig geneigt ihn zu
entlohnen.
Gottlob wusste er (oder gab er es nur
vor?) von einer anderen in London drohenden Schrift, die sich indiskret mit den
Ursachen (einer Phimose) und den potenziellen politischen Folgen der Kinderlosigkeit
des neuen Königs beschäftigte. Er ließ sich also wiederum nach England schicken
um mit dem Autor der Schrift zu verhandeln. Der flüchtete angeblich, und zwar
nach Holland und weiter nach Süden, bis ihn Beaumarchais angeblich bei Nürnberg
stellte und ihm mit Gewalt das Manuskript abnahm, das ihm angeblich selber kurz
darauf von Straßenräubern gestohlen wurde. Fest steht, dass Beaumarchais in
Wien auftauchte und bei Kaiserin Maria-Theresia, der Schwiegermutter von König
Louis, vorstellig wurde, dass er vom Kanzler Graf Kaunitz aber für einen
Hochstapler gehalten und festsetzt wurde, bis er auf Intervention des franz.
Botschafters freikam.
Zurück in Paris widmete er sich wieder
der Literatur und überarbeitete eine Komödie, die er schon 1771/72 verfasst und
erfolglos der Comédie Française angeboten hatte: La Précaution inutile ou le Barbier de Séville (=die unnütze
Vorsicht oder der Barbier von Sevilla). Es ist sein erstes Stück, in dem die
Figur des Figaro auftritt als Typ des intelligenten und tüchtigen Machers
kleinbürgerlicher Herkunft, der hier einem weniger intelligenten und tüchtigen
verliebten jungen Adeligen namens Almaviva bei der Übertölpelung eines
ältlichen Rivalen hilft. Die Uraufführung am 23. Febr. 75 war ein Misserfolg,
vermutlich weil Beaumarchais den Text mit Anspielungen auf allerlei Politisches
und Persönliches überfrachtet hatte. Nachdem er sie blitzschnell gestrichen und
das Ganze von fünf auf vier Akte gestrafft hatte, war die nächste Aufführung am
26. 2. ein Triumph. Die Druckfassung kam im Juli heraus samt einem längeren
Vorwort (Lettre modérée sur la chute et
la critique du Barbier de Séville = moderater Brief über den Misserfolg des
B. de S. und die Kritik daran), worin
sich der frisch konsekrierte Komödienautor so selbstbewusst wie witzig über
seine Kritiker mokierte.
Er selber war inzwischen schon wieder
als Agent in London, wo er einem Franzosen, der in den Besitz geheimer
militärischer Planspiele für einen Angriff Frankreichs auf England gelangt war
und sie aufzudecken drohte, diese Papiere abkaufen sollte. Wieder war er
erfolgreich und bekam hiernach von der Regierung einen erheblich größeren
Auftrag: Er sollte, da er sich in London für die Sache der gegen England
revoltierenden Amerikaner interessiert und dem König Ende 1775 schriftlich
darüber berichtet hatte, seine Kontakte nutzen und den Aufständischen heimlich
die Unterstützung Frankreichs anbieten. Dieses nämlich war im Siebenjährigen
Krieg von England gedemütigt worden und hatte ihm Kanada und seine indischen Besitzungen
abtreten müssen.
Anfang 1776 gründete Beaumarchais mit
einem Startkapital der Regierung die pseudospanische Reederei Roderigue
Hortalez & Cie. und versorgte die Aufständischen effizient und vielleicht
kriegsentscheidend mit Waffen und Munition (die die jungen USA allerdings erst
seinen Erben und auch nur teilweise bezahlten). Zum Dank für seine
diplomatischen Verdienste wurde er noch 1776 gerichtlich rehabilitiert.
Im selben Jahr übte Beaumarchais sich
auch wieder als Autor und begann sein bestes und bekanntestes Werk, die Komödie
La folle journée, ou Le mariage de Figaro.
Diese zeigt in einer so bewegten wie witzigen Handlung den turbulenten
Hochzeitstag eines jungen bürgerlichen Schlossverwalters (zu dem der Barbier
Figaro mutiert ist), dem es trotz seiner Intelligenz und Tüchtigkeit nur mit
Mühe und Glück gelingt, seinen nunmehrigen Herrn, den eher dümmlichen, aber
arroganten und letztlich auch mächtigen Aristokraten Almaviva, davon abzuhalten
an seiner Verlobten das jus primae noctis auszuüben.
Beaumarchais selbst wurde allerdings im
selben Jahr 76 Objekt der klug eingefädelten und zielstrebigen Bemühungen einer
jungen Harfenistin, Marie-Thérèse de Willermaulaz, die Anfang 1777 eine Tochter
mit ihm bekam und 1786 schließlich seine dritte Ehefrau wurde.
Da Beaumarchais sich über die Comédie
Française ärgerte, die seinen Barbier de
Séville nach 31 Aufführungen kurzerhand absetzte, als er ein angemessenes
Honorar verlangte, gründete er im Sommer 77 eine "Société des auteurs
dramatiques", deren Vorsitz er übernahm und die das erste Beispiel einer
erfolgreichen Interessenvertretung von Autoren ist.
1778 lud er sich ein neues Projekt auf:
eine Gesamtausgabe der Werke des jüngst (am 30. 5.) verstorbenen Voltaire, mit der
er einer in Russland geplanten Ausgabe zuvorkommen wollte. Er gewann sogar die
finanzielle Unterstützung der Regierung. Da aber die Schriften Voltaires in
Frankreich offiziell verboten waren, installierte Beaumarchais eine Druckerei
jenseits der Grenze in Kehl. Die 70 Bände erschienen in der Tat ab 1783, doch
wurde das Unternehmen finanziell ein Fiasko.
1778 war das Stück um Figaros Hochzeit
fertig. Allerdings wirkten (obwohl die Handlung vorsichtshalber nach Spanien
verlegt war) viele Passagen, und vor allem Figaros langer, Beaumarchais'
eigenen schwierigen Aufstieg andeutender Monolog im letzten Akt, so
revoluzzerhaft, dass Louis XVI sich nach einer Lesung empörte und jegliche
Aufführung verbot. Erst nach vielen Änderungen und jahrelangen Demarchen, bei
denen er von zahlreichen Höflingen sowie der Königin unterstützt wurde,
erreichte Beaumarchais die Freigabe des Stücks.
Gleich die Erstaufführung am 27. 4. 84
war ein triumphaler Erfolg, zumal beim bürgerlichen Publikum. Offensichtlich
bestätigte das Stück die anti-aristokratischen Ressentiments der
vorrevolutionären Bourgeoisie, ohne dabei den Adel übermäßig zu erschrecken.
Der Name des Protagonisten Figaro
ging ins franz. Lexikon ein als (eher spaßhafte) Bezeichnung eines Frisörs;
seine Figur verblieb im kollektiven Gedächtnis der Nation als Prototyp eines an
Macht zwar unterlegenen, aber im Bewusstsein seines Rechtes aufsässigen, dazu
blitzgescheiten und witzigen Menschen. Dass das traditionsreiche Pariser Blatt Le
Figaro heute eher konservativ ist, erscheint somit als Ironie der
Geschichte.
Beaumarchais war nun endgültig berühmt.
Auch war er inzwischen wieder reich, denn 1778 hatte er einen nochmaligen
Prozess gegen La Blache gewonnen. Der Höhepunkt seiner Karriere war jedoch
überschritten. Viele der zahlreichen um und nach 1780 von ihm initiierten
Projekte blieben in den Kinderschuhen stecken. Andere, so 1785 die Gründung
einer Firma zur Wasserversorgung von Paris oder der Versuch, die junge Frau
eines Bankiers namens Kornmann vor dessen Nachstellungen zu schützen, gelangen
zwar, trugen ihm aber Verleumdungskampagnen ein, die eher zu seinen Ungunsten
ausgingen. Denn erstmals fand Beaumarchais ebenbürtige Gegner, u.a. den
späteren Revolutionspolitker und Demagogen Mirabeau sowie einen geschickten
Anwalt namens Bergasse, den er seinerseits mit Broschüren attackierte und
später (ca. 1791) in Gestalt des Intriganten Bergeasse in sein letztes Stück, La Mére coupable (s.u.) aufnahm.
Die von ihm in dieser Zeit verfasste
und von Antonio Salieri vertonte Oper Tarare
wurde 1787 nur ein Achtungserfolg. Ein 1787/88 nahe der Bastille erbautes
prächtiges Haus mit Park brachte ihm lange Zeit mehr Ärger als Freude.
Die Revolution von 1789 begrüßte er
zunächst und versuchte den Gang der Dinge als Deputierter und Stadtverordneter
zu beeinflussen. Auch wurde 1792 ein neues, drittes Stück mit Figaro, L'autre Tartuffe ou la Mère coupable
(das später kaum mehr gespielt werden sollte), immerhin ein halber Erfolg. Im
selben Jahr 92 jedoch fand sich Beaumarchais, wie so viele anfängliche
Sympathisanten der Revolution, auf der Verliererseite. Er hatte im Frühjahr
gehofft, mit dem Konvent ins Geschäft zu kommen und angeboten, für die
Revolutionsarmee Gewehre aus Holland zu importieren. Als er sie nicht
fristgerecht liefern konnte, wurde er als "Feind der Republik"
beschuldigt und im August inhaftiert. Dank des Einsatzes einer ehemaligen
Geliebten, die jetzt mit einem Revolutionsrichter liiert war, kam er zwar bald
frei, wurde aber enteignet. Die 1793 verfasste autobiografische Schrift Les six époques beschreibt die Affäre.
Noch 1792 emigrierte Beaumarchais und
lebte, nach kurzen Stationen in Holland und England, längere Zeit ärmlich in
Hamburg, ohne Kontakt zu Frau und Tochter, die zeitweise ebenfalls inhaftiert
waren.
1796 konnte er heimkehren und wurde von
der neuen Regierung, dem Direktorium (directoire), rehabilitiert und leidlich
entschädigt. 1797 wurde La Mère coupable
wieder aufgenommen und Beaumarchais noch einmal etwas gefeiert. Allerdings war
er nun schwerhörig und gesundheitlich angeschlagen. Immerhin genoss er endlich
sein schönes Haus. Hierin starb er 1799 nach einem guten Abendessen nachts an
Herzversagen.
Sein Barbier de Séville wurde schon 1784 von Giovanni Paisello und dann
nochmals 1816 von Gioacchino Rossini als Oper vertont; Le Mariage de Figaro wurde 1784/85, d.h. praktisch direkt nach der
Pariser Erstaufführung, in Wien von Lorenzo da Ponte zu einem Libretto
verarbeitet und von Mozart vertont.
Eine neuere, gut lesbare und
wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biografie ist: Manfred Flügge, Figaros Schicksal (München 2001)
Pierre-Ambroise François Choderlos de
Laclos (*18.10.1741 Amiens; †5.9.1803 Tarent).
Dieser in den franz.
Literaturgeschichten meist „Laclos“ heißende Autor verdankt seinen Ruhm einem
einzigen Buch, dem 1782 erschienenen Briefroman Les liaisons dangereuses / Gefährliche
Liebschaften).(eigentlich Gefährliche Beziehungen)
Laclos stammte aus einer erst kurz vor
seiner Geburt in den Adelsstand erhobenen Familie, die an ihren bürgerlichen
Namen Choderlos ein adeliges ‚de Laclos’ angefügt hatte. Über seine Kindheit
und Jugend ist so gut wie nichts bekannt. 1759, also mitten im Siebenjährigen
Krieg (1756-63), begann er eine Offiziersausbildung für die Artillerie, wo er
sich als nur Neuadeliger offenbar die besten Karrierechancen versprach. Zum
Fronteinsatz kam er wegen des Kriegsendes nicht mehr, vielmehr begann er in
häufig wechselnden Garnisonen (Toul, Straßburg, Grenoble, Besançon) eine eher
eintönige und schleppend verlaufende Karriere. Immerhin durfte er 1777
federführend in Valence die Artillerieschule einrichten, auf der etwas später
Napoleon Bonaparte ausgebildet wurde.
1779, denn seit 1775 befand sich
Frankreich mit England in einer Art Kaltem Krieg, wurde er auf die
Festungsinsel Aix vor dem Kriegshafen Rochefort abkommandiert, um die
Instandsetzung der maroden Befestigungsanlagen zu leiten. Diesen Posten empfand
er als Sackgasse und fühlte sich einmal mehr benachteiligt durch den
königlichen Erlass von 1774, der die obersten Offiziersränge allen Personen
verschloss, die nicht mindestens in vierter Generation adelig waren.
Nachdem er bis 1779 literarisch nur
dilettiert hatte mit anakreontischen Gelegenheitsgedichten, einigen erotischen
Erzählungen und einem Opernlibretto, verarbeitete er nun auf Aix und während
zweier längerer Paris-Urlaube (1780 und 81) seinen Groll, indem er den
Briefroman Les liaisons dangereuses verfasste.
In diesem eigentlich als Attacke gegen
den Hoch- und Hofadel gedachten Roman treiben zwei als Prototypen der
aristokratischen Libertinage vorgestellte Figuren, nämlich ein altadeliger
Vicomte und eine altadelige Marquise, zwei die Liebe nicht als Spiel, sondern
als Ernst betrachtende neuadelige Frauen getäuscht und enttäuscht in den Tod
bzw. ins Kloster. Da Laclos sich aber unvermerkt auch mit seinen als
hochintelligent und souverän konzipierten Bösewichtern identifiziert und auch
sie als unwillentlich liebend und damit als schließlich selbst getäuscht und
enttäuscht darstellt, geriet sein Roman zu einem Meisterwerk der psychologischen
Analyse, das auch heute noch faszinieren kann.
Zwar formuliert der Autor im Vorwort
die eindeutig moralische Absicht, er wolle seine Leser und vor allem Leserinnen
warnen vor den unkontrollierbaren Folgen der laxen, nur am Lustgewinn
orientierten adeligen Liebes- und Sexualmoral, der Libertinage, und er bestraft
zum Schluss auch pflichtgemäß die beiden Bösen, dennoch wurden die Liaisons bis
weit ins 19. Jh. meist als ein unmoralischer, ja pornographischer Text gelesen
und missverstanden und dementsprechend immer wieder verboten.
Laclos selbst wurde nach dem sehr
erfolgreichen, aber einen Skandal auslösenden Erscheinen des Buches auf einen
erneut wenig attraktiven Posten in La Rochelle versetzt (1783). Hier
schwängerte er 1784 die Tochter eines höheren Beamten und begann einen eher
skeptischen Traktat über die Verbesserungsmöglichkeiten der Frauenerziehung,
den er aber nicht fertigstellte, nachdem er Vater geworden war, danach
geheiratet und sich offenbar zufrieden im Hafen der Ehe eingerichtet hatte.
1786 erregte er einmal mehr Anstoß mit
einem offenen Brief an die Académie Française, in dem er darauf hinwies, dass
die hochgelobten Befestigungsanlagen des großen Festungsbauers Vauban
(1633-1707) in ihrer Konzeption inzwischen überholt waren.
1788 nahm Laclos seinen Abschied als
Offizier und wurde Sekretär von Herzog Louis-Philippe-Joseph d'Orléans,
(„Philippe Egalité“), dem Vater des späteren „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe. In
dessen Diensten bzw. im Zusammenhang mit dessen politischen Ambitionen während
der Revolution verfasste Laclos 1789-91 diverse politische Schriften. 1792
diente er dem Revolutionsregime zunächst als Verbindungsoffizier und wurde dann
zum General befördert. 1793, im Jahr der Schreckensherrschaft, geriet auch er
in Haft und in Köpfungsgefahr. 1794 rettete und befreite ihn der Sturz des
Diktators Robespierre. 1799 schloss Laclos sich dem neuen starken Mann Napoléon
an und wurde erneut General, wobei er 1800 mit der Rheinarmee zum ersten Mal an
Kriegshandlungen teilnahm.
Er starb in Tarent im Hauptquartier der
französischen Süditalienarmee an einer Darminfektion. Sein Grab wurde offenbar
nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft zerstört.
Ein zweiter von ihm projektierter Roman
kam über Pläne und Notizen nicht hinaus. Die Liaisons dagegen gelten zu Recht als einer der besten franz. Romane
überhaupt und wurden auch mehrfach verfilmt.
(Eine Interpretation findet man in
meinem Sammelband Interpretationen,
Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1997.)
Donatien Alphonse François, Marquis de
Sade (*2.6.1740 Paris; †2.12.1814 Charenton/Paris)
Der in vielen Literaturgeschichten
entweder gar nicht oder nur en passant genannte Sade ist vielleicht einer der
meistgelesenen franz. Autoren der Neuzeit. Nach seiner Wiederentdeckung durch
Baudelaire um 1850 haben sich praktisch alle bedeutenden europäischen Literaten
und Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jh. und des frühen 20.
irgendwann, und oft sogar sehr intensiv mit ihm beschäftigt. Vermutlich ist
sein Vorbild nicht unbeteiligt daran, dass auch seriöse franz. Autoren (sowie
manche Autorin) sich nicht für zu schade hielten und halten, nebenher diesen
oder jenen pornografischen Text zu verfassen.
Der Name des „göttlichen Marquis“
(divin marquis), wie ihn seine Adepten gern nennen, ist mit dem Substantiv sadisme und dem Adjektiv sadique ins franz. Lexikon (und nicht
nur in dieses) eingegangen.
Sade stammte aus einem alten, wenn auch
nicht mehr reichen südfranz. Adelsgeschlecht und war über seine Mutter sogar
weitläufig mit den Bourbonen, d.h. der königlichen Familie, verwandt. Er kam
denn auch zur Welt im Pariser Stadtpalast der Condés, einer Seitenlinie des
Königshauses. Hier verbrachte er seine erste Kindheit, danach lebte er teils
bei Verwandten in der Provence, teils wieder in Paris, wo er von 10 bis 14 das
Collège Louis-le-Grand besuchte und dann eine Offiziersschule für junge
Hochadelige durchlief. Mit 15 wurde er Offiziersanwärter, 1757-63 diente er als
junger Offizier im Siebenjährigen Krieg und wurde mehrfach befördert.
Zurück in Paris verliebte er sich in
die jüngere Tochter eines reichen neuadeligen Gerichtspräsidenten, ließ sich
dann aber, um den materiellen Status seiner Familie aufzubessern, mit ihrer
älteren Schwester und deren guter Mitgift verheiraten. 1764 erbte er von seinem
Vater das vor allem einen ehrenhaften Titel bedeutende Amt des königlichen
Generalleutnants der kleinen Provinzen Bresse, Bugey, Valromey und Gex an der
Grenze zur Schweiz.
Hiernach endete allerdings sein bis
dahin eher glatter Lebenslauf. Denn er begann den erheirateten neuen Reichtum
zur Realisierung seiner bemerkenswerten sexuellen Phantasien zu nutzen, die den
Rahmen auch dessen sprengten, was man damals bei adeligen Libertins zu
tolerieren bereit war. Dies führte rasch zu immer neuen und immer schwerer
beizulegenden Problemen mit der Polizei, zu Verurteilungen zu Geld- und kurzen
Haftstrafen, zu Fluchten in die Provinz und ins Ausland, u.a. nach Holland,
sowie 1772 sogar zu einem in Abwesenheit gegen ihn verhängten Todesurteil.
Als er im gleichen Jahr auch noch seine
junge Schwägerin, die inzwischen Stiftsfräulein (chanoinesse) geworden war,
verführte und mit ihr nach Italien durchbrannte, ließ die Familie ihn fallen.
Nach einigen weiteren Skandalen erwirkte seine Schwiegermutter einen königlichen
Haftbefehl (lettre de cachet) gegen ihn. Er wurde entsprechend 1777 bei einer
Rückkehr nach Paris festgenommen und ohne weiteren Prozess (denn der König war
ja Oberster Richter) und für unbestimmte Dauer zunächst in der als Gefängnis
dienenden Festung Vincennes inhaftiert, dann in die Stadtfestung Bastille
verlegt, wobei er als hochstehende Person jedoch keinen größeren materiellen
Entbehrungen ausgesetzt war. Das noch anhängige Todesurteil wurde 1778
kassiert.
Intellektuell waren die Jahre in Vincennes
und in der Bastille durchaus fruchtbar für Sade. Er ließ sich Bücher bringen
und las; und er wurde nun, nachdem er schon 1769 Reiseimpressionen aus Holland,
1775 einen Reisebericht aus Italien und 1776 ein Büchlein über Rom, Florenz und
Neapel veröffentlicht hatte, endgültig zum Autor. Schreiben allerdings tat er
überwiegend heimlich und, um nicht durch hohen Papierverbrauch Verdacht zu
erregen, in winziger Schrift. Grund für die Heimlichkeit waren die teilweise
pornografischen Inhalte seiner Texte (deren Abfassung ihm sicher auch als
Kompensation seines unfreiwilligen Zölibates diente), aber wohl mehr noch die
agressive Kritik an Religion und Moral, mit der er seine sadistischen
Phantasien zu legitimieren versuchte. Seine zentralen Werke aus dieser Zeit
sind Les 120 journées de Sodome/Die 120
Tage von Sodom (verfasst wohl ab 1782), Aline
et Valcour ou Le Roman philosophique (Reiseroman in Briefform, 1786) und Les Infortunes de la vertu/Die unglücklichen
Schicksale der Tugend (philosophische Erzählung, 1787; 1791 zum Roman
ausgeweitet).
Auch
zahlreiche Stücke entstanden in diesen Jahren. Sades Sicht von sich selbst als
eines bedeutenden Dramatikers fand jedoch keine Bestätigung: Nur zwei seiner
Dramen wurdenzu seinen Lebzeiten aufgeführt, blieben aber erfolglos; nur ein
einziges gelangte zum Druck.
Die Franz. Revolution brachte
unverhofft Bewegung in seine Existenz. Einige Tage vor dem 14. Juli 1789 soll
er aus seiner Zelle der vor der Bastille demonstrierenden Menge zugeschrien
haben: „Sie töten die Gefangenen hier drinnen!“ Angeblich habe dies dazu
beigetragen, dass die Pariser Bevölkerung den Sturm auf die Bastille unternahm,
mit dem die heiße Phase der Revolution begann.
Sade selbst wurde allerdings sofort
nach dem Vorfall verlegt in die Irrenanstalt von Charenton (heute ein Stadtteil
von Paris). Hierbei ging ihm das in einem Versteck befindliche Manuskript der 120 jours verloren. Es wurde erst 1904
wiederentdeckt und 1909 gedruckt.
Dank seiner Einweisung in die
Irrenanstalt konnte seine Ehefrau sich von ihm scheiden lassen.
1790 wurde Sade dank rechtlicher
Veränderungen, die die Revolution bewirkt hatte, entlassen. Hiernach verfasste
er, neben kleineren philophischen Schriften, sein letztes Stück, Oxtiern ou les effets du libertinage/O. oder
die Auswirkungen der Sittenlosigkeit, dessen Protagonist, ein skrupelloser
hochadeliger Lüstling, am Ende, ganz untypisch für Sade, seine Strafe findet.
Das „drame“ wurde 1791 dreimal aufgeführt und wenig später, kaum beachtet, als
einziges seiner Stücke gedruckt. Ebenfalls 1791 entwickelte er aus der o.g.
Justine-Erzählung den Roman Justine ou
les Malheurs de la vertu/J. oder die unglücklichen Folgen der Tugend (gedruckt
erst 1797).
Wie nicht wenige liberale franz.
Adelige hatte auch Sade zunächst mit der Revolution sympathisiert. Er schloss
sich sogar den radikalen Jakobinern an und bekleidete zeitweilig höhere Posten,
was es ihm z.B. ermöglichte, seine Schwiegereltern aus einer gefährlichen Lage
zu retten. Während des Terrorregimes 1793 wurde er jedoch als zu gemäßigt
verdächtigt, inhaftiert und 1794 sogar noch zum Tode verurteilt. Ihn rettete
der Sturz des Diktators Robespierre (28. Juli). Das neue Regime des Directoire
ließ ihn drei Monate später frei.
Sade musste nun die Reste seines durch
die Revolution dezimierten Besitzes verkaufen und lebte schlecht und recht von
Gelegenheitsarbeiten, denn die diversen Werke, die er jetzt publizierte,
brachten kaum etwas ein. Es waren dies, neben dem schon älteren Roman Aline et Valcour (1793-95), insbes. das
schwer klassifizierbare Buch Les
instituteurs immoraux, ou La Philosophie dans le boudoir/Die unmoralischen
Lehrmeister oder Philosophie im Boudoir (1795) und die Romane Justine und La Nouvelle Justine [...] suivie de l'histoire de Juliette sa sœur, ou
Les prospérités du vice/Die neue J. [...] gefolgt von der Geschichte ihrer
Schwester J., oder Der Erfolg des Lasters (1797) sowie Les crimes de l'amour/Die Verbrechen der Liebe (1800).
Auch
seine Stücke blieben weiterhin unaufgeführt, nachdem 1792 sein zweites zur
Aufführung gelangtes, Le Suborneur/Der Verführer, ebenfalls keinen
Erfolg gehabt hatte.
Einige Zeit nach der Machtergreifung
von Napoléon Bonaparte (1801) wurde Sade wieder inhaftiert, dieses Mal als
Autor moralisch anstößiger Bücher. 1803 landete er erneut in Charenton, das er
nicht mehr verließ.
Hier
wurde er zunächst relativ zivil behandelt und konnte sich schreibend betätigen.
So verfasste er die biografischen Romane La Marquise de Gange (1813
gedruckt) sowie Adélaïde de Brunswick, princesse de Saxe und Histoire
secrète d'Isabelle de Bavière (1812 und 1813, beide erst postum
publiziert). Zudem durfte er mit Anstaltsinsassen als Schauspielern mehrere
Theaterstücke aufführen, worunter allerdings keine eigenen waren. Gegen Ende
seines Lebens erhielt er auf Anordnung des Innenministers Einzelhaft mit
Isolation und dazu Schreibverbot.
Das wohl am weitesten verbreitete der
Werke Sades ist Les instituteurs immoraux
ou La Philosophie dans le boudoir (1878 auch als erster Sade-Text ins Dt.
übersetzt). Es schildert die etwa einen Nachmittag und Abend füllende sexuelle
und intellektuelle Initiation eines adeligen jungen Mädchens durch eine adelige
Frau und zwei adelige Männer plus einem gut bestückten Bauernburschen. Hierbei
führen die vier Hauptfiguren in den nötigen Erholungspausen philosophische
Gespräche, in denen sich als „unmoralischer Schulmeister“ (und weitgehend als
Sprachrohr des Autors) der homosexuelle Hedonist und Atheist Dolmacen
hervortut. Leitmotiv seiner Philosophie ist die wohl von d'Holbach übernommene
Vorstellung vom Recht des Individuums, seinen Wünschen nachzustreben, was Sade
interpretiert als Recht einer sozialen und geistigen Elite – letztlich der
Hocharistokratie, der er sich zugehörig fühlt – ungehemmt ihren Wünschen nach
Lustgewinn zu folgen.
Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (*19.1.1737 Le
Havre; †21.1.1814 Éragny-sur-Oise)
Dieser heute fast vergessene Autor war
vom späten 18. bis zum frühen 20. Jh. jedem gebildeteren Franzosen von Kindheit
an ein Begriff dank seinem als Kinderbuch verbreiteten Roman Paul et
Virginie.
Bernardin (sein eigentlicher Name ist
ein bürgerliches Saint-Pierre) wuchs auf in bescheidenen Verhältnissen in Le
Havre, erhielt eine passable Schulbildung und studierte Straßen- und Brückenbau
an der neugegründeten École des Ponts et Chaussées. Anschließend trat er als
Ingenieur in die französische Armee ein, die gerade an der Seite Österreichs
den Siebenjährigen Krieg (1756-63) gegen Preußen und England führte. Er musste
jedoch 1762, als schwierige Person verschrien, seinen Abschied nehmen. Hiernach
führt er eine unstete, von nebulösen Projekten und deren Scheitern bestimmte
Existenz mit Reisen und längeren Aufenthalten in Russland und Deutschland. 1768
reiste er mit einem Auftrag als Planungsingenieur auf die damals französische Insel
Mauritius (Île de France) im Indischen Ozean, fand aber kein rechtes
Betätigungsfeld vor und beschäftigte sich statt dessen mit der Fauna und Flora
der tropischen Insel, deren exotische Schönheit ihn faszinierte.
1771 kehrte er zurück, ließ sich mittellos
in Paris nieder und begann zu schriftstellern. Als er nicht den erhofften
Kontakt zu den Encyclopédisten fand, befreundete er sich mit dem zurückgezogen
am Stadtrand lebenden Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und wurde dessen
Jünger. Sein erstes Werk: Voyage à l'Isle
de France (=Reise zur Île de F., 1773), hatte keinen Erfolg. Beachtlich
dagegen war der der 1784 veröffentlichten dreibändigen Études de la nature (=Naturstudien, 1784), deren schwärmerische
Bewunderung und häufig äußerst spekulative Erklärung der „Natur“ offenbar den
Zeitgeist traf.
Der dritten Neuausgabe der Études (1788) hängte Bernardin zaghaft
als vierten Band den kleinen Roman Paul
et Virginie an, der überraschend gut einschlug und ab 1789, in der Regel
separat gedruckt, eine Neuauflage nach der anderen erlebte (viele davon
illustriert), übersetzt, dramatisiert und vertont wurde und als Vorlage für
unendlich viele Gemälde und Stiche diente. In meist gekürzten und „gereinigten“
Ausgaben etablierte es sich rasch als klassisches Kinderbuch (das z.B. Flaubert
um 1850 wie selbstverständlich als romaneske Lektüre Emma Bovarys anführt).
Der Roman thematisiert die
Schwierigkeiten, die ein ständische Gesellschaft Liebesehen in den Weg zu legen
pflegt, und erzählt die Geschichte zweier Halbwaisen, die zusammen mit ihren
Müttern in der Naturidylle der Insel Mauritius unbeschwert von
Klassengegensätzen miteinander aufwachsen, bis eine adelige Großtante Virginies
diese nach Frankreich holt und so die sich inzwischen liebenden jungen Leute
trennt – für immer; denn Virginie, die sich nicht standesgemäß verheiraten
lassen, sondern Paul treu bleiben will, wird, von der erbosten Tante
zurückgeschickt, auf der Rückreise Opfer eines Schiffbruchs, und Paul wird
durch die desillusionierenden Vorträge, die ihm ein befreundeter alter Mann
über die starre Klassengesellschaft im Frankreich des Ancien Régime hält, so
frustriert, dass er nach Virginies Tod den Lebensmut verliert und stirbt.
Dank des Erfolgs der Études und vor allem von Paul et Virginie, erreichte Bernardin
endlich auch gesellschaftliche Anerkennung. So war er 1789 als Hauslehrer des
Dauphins im Gespräch. 1792 heiratete er die Tochter seines Verlegers. 1794
wurde er als Professor für Moral an die neugegründete Pariser
Lehrerbildungsstätte (die spätere École Normale Supérieure) berufen. 1795 wurde
er Mitglied des soeben durch Zusammenlegung mehrerer Akademien geschaffenen
Institut de France. 1797 wurde er zum Direktor des botanischen Gartens ernannt.
Naturgemäß verfasste er auch in den 25
Jahren nach Paul et Virginie noch
etliche kürzere und längere Werke, darunter die Erzählungen La chaumière indienne (=die
Indianerhütte) und Le café de Surate (beide
1790) oder die dreibändigen Harmonies de
la nature (postum 1815), doch blieben sie weitgehend unbeachtet.
(Eine Interpretation des Romans findet
man in meinem Sammelband Interpretationen,
Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1997.)
Antoine de Rivarol (*20.6.1753
Bagnols; †13.4.1801 Berlin)
Dieser einst europaweit bekannte
Literat kam aus einer italienischstämmigen südfranzösischen eher
kleinbürgerlichen Familie, erhielt aber eine passable Schulbildung und ging
1777 mit 24 nach Paris, wo er sich als Chevalier de Parcieux ausgab.
Er erwies sich rasch als talentierter Satiriker,
dem sich einige Zeitschriften öffneten, z.B. der Mercure de France. Vor allem aber zeigte er sich als begnadeter
Salon-Animateur, dem sich kaum eine Tür in der Hauptstadt verschloss. Hatte er
anfangs Schwierigkeiten wegen seines falschen Chevalier-Titels bekommen, den er
sogar aufgeben musste, regte sich wenige Jahre später kaum Protest, als er sich
selbstbewusst sogar als Comte (Graf) betitelte.
In ganz Europa berühmt wurde Rivarol
1784, gerade 30jährig, als er den Preis der Berliner Akademie errang mit seinem
Discours sur l'universalité de la langue
française, worin er mit diesen oder jenen rationalen, vor allem aber vielen
pseudorationalen Argumenten den damals in Europa allgemein akzeptierten Vorrang
des Französischen als Literatur-, Wissenschafts-, Hof- und Diplomatensprache zu
erklären und zu legitimieren versuchte.
Während der Revolution betätigte er
sich – wie so viele Literaten – als Journalist, und zwar als Monarchist und
Verteidiger der Verhältnisse des Ancien
Régime. 1792 wich er dem Druck der revolutionären Kräfte und floh, zuerst
ins noch österreichische Brüssel, dann 1794 weiter nach London und 1795 nach
Hamburg, einer Hochburg der franz. Emigration.
1800 besuchte er Berlin und ließ sich
dort noch einmal feiern. Er starb kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach
Frankreich, wo inzwischen Napoleon an die Macht gekommen war und, weil er
Offiziere und Verwaltungsbeamte für die von franz. Truppen okkupierten Gebiete
brauchte, den Emigranten goldene Brücken baute.
André (de) Chénier (*29.10.1762 in Galata bei Konstantinopel; †24.7.1794
Paris)
Hierzulande kaum bekannt, gilt er
vielen Franzosen als der beste franz. Lyriker seines Jh. In seiner kurzen
Schaffenszeit versuchte er sich jedoch auch als Epiker und war in den
Revolutionsjahren vor allem als politischer Publizist tätig. Einen Teil seines
späten Nachruhms verdankt er sicher dem tragischen Umstand, dass er in die
Todesmaschinerie des Terrorregimes um Robespierre geriet und, eben 31jährig,
auf der Guillotine endete.
Er war anderhalb Jahre älterer Bruder von Marie-Joseph
Chénier (1764-1811, s.u.), der in den 1790er Jahren als Autor, insbes.
Dramatiker, sehr erfolgreich war, heute aber fast vergessen ist.
André Chénier wurde geboren als vorletztes von fünf Kindern
eines jung nach Konstantinopel (=Istanbul) ausgewanderten Tuchhändlers aus
einer südfranz. Kaufmannsfamilie mit adeligen Wurzeln, der dort zu Wohlstand
gelangt war, eine Frau griechischer Herkunft geheiratet hatte und zuletzt
nebenberuflich als franz. Konsul amtierte.
1765 (im Siebenjährigen Krieg) ging der Vater wegen
schlechter Geschäfte mit Frau und Kindern zurück nach Frankreich, und zwar
zunächst nach Paris, wo die Familie sich kurz danach vorübergehend auflöste.
Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in der Hauptstadt blieb,
entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo
er den nunmehr hauptberuflichen Posten des französischen Konsuls erhalten
hatte. André und Bruder Marie-Joseph wurden zu einem Onkel in Carcassonne,
einem Tuchhändler, in Pflege gegeben.
1773 kamen beide wieder nach Paris, wo sie am Collège de
Navarre eine solide humanistische Bildung erhielten. Daneben begegneten sie in
dem als „griechisch“ firmierenden Salon ihrer gesellschaftlich aktiven Mutter
Literaten, Künstlern, Gelehrten, Naturforschern und — denn die antike griechische Kunst
wurde gerade wiederentdeckt — Archäologen. Hier auch las Chénier ab ca. 1778 seine ersten
Gedichte vor, die in der klassizistischen, an griechischen und lateinischen
Vorbildern geschulten „anakreontischen“ Manier der Zeit gehalten waren.
Nach einem enttäuschenden Versuch als adeliger
Offiziersanwärter (cadet gentilhomme) in Straßburg 1782/83, machte er mit einem
befreundeten Brüderpaar Bildungsreisen durch die Schweiz (1784) und Italien (1785).
Danach wohnte er wieder als intellektuell vielseitig interessierter junger
Lebemann bei seiner Familie in Paris und schriftstellerte, wobei er, wie schon
zuvor, ermutigt wurde von Gästen seiner Mutter, z.B. dem seinerzeit bekannten
anakreontischen Lyriker Lebrun, genannt Lebrun-Pindare (=Pindar). Vor allem
verfasste Chénier in diesen Jahren Lyrik: bucoliques
(Hirtengedichte), élégies, épigrammes, odes, hymnes und poèmes. Ein Teil dieser Gedichte,
insbes. der Elegien, ist inspiriert von seiner schwärmerischen Liebe zu
„Camille“, hinter der sich die verheiratete Michelle de
Bonneuil verbirgt.
Neben Lyrik im engeren Sinne schrieb er einige Langgedichte
im Stil der Epoche, u.a. das poetologische Überlegungen anstellende Fragment L’Invention
(1787). Weiterhin begann er zwei groß angelegte wissenschaftlich intendierte
Lehrgedichte (Hermès und L'Amérique), die im Sinne der Aufklärung
das naturkundliche bzw. das geografische Wissen der Zeit in Epenform darstellen
sollten, aber unvollendet blieben.
Ende 1787 nahm Chénier, um etwas hinzuzuverdienen und sich
vielleicht eine Karriere zu eröffnen, einen Posten als Sekretär des mit der
Familie befreundeten neuernannten franz. Botschafters in London an. Da er
jedoch, wie viele Franzosen der Zeit, England und die Engländer nicht mochte,
fühlte er sich dort unwohl und fuhr häufig zu Besuchen nach Hause. Zu einem
nennenswerten Einfluss englischer Literatur oder Philosophie auf sein Denken
und Schaffen kam es nicht.
Im April 1790 ließ er sich wieder in Paris nieder, wo die politischen
Ereignisse sich überschlugen und wo sein Bruder sich soeben einen Namen als
politischer Dramatiker gemacht hatte. Er schloss er sich den gemäßigten
Revolutionären an und betätigte sich als Versammlungsredner und Publizist für
die Sache einer konstitutionellen Monarchie und meritokratischen
Gesellschaftsverfassung.
Da er die Revolution mit der im Sept. 90 verabschiedeten
Verfassung als erfolgreich beendet betrachtete, attackierte er ab 1791, meist
im königstreuen Journal de Paris, mit agressiven Versen und Pamphleten
die radikalen Revolutionäre, die Jakobiner, denen sich auch sein Bruder
Marie-Joseph angeschlossen hatte. Als diese im August 1792 die Macht eroberten,
sah sich Chénier immer mehr zu einer Existenz im Untergrund verurteilt. Seine
Versuche, sich aktiv an der Rettung des Königs zu beteiligen, der im September
abgesetzt und im Dezember angeklagt worden war, blieben erfolglos. Nach der
Köpfung des Königs im Januar 93 flüchtete Chénier aus Paris und lebte versteckt
bei Freunden in Versailles. Aus dieser Zeit datiert z.B. die zum politischen
Mord aufrufende Ode à Marie-Anne Charlotte Corday, worin er die
Attentäterin verherrlicht, die am 13.7.93 den radikalen Politiker Jean-Paul
Marat erdolcht hatte. In Versailles auch entstanden die Oden an „Fanny“, die
inspiriert sind von der Verliebtheit in seine Gastgeberin, der (wiederum
verheirateten) Françoise Le Coulteux.
Anfang 1794 wurde er während eines Besuchs bei Freunden in
Passy nahe Paris als unbekannter Verdächtiger verhaftet und nach seiner Identifizierung
eingekerkert und zum Tode verurteilt. Die Anklage stützte sich auf die
zutreffende Annahme, er sei an einer Aktion beteiligt gewesen, mit der während
des Prozesses gegen den König Abgeordnete des Nationalkonvents dafür gewonnen
oder auch dazu bestochen werden sollten, gegen das Todesurteil zu stimmen.
Auf seine Hinrichtung wartend schrieb Chénier Lyrik, die er
mit seiner schmutzigen Wäsche aus dem Gefängnis schmuggeln und seinem Vater
zukommen lassen konnte. Es waren überwiegend scharfe polit-satirische Gedichte
(iambes) aber auch die berühmte Ode à une jeune captive, worin der Autor
in der Rolle einer jungen Frau spricht, die sich gegen ihren bevorstehenden Tod
auf dem Schafott innerlich aufbäumt.
Am 25. Juli wurde Chénier
guillotiniert, zwei Tage vor dem Sturz des Diktators Robespierre und dem Ende
der „Terreur“. Sein Leichnam landete vermutlich in einem Massengrab auf dem
Cimetière Picpus. Die Demarchen verschiedener Leute, ihn zu retten, waren
umsonst geblieben und auch sein Bruder Marie-Joseph (der als Abgeordneter des
Nationalkonvents für die Köpfung des Königs gestimmt hatte) konnte, da er bei
Robespierre in Ungnade gefallen war, nichts für ihn tun.
Zu seinen Lebzeiten war Chénier nur
kurze Zeit als Publizist und Pamphletist bekannt, sein im engeren Sinne
literarisches Schaffen blieb so gut wie ungedruckt und vieles war bei seinem
frühen Tod noch Fragment. Obwohl er im 18. Jh. lebte und schrieb, ist er
insofern zu einem Autor des 19. geworden, als seine Lyrik erst 1819 mit dem
Erscheinen einer Sammelausgabe einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde und
dann die junge Dichterschule der Romantiker sowie nach 1850 die der Parnassiens
stark beeinflusste. Für beide Dichterschulen war Chénier vorbildhaft dank der
Schönheit seiner Sprache, der spielerischen Leichtigkeit seiner Alexandriner,
der Ausdruckskraft seiner Bilder, der Authentizität der dargestellten Gefühle
und vielleicht auch dank der nostalgischen Grundstimmung, die seine Verse
prägt.
Die tragische Figur Chéniers hat naturgemäß viele Autoren
und Künstler bewegt. Sie steht im Mittelpunkt der Oper Andrea Chenier
von Umberto Giordano (1896).
Marie-Joseph Chénier
(*11.2.1764 in Konstaninopel; †10.1.1811 in Paris)
In Deutschland praktisch unbekannt und
auch in Frankreich heute nur noch ein Name im Schatten seines anderthalb Jahre
älteren Bruders André (s.o.), galt Chénier um 1795 als bedeutendster Dramatiker
seiner Generation und auch mit seiner Lyrik als wichtiger Autor. Seine durchweg
politisch motivierte und intendierte literarische Produktion spiegelt über mehr
als 20 Jahre hinweg sehr direkt die Geschichte der Revolutionszeit.
Chénier wurde geboren im heutigen
Istanbul als Sohn eines dort zum Geschäftsmann gewordenen französischen
Adeligen und einer Angehörigen der damals noch starken griechischen Minderheit
der Stadt. 1765 ging die Familie wegen schlechter Geschäfte des Vaters nach
Frankreich, zunächst nach Paris, wo sie sich kurz danach vorübergehend
auflöste. Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in Paris blieb,
entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo
er den Posten des französischen Konsuls erhalten hatte. Marie-Joseph und André
wurden zu einem Onkel in Carcassonne in Pflege gegeben. 1773 kamen beide wieder
nach Paris, wo sie am Collège de Navarre eine solide humanistische Bildung
erhielten und im Salon ihrer geistig interessierten Mutter Literaten, Künstler
und Gelehrte kennen lernten.
1781, also eben fünfzehnjährig, begann
Chénier eine militärische Karriere als Kadett in einem Dragoner-Regiment in
Niort. Zwei Jahre später entschloss er sich um, ging wieder nach Paris zu
seiner Familie und folgte seinen literarischen Neigungen, ganz wie sein Bruder
André, der im selben Jahr einen noch kürzeren Versuch bei einem Regiment in
Straßburg abgebrochen hatte.
Schon 1785 bekam Chénier, dank der
Vermittlung des mit der Familie befreundeten Dramatikers Palissot, sein erstes
Stück aufgeführt, die „heroische Komödie“ Edgar, roi d'Angleterre, ou Le
Page supposé. Es fiel aber durch, ebenso 1787 sein zweites Stück, die
Voltaire imitierende Tragödie Azémire.
1788 stellte Chénier sein nächstes
Stück fertig: die in der berüchtigten Bartholomäusnacht 1572 spielende
historische Tragödie Charles IX ou La Saint-Barthélemy (1790 gedruckt
und 1797 umgearbeitet zu Charles IX ou L'École des rois). Es wurde zwar
von der Comédie Française angenommen, jedoch von der Zensur nicht freigegeben.
Denn die Figuren (ein wankelmütiger König, eine ihn manipulierende Königin, ein
machtgieriger hochadeliger Höfling, ein skrupellos die Interessen der Kirche
verfolgender Kardinal, ein rechtschaffener, aber machtloser Kanzler
bürgerlicher Herkunft und ein am Ende ermordeter Philosoph und Reformer)
verkörperten gar zu offenkundig politische Akteure im Frankreich der Zeit, wo
mit der Einberufung der Generalstände im August 88 die Revolution eingesetzt
hatte. Erst Ende 89, nach langen in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen
über die Freiheit des Theaters, in die Chénier selbst mit zwei Streitschriften
eingriff, und in einer politischen Situation, die, nach dem Zusammentreten der
Generalstände, dem Auszug des Dritten Standes im Juni, der Etablierung der
Assemblée nationale und dem Sturm auf die Bastille im Juli, stark verändert
war, konnte das Stück aufgeführt werden. Es erlebte nun, auch an
Provinztheatern, einen triumphalen Erfolg und wurde zum meistgespielten,
naturgemäß auch heftig angefeindeten französischen Drama der frühen 1790er
Jahre. In der Titelrolle begründete der Schauspieler François Talma seinen
Ruhm.
Ähnlich wie dem Charles IX
erging es Anfang 1789 einem weiteren Stück Chéniers, Henri VIII ou La
Tyrannie, das ebenfalls von der Comédie Française angenommen wurde, aber
von der noch intakten Zensur nicht freigegeben wurde wegen der Darstellung
eines (wenn auch englischen) Königs als autokratischer „Tyrann“.
1790 verfasste Chénier die ebenfalls
politisch motivierte Tragödie Brutus et Cassius ou les derniers Romains,
eine Bearbeitung von Shakespeares Julius Caesar. Das Stück um die
Ermordung des angehenden Monarchen durch überzeugte Republikaner blieb jedoch
unaufgeführt. Literarhistorisch ist es interessant als einer der vielen
Versuche, Shakespeare nach den Regeln der klassischen französischen Tragödie zu
glätten und so den Franzosen akzeptabel zu machen.
Im April 1791 wurde endlich der Henri
VIII aufgeführt, allerdings im Théâtre de la République, das kurz zuvor von
Talma und radikal-revolutionären Kollegen aus der Comédie Française
ausgegründet worden war.
Hier kam zwischen 1791 und 94, teils
mehr, teils weniger erfolgreich, eine ganze Serie historischer Tragödien
Chéniers zur Aufführung, die sämtlich politisch motiviert waren und sich kaum
verschlüsselt auf jeweils aktuelle Ereignisse und Entwicklungen der bewegten
Zeit bezogen: Es waren 1792 das die Willkürjustiz des Ancien Régime
anprangernde Jean Calas ou L’École des juges und das den
tragischen römischen Volkstribun verherrlichende Caius Gracchus, 1793
das die Auflösung der Klöster rechtfertigende Fénelon ou Les Religieuses de
Cambrai und 1794 Timoléon.
Politisch intendiert wie seine Stücke
war auch der größte Teil der umfangreichen Gelegenheits- bzw. Gebrauchslyrik,
die Chénier Anfang der 1790er Jahre zu vielerlei Anlässen verfasste, insbes.
für die öffentlichen Feiern und Feste, an deren Organisation er mitwirkte. Hierzu gehören z.B. eine Ode sur la mort de Mirabeau (1791),
die Strophes qui seront chantées au Champ de la Fédération le 14 juillet
1792, eine Hymne sur la translation du corps de Voltaire, eine Hymne
à l'Être suprême (1793), ein Chant des Sections de Paris (1793),
eine Hymne à la liberté, pour l'inauguration de son temple dans la commune
de Paris (1793), die Hymne du 10 août (1794), usw.
Der bekannteste dieser Texte, die von
verschiedene Komponisten vertont wurden, wurde der Chant du départ, den
Chénier im Kriegsjahr 1793 anlässlich des Ausrückens von Revolutionsarmeen
verfasste.
Spätestens 1791 wurde Chénier auch
direkt politisch aktiv. Im Gegensatz zu Bruder André, der die Revolution mit
der Etablierung der konstitutionellen Monarchie als erfolgreich beendet
betrachtete, wurde er Mitglied im radikalrepublikanischen „Club“ (einer Art
Partei) der Jakobiner. 1792 wurde er als Abgeordneter in die Convention
nationale gewählt (Nationalkonvent), wo er dem Ausschuss für Volksbildung
angehörte. Auf seinen Antrag wurde die Einrichtung von Primarschulen
beschlossen; 1793 war er maßgeblich beteiligt an der Auflösung der königlichen
Akademien (u.a. der Académie Française). Naturgemäß gehörte er Ende 1792 auch
zur Mehrheit der Abgeordneten, die das Todesurteil für König Louis XVI
befürworteten.
Während der anschließenden
Radikalisierung der Revolution im diktatorischen Terrorregime Robespierres
(1793/94) geriet Chénier ins politische Abseits. Sein Stück Timoléon
wurde vom Diktator als gegen ihn gerichtet erachtet und verboten. Auch hatte er
nicht mehr den nötigen Einfluss, um für seinen im März 1794 inhaftierten Bruder
André eintreten und dessen Köpfung (25. Juli) verhindern zu können.
Als nach dem Sturz Robespierres Ende
Juli 94 sich das Regime des Directoire (1795) etablierte, wurde Chénier zum
Mitglied des Conseil des cinq cents ernannt, einer der beiden Kammern des
neugeschaffenen Parlaments. Eine bedeutendere politische Karriere blieb ihm
allerdings versagt, weil er die restaurativen Tendenzen zu bekämpfen versuchte,
die unter dem Directoire einsetzten und in den Folgejahren an Kraft gewannen.
Bei der Gründung der
Nachfolgeorganisation für die aufgelösten ehemaligen Akademien, des Institut de
France (1795) gelang es ihm, einen Platz in dessen dritter „Klasse“ (Literatur
und schöne Künste) zu erhalten.
Als 1795 der Timoléon wieder
aufgenommen wurde, sahen Gegner Chéniers darin das verschlüsselte Eingeständnis
einer Schuld am Tod seines Bruders André. Chénier wehrte sich mit den
leidenschaftlichen Versen der Épître sur la calomnie (1796), die vielen
als sein Meisterwerk gilt.
Unter dem Regime des Consulat, das 1799
auf das Directoire folgte, wurde er zum Mitglied des Tribunats berufen, einer
der beiden Kammern des nächsten neuen Parlaments.
1801 machte er Front gegen das
Wiedererstarken des Katholizismus unter dem neuen starken Mann Napoléon
Bonaparte, der den Ausgleich mit der Kirche suchte. Er attackierte die
Galionsfiguren dieser Entwicklung, insbes. Chateaubriand (s.u.), mit den
satirischen Schriften Le docteur Pancrace und Les nouveaux saints.
1802 griff er mit der Petite épître à Jacques Delille den damals sehr
bekannten Lyriker an, der vom Revolutionär zum Konservativen mutiert war und
sich in den Augen Chéniers dem neuen Herrn opportunistisch andiente.
Trotz seiner wachsenden inneren Distanz
zu Napoleon wurde Chénier 1803 zum Generalinspekteur der „Université“ ernannt,
d.h. des unter diesem Namen neu geschaffenen Gesamtsystems des französischen
Bildungswesens.
Sein Drama Cyrus, das 1804 von
Napoleon zu dessen Kaiserkrönung bestellt und in diesem Rahmen aufgeführt
wurde, kam weder beim weder beim Publikum an, noch gefiel es dem neuen Kaiser
selbst, der Chéniers verdecktes Plädoyer für eine republikanische Staatsform
wenig goutierte. Es wurde nur einmal aufgeführt.
Nachdem Chénier sich 1805 in seiner
Elegie La Promenade erneut als Republikaner geoutet und 1806 in einer Épître
à Voltaire Napoleon indirekt vorgeworfen hatte, die Ideale der Revolution
zu verraten, wurde er seines Amtes als Inspekteur enthoben. Immerhin wurde ihm
eine auskömmliche Pension gewährt.
In den Folgejahren schrieb er weitere
Stücke, die aber weder aufgeführt noch gedruckt wurden: die Tragödien Philippe
II, Œdipe roi und Œdipe à Colone (nach Sophokles), das Drama Nathan
le Sage (nach Lessing) und die Komödie Ninon.
Daneben hielt er (1806/07) am Pariser
Athéneé eine Vorlesungsreihe über die Literatur seiner Zeit, das Tableau
historique de l'état et du progrès de la littérature française depuis 1789
jusqu'à 1808, in dem er die Ideale der Aufklärung verfocht und die
beginnende Romantik kritisierte.
1811 wurde das historische Stück Tibère,
wo er, in der Figur des römischen Kaisers Tiberius, Napoleon kritisiert, sein
letztes Werk.
Sein freigewordener Sessel im Institut
de France fiel an Chateaubriand, der ihn als Vergeltung für die Attacken von
einst in seiner Laudatio praktisch unerwähnt ließ.
Da fast alle Texte Chéniers in einem
bestimmten weltanschaulichen Sinne zweckbestimmt waren, d.h. die
zeitgenössischen Zuschauer/Hörer/Leser gegen die Monarchie und für die Republik
einzunehmen versuchten, wurden sie noch zu Lebzeiten des Autors durch den Gang
der politischen Entwicklung obsolet. Auch die spätere
Literaturgeschichtsschreibung, die eher am Idealbild einer zweckfreien,
apolitischen Literatur orientiert war und ist, hat Chénier trotz dieses oder
jenen Versuchs einer Ehrenrettung nicht den Platz in der Literaturgeschichte
gewährt, den er aufgrund seiner großen Bedeutung zu einem gewissen Zeitpunkt
verdient.
19. Jahrhundert
(mit den sich zeitlich überlappenden
Strömungen Klassizismus, Romantik, Realismus, Naturalismus, Symbolismus)
Germaine de Staël ([sta:l] ; Anne Louise Germaine
de Staël-Holstein, *22.4.1766 Paris; †14.7.1817 ebd.)
Mme de Staël (wie sie in der Literaturgeschichte heißt) war eine wichtige Vermittlerin deutscher Literatur und
Philosophie in Frankreich und wurde damit eine Wegbereiterin der franz.
Romantik. Ihr
Buch De l’Allemagne/Über Deutschland (1810) hat mehr als 50 Jahre lang
das Bild der Franzosen von Deutschland geprägt.
Sie wuchs auf in Paris als einziges Kind
von Jacques Necker, einem aus Genf zugewanderten Bankier, Unternehmer und
Diplomaten mit deutschen Wurzeln, der zeitweilig eine bedeutende Rolle in der
franz. Politik spielte als ein Reformen versuchender Finanzminister (1777-81)
bzw. Regierungschef (1788-90).
Im
Salon ihrer schöngeistig interessierten Mutter, die ebenfalls aus der Schweiz
stammte, lernte Mme de
Staël viele Autoren der Spätaufklärung kennen
und entwickelte sie ihre vielfältigen Talente. Schon als Jugendliche machte sie
Schreibversuche, mit 12 z.B. verfasste sie eine Komödie. Über ihren Vater, der
spätestens ab 1768 auf der Pariser politischen Bühne aktiv war, kam sie früh in
Kontakt mit der Politik. Als Zehnjährige war sie erstmals länger in England.
1786,
mit knapp 20, ehelichte sie den 17 Jahre älteren schwedischen Botschafter Baron
Stael von Holstein, der schon Jahre vorher, noch als Botschaftsattaché, um ihre
Hand angehalten hatte. Nach ihrer Heirat wurde sie von ihm am Königshof
eingeführt und profitierte auch anderweitig von ihrem
Status als Botschaftergattin. Im Verlauf der
14jährigen Ehe mit Stael (man trennte sich offiziell 1800, kurze Zeit vor
seinem Tod 1802) bekam sie vier Kinder, deren erstes, Gustavine (geb. 1787),
zweijährig starb und deren letztes, Albertine (geb. 1797), außerehelich gezeugt
war. Denn eine treue Gattin war sie nicht: Schon ab 1788 hatte sie einen ersten
längerzeitigen Geliebten, den Comte de Narbonne. Darüberhinaus lebte sie oft
fern von ihrem Mann auf längeren Reisen oder in der Verbannung.
1788
ließ sie ein erstes, kürzeres, Werk drucken: die 1786 begonnenen, teils
apologetisch-bewundernden, teils kritischen Lettres sur le caractère et les
écrits de Jean-Jacques Rousseau (=Briefe über den Charakter und die Schriften
von J.-J. R.). Zwei 1786 und 87 entstandene Dramen, Sophie, ou les sentiments secrets (=S. oder die geheimen Gefühle) und Jane
Gray, publizierte sie erst
1790, die 1786 verfasste Novelle Zulma
sogar erst 1794.
1789
sympathisierte Mme de Staël, wie so viele liberale Adelige und Großbürger,
zunächst mit der Revolution. Ihr Salon war ein Treffpunkt der gemäßigten
Revolutionäre, und große Teile der ersten Verfassung von 1790 entstanden unter
ihren Augen. Auch in der Folgezeit versuchte sie den Gang der Politik
mitzubestimmen, und zwar direkt über eine gelegentliche publizistische
Tätigkeit und indirekt über die Einflussnahme auf einflussreiche Männer, z.B.
Narbonne, der 1790/91 Kriegsminister war.
1790
brachte sie ihr zweites Kind zur Welt, den Sohn Auguste.
Als
die Revolution sich 1792 zunehmend radikalisierte und die Gemäßigten ins
politische Abseits, wenn nicht in Köpfungsgefahr gerieten, versuchte Mme de
Staël im Juli, die königliche Familie zur Flucht aus Paris zu bewegen, was die
Königin jedoch ablehnte. Sie selbst floh im September auf das Schlösschen
Coppet bei Genf, wo sie wenig später ihr drittes Kind, Albert, bekam.
Coppet,
das ihr Vater 1784 gekauft hatte, diente ihr von nun an immer wieder als Zufluchtsort
für kürzere oder längere Aufenthalte. Hier beherbergte sie häufig auch andere
Flüchtlinge und empfing Besuche von bedeutenden Zeitgenossen, z.B.
Chateaubriand (s.u.) oder Lord Byron.
Anfang
1793 (d.h. kurz nach Alberts Geburt) ging sie für mehrere Monate nach England.
Dort traf sie sich mit franz. Emigranten, u.a. Narbonne, und begann eine
größere philosophisch-politologische Schrift: De l’influence des passions
sur le bonheur des individus et des nations (=Über den Einfluss der
Leidenschaften auf das Glück der Individuen und der Nationen, gedruckt
1796). Im Sept. setzte sie sich mit der Broschüre Réflexions sur le procès de la Reine (=Überlegungen zum Prozess gegen
die Königin) vergeblich für
Marie-Antoinette ein.
1794
lernte sie in der Schweiz den etwas jüngeren Publizisten und Literaten Benjamin
Constant kennen (s.u.). Mit ihm, der zwar verheiratet war, aber von seiner Frau
getrennt lebte, unterhielt sie anschließend eine langjährige, sehr wechselhafte
und aufreibende Beziehung, die bei ihm geprägt war von der Faszination durch
ihre Genialität und Vitalität, aber zugleich von ständigen Versuchen sich aus
ihrem Bann zu lösen.
Im Frühjahr 95 brachte Mme de Staël
ihre erste Buchpublikation heraus: einen Sammelband mit vermischten Schriften,
darunter einem Essai sur les fictions (=Essay über die fiktionale Literatur)
und zwei Novellen. Noch im selben
Jahr erschien ihre
Broschüre Réflexions sur la paix, adressées à M. Pitt et aux Français (=Gedanken
über den Frieden an die Adresse M. Pitts [des englischen Regierungschefs] und
der Franzosen, Genf 1795).
Nach
dem Sturz Robespierres (1794) und dem Ende der Schreckensherrschaft kehrte sie
im Mai 95 zusammen mit Constant zurück nach Paris. Während er eine Karriere als
vielbeachteter politischer Redner und Publizist begann und 1799 kurzzeitig auch
in der hohen Politik mitmischte, wurde sie schon im Oktober von den Machthabern
des neuen Direktoriums verdächtigt, zu den Drahtziehern eines Aufstandes
königstreuer Kräfte zu gehören. Sie wurde aus Paris verbannt und durfte erst
Ende 96 zurück.
Im
Juni 1797 brachte sie in Paris ihr viertes Kind zur Welt, Albertine, deren
Vater vermutlich Constant war. Ende des Jahres lernte sie Napoléon Bonaparte
kennen, der nach seinem siegreichen Italienfeldzug in die Politik eingestiegen
war, und den sie, zusammen mit Constant, zunächst bewunderte und unterstützte.
Ihm dagegen war sie von Anbeginn unsympathisch, und als sie ihn 1798 vergeblich
von einer Eroberung der Schweiz abzuhalten versuchte, wurde sie ihm endgültig
lästig. Nach seinem Staatsstreich 1799 ging sie denn auch ihrerseits in
Opposition zu ihm und wurde bald zu einem der Eckpfeiler des Widerstandes gegen
sein zunehmend diktatorisches Regime.
Nach zwei unstet in Paris, Coppet und auf Reisen verbrachten
Jahren publizierte sie im April 1800 die bedeutende Abhandlung De la littérature considérée dans ses
rapports avec les institutions sociales (=Über die Literatur und ihr Verhältnis
zu den gesellschaftlichen Institutionen). Hierin formuliert sie als eine
der Ersten die Theorie, dass literarische Werke geprägt sind durch die
konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sie entstehen, wobei
sie im Sinne Montesquieus (s.o., Teil 1 meiner Namen, Titel und Daten)
annimmt, dass diese Verhältnisse nicht nur durch die historisch gewachsenen
Institutionen einer Gesellschaft bestimmt werden, sondern auch durch die
Mentaltät der Menschen, die ihrerseits von äußeren Faktoren, z.B. Klima und
Geographie, beeinflusst ist. In der zweiten Auflage von 1802 änderte sie
entsprechend den Schlussteil des ursprünglichen Titels in avec l'état moral et politique des nations (=zum
moralischen und politischen Zustand der Nationen). Im Sinne ihrer Theorie rief sie die quasi zwischen Nord und
Süd platzierten franz. Literaten auf, sich nicht mehr nur an der heidnischen
mediterranen Kultur der Antike zu inspirieren, sondern auch an der
christlich-germanisch geprägten Kultur des mittelalterlichen Mittel- und
Nordeuropas, womit sie der beginnenden Romantik den Weg wies. Sie selbst
begann, in Konsequenz ihrer Einsichten, Deutsch zu lernen und sich mit der
deutschen Kultur zu befassen.
1802
erschien ihr erstes längeres erzählendes Werk: der teils in Coppet, teils in
Paris entstandene Briefroman Delphine.
Im Mittelpunkt steht die Figur einer für die damalige Zeit relativ
emanzipierten Frau, die ihr Glück mit dem Mann, den sie liebt und der sie
ebenfalls liebt, nicht findet, weil er sich in einer Krisensituation von ihr
abwendet, eine Andere heiratet und danach nicht die Kraft aufbringt, sich aus
dieser Ehe wieder zu lösen. Der
Roman spiegelt sichtlich die Enttäuschung Mme de Staëls durch Constant, der,
nachdem sie verwitwet und frei geworden war, sich nicht zwischen ihr und einer
Geliebten zu entscheiden vermochte.
Da
Mme de Staël sich 1802 an Umtrieben gegen Napoleon beteiligt hatte, wurde ihr
im Dez. der Aufenthalt in Paris untersagt. Als das Verbot im Okt. 1803 auf das
Pariser Umland ausgedehnt wurde, unternahm sie, zeitweise von Constant begleitet,
eine halbjährige Reise durch Deutschland. Erste Station war im Winter Weimar,
wo sie u.a. Wieland, Schiller und Goethe traf. Im Frühjahr war sie längere Zeit
in Berlin, wo sie neben vielen anderen Intellektuellen den Literaturkritiker
und –historiker August Wilhelm Schlegel kennenlernte, den sie als Mentor für
sich selbst sowie als Hauslehrer für ihre Kinder gewann.
Ende
1804 trat sie zusammen mit Schlegel eine mehrmonatige Italienreise an, die sie
zu ihrem zweiten Roman inspirierte, Corinne
ou L'Italie [=C. oder Italien], der 1805/06 entstand und 1807 erfolgreich
herauskam. Er zeigt eine vitale, literatur- und kunstbegeisterte Frau, deren
Liebe zu einem zunächst zwar gutwilligen und scheinbar seelenverwandten Mann
scheitert, weil dieser ihre Emanzipiertheit letztlich nicht verkraftet und es
vorzieht, eine weniger anspruchsvolle Person zu ehelichen. Auch Corinne ist sicher noch ein Reflex der
Enttäuschungen, die Mme de Staël durch den wankelmütigen Constant erlitten
hatte, von dem sie sich 1805, nach einem plötzlichen Heiratsantrag seinerseits,
endgültig getrennt hatte.
1807
begann sie ihr meistgelesenes und langfristig wirksamstes Buch, De l'Allemagne, für das sie im Winter
1807/08 in Wien weitere Informationen und Anregungen sammelte. Es wurde 1810
fertiggestellt, aber sofort nach seinem Druck von der napoleonischen Zensur
verboten, samt Manuskript konfisziert und eingestampft. Denn es zeigte den
Franzosen ein stark idealisiertes Deutschland als positiven Kontrast zu ihrem
eigenen Land jener Jahre, das nach fast 20 Jahren Revolution und Krieg in
Zentralismus und Militarismus erstarrt war und von Napoleon diktatorisch
regiert und mundtot gemacht wurde. Das Bild eines regionalistisch-vielfältigen,
musik, philosophie- und literaturbegeisterten, gefühls- und phantasiebetonten,
mittelalterlich-pittoresken (allerdings auch etwas rückständigen und harmlosen)
Deutschlands, das Mme de Staël so entwarf, bestimmte nach 1815 jahrzehntelang
die Sicht der franz. Eliten und trug dazu bei, dass sie nicht bemerkten, wie ihr
Nachbarland sie demographisch, wirtschaftlich und militärisch überholte.
Die
Jahre 1810-12 verbrachte Mme de Staël überwiegend in Coppet, wo sie praktisch
unter Hausarrest gestellt worden war. Bei einem Besuch im nahen Genf verliebte
sich ein jüngerer, kriegsversehrter Offizier in sie, John Rocca, mit dem sie
1812 ein fünftes Kind, Louis Alphonse, bekam und den sie 1816 heimlich
heiratete. In Coppet auch begann sie 1811 Memoiren zu schreiben (gedruckt
postum als Dix années d'exil/Zehn Jahre
Exil) und arbeitete daneben an anderen Schriften.
Im
Mai 1812, kurz nach der letzten Entbindung, brach sie heimlich zu einer langen
Reise auf, die sie offenbar als Propaganda-Mission gegen Napoleon verstand, der
gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt war. Über Österreich, das 1809
widerwillig napoleonischer Satellitenstaat geworden war, reiste sie nach
Russland, das ebenfalls widerwillig Frieden geschlossen hatte, aber, während
sie dort war, von Napoleons Truppen überfallen wurde. Als Mitteleuropa sich
daraufhin in einen Kriegsschauplatz verwandelte, ging sie ins neutrale
Schweden, in dessen Armee ihr Sohn Albert Offizier geworden war. Hier
verbrachte sie den Winter und versuchte dabei, gegen Napoleon Stimmung zu
machen. Aus Schweden reiste sie im Mai 1813 nach London, wo sie bald nach ihrer
Ankunft die Nachricht erhielt, dass Albert in einem Duell ums Leben gekommen
war.
In
London blieb sie kriegsbedingt fast ein Jahr. Sie ließ hier De l’Allemagne drucken, von dem Schlegel
einen Satz Korrekturfahnen gerettet hatte, und begann ihre Schrift Considérations sur les principaux événements
de la Révolution française (=Betrachtungen über die hauptsächlichen Ereignisse
der franz. Revolution, gedruckt postum 1818). Zugleich war sie Mittelpunkt
eines regen gesellschaftlichen Lebens.
Dasselbe
wurde sie in Paris, als sie im Mai 1814, nach der Niederlage und Abdankung
Napoleons, dorthin zurückkehrte und wie eine Fürstin Hof hielt.
Die
„hundert Tage“ Napoleons (März bis Juni 1815) verbrachte sie in Coppet. Im
September ging sie nach Paris zurück und stellte sich demonstrativ hinter den
neuen König Louis XVIII. Zum Dank erhielt sie von ihm die 2 Millionen
Francs erstattet, die sein älterer
Bruder Louis XVI während der Revolutionszeit von ihrem Vater als Kredit
bekommen hatte.
1816
verheiratete sie in Pisa ihre (und Constants) Tochter Albertine mit dem duc
Victor de Broglie [gesprochen brœ:j] und wurde damit zur Stamm-Mutter einer
ganzen Reihe bedeutender franz. Persönlichkeiten dieses Namens bzw. aus dieser
Familie.
Im Februar
1817 erlitt sie, knapp 51jährig, in Paris einen Schlaganfall, der sie
halbseitig lähmte und im Juli ihr Ende bewirkte.
Benjamin Constant (=Henri Benjamin Constant de Rebecque,
*25.10.1767 Lausanne; †8.12.1830 Paris)
Der
wie so viele frankophone Literaten zwischen Schriftstellerei und Politik
pendelnde Constant (wie er in der franz. Geschichtsschreibung heißt) ist heute
praktisch nur noch als Autor des Romans Adolphe (1816) bekannt, eines
frühen Meisterwerks und Vorbilds der im 19. Jh. florierenden Gattung
psychologischer Roman.
Er
war Abkömmling einer im 16. Jh. in die Schweiz emigrierten Familie
adeliger franz. Hugenotten. Seine
Mutter starb bald nach seiner Geburt und er verlebte (was sicher stark zu
seiner offenkundigen späteren Bindungsunfähigkeit beitrug) eine unstete
Kindheit und Jugend, zunächst als Ziehsohn bei den Großeltern in der Schweiz
und später als Anhängsel seines Vaters, eines offenbar sehr mobilen
Berufsoffiziers, in Holland, der Schweiz, dem damals noch österreichischen
Brüssel und in England, wobei er mal bessere, mal schlechtere Hauslehrer hatte.
Mit
15 begann er im protestantischen und von eingewanderten Hugenotten geprägten
Erlangen ein Jurastudium, das er drei Semester später in Edinburgh fortsetzte.
Zugleich las er viel und begann zu schreiben, verfiel allerdings auch der
Spielsucht und machte Schulden. Darüberhinaus reiste er oft und hatte früh
Liebesaffären. 1786 lernte er bei einem Parisaufenthalt die Romanautorin Mme de
Charrière (1740–1805) kennen, eine in der Schweiz verheiratete und Französisch
schreibende gebürtige Holländerin. Sie wurde ihm zu einer (anfangs wohl nicht
nur platonischen) mütterlichen Freundin, und ihr Landsitz bei Neuchâtel war in
den nächsten Jahren ein Fixpunkt für ihn, wo er sich häufig kürzer oder länger
aufhielt.
Mit
21 (1788) wurde er Kammerherr des Herzogs von Braunschweig und heiratete ein
Jahr später die Hofdame Wilhelmine von Cramm. Er hielt es aber nicht lange mit
ihr aus, ging oft auf Reisen und reichte schließlich die Scheidung ein, um sich
mit einer anderen, ebenfalls noch verheirateten, aber scheidungswilligen
Hofdame zu liieren, Charlotte von Hardenberg (die er jedoch erst 1808, nach
mehreren zwischendurch absolvierten Verhältnissen mit anderen Frauen und einer
zweiten Ehe ihrerseits heiratete, ohne dass die beiden hiernach glücklich
wurden).
1794
begegnete er in der Schweiz der anderthalb Jahre älteren Mme de Staël (s.o.):
es war der Beginn einer langen, wechselvollen und für beide Seiten aufreibenden
Beziehung (aus der 1797 auch eine Tochter hervorging).
1795,
nach dem Ende der Schreckensherrschaft in Frankreich und der Etablierung des
gemäßigten Regimes des Directoire, begleitete Constant Mme de Staël nach Paris
und begann sich dort als vielbeachteter politischer Publizist und Redner zu betätigen.
Nach dem Staatsstreich Napoleons von 1799 spielte er kurz auch eine aktive
Rolle in der hohen Politik, bis er 1802 kaltgestellt wurde.
Anschließend
war er wieder viel unterwegs, u.a. mit Mme de Staël, die er auf Teilen ihrer
Deutschlandreise 1803/04 begleitete und von der er, nachdem sie 1802 verwitwet
war, zur Eheschließung gedrängt wurde, wogegen er sie zwischendurch immer
wieder zugunsten neuer und alter Geliebter verließ und sich 1808 sogar, wie
erwähnt, ohne ihr Wissen verheiratete.
1806/07
verfasste er, etwa zur selben Zeit, zu der Mme de Staël an Corinne ou l'Italie schrieb, einen Roman, Adolphe, mit dessen unentschlossen schwankenden Ich-Erzähler er
sich sichtlich stark identifiziert und dessen Handlung offenbar seine
Schwierigkeiten spiegelt, sich von Mme de Staël zu lösen. Wohl 1811 begann er
den ebenfalls autobiografischen Roman Cécile,
der jedoch Fragment blieb und erst 1951 wiederentdeckt wurde. Das Theater
reizte ihn weniger; immerhin verfasste er 1807/08 auch ein Drama: Wallstein (gedruckt 1808). 1811 begann
er eine Autobiografie mit dem Titel Ma
Vie (=mein Leben), die aber nur bis zum Ende seiner Jugendzeit gelangte und
erst 1907 aus dem Nachlass als Le Cahier
rouge (=das rote Heft) gedruckt wurde. Daneben führte er, wie immer, ausführlich
Tagebuch, das aber offensichtlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war
(postum publiziert als Journal intime)
und eine ebenso umfangreiche Korrespondenz mit vielerlei Briefpartnern.
1814,
nachdem Napoleon unterlegen war und die alte Königsfamilie der Bourbonen mit
Louis XVIII wieder den Thron bestiegen hatte, publizierte Constant ein Plädoyer
für eine konstitutionelle Monarchie. Als im März 1815 Napoleon unerwartet an
die Macht zurückkehrte, schloss er sich ihm an und entwarf in seinem Auftrag eine
Verfassung für Frankreich. Nach der baldigen endgültigen Niederlage Napoleons
(18. Juni) in der Schlacht von Waterloo nahe Brüssel zog Constant es vor,
Frankreich zu verlassen.
1817
kehrte er zurück nach Paris und in die Politik. Er wurde immer wieder als
Abgeordneter in die neue Chambre des Députés gewählt und betätigte sich als
gefürchteter Parlamentsredner und Pamphletist. Zugleich verfasste er bedeutende
politologische und staatstheoretische Schriften. Mit ihnen wurde er zum
Mitbegründer des Liberalismus, d.h. der Doktrin, dass der Staat sich möglichst
wenig in die persönlichen und zumal die wirtschaftlichen Belange seiner Bürger
einzumischen habe und möglichst viel Initiative und Verantwortung ihnen selbst
überlassen müsse. Eine vierbändige religionswissenschaftliche Abhandlung, die
er schon als junger Mann begonnen hatte und die 1824–31 erschien, geriet
dagegen bald in Vergessenheit (De la
religion considérée dans sa source, ses formes et ses développements =
Betrachtungen über die Quelle, die Formen und die Entwicklungen der Religion ).
Seinen
Platz in der Literaturgeschichte verdankt Constant vor allem dem relativ
kurzen, aber erfolgreichen Adolphe (1806/07,
gedruckt erst 1816). Der immer noch gut lesbare Roman spiegelt sichtlich seine
eigene fast pathologische Zerrissenheit zwischen Bindungswünschen und
Bindungsangst und ist inspiriert von seiner Situation zwischen Charlotte von
Hardenberg und Mme de Staël, der er sich noch verpflichtet fühlte. Er erzählt
in der Ich-Form die Geschichte eines jungen Mannes, der eine etwas ältere Frau
verführt, sich, als er merkt, dass sie ihn liebt, von ihr zu lösen versucht,
dies jedoch aufgrund der vielen Opfer, die sie ihm bringt, nicht kann, dann
aber doch wieder möchte und am Ende auch tut, wobei er sie durch das unentschlossene
Hin und Her und seine schließliche Abwendung in Krankheit und Tod treibt.
Claude-Henri de
Rouvroy, comte de Saint-Simon (*17.10.1760 Paris; †19.5.1825 ebd.)
Der
in der Regel schlicht unter „Saint-Simon“ figurierende Autor war zwar kein
belletristischer Literat, ist aber durch seinen starken Einfluss auf viele
Schriftsteller, insbes. die Generation der Romantiker, ein wichtiger Name in
der franz. Literaturgeschichte. Er gilt heute zugleich als Mitbegründer der
wissenschaftlichen Soziologie und des politischen Sozialismus.
Aus
hochadeliger Familie stammend, trat Saint-Simon (ein entfernter Verwandter des
gleichnamigen Memoirenautors) zunächst eine Offizierskarriere an. Nach 1776 war
er im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Mitglied der franz. Freischaren unter
General Lafayette und kämpfte auf Seiten der Aufständischen, die auch materiell
heimlich von Frankreich in ihrem Kampf gegen England unterstützt wurden.
1789
sympathisierte er, wie so viele liberale Adelige, zunächst mit der Revolution.
1794 aber entkam er nur knapp der Guillotine. Durch die Enteignung seiner Güter
während des Terrorregimes verarmt, schaffte er es nach der Machtergreifung des
gemäßigten Directoire (1795), durch geschäftliche Aktivitäten wieder wohlhabend
zu werden.
1801
heiratete er eine Adelige, Alexandrine de Champgrand, von der er sich erhoffte,
sie werde einen gesellschaftlich und geistig maßgeblichen Pariser Salon für ihn
führen.
Die
Ehe scheiterte jedoch rasch, und auch sein Wohlstand schwand, da er sich ganz
auf eine Existenz als freischwebender Intellektueller zurückzog. Von den Resten
seines Vermögens lebend sowie von den Zuwendungen eines reich gewordenen
ehemaligen Dieners, bewegte er sich im Umkreis der Denkschule der sog.
Ideologen um A. Destutt de Tracy, trieb naturwissenschaftliche und
philosophische Studien und begann, gesellschafts- und staatstheoretische
Schriften zu verfassen, die zunächst meist ungedruckt blieben. Hierzu zählen,
z.B. die Lettres d'un habitant de Genève à ses contemporains = Briefe
eines Einwohners von Genf an seine Zeitgenossen (1803,), worin die moderne
Wissenschaft zu einer Art Religion stilisiert wird; der Essai sur
l'organisation sociale = Essay über die Organisation der Gesellschaft
(1804), die Introduction aux travaux scientifiques du XIXe siècle = Einführung in die wissenschaftlichen
Arbeiten des 19. Jh. (1807), die Histoire de l'homme = Die Geschichte des Menschen (1810) oder
das Mémoire sur la science de l'homme = Denkschrift über die Wissenschaft
vom Menschen (1814).
Zur
Zeit der Restauration nach Napoleons Ende 1815 wurde Saint-Simon allmählich
bekannt, und zwar zunächst als Publizist mit kurzlebigen, aber einflussreichen
Zeitschriften, z.B. L'Industrie = Gewerbe
und Handel (1816-18). Zum Quasi-Propheten
wurde er schließlich durch die Bücher Du
système industriel (1820-22), Catéchisme
des industriels (1823/24) und De
l'organisation sociale (1824), mit denen er die in den 1830er und 40er
Jahren sehr bedeutsame wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Schule der
„Saint-Simoniens“ begründete.
In
diesen Büchern vertrat er die damals ganz revolutionäre Ansicht, dass nur die
„industriels“, d.h. die mit ihrer Arbeitskraft Güter und Dienstleistungen
produzierenden Individuen, nützliche Mitglieder der Gesellschaft seien und dass
der dem Einzelnen zustehende Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand
nach seiner eingebrachten Leistung zu bemessen sei, womit parasitäre Klassen
wie der Adel oder die Rentiers leer ausgehen würden, während z.B. sowohl die
Unternehmer als auch die Arbeiter jeweils ihre angemessene Entlohnung
erhielten.
In
seinem postum gedruckten Buch Le Nouveau
Christianisme = das neue Christentum (1825) erklärte er die Fürsorge für
die Ärmeren und eine gerechte Berücksichtigung der unteren
Bevölkerungsschichten zur Aufgabe des Christen und wurde damit einer der Väter
der um und nach 1900 florierenden katholischen Soziallehre, die sich als
christliche Alternative zum atheistischen Sozialismus à la Marx verstand.
François René de
Chateaubriand (*4.9.1768 Saint-Malo; †4.7.1848 Paris)
Er
gilt als einer der ganz Großen der franz. Literatur und insbesondere als einer
der Väter der europäischen Romantik.
Er
wuchs auf in Saint-Malo und Schloss Combourg/Bretagne als jüngstes von 10
Kindern einer provinzadeligen Familie und schwankte zunächst zwischen einer
Laufbahn als Marineoffizier (Wunsch des Vaters) oder Priester (Wunsch der
Mutter). 1786 wurde er schließlich Leutnant in einem Regiment unweit Paris und
ließ sich (worauf seine Familie traditionell ein Anrecht hatte) von einem
älteren Verwandten dem König vorstellen. Zugleich fand er Zutritt zu Salons in
Paris, wo er sich ab 1787 häufig aufhielt und erste literarische Versuche
unternahm.
Die
Anfänge der Revolution von 1789 verfolgte er, wie so viele liberale und
aufgeklärte Adelige, mit Sympathie. Zunehmend unzufrieden jedoch mit der
Radikalisierung der politischen Entwicklung, begab er sich 1791 auf eine
neunmonatige Reise nach und durch Amerika. Hier erkundete er vor allem die
damals franz. Gebiete am Mississipi, deren Weite und noch fast unberührte
Schönheit ihn beeindruckten, deren indianische Ureinwohner ihn dagegen
deprimierten, weil sie durch ihre Kontakte mit Europäern sich selber entfremdet
und keine „guten Wilden“ (wie man sie sich vorstellte) mehr waren.
Nach
seiner Rückkehr Anfang 1792 heiratete Chateaubriand standesgemäß eine junge
Adelige. Er verließ sie aber sofort und schloss sich der Armée des émigrés an,
einer überwiegend aus geflüchteten franz. Adeligen bestehenden Truppe, die an der
Seite Österreichs und Preußens gegen das revolutionäre Frankreich kämpfte, um
König Louis XVI und die Monarchie wieder in ihre absoluten Rechte einzusetzen.
1793
(Louis XVI war inzwischen abgesetzt und guillotiniert, doch der Krieg ging
weiter) wurde Chateaubriand verwundet und ließ sich nach seiner Genesung in
London nieder. Hier lebte er armselig als Übersetzer und Französischlehrer,
wurde aber zum Schriftsteller. Denn er verarbeitete die umfangreichen Notizen
seiner Amerikareise zu zwei literarischen Texten, Les Natchez und Voyage en
Amérique (die er beide erst viel später, 1826 und 27, publizierte) und
verfasste den Essai historique, politique
et moral sur les révolutions anciennes et modernes (= ein historischer,
politischer und moralischer Essay über die Revolutionen in älterer und neuerer
Zeit, gedruckt 1797), eine Schrift, worin er politische und persönliche
Reflexionen verbindet und seine Traumatisierung durch den Verlust der Heimat,
seiner gesellschaftlichen Position und vor allem zahlreicher hingerichteter
oder umgekommener Verwandter und Freunde verarbeitet.
1798
wurde er fromm und begann das anti-aufklärerische Buch Le Génie [Geist] du Christianisme, in dem er vor allem die ethischen,
ästhetischen und emotionalen Aspekte der katholischen Religion hervorhebt und
verklärt. Publizieren konnte er es 1802 in Paris. Denn 1800 war er, dem Aufruf
Napoleons an die emigrierten Adeligen folgend, nach Frankreich zurückgekehrt
und dort höherer Beamter geworden. Le
Génie war überraschend erfolgreich, trug zur Rehabilitierung des
christlichen Glaubens bei und beförderte sicher auch Chateaubriands Karriere in
einem Augenblick, wo Napoleon die Retablierung der Kirche und ein Zweckbündnis
mit ihr anstrebte. Es wurde vor allem einer der Auslöser der geistigen und
literarischen Bewegung der Romantik.
In
das Werk eingefügt waren zwei längere Erzählungen, Atala (erstmals separat schon 1801 gedruckt) und René, die zu Kultbüchern einer ganzen
Generation wurden. Atala, die
tragische Geschichte einer jungen Halbindianerin, die den Konflikt zwischen
ihrer Liebe und der Keuschheit, die sie ihrer frommen französischen Mutter
gelobt hat, durch den Freitod löst, wurde vor allem durch die eingestreuten
stimmungsvollen Naturschilderungen vorbildhaft. René kreierte in der
Figur des Titelhelden den Typ des vom „mal du siècle“, dem „Weltschmerz“,
zerrissenen romantischen Künstlers und Intellektuellen – ein Typ, der dann
jahrzehntelang die europäische Literatur bevölkerte.
Als 1804
Napoleon den jungen Duc d'Enghien, einen bourbonischen Prinzen und potenziellen
Thronerben, entführen, verurteilen und erschießen ließ, war auch Chateaubriand
empört. Er brach ostentativ mit dem napoleonischen Regime und demissionierte.
Zugleich hielt er es für angebracht, endlich mit seiner Frau zusammenzuleben,
doch blieb ihr Verhältnis offenbar locker, zumal er auch weiterhin
außereheliche Verhältnisse unterhielt.
1806
unternahm er eine mehrmonatige Rundfahrt durch Italien, Griechenland,
Palästina, Nordafrika und Spanien, die er anschließend in dem Reisebericht Itinéraire [Wegbeschreibung] de Paris à
Jérusalem teils pittoresk beschreibend, teils melancholisch reflektierend
schilderte (publiziert 1811). Breiten Raum nimmt hierbei das damals zum
Osmanischen (=türkischen) Reich gehörende Griechenland ein, womit Chateaubriand
den Boden bereiten half für die große Anteilnahme, mit der Mitteleuropa ab 1821
den Befreiungskampf der Griechen von der türkischen Herrschaft verfolgte und
schließlich aktiv unterstützte.
1807
reiste er wieder nach Spanien, um dort eine Bekannte, Natalie de Noailles, zu
treffen, in die er sich verliebt hatte. Den Zustand der ständigen Trennungen
des Paares, denn auch sie war verheiratet, und der Gewissheit des unausweichlichen
Verzichts (der 1812 auch erfolgte) verarbeitete Chateaubriand in mehreren
Werken: So verfasste er 1807/08 das pathetische Prosa-Epos Les Martyrs ou le Triomphe de la religion chrétienne, dessen
Handlung zwar im weitgespannten Römischen Reich des späten 3. Jh. spielt (aber
viele verdeckte Bezüge zur Gegenwart aufweist) und sich um ein ebenfalls
getrenntes Liebespaar rankt, das erst in Rom im gemeinsam erlittenen Tod als
Märtyrer zusammenfindet (publiziert 1809). 1809/10 schrieb er die Novelle Les aventures du dernier Abencérage, die
im Granada des frühen 16. Jh. um ein schließlich verzichtendes Paar spielt
(gedruckt erst 1826, aber aus Lesungen des Autors einem größeren Publikum schon
vorher bekannt).
1811
versuchte sich Chateaubriand auch als Theaterautor mit der Tragödie Moïse, die jedoch unaufgeführt blieb. Im
selben Jahr wurde er, nicht ohne Schwierigkeiten, denn er war ja politisch
Oppositioneller, zum Mitglied der Académie Française gewählt.
Nach
dem Sturz Napoleons und der Rückkehr der alten Königsfamilie der Bourbonen auf
den Thron (1814/15) trat Chateaubriand demonstrativ in die Dienste „seines“
Königs Louis XVIII. Er wurde belohnt mit der Würde eines Pair de France (d.h.
eines Angehörigen der als parlamentarisches Oberhaus fungierenden Chambre des
pairs). Auch wurde er in den folgenden Jahren mit Missionen als Botschafter in
Stockholm (1814), Berlin (1820) und London (1822) betraut. Ende 1822 war er
franz. Chef-Delegierter auf dem Kongress von Verona und ließ dort Frankreich
mit einer militärischen Intervention in Spanien beauftragen, wo liberale
Gruppierungen dem König eine Verfassung abgetrotzt hatten, die nach dem Sieg
der franz. Truppen kassiert wurde. 1823/24 war er sogar kurzzeitig
Außenminister, wurde aber von dem erzkonservativen neuen König Charles X (einem
jüngeren Bruder von Louis XVIII) entlassen. 1828/29 war er erneut Botschafter,
und zwar in Rom.
In
diesen fünfzehn politisch aktiven Jahren schrieb er naturgemäß weniger,
betätigte sich aber publizistisch, z.B. 1818-20 als Herausgeber der Zeitschrift
Le Conservateur. Daneben verfasste er
Notizen und Entwürfe für seine Memoiren, an denen er schon 1809 zu arbeiten
begonnen hatte.
Als
1830 die Juli-Revolution ausbrach, Charles X abdankte und Herzog Louis-Philippe
d'Orléans (aus einer Seitenlinie der Bourbonen) als „Bürgerkönig“ auf den Thron
kam, sah Chateaubriand den Adel einmal mehr marginalisiert. Er zog sich aus der
Politik zurück, auch wenn er sich noch hin und wieder für die Sache der ins
Exil gegangenen Hauptlinie der Bourbonen einsetzte.
Entsprechend
hatte er nun wieder Muße zum Schreiben. So verfasste er allerlei Historisches,
darunter 1831 einen Band Études
historiques, 1836 einen zweibändigen Essai
sur la littérature anglaise oder 1838 eine zweibändige Geschichte des
Kongresses von Verona. Vor allem aber redigierte er, quasi aus der Distanz
eines schon „jenseits des Grabes“ Befindlichen, seine Erinnerungen aus fünf
Jahrzehnten politischer Umbrüche: die umfangreichen Mémoires d'outre-tombe, die er jedoch zur postumen Veröffentlichung
bestimmte (auch wenn er die Rechte schon 1836 an einen Verlag und 1844
zusätzlich an eine Zeitung verkaufte).
Sein
letztes literarisches Werk war 1844 die Vie
de Rancé, eine Biografie des Gründers des Trappistenordens (1625?–1700).
Chateaubriand
starb Anfang Juli 48, nachdem er noch einen weiteren Umbruch miterlebt hatte,
nämlich die Februar-Revolution und die Niederknüppelung der Pariser
Arbeiterrevolte im Juni.
Sein
Nachruhm als Autor beruht vor allem auf den Kurzromanen Atala und, noch mehr, René,
die seit 1805 meist gemeinsam in einem Band, aber separat von Le Génie du Christianisme, gedruckt
werden und immer noch erstaunlich gut lesbar sind. Die Bewunderung seiner
Zeitgenossen zeigt sich exemplarisch in dem Ausspruch des jungen Victor Hugo
von 1816: „Je veux être Chateaubriand ou rien (Ich möchte Ch. werden oder gar
nichts).“
Charles Nodier (*29.4.1780 Besançon; †27.1.1844 Paris)
Dieser
Erzähler und Publizist gehört zwar nur zur zweiten Reihe der größeren Autoren,
war jedoch bedeutsam als Mitbegründer der Romantik in Frankreich.
Nodier
war unehelicher, aber legitimierter und eine gute Bildung erhaltender Sohn
eines Anwaltes, der unter der Revolution zum Bürgermeister von Besançon und zum
hohen Richter aufstieg, nach 1794 jedoch ins politische Abseits geriet.
Auch
Nodier selbst war in seiner Heimatstadt früh politisch aktiv, allerdings auf
der antirevolutionären Seite. So wurde er 1799 polizeiauffällig, als er ein
royalistisches Stück verfasste; 1804 kam er wegen eines satirischen Gedichts
auf Napoleon kurz ins Gefängnis; 1805 beteiligte er sich sogar an einer
Verschwörung gegen den frisch gekrönten Kaiser. Er hatte jedoch jeweils das
Glück, von einflussreichen Bekannten seines Vaters vor härteren Strafen bewahrt
zu werden und irgendwo fern von Besançon untertauchen zu können. Immerhin trieb
er in diesen turbulenten Jahren intensive insektenkundliche (!),
sprachwissenschaftliche und literarische Studien, schriftstellerte und heiratete
auch (1808).
1812,
auf dem Höhepunkt der Ausdehnung des napoleonischen Kaiserreichs, wurde er zum
Kaiserlichen Bibliothekar der neuen franz. Provinz Illyrien berufen und
verbrachte ein Jahr in Laibach (Ljubljana, Hauptstadt des heutigen Slowenien).
Es war ein Aufenthalt, der ihn sehr prägte. Nach dem raschen Ende der Provinz
Illyrien (1813) siedelte sich Nodier in Paris an, wo er bis dahin nur
besuchsweise gewesen war und wo er nun von seiner Feder zu leben versuchte.
Denn
als Literat war er längst kein Nobody mehr: So hatte er z.B. 1803 den kleinen
Roman Le Peintre de Salzbourg, journal
des émotions d'un cœur souffrant und 1804 den an Ossian angelehnten
Gedichtband Essais d'un jeune barde
publiziert. 1808 und 1810 war er mit zwei sprachwissenschaftlichen Schriften
hervorgetreten. Daneben hatte er sich früh und regelmäßig als Literaturkritiker
betätigt (der auch nach England und nach Deutschland schaute).
Ab
1814 wurde er als politischer Journalist aktiv, nachdem er sich endlich auf der
für ihn richtigen Seite einsetzen konnte, d.h. der Seite der angestammten
franz. Monarchie.
Seinen
Durchbruch als Erzähler erzielte Nodier 1818 mit dem in Slowenien spielenden
Räuberroman Jean Sbogar, der tragisch
endenden Geschichte eines sozial engagierten, edlen Banditen. Hiernach schrieb
er noch vier weitere, weniger bekannt gewordene Romane. Sein Name in der
Literaturgeschichte verbindet sich vor allem mit den zahlreichen Novellen, die
er in den 20er und 30er Jahren verfasste, darunter viele Grusel-Novellen nach
englischen und deutschen Vorbildern (z.B. Smarra
ou les Démons de la nuit, 1821; Trilby,
1822; La Fée aux miettes, 1832). Mit
ihnen führte er die "schwarze Romantik" der Gespenster- und
Schauergeschichten in Frankreich ein.
Nach
seiner Ernennung zum Direktor der Pariser Bibliothèque de l'Arsenal (1824)
unterhielt Nodier in seiner Dienstwohnung einen Salon, der zum wichtigsten
Treffpunkt der ersten Romantikergeneration wurde, d.h. der etwas jüngeren
Autoren um Victor Hugo. Deren baldigen politischen Schwenk vom Royalismus zum
Republikanismus und Liberalismus vollzog Nodier jedoch nicht mit, was 1833
seine Wahl in die Académie française sehr erleichterte.
Pierre-Jean (de)
Béranger (*19.8.1780
Paris; †16.7.1857 ebd.)
Dieser
heute auch vielen Literaturstudenten und sogar -professoren fast oder gar nicht
bekannte Autor galt um 1830 als einer der ganz großen Lyriker Frankreichs.
Béranger
stammte (anders als sein adelig klingender Name vermuten lässt) aus kleinen
Pariser Verhältnissen. Nach der frühen Trennung seiner Eltern, eines kleinen
Einzelhändlers und einer Schneiderin, lebte er zunächst bei den Großeltern in
Paris, dann bei einer Tante in der Provinz. 1796 kam er zurück in seine
Heimatstadt. Eine Schulbildung hatte er nicht genossen, immerhin hatte die
Tante ihn Lesen und Schreiben gelehrt. Er schlug sich zunächst mehr schlecht
als recht durch, z.B. als Betreuer einer Bücherstube oder als Schriftsetzer,
doch übte er auch schon früh seine Feder, z.B. an einem Versepos Le Déluge (=die Sintflut, 1796) oder
satirischen Theaterstücken.
1803
schickte er einige Gedichte an den jüngeren Napoleon-Bruder Lucien Bonaparte.
Dieser war angetan, ließ ihm eine kleine Pension anweisen und verschaffte ihm
1809 einen Schreiberposten in der Zentralverwaltung der Bildungsinstitutionen
(l’Université) des neuen Kaiserreichs — ein Posten, auf dem Béranger ein
Auskommen hatte, aber auch Zeit zum Lesen und Schriftstellern, und den er bis
1821 behielt.
Nach
fleißigen, aber erfolglosen weiteren Versuchen als Epiker, Dramatiker und
seriöser Lyriker entdeckte er 1812 sein Talent, auf bekannte Melodien neue
Texte zu dichten. Diese feierten zunächst die Liebes-, Trink- und Lebenslust
und waren zum Vortrag und Mitsingen in einschlägigen Weinlokalen gedacht, z.B.
dem traditionsreichen Literatenlokal Le Caveau.
Schlagartig
in ganz Frankreich bekannt wurde Béranger 1813 mit dem verdeckt politischen
Chanson Le Roi d'Yvetot (der König von
Y.), einem Loblied auf einen gutherzigen und friedlichen Dorf-„König“, der
ein liebenswertes Gegenbild darstellte zu dem pausenlos Krieg führenden und
immer diktatorischer regierenden Kaiser Napoleon.
Nach
dessen Sturz 1814 und der Rückkehr der alten Königsfamilie der Bourbonen mit
Louis XVIII ging Béranger jedoch bald wieder in die Opposition und schrieb satirische
Chansons gegen die Träger und Nutznießer der „Restauration“, d.h. aus der
Emigration zurückgekehrte Adelige, machthungrige Jesuiten, zum neuen Regime
übergelaufene napoleonische Militärs oder Beamte und bourgeoise Profiteure.
Daneben verfasste er Loblieder auf den einst gehassten Napoleon und wurde
hiermit zu einem der Väter der gegen 1820 entstehenden Napoleon-Legende, d.h.
des Mythos vom großen Kaiser, der mit starker Hand nicht nur den Ruhm
Frankreichs gemehrt und Europa vom Joch absolutistischer Despoten befreit habe,
sondern angeblich auch um das Wohl der kleinen Leute besorgt gewesen sei.
Als
Béranger 1821 eine zweibändige Gesamtausgabe seiner Gedichte publizierte (eine
erste Sammlung, Chansons morales et
autres, war schon 1815 erschienen) wurde sie verboten, weil er darin auch
König und Kirche nicht schonte. Er selbst kam sogar kurz ins Gefängnis, was
sein Ansehen enorm erhöhte. Der 1825 erschienene Sammelband Chansons nouvelles konsekrierte ihn zum
populärsten Dichter der Zeit, dessen eingängige Texte in allen
Bevölkerungsschichten, zumal auch den unteren, ankamen und von Autorenkollegen
hoch gelobt wurden. Als er 1828 nach dem Erscheinen seiner vierten Sammlung (Chansons inédites) erneut, u.a. wegen
„Majestätsbeleidigung“, ins Gefängnis musste, hagelte es Proteste aus ganz
Europa, so berühmt war er inzwischen auch außerhalb Frankreichs.
Nach
der Juli-Revolution von 1830 schloss sich Béranger dem neuen Regime des
„Bürgerkönigs“ Louis-Philippe an, was ihn allerdings der geliebten und
fruchtbaren Oppositionellenrolle beraubte. Er versuchte nun ein neues Thema zu
finden, indem er vage kritisch für die von den neuen Mächtigen vernachlässigten
unteren Schichten eintrat, doch den alten Biss hatte er nicht mehr. 1833 gab er
eine letzte Sammlung heraus (Chansons
nouvelles et dernières), die teils noch aus politisch agressiveren Texten
von vor 1830 bestand und teils schon aus solchen, die nur humanitäre und
soziale Zuwendung predigten.
Hiernach
verfasste er kaum noch neue Gedichte, sondern verwaltete seine Position einer
im ganzen Land geachteten und hofierten moralischen Autorität. 1848 wurde er
ohne sein Zutun in die neue Nationalversammlung gewählt, zog sich aber rasch
aus der aktiven Politik zurück. In seinen letzten Jahren musste er noch
erleben, wie sich in der Lyrik das bewusst unpolitische Ideal des L’art pour
l’art durchsetzte und sein politisch engagiertes Schaffen rasant an
Wertschätzung verlor, womit auch seine Einnahmen schrumpften.
Zwar
ordnete nach seinem Tod Kaiser Napoléon III ein Staatsbegräbnis für ihn an und
ein flinker Verleger druckte schnell noch seine Memoiren sowie eine Sammlung Dernières chansons, doch geriet Béranger
kurz danach schon in Vergessenheit.
Stendhal (=Henri Beyle, *23.1.1783 Grenoble; †23.3.1842 Paris)
Er
bildet mit den deutlich jüngeren Romanciers Balzac (*1799) und Flaubert (*1821)
das Dreigestirn der großen französischen Realisten, wird in Frankreich
allerdings meist der Romantik zugeordnet.
Stendhal
wurde geboren als ältestes von drei Kindern eines bürgerlichen, aber
Adelsambitionen hegenden Anwalts am Obersten Gerichtshof (Parlement) der
Provinz Dauphiné. Als er sechs war, starb seine Mutter nach der Geburt der
jüngsten Schwester, was ihn traumatisierte und ihn offenbar ein Leben lang auf
der Suche nach Ersatz sein ließ, und er verargte es seinem Vater zutiefst, als
der sich mit der Schwester der Mutter liierte und ihn der "Tyrannei"
eines ungeliebten Hauslehrers aussetzte, eines ehemaligen Geistlichen. Er wurde
jedoch sehr gefördert von seinem Großvater mütterlicherseits, einem
schöngeistig interessierten Arzt und Voltaire-Verehrer, sowie von dessen
unverheiratet gebliebener Schwester. Während der Zeit der "Terreur"
1793/94 sympathisierte er aus Trotz gegen seinen royalistisch eingestellten
Vater mit den revolutionären Jacobinern und freute sich geradezu, als jener
inhaftiert wurde und in Köpfungsgefahr schwebte.
1796-99
besuchte er die nach einer Schulreform neu eingerichtete Grenobler École
centrale (wo er in Mathematik brillierte) und ging dann aus der ihm verhassten
engen Provinzstadt nach Paris, um an der neuen École Polytechnique zu
studieren. Er meldete sich aber nicht zur Aufnahmeprüfung (concours), sondern
fing an, Theaterstücke und anderes zu schreiben. Bald danach erkrankte er in
seinem kargen und kalten möblierten Zimmer und wurde daraufhin von entfernten
Cousins, den etwas älteren Brüdern Daru, in ihr Haus aufgenommen.
Die
Darus gehörten zur näheren Umgebung Napoleon Bonapartes und partizipierten an
dessen fulminantem Aufstieg zum Herrn von ganz Mitteleuropa. Als ihr Verwandter
und Protégé profitierte auch Stendhal. Er nahm zunächst als blutjunger Offizier
1800 an Napoleons siegreichem Italienfeldzug teil, wobei er als Adjutant eines
Generals das Land von seiner besten Seite kennenlernte und sich zum Liebhaber
italienischer Kunst, Musik und Lebensart entwickelte. Allerdings fing er in
einem Bordell auch eine Syphilis ein, deren akutes Stadium ihn 1802 zum
Quittieren des Militärdienstes zwang (und die ihm zeitlebens zu schaffen machte
sowie seinen relativ frühen Tod mitverursachte).
Vorübergehend
halbwegs gesundet, verbrachte er einige Jahre mit viel fruchtbarer Lektüre
sowie allerlei fruchtlosen literarischen, geschäftlichen und amorösen
Experimenten in Grenoble, Marseille und Paris. 1806, inzwischen führte Napoleon
wieder Krieg, schloss er sich erneut den Darus an und avancierte, über
Zwischenstufen in der Militärverwaltung, 1808 zum Kaiserlichen Intendanten
(einer Art Oberaufseher und Verbindungsmann) für das Département Oker des 1807
gegründeten Königreichs Westfalen, eines kurzlebigen franz. Satellitenstaates,
der von Napoleons jüngerem Bruder Jérôme regiert wurde. 1810/11 setzte er seine
Karriere in Paris fort und wurde für kurze Zeit Chef der Verwaltung der
kaiserlichen Liegenschaften (vor allem der Schlösser samt ihren Kunstschätzen).
1812 nahm er teil an Napoleons Russlandfeldzug und gelangte bis Moskau. Bei dem
anschließenden desaströsen Rückzug im beginnenden Winter hatte er Glück und kam
heil zurück. 1813 war er kurz Kaiserlicher Intendant in Schlesien.
Danach
wurde er ein nächstes Mal von der Syphilis eingeholt und nahm 1813/14 einen
längeren Urlaub, den er zum Teil in Italien, vor allem in Mailand, verbrachte,
das er als jugendlicher Offizier kennengelernt hatte. Den Zusammenbruch des
napoleonischen Kaiserreichs erlebte er in Grenoble. Ob tatsächlich sein
Adelsbrief fertig zur Unterschrift auf Napoleons Schreibtisch lag, als jener
1814 besiegt wurde und abdankte, ist eher fraglich.
Wie
so viele hohe napoleonische Beamte fand auch Stendhal 1814 keinen Platz in der
naturgemäß stark verkleinerten Beamtenschaft des
"Restaurationsregimes" unter König Louis XVIII. Er war frustriert und
wurde Napoleon-Fan und Liberaler, d.h. Oppositioneller. Er ging einmal mehr
nach Mailand, fand dort Anschluss an Intellektuellenzirkel und wurde endgültig
zum Literaten mit Biografien, kunsthistorischen Werken und Reisebüchern, die er
zunächst unter wechselnden Pseudonymen und schließlich unter dem dauerhaft
werdenden Namen "M[onsieur]. de Stendhal" publizierte: Vies de Haydn, Mozart et Métastase
(1815), Histoire de la peinture en Italie
(1817) und Promenades dans Rome, Naples et Florence en 1817 (1817). Eine Vie de Napoléon, an der er 1817/18
arbeitete, blieb Fragment (und wurde erst postum 1929 gedruckt).
1818
begegnete er in Mailand seiner großen, unerfüllten Liebe Metilda Dembowski,
Gattin eines österreichischen Generals (die Lombardei war damals
österreichische Provinz), die ihn stark absorbierte und zu dem essayistischen
Werk De l'amour inspirierte
(erschienen 1822). 1819 erlebte er eine weitere herbe Enttäuschung, als er beim
Tod seines vermeintlich wohlhabenden Vaters feststellte, dass dieser fast nur
Schulden hinterließ.
1821
wurde Stendhal wegen seiner Kontakte zu patriotischen Intellektuellen, darunter
Giuseppe Manzoni oder Silvio Pellico, von der österreichischen Polizei als
Verschwörer verdächtigt. Er flüchtete aus Mailand und verlebte einige unstete
Jahre in Paris, London und Italien, bis er sich 1824 in Paris niederließ. Hier
hielt er sich als Journalist über Wasser (z.B. als Kunst- und Musikkritiker)
und bewegte sich in den Kreisen der „Ideologen“ um den Philosophen Destutt de
Tracy und der Romantiker, deren Kampf gegen den noch vorherrschenden
Klassizismus er mit der Streitschrift Racine
et Shakespeare (1823) unterstützte. Ebenfalls 1823 erschien seine Vie de Rossini. 1825 mischte er sich auf
Seiten der oppositionellen Saint-Simoniens (s.o. Saint-Simon) in politische
Diskussionen ein mit der Schrift Nouveau
complot contre les industriels.
1827
publizierte Stendhal seinen ersten Roman, Armance,
die zarte, um 1820 in Paris spielende Liebesgeschichte der armen jungen
Adeligen Armance und des reicheren, aber offenbar impotenten Octave, der sich,
nach ihrer schließlichen Heirat, auf einem Schiff in Richtung Griechenland das
Leben nimmt.
Hiernach
ließ er ein neues Reisebuch folgen (Promenades
dans Rome, 1829) und versuchte sich, wie sein jüngerer Freund Prosper
Mérimée und andere Autoren, in der neuen Mode-Gattung Novelle, mit Vanina Vanini (1829), Le Coffre et le revenant und Le Philtre (beide 1830). Im Oktober 29
hatte er, während einer Reise, in einem Hotel in Marseille die Idee zu Le Rouge et le noir, das er sofort
begann.
Nach
der Juli-Revolution 1830 hoffte er vergeblich, wieder einen höheren Posten im
Staatsdienst zu bekommen, z.B. als Präfekt. Doch erhielt er nur den eines
Konsuls, zunächst im österreichischen Triest, wo man ihm jedoch bei seiner
Ankunft Ende 30 als angeblichem einstigen Verschwörer die Zulassung
verweigerte, und 1831 schließlich im Hafenstädtchen Civitavecchia im
Kirchenstaat.
Ende
1830, einige Monate nach der Juli-Revolution und durch sie eigentlich obsolet
geworden, kam Le Rouge et Le Noir
heraus. Es ist die tragische Geschichte des tüchtigen und ehrgeizigen jungen
Kleinbürgers und Provinzlers Julien Sorel, der im (wie der Autor es sieht) von
reaktionären Adeligen, intriganten Geistlichen und opportunistischen Bourgeois
beherrschten Restaurationsregime trotz seiner Talente und Meriten und trotz
beachtlicher Zwischenerfolge letztlich weder General (=rot) noch Bischof
(=schwarz) zu werden schafft, sondern es nur zum Geliebten einer adeligen
Ehefrau und danach zum Verlobten einer jüngeren Grafentochter bringt und
schließlich einen heroisch akzeptierten Tod auf dem Schafott erleidet. Le
Rouge gilt heute als Stendhals Meisterwerk und ist tatsächlich eine (wie
der Untertitel besagt) „Chronik von 1830“, genauer der Jahre davor. Zu
Lebzeiten des Autors hatte der Roman jedoch wenig Erfolg: der soziale Typ, den
der Protagonist darstellt (und den Stendhal selbst unter Napoleon verkörpert
hatte), nämlich der junge Bildungsbürger, der seinen Aufstieg persönlicher
Leistung verdankt, wurde erst nach der Jahrhundertmitte repräsentativer für die
französische Gesellschaft, in dem Maße wie sich der Stellenmarkt für gebildete
„Leistungsträger“ stark vergrößerte.
Nach
einigen weiteren Erzählungen verfasste Stendhal 1832 die autobiografischen Souvenirs d'égotisme (Fragment, erst
postum publiziert) und begann 1834 den Roman
Lucien Leuwen, der, obwohl weit fortgeschritten, unvollendet blieb. Er
erzählt die Geschichte eines Pariser Bankierssohns, der gewissermaßen die
Julien Sorel nicht mögliche Offiziers-Karriere verwirklichen sollte, unter der
Hand jedoch ganz unzeitgemäße Sympathien für den durch die Juli-Revolution
entmachteten Adel entwickelt, sich in eine adelige junge Witwe verliebt, sie
aber verlässt, als er sich betrogen glaubt, und danach in Paris als Adlatus
eines Ministers die Politik von ihrer schmutzigen inneren Seite kennenlernt –
wonach er seinem Autor quasi entgleitet.
Hierauf
nahm Stendhal erneut sich selbst ins Visier und schrieb 1835/36 an einer
wiederum unvollendet gebliebenen Geschichte seiner Jugend (Vie de Henry Brulard).
Eine insgesamt dreijährige Beurlaubung nutzte er zu ausgiebigen
Paris-Aufenthalten (wobei er 1835 das Kreuz der Légion d’Honneur bekam)
und zu Reisen, aber auch zum Verfassen einer Serie von historischen Novellen,
deren Handlung er in die italienische Renaissance verlegte, wo seiner Meinung
nach die Menschen noch Leidenschaft und Energie besaßen (Chroniques italiennes, 1837–39).
Im
November/Dezember 1838 diktierte er in 53 Tagen in Civitavecchia den Roman La Chartreuse de Parme, die spannende
Geschichte des jungen lombardischen Adeligen Fabrice del Dongo, der dem
Napoleon der Hundert Tage zu Hilfe zu eilen versucht und es nach diesem
kapitalen Fehler im reaktionären Oberitalien der Restauration lediglich – und
auch das nur dank der Intrigen seiner schönen und energischen jungen Tante –
bis zum Bischof bringt und zugleich allerdings zum Geliebten seines
Jugendschwarms, der schönen Generalstochter Clélia Conti. Die von Balzac
enthusiastisch besprochene Chartreuse war Stendhals einziger größerer
Erfolg zu seinen Lebzeiten.
Ende
1839 arbeitete er an einem neuen Roman, Lamiel,
den er aber nicht mehr fertigstellte. Nach einem ersten Schlaganfall im März
41, starb er bei einer zweiten Attacke ein Jahr später in Paris während einer
längeren Beurlaubung.
Alphonse de
Lamartine (*21.10.1790
Mâcon/Bourgogne; †28.2.1869 Paris)
Er
zählt zu den Großen der franz. Romantik und gilt als ihr poetischster Autor. Er
war zugleich fast sein ganzes Leben lang politisch aktiv als Bürgermeister,
Diplomat, Abgeordneter und (1848) sogar kurz als Regierungschef.
Er
war ältestes von drei Kindern einer mäßig bemittelten Familie des kleineren
Landadels. Seine Kindheit verlebte er in Mâcon und auf dem Landgut der Familie
im nahen Milly, erzogen hauptsächlich von seiner streng katholischen Mutter.
Seine Schulzeit verbrachte er auf einem Internat in Lyon (wo er zwölfjährig
ausriss) und danach auf einem ehemaligen Jesuitenkolleg in Bellay (Dép. Ain).
Anschließend blieb er zunächst, da er unter Napoleon kein Offiziers- oder
Beamtenanwärter werden wollte, als junger Landedelmann zu Hause. 1811/12
unternahm er mit einem Freund eine längere Bildungsreise in das zu dieser Zeit
von Frankreich beherrschte Italien. Insbes. hielt er sich länger in Rom und
noch länger in Neapel auf, wo er eine Romanze mit einer Antoniella hatte, der
späteren „Graziella“. 1812 wurde er zum Bürgermeister von Milly ernannt und
reiste erstmals nach Paris.
1814,
nach der Rückkehr der Bourbonen auf den franz. Thron, diente er „seinem“ König
Louis XVIII als Gardeoffizier in Beauvais und in Paris. Die Hundert Tage, d.h.
Napoleons vorübergehende Rückkehr an die Macht (März bis Juni 1815), verbrachte
er in der Schweiz und in Savoyen. Nach kurzem nochmaligen Dienst als
Gardeoffizier gab er im Herbst die militärische Laufbahn auf und lebte wieder
in Milly als lesender und schreibender Privatier.
Im
Oktober 1816 verliebte er sich während einer Kur in Aix-les-Bains am See von
Bourget (Savoyen) in die ebenfalls dort kurende tuberkulosekranke junge
Pariserin Mme Julie Charles, der er nach Paris folgte, wo er in ihrem Salon
verkehrte. Zur verabredeten neuen gemeinsamen Kur im herbstlichen Aix kam es
nicht mehr, weil Mme Charles zu krank war (und wenig später starb). Lamartine
wurde tief erschüttert durch ihren Tod und besang die Erinnerung an „Elvire“
(wie er sie nun nannte) in wehmütigen Versen, z.B. in den bekannten
Anthologie-Gedichten L’Isolement, Le Lac, oder Le Temple.
Zurück
in Milly, stellte er 1818 eine Tragödie fertig, Saül, die aber nicht
angenommen wurde.
Anfang
1819 wurde er auf der Hochzeit einer seiner beiden Schwestern der reichen
protestantischen Engländerin Mary-Anne Birch vorgestellt. Nachdem er sie im
Spätsommer wiedergesehen hatte, hielt er um ihre Hand an und heiratete sie ein
Jahr später.
Anfang
1820 erkrankte er schwer und näherte sich der zwischenzeitlich abgestreiften
Frömmigkeit seiner Kindheit wieder an, wenn auch eher im Sinne eines
katholisierten Pantheismus. Im März erschien ein Sammelband mit Gedichten aus
den vorangegangenen Jahren: Méditations
poétiques. Das mit 118 Seiten und 24 Texten relativ kleine Bändchen war
erstaunlich erfolgreich, machte Lamartine schlagartig bekannt und erlebte in
zweieinhalb Jahren neun, jeweils leicht vermehrte Auflagen. Es bedeutete
zugleich den Durchbruch der romantischen Lyrik in Frankreich, d.h. einer Lyrik,
die sich nicht mehr vor allem an den gebildeten Intellekt und Schönheitssinn
richtete, sondern Leidenschaften und Stimmungen, erotische und religiöse
Sehnsüchte, Träumereien und Natureindrücke bedichtete und das Gefühl ansprechen
wollte.
Kurz
nach seiner Hochzeit im Sommer 20 ging Lamartine als Botschaftsattaché nach
Neapel. Auf der Rückreise Anfang 1821 kam in Rom Sohn Alphonse zur Welt, der
aber 1822 starb, kurz nachdem in Mâcon ein zweites Kind, Julie, geboren worden
war.
1823
versuchte Lamartine mit dem Bändchen Nouvelles
[neue] méditations an den Erfolg der ersten Sammlung anzuknüpfen, was
allerdings nur teilweise gelang.
Das
Jahr 24 war ein dunkles Jahr für ihn. Beide Schwestern starben kurz
nacheinander. Eine Kandidatur für die Académie française scheiterte.
Er
trat wieder in den diplomatischen Dienst und war zweieinhalb Jahre
Legationssekretär in Florenz, der Hauptstadt des Herzogtums Toscana. Hierbei
fand er jedoch, wie auf solchen Posten üblich, ausreichend Muße zum Lesen und
zum Schreiben.
Anfang
1830 wurde er schließlich doch in die Académie française aufgenommen. Im
Frühsommer publizierte er den Gedichtband Harmonies
poétiques et religieuses, der
seine Rolle als eines der Chefs der jungen romantischen Schule bestätigte.
Nach
der Juli-Revolution und der Abdankung von König Charles X 1830 quittierte er
den diplomatischen Dienst, denn er betrachtete, wie so viele Adelige, den neuen
Monarchen Louis-Philippe, den „Bürgerkönig“, nicht als rechtmäßigen Herrscher.
Er beschloss, als Abgeordneter in die Politik zu gehen, scheiterte jedoch bei
seiner ersten Kandidatur 1831, obwohl er sich (was damals möglich war) in drei
Wahlkreisen zugleich hatte aufstellen lassen.
Enttäuscht
unternahm er 1832/33 auf eigenem Schiff mit Familie, Domestiken und Freunden
eine ihn sehr prägende Orient-Reise (auf der er Ende 32 in Beyruth Tochter
Julie durch Krankheit verlor). Seine gut beobachteten Eindrücke verarbeitete er
anschließend zu dem umfangreichen BuchVoyage
en Orient (erschienen 1835), einer der zahlreichen Reisereportagen, wie sie
die Autoren der Zeit verfassten.
Noch während der
Reise erreichte ihn die Nachricht, dass er 1833 aufgrund einer Nachwahl doch
noch Abgeordneter geworden war, und zwar in Nordfrankreich. Von 1838 bis 48
vertrat er jedoch, ständig wiedergewählt, den Wahlkreis Mâcon. Lamartines
politische Position im Parlament, der Chambre des Députés, war die eines latent
oppositionellen Linkskatholiken, d.h. er war trotz einer patriarchalischen und
konservativen Grundeinstellung aufgeschlossen für die sozialen Fragen der Zeit,
insbesondere für das Problem der Armut und der Proletarisierung der zunehmenden
Arbeitermassen in den rasch wachsenden Städten.
Schon
seit 1831 arbeitete er an einem Epos in Alexandrinern. 1836 und 1838
veröffentlichte er zwei fertige längere Teile daraus unter dem Titel Jocelyn
und La Chute d'un ange. Jocelyn, die zur Revolutionszeit
spielende traurig-sentimentale Geschichte eines jungen Mannes, der seine Liebe
opfert und mit ihr auch die Geliebte, Priester wird und sein Leben als
selbstloser Menschenfreund beschließt, hatte beachtlichen Erfolg. La Chute
d'un ange dagegen blieb ein Ladenhüter, so dass Lamartine auf den Abschluss
des Werkganzen verzichtete.
1839
publizierte Lamartine den Gedichtband Recueillements
poétiques, mit dem er aber nur noch einer unter den inzwischen vielen
anderen romantischen Dichtern war.
1843
brach er gänzlich mit dem plutokratischen, d.h. sich auf die Reichen im Lande
stützenden Regime von König Louis-Philippe und entwickelte sich zum
oppositionellen Republikaner und gefürchteten politischen Redner. Er begann
seine monumentale Histoire des Girondins (gedruckt
1847), d.h. eine Geschichte der Partei der gemäßigten Revolutionäre von
1791–94.
Nach
der Februar-Revolution von 1848, wurde Lamartine Außenminister sowie Chef der
Provisorischen Regierung und wurde im April triumphal zum Mitglied der
Verfassungsgebenden Versammlung der kurzlebigen Zweiten Republik gewählt. Die
politische Praxis lag ihm jedoch nicht und machtbewusstere Kollegen wie der
General Cavaignac drängten ihn ab. Als er Ende 48 er für das neue Amt des
Staatspräsidenten kandidierte, unterlag er kläglich gegen Louis-Napoléon
Bonaparte, den Neffen von Kaiser Napoléon I und baldigen Kaiser Napoléon III.
Nach
dieser Niederlage wurde er zwar 1849 nochmals Abgeordneter, doch mit dem
Staatsstreich Bonapartes Ende 1851 war seine politische Rolle ausgespielt.
Durch seine Wahlkampagnen verarmt (1860 z.B. musste er Milly verkaufen), lebte
er mühsam von seiner Feder, d.h. von den vielbändigen autobiografischen Confidences (1849-51), diversen
historischen Sachbüchern, einigen sozial engagierten Romanen (z.B. Geneviève,
Histoire d’une servante, 1851) und seinem 1856–69 monatlich in einer
Zeitschrift erscheinenden Cours familier
de littérature.
1867
machte er, seit 1863 verwitwet und durch Krankheit geschwächt, noch seinen
Frieden mit dem Regime des Second Empire von Napoléon III und akzeptierte eine
staatliche Pension sowie eine kostenfreie Wohnung von der Stadt Paris.
Der
hübsche und einmal mehr traurige autobiografische kleine Liebesroman Graziella (konzipiert 1844, gedruckt
1849 als Teil der Confidences und ab
1852 auch als selbständige Publikation) etablierte sich erst nach Lamartines
Tod als Erfolgsbuch, das vielfach neu aufgelegt und zu insgesamt einem
Theaterstück, drei Opern und zwei Filmen verarbeitet wurde.
In
Frankreich zählt der Lyriker Lamartine unbestritten zu den Großen der Romantik.
Seine jahrzehntelange Verbindung literarischer und politischer Aktivität hat dazu
beigetragen, dass der Typ des auch in der Praxis politisch engagierten Autors
in Frankreich keine Seltenheit ist. Im deutschsprachigen Raum scheint er kaum
bekannt geworden zu sein.
Alfred de Vigny (*27.3.1797 Loches; †17.9.1863 Paris)
Er
zählt als Lyriker, Dramatiker und Erzähler zu den großen franz. Romantikern.
Vigny
stammte aus einer durch die Revolution geschädigten Adelsfamilie und verbrachte
seine Kindheit und Jugendjahre ab 1798 in Paris, teilweise im jetzigen
Elysée-Palast, der damals Mietshaus war. Er besuchte das Lycée Bonaparte (heute
Lycée Condorcet) und träumte wie so viele junge Leute im Frankreich der Zeit
von einer militärischen Karriere.
1814
trat er als junger Fähnrich in den Dienst des aus dem englischen Exil
zurückgekehrten Königs Louis XVIII und floh mit ihm nach Brüssel, als Napoleon
für die berühmten Hundert Tage (März bis Juni 1815) die Macht zurückeroberte.
Nach der endgültigen Niederlage Napoleons setzte Vigny in verschiedenen
Garnisonen seine militärische Laufbahn fort, hielt sich aber viel in Paris auf,
denn adeliger Offizier zu sein war in Friedenszeiten eher eine
Nebenbeschäftigung denn ein Beruf.
Ab
1817 veröffentlichte Vigny Gedichte, 1822 erschien seine erste Gedichtsammlung:
Poèmes. 1825 heiratete er eine
vermögende Engländerin und konnte sich beurlauben lassen, um seinen
literarischen Interessen zu leben. 1827 quittierte er den aktiven Dienst.
1826
nämlich hatte er erfolgreich zwei Bücher publiziert: den Band Poèmes antiques et modernes (mit dem
berühmten Gedicht über das Ende Rolands, Le
Cor, einem Beispiel der Mittelalterbegeisterung der Romantiker) und den
Roman Cinq-Mars, dessen Handlung um
den gleichnamigen, 1642 geköpften Verschwörer gegen Richelieu kreist und der
der erste franz. historische Roman in der neuen Manier Walter Scotts war.
1827-29
versuchte Vigny mit Bearbeitungen von Romeo
and Juliet, Othello und The Merchant
of Venise, Shakespeare in Frankreich heimisch zu machen, der den
Romantikern als vorbildhaft galt. 1831 wurde sein erstes eigenes Stück aufgeführt, La Maréchale d'Ancre. Hierbei lernte er
die Schauspielerin Marie Dorval kennen, mit der er ein längeres Verhältnis
einging.
1832
erschien sein Erzählband Stello. Aus
einer der drei Erzählungen machte Vigny 1834 das erfolgreiche Drama Chatterton, das einen Typ kreierte, der
noch jahrzehntelang die romantische und postromantische Literatur prägen
sollte: den sich selbst und seiner Umgebung problematischen Künstler, der es
schwer hat, in einer zunehmend bürgerlich geprägten, profitorientierten Gesellschaft
den Platz zu finden, der seinem hohen Bild von sich selber entspricht.
1835
publizierte Vigny Servitude et grandeur
militaires, Erzählungen um den Konflikt zwischen Gewissen und soldatischer Pflicht
aus der Sicht eines Ex-Offiziers, der in seinem Karriere-Ehrgeiz überwiegend
frustriert worden war und zudem, wie so viele Intellektuelle, unzufrieden war
mit dem von Bankiers und Fabrikanten beherrschten Regime des „Bürgerkönigs“
Louis-Philippe, der seit 1830 auf dem Thron saß.
Vignys
weitere Werke blieben erfolglos und erlangten auch später kaum Anerkennung.
Zwischen 1843 und 45 brauchte er entsprechend fünf Anläufe, um Mitglied der
Académie française zu werden. Nach der Februar-Revolution 1848 versuchte er,
als Abgeordneter in die Politik zu gehen, scheiterte aber. 1852 schlug er sich
auf die Seite des neuen Kaisers Napoléon III und verwaltete hinfort seinen
Ruhm.
Honoré de Balzac (*20.5.1799 Tours;
†18.8.1850 Paris)
Er
gilt den Franzosen neben Molière und Victor Hugo als einer ihrer größten
Autoren überhaupt und bildet, obwohl er eigentlich zur Generation der
Romantiker zählt, mit dem 17 Jahre älteren Stendhal und dem 22 Jahre jüngeren
Flaubert das Dreigestirn der großen französischen Realisten. Sein Hauptwerk ist
der rd. 90 Titel umfassende, aber unvollendete Zyklus La Comédie Humaine,
dessen Romane und Erzählungen ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich der
Zeit zu zeichnen versuchen.
Honoré Balzac (so sein Geburtsname) war, da ein 1798 geborener
Bruder schon im Säuglingsalter starb, ältestes Kind von Bernard-François Balzac, einem Bauernsohn aus dem
südwestfranzösischen Dép. Tarn, und von Anne-Charlotte-Laure Sallambier, einer
Pariserin aus gutbürgerlicher Familie. Der Vater hatte es schon vor der
Revolution vom Notariatsangestellten zum Sekretär eines hohen Beamten gebracht
und war nach 1789 Sekretär eines Marineministers und dann leitender Beamter in
der Verwaltung der Revolutionsarmee geworden. Schon um 1780 hatte er seinen
eigentlichen Namen Balssa französisiert zu „Balzac“, das er spätestens ab 1803
gern mit einem „de“ verzierte. Erst 1797 hatte er mit 50 geheiratet. Die
Mutter, eine offenbar hübsche und gebildete Frau, war bei ihrer Heirat 19. Sie
gab, nachdem sie ihren Erstgeborenen früh verloren hatte, den neugeborenen
Honoré sowie danach auch seine 1800 und 1802 geborenen Schwestern zu einer Amme
in Pflege. 1807, einige Monate bevor sie einen offenbar außerehelich
empfangenen Sohn zur Welt brachte, schickte sie ihren eben 8-jährigen Ältesten
in ein Internat der Oratorianer in Vendôme. Von dort wechselte er mit 13,
sitzengeblieben und kränkelnd, in eine Pariser Schülerpension und besuchte,
wiederum nur wenig erfolgreich, das Lycée Charlemagne. Insgesamt erlebte Balzac
seine Kindheit und Jugend als freudlos und entwickelte einen tiefsitzenden
Groll gegen seine Mutter.
1814 erhielt der Vater, der zuletzt in Tours Verwaltungschef
des Krankenhauses gewesen war, einen guten Posten in Paris, und die Familie zog
um in die Hauptstadt. Hier beendete Balzac 1816 seine Schulzeit und nahm ein
Jurastudium an der École de Droit auf. Er besuchte jedoch auch literarische
Vorlesungen an der Sorbonne und am Collège de France und begann, nebenher
philosophische Überlegungen zu Papier zu bringen. Ab 1817 arbeitete er zudem
stundenweise als Schreibkraft, zunächst bei einem Anwalt (wo er den späteren
Komödienautor Eugène Scribe als Kollegen hatte) und dann bei einem mit der
Familie befreundeten Notar.
Anfang 1819 legte er das „baccalauréat en droit“ ab, die Zulassungsprüfung
für den letzten Studienabschnitt vor der „licence“, dem eigentlichen Abschluss.
Nach Vorlesungsschluss im Sommer brach er jedoch das Studium ab, denn er hatte
beschlossen Schriftsteller zu werden. Nachdem sich der Vater bereitgefunden
hatte, ihm zwei Probejahre zu finanzieren, zog Balzac in eine kleine
Dachwohnung und begann zu schreiben. Das Ergebnis war allerlei
Feuilletonistisches und Lyrisches, Fragmente eines Opernlibrettos und einer
Tragödie sowie vor allem ein Drama in Versen, Cromwell. Dieses
rezitierte er 1820 vor der Familie (wo er inzwischen wieder wohnte) und einigen
sachverständigen Freunden des Hauses, erntete aber nichts als Kritik. Er blieb
trotzdem bei seinem Entschluss, wechselte allerdings das Genre und versuchte
sich in Romanen.
1821 lernte er den schon erfahreneren Autor Auguste
Lepoitevin kennen. Mit ihm zusammen und unter dessen Pseudonym „Viellerglé“
produzierte er in den Folgejahren mehrere Romane, versuchte es daneben aber
auch mit eigenen, die er „Lord R'Hoone“ oder „Horace de Saint-Aubin“ zeichnete.
1822 machte er
die Bekanntschaft der 45-jährigen Mme de Berny, die seine Geliebte wurde und
ihm eine „éducation sentimentale“ angedeihen ließ. Sie blieb ihm bis kurz vor
ihrem Tod 1836 als mütterliche Freundin verbunden.
1823 versuchte sich Balzac erneut als Dramatiker mit dem
Stück Le Nègre, das aber nicht angenommen wurde. Ein weiterer Ausflug in
ein anderes Genre, das epische Gedicht Fœdora, blieb Fragment. Nebenher schrieb er
Kritiken für das Feuilleton littéraire des jungen Publizisten Horace
Raisson, mit dem zusammen er auch andere literarische Projekte verfolgte.
Immerhin verdiente er inzwischen so viel, dass er in der Lage war, seinen
Eltern 100 Fr. Kostgeld monatlich zu zahlen, ein gewisses gesellschaftliches Leben
zu führen und diese oder jene Reise zu den Landsitzen adeliger oder
großbürgerlicher Gastgeber zu unternehmen.
Den erhofften Durchbruch als Autor schaffte er trotz seiner
fleißig fortgesetzten Romanproduktion jedoch weiterhin nicht. (Ende 1824
scheint er deshalb in eine Depression verfallen zu sein). Auch nachträglich
haben seine Jugendwerke keine Geltung erlangt, obwohl er darin oft schon Themen
behandelt, z.B. das Streben nach Anerkennung und Geld, und Typen gestaltet,
z.B. den energiegeladenen jungen Aufsteiger, die später typisch für ihn waren.
Anfang 1825 lernte er über seine Schwester Laure in
Versailles die Duchesse (Gräfin) d’Abrantès kennen, die ein Verhältnis mit ihm
einging und ihm Einblicke in die Welt des zeitgenössischen Adels verschaffte.
Im August starb mit 23 seine jüngste Schwester, Laurence de Montzaigle, deren
1821 geschlossene Ehe unglücklich gewesen war. Im Herbst begann Balzac
hieraufhin ein leicht zynisches und illusionsloses Ehehandbuch für noch ledige
Männer: Physiologie du mariage, das er jedoch erst 1829 fertigstellte
und anonym publizierte.
Ebenfalls 1825 versuchte er sich als Compagnon eines Pariser
Verlegers und gab je eine illustrierte und kommentierte Molière- und La
Fontaine-Ausgabe heraus. Auf den Geschmack als Verleger gekommen, kaufte er
1826 mit Darlehen Mme de Bernys und vor allem seiner Mutter eine Druckerei, der
er 1827 eine Letterngießerei angliederte. Schon 1828 jedoch musste er infolge
einer Wirtschaftskrise, die von England ausging, Konkurs anmelden, die Gießerei
an den Sohn Mme de Bernys abtreten und die Druckerei schließen. Er blieb
lebenslang Schuldner seiner Mutter, die seinen Vater († 1829) und ihn selbst
überlebte. Immerhin hatte er in seiner Eigenschaft als Verleger Kontakt zu
mehreren Autoren der Schule der Romantiker erhalten, darunter Hugo und Vigny.
Er konzentrierte sich nun wieder auf das Schreiben. 1829
hatte er endlich Erfolg mit Le dernier
Chouan, ou La Bretagne en 1800 (später überarbeitet und umbenannt in Les Chouans,
ou La Bretagne en 1799). Es ist ein historischer Roman nach der neuen
Machart Walter Scotts, der mit einem jungen Adeligen als Protagonisten das
tragische Ende eines der letzten königstreuen Widerständler gegen das
Revolutionsregime schildert. Les Chouans war zugleich das erste Werk, das
Balzac mit seinem Namen zeichnete. Diesem setzte er rasch ein „de“ voran, als
ihm der Erfolg die Pariser Salons zu öffnen begann.
In den Folgejahren führte er eine äußerst vielfältige und
bewegte Existenz. So gründete er 1830, im Jahr der Julirevolution, mit dem
späteren Zeitungsmagnaten Girardin eine politische Zeitschrift. 1831 und
nochmals 1832 erwog er, für ein Abgeordnetenmandat zu kandidieren, beschränkte
sich dann aber auf eine Rolle als sehr aktiver Journalist, wobei er 1835 sogar
Mehrheitsaktionär der politischen und literarischen Zeitschrift Chronique de
Paris wurde, die jedoch schon 1836 einging. Seine politische Position
rückte in diesen Jahren deutlich nach rechts, denn 1832 hatte er, der
pseudoadelige Bourgeois, über eine adelige Freundin, die Marquise de Castries,
Anschluss an Kreise der Legitimisten gefunden, d.h. Adeliger aus meist alten
Familien, die den 1830 zurückgetretenen Charles X weiterhin als legitimen König
betrachteten und sich dem neuen „Bürgerkönig“ Louis-Philippe verweigerten.
Daneben war Balzac viel unterwegs, um Gast in den
Sommerresidenzen vornehmer Leuten zu sein und/oder einer der zahlreichen, meist
verheirateten Damen zu folgen, mit denen er Verhältnisse anstrebte oder
unterhielt. Hierbei wurde er offenbar auch Vater außerehelich gezeugter Kinder,
und zwar 1834 einer Marie du Fresnay und 1836 eines Lionel-Richard
Guidoboni-Visconti.
1832 trat brieflich die polnische Gräfin Hanska mit ihm in
Kontakt, die nach ihrem ersten Treffen im Winter 1833/34 in der Schweiz und
einem weiteren Treffen 1835 in Wien eine wichtige Figur in seinem Leben wurde
und ihn, nach ihrer Verwitwung 1841, 1850 schließlich auch heiratete.
Vor allem aber schrieb Balzac. Nach dem Erfolg der Chouans
passabel bezahlt und zunehmend anerkannt, verfasste er Erzählungen und Romane,
die in der Regel zunächst in Fortsetzungen in Zeitschriften herauskamen, ehe
sie in Buchform erschienen. Schon früh entwickelte er die Gewohnheit, jeweils
mehrere schon gedruckte Werke unter Gruppentiteln zusammengefasst und revidiert
nochmals herauszubringen, so 1830 die zweibändigen Scènes de la vie privée (mit
u.a. La Maison du chat qui pelote und Gobseck), 1831 die Romans
et contes philosophiques (mit u.a. La Peau de chagrin), 1832 einen
ersten Band Contes drôlatiques und 1833 die zweibändigen Scènes de la
vie de Province (mit u.a. Eugénie Grandet). Auch das Gros seiner
Jugendwerke versuchte er 1836 ein zweites Mal zu vermarkten in der
Sammelausgabe Œuvres complètes d’Horace de Saint-Aubin.
Im Oktober 33 schloss Balzac einen Verlagsvertrag, wonach er
aus vorhandenen und noch zu schreibenden Werken eine drei mal vier, d.h.
insgesamt zwölf Bände umfassende Sammlung von „Szenen“ zu erstellen hatte, die
unter dem Generaltitel Études de mœurs au XIXe siècle erscheinen sollten. Noch 1833 lieferte
er zwei Bände Scènes de la vie de province, 1834 begann er die Scènes
de la vie parisienne.
Im selben Jahr
34 hatte er beim Schreiben eines seiner besten Werke, Le Père Goriot,
die Idee, Figuren seiner bis dahin verfassten und der künftigen Erzählungen und
Romane immer wieder neu auftreten zu lassen, um mit diesem Kunstgriff die
Handlungen in einem gewissen Umfang zu verflechten und eine für den Leser
überschaubare Welt zu schaffen. Wirklich schuf Balzac im Lauf der nachfolgenden
13-14 Jahre ein Universum von gut 2000 Figuren, die zugleich Repräsentanten der
nachrevolutionären franz. Gesellschaft sein sollten und in der Tat eine
plastische Vorstellung vom Leben zumindest der zeitgenössischen bürgerlichen
und adeligen Schichten samt ihren Domestiken vermitteln.
Im selben Jahr
34 hatte er beim Schreiben eines seiner besten Romane, Le Père Goriot,
die entscheidende Idee, die Figuren seiner bis dahin verfassten und der
künftigen erzählenden Werke immer wieder neu auftreten zu lassen, um mit ihnen
und um sie herum eine überschaubare Welt entstehen zu lassen. Wirklich entstand
so im Lauf der Zeit ein Universum von gut 2000 Figuren, die zugleich
Repräsentanten der nachrevolutionären franz. Gesellschaft sein sollten und in
der Tat eine plastische Vorstellung vom Leben zumindest der zeitgenössischen
bürgerlichen und adeligen Schichten samt ihren Domestiken vermitteln.
Entsprechend schloss Balzac 1841 mit einer Verlegergruppe
einen Vertrag für eine neue Gesamtausgabe seines vorhandenen und geplanten
erzählerischen Œuvres und gab dieser, als er sie 1842 mit drei ersten Bänden
eröffnete, den Obertitel des Ganzen La
Comédie humaine. Die einzelnen Romane und Erzählungen dieses Ganzen sollten
darin nicht nur zu den Großgruppen Études
philosophiques, Études analytiques und Études
de mœurs zusammengefasst werden, sondern auch noch zu Untergruppen (Scènes de la vie privée usw.). Zur
Verwirklichung seines Projekts schrieb Balzac in den nächsten Jahren wie
besessen. Sein infernalischer Arbeitsrhythmus von oft 15 bis 17 Stunden täglich
(den er wie symbolisch in einer Art Mönchskutte absolvierte) und sein enormer
Kaffeeverbrauch wurden legendär.
Die außergewöhnliche Vitalität und Schaffenskraft Balzacs
beschränkten sich im Übrigen nicht auf seine literarische Aktivität als Erzähler,
Journalist und gelegentlicher, allerdings stets erfolgloser Dramatiker.
Vielmehr war er auch ein Lebemann, der trotz seiner ständig wachsenden Schulden
einen luxuriösen Lebensstil mit Kutsche, eleganter Kleidung, schönen Wohnungen
und sogar einem Landsitz zu unterhalten versuchte und ein aufwändiges
gesellschaftliches Leben pflegte. Auch hatte er bis ca. 1843 fast ständig
Geliebte, wobei er es immer wieder schaffte, aufopferungswillige und oft auch
zu finanzieller Hilfe bereite Frauen aus den besten Kreisen an sich zu binden.
1839 betätigte er sich als Vorsitzender des neugegründeten
Schriftstellerverbandes.
Spätestens 1843 und verstärkt ab 1844 bekam er aufgrund der
Überspannung seiner Kräfte und seines exzessiven Kaffeekonsums
Gesundheitsprobleme. Er versuchte jedoch, sie mit Arbeit zu betäuben oder auf
Reisen zu und mit Mme Hanska zu vergessen, die ab 1845 seine mehr oder weniger
feste, wenn auch niemals ständige Partnerin wurde. Mit ihr bereiste er in drei
Sommern Frankreich, Deutschland, Italien und die Schweiz und verbrachte auf
ihrem Schloss in der heutigen Ukraine den Winter 47/48 und das ganze Jahr 49.
Seine Hoffnung, sich dort gesundpflegen zu lassen, erfüllte sich jedoch nicht.
Er starb, nachdem er Mme Hanska im März 1850 geheiratet und zur Alleinerbin
eingesetzt hatte, kurz nach seiner offenbar strapaziösen Rückreise nach Paris.
Die Gedenkrede an seinem Grab hielt der drei Jahre jüngere Victor Hugo.
Die Aufnahme in die Académie française war Balzac trotz
mehrerer Anläufe (1839, zuletzt in Abwesenheit 1849) nicht vergönnt: seine in
der Tat von Eile geprägte Schreibweise galt bei der professionellen
Literaturkritik lange als stillos und unseriös. Immerhin wurde er 1845 mit dem
Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet.
Aller Wahrscheinlichkeit nach bezog seine Witwe
erfreulichere Einkünfte aus seiner Schriftstellerei als er zu seinen Lebzeiten
selbst erzielt hatte. Er pflegte nämliche seine eigentlich durchaus guten
Honorare ganz erheblich dadurch zu schmälern, dass er auf den Korrekturfahnen
seiner Texte (d.h. den Probeausdrucken) so viele Verbesserungen anbrachte, dass
das Ganze jeweils neu gesetzt werden musste.
Balzacs Erzählweise gilt in der Literaturgeschichte als
prototypisch für den traditionellen Roman „à la Balzac“, d.h. einen Roman mit
interessanten, nicht eben Durchschnittstypen verkörpernden Protagonisten, einer
interessanten und mehr oder minder zielstrebigen Handlung sowie einem
eindeutigen Vorherrschen der auktorialen Erzählsituation.
Seine heute bekanntesten Romane und
Erzählungen sind: La Peau de chagrin
(1831); Le Colonel Chabert (1832); Le
Médecin de campagne (1833); Contes
drôlatiques (1832-37); Le Lys dans la
vallée (1836); Histoire de la
grandeur et de la décadence de César Birotteau
(1837/38); Illusions perdues (1837-43); La Cousine Bette, Le Cousin Pons, (1847), sowie vor allem Eugénie Grandet (1833) und Le
Père Goriot (1834).
Anhang:
Eugenie Grandet erzählt
die Geschichte einer Provinzlerin, die sich als junges Mädchen in ihren Cousin
Charles verliebt, als dieser aus Paris auftaucht, um nach dem Bankrott und
Selbstmord seines Vaters ihren Vater um Hilfe zu bitten, die der aus Geiz aber
ablehnt. Nachdem Charles ihr die Ehe versprochen hat, vertraut Eugénie ihm
heimlich ihre Jung-Mädchen-Ersparnisse an, damit er in den Kolonien einen
Handel aufziehen kann. Wirklich wird er dort reich, doch wird er auch
egoistisch. So heiratet er bei seiner Heimkehr nach sieben Jahren nicht die
wartende Eugénie, sondern eine verarmte junge Adelige, deren Familie ihn mit
der Aussicht auf den Adelstitel ködert. Die tief getroffene Eugénie, die
inzwischen den immensen Reichtum ihres Vaters geerbt hat (den sie selbst und
Charles völlig unterschätzt hatten), gibt nun ihr Jawort einem betuchten hohen
Richter, der sie und ihr Geld schon seit langem umworben hat. Um Charles zu
zeigen, was ihm entgeht, bezahlt sie mit links die noch offenen Schulden seines
Vaters und lässt ihn ihren Vermögensstand wissen. Nachdem sie relativ bald
Witwe geworden ist und so auch noch den nicht unbeträchtlichen Besitz ihres
Mannes geerbt hat, zieht sie sich, früh vereinsamt und frustriert in
Frömmigkeit und Wohltätigkeit zurück. Fazit: Geld macht nicht glücklich, Liebe
dagegen kann es – wenn man sie lässt.
Le Père Goriot
erzählt zwei locker verflochtene Geschichten: die letzten Stufen des Abstiegs
des ursprünglich reichen Nudelfabrikanten Goriot, der sich von seinen beiden
mit Adeligen verheirateten Töchtern bis auf den letzten Pfennig ausplündern
lässt, und die ersten Stufen des Aufstiegs des armen jungen Provinzadeligen Eugène
de Rastignac, dem es gelingt, in Pariser Adelskreisen Fuß zu fassen und
zugleich als Geliebter der jüngeren Tochter Goriots eine „éducation
sentimentale“ zu erfahren. Balzac entlässt den Leser mit der Vorstellung, dass
Eugène bald weiter aufsteigen wird, gibt aber keinen Hinweis darauf, wie und
wohin – vermutlich deshalb nicht, weil er sichtlich gar kein tragfähiges
Projekt für ihn hat. In der Tat waren 1834 (dem Entstehungsjahr des Romans) die
schönen Zeiten von 1819 (dem Jahr der Handlung) vorbei, wo ein junger Adeliger
allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Adel in Paris Karriere machen konnte.
Denn die Juli-Revolution von 1830 hatte die Großbourgeoisie an die Macht
gebracht, was deren in der Regel besser ausgebildeten Söhnen gleiche, wenn
nicht größere Chancen verschaffte.
Victor Hugo (*26.2.1802
Besançon; †22.5.1885 Paris)
Dieser
in praktisch allen literarischen Gattungen tätige und äußerst fruchtbare Autor
gilt vielen Franzosen als ihr größter Autor überhaupt und hat in Frankreich
etwa den Status wie Goethe im deutschsprachigen Raum.
Hugo
war Sohn eines napoleonischen Obersten, der 1809 zum General befördert und in
den erblichen Adelstand eines Grafen (comte) erhoben wurde. Seine und seiner
beiden älteren Brüder Kindheit war sehr unruhig. Nicht nur war der Vater als
hoher Militär häufig abwesend, sondern auch die Mutter, die sich offenbar früh
von ihrem Mann entfremdet hatte und ein Verhältnis mit einem Generalskollegen
eingegangen war (der 1810 als Verschwörer verhaftet und 1812 hingerichtet wurde).
Hugo wuchs überwiegend in Paris auf, verbrachte aber mit seiner Familie auch
längere Zeit beim Vater in Neapel (1807/08) und in Madrid (1811/12). Ab 1812,
nach der Trennung der Eltern, lebten er und sein mittlerer Bruder Eugène in
Paris, zunächst bei der Mutter. Als 1815 auch der älteste Bruder Abel nach
Paris kam, wurden sie vom Vater in ein Privatinternat („Pension“) gegeben, von
wo aus sie das Lycée Louis-le-Grand besuchten.
Vielleicht
schon mit 10 begann Hugo zu schreiben und bald war sein Ziel, „être
Chateaubriand ou rien (Ch. zu werden oder nichts)“. Mit 15 erhielt er in einem
Dichtwettbewerb der Académie Française eine „ermutigende Erwähnung“. 1818
begann er, wieder bei seiner Mutter lebend, gemeinsam mit Eugène ein
Jurastudium. Mit 17 (1819) gründete er mit beiden Brüdern (die ebenfalls zu
schreiben versuchten) eine kurzlebige literarische Zeitschrift, Le Conservateur littéraire, nach dem
Vorbild von Chateaubriands politischer Zeitschrift Le Conservateur; denn
sie waren zu dieser Zeit, unter dem Einfluss der Mutter, überzeugte Royalisten.
1819 bekam Hugo eine Auszeichnung in einem Dichtwettbewerb und knüpfte erste
Beziehungen in Pariser Literatenkreisen. 1820 erhielt er eine Gratifikation für
seine Ode sur la mort du duc de Berry
(eines von einem Attentäter erschossenen Neffen von König Louis XVIII und
potenziellen Thronerben).
Im
selben Jahr 1820 druckte Le Conservateur (der Anfang 1821 einging) sein
erstes erzählendes Werk, Bug-Jargal,
das während des Sklavenaufstandes spielt, durch den Haïti 1791 von der
Kolonialmacht Frankreich praktisch unabhängig wurde.
1822
kam sein erster Gedichtband Odes et
poésies diverses heraus, der ihm eine königliche Pension von 1000 Francs
jährlich eintrug (von der eine bescheidene Einzelperson fast leben konnte).
Nach der Wiederverheiratung seines Vaters und dem Tod der Mutter (1821),
ehelichte Hugo 1822 die 19jährige Adèle Foucher, eine Kindheitsfreundin, mit
der er seit drei Jahren heimlich verlobt war. Ein erstes Kind starb kurz nach
der Geburt (1823); vier weitere folgten: 1824 Léopoldine, 1826 Charles, 1828
François-Victor, 1830 Adèle (die als einzige Hugo überlebte).
1823
kam sein erster Roman heraus, die Schauergeschichte Han d'Islande, die ihm eine weitere Pension von 2000 Francs
einbrachte, womit das Existenzminimum der jungen Familie gesichert war.
Nachdem
1824 der Sammelband Nouvelles Odes
erschienen war, fand Hugo als hoffnungsvoller junger Autor Hugo Zutritt zu dem
literarischen Salon von Charles Nodier (s.o.), der die erste Generation der
franz. Romantiker um sich versammelte.
1825
wurde er zum Chevalier de la Légion d'Honneur ernannt und war er geladener Gast
bei der Krönungszeremonie von Charles X, des jüngeren Bruders und Nachfolgers
von Louis XVIII, in der Kathedrale von Reims. Auf der Geburtsanzeige von Sohn
Charles (1826) figuriert er stolz als „baron“.
Bald
danach jedoch änderte er unter dem Einfluss seiner neuen Romantiker-Freunde
seine politische Einstellung und mutierte vom Royalisten zum oppositionellen
Liberalen. 1826 erschien in Buchform und zum Roman verlängert eine neue Version
von Bug-Jargal.
1827
verfasste er ein erstes Versdrama, Cromwell.
Dieses erwies sich zwar als kaum spielbar, das Vorwort jedoch, die berühmte Préface de Cromwell, wurde zum Manifest des neuen romantischen Theaters und
überhaupt der romantischen Schule, zu deren unbestrittenem Chef Hugo inzwischen
aufgerückt war.
1829
veröffentlichte er den tagebuchartigen Roman Le dernier jour d'un condamné à mort, ein Plädoyer gegen die
Todesstrafe und indirekte Regimekritik. Im selben Jahr verfasste er die
melodramatischen historischen Stücke Marion
Delorme, das vor der Aufführung als regimekritisch verboten wurde, und Hernani. Dessen Uraufführung am 25.
Februar 1830 ging als „bataille d'Hernani“
(Schlacht um H.) in die Literaturgeschichte ein, als lautstark im
Publikum ausgetragene Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des
klassizistischen Regeltheaters und den Adepten des neuen romantischen Theaters,
das vor allem die „Wahrheit“ der Darstellung intendierte. Privat ging es ihm allerdings
weniger gut: Ehefrau Adèle begann ein Verhältnis mit seinem Freund und
Literatenkollegen Sainte-Beuve, das er hilflos duldete und dessen Reflexe sich
in Gedichten der Sammlung Les feuilles
d'automne (Herbstblätter, Ende 1831) finden.
Anfang
1831 publizierte Hugo eines seiner erfolgreichsten Werke, den um 1480
spielenden Roman Notre-Dame de Paris (Der Glöckner von N.-D.). In den
nächsten Jahren verfasste er hauptsächlich historische Stücke, deren erstes, Le Roi s'amuse (1832) nach einigen Aufführungen als politisch missliebig
verboten wurde, denn Hugo war, zusammen mit anderen jungen Intellektuellen,
schon bald nach der Juli-Revolution von 1830 in Opposition zu dem neuen Regime
des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe gegangen. Die nächsten Stücke wurden jedoch
zunehmend weniger kritisch. Es waren:1833 Lucrèce
Borgia und Marie Tudor, 1835 Angelo, 1838 Ruy Blas. Gegen 1837 machte Hugo die persönliche Bekanntschaft
Louis-Philippes und näherte sich ihm politisch an.
Wie
immer schrieb und publizierte er ständig auch Gedichte, die er von Zeit zu Zeit
gesammelt herausgab: 1835 Les Chants du
crépuscule, 1837 Les voix intérieures,
1840 Les rayons et les ombres.
Inzwischen
ging es ihm auch privat wieder besser: Anfang 1833 hatte er die vier Jahre
jüngere Schauspielerin Juliette Drouet kennengelernt, mit der er bis zu ihrem
Tod 1883 zusammenlebte.
1838
erwarb ein Verlag für enorme 300.000 Francs die Rechte an den bisherigen Werken
Hugos. 1841 wurde er nach mehreren Anläufen endlich in die Académie française
gewählt. 1843 war sein Drama Les
Burgraves ein kompletter Misserfolg, der ihm für immer die Freude am
Theater verdarb. Ein anderer, größerer Schicksalsschlag war im selben Jahr der
Unfalltod seiner Lieblingstochter Leopoldine.
1845
ernannte König Louis-Philippe ihn zum Vicomte und zum Pair, d.h. zum
Lebenszeitmitglied der Chambre des Pairs, des parlamentarischen Oberhauses (das
allerdings schon 1848, nach der Februar-Revolution, abgeschafft wurde).
1847
begann Hugo einen sozial engagierten Roman in der Manier von Eugène Sues Les mystères de Paris, der aber erst
1862 als Les Misérables fertig werden
sollte. Bei der Februarrevolution war er zunächst begeistert, schlug sich nach
dem Juni-Aufstand der Pariser Arbeiter aber auf die Seite des konservativen
„Parti de l'ordre“ und dann auf die des neugewählten Präsidenten Louis-Napoléon
Bonaparte. Zum konservativen Abgeordneten gewählt, konsternierte er jedoch
seine politischen Freunde durch sozial engagierte und politisch liberale Reden.
Als
er sich gegen den Staatsstreich auflehnte, mit dem sich Bonaparte am 2. Dez.
1851 zum Präsidenten auf Lebenszeit machte, wurde Hugo kurz inhafttiert und
musste ins Exil. Er ließ sich nieder auf der Kanalinsel Jersey und dann auf
Guernsey, in Saint Peter Port, von wo aus er Bonaparte, der sich am 2. Dez.
1852 auch zum Kaiser hatte ausrufen lassen, als „Napoléon le Petit“, satirisch
attackierte.
Auch
sonst blieb er enorm produktiv: 1862 kam erfolgreich Les Misérables heraus, ein monumentaler melodramatischer Roman, der
mit einer spannenden Handlung um den entsprungenen Galeerensträfling Jean
Valjean vor allem auf das Elend der proletarisierten Arbeitermassen aufmerksam
machen sollte, die Paris inzwischen be- bzw. übervölkerten. Daneben erschienen
immer wieder Gedichtsammlungen (mit hohem Anteil politisch und sozial
engagierter Texte): 1853 Châtiments,
1856 Contemplations, 1859 Chansons des rues et des bois und La Légende des siècles. 1866 publizierte Hugo Les travailleurs de la mer,
einen Roman, der das harte Leben der Küstenfischer schildert, 1869 L'Homme qui rit (Roman), 1874 Quatre-vingt-treize, einen historischen Roman über den politischen
Terror des Schreckensjahres 1793.
1871,
nach dem Sturz von Kaiser Napoléon III, kehrte Hugo aus dem Exil zurück, doch
misslangen zunächst seine Versuche, in der Politik der jungen Dritten Republik
Fuß zu fassen. Erst 1876 wurde er in den als neues Oberhaus fungierenden Sénat gewählt. Nach einem
Gehirnschlag 1878 ließ seine Schaffenskraft nach, doch konnte er noch einige
Jahre seinen Ruhm genießen.
Heute
wird er – mit Ausnahme von Les Misérables
– nicht mehr allzuviel gelesen; sein Theater ist obsolet und seine oft sehr
pathetische Lyrik größtenteils ungenießbar geworden. Für literarhistorisch
Interessierte ist die Kenntnis Hugos gleichwohl ein Muss.
Alexandre Dumas (auch Alexandre Dumas Davy de la
Pailleterie; *24.7.1802 in Villers-Cotterêts; †5.12.1870 bei Dieppe)
Er
ist immer noch fast jedem Franzosen bekannt dank seinen legendär gewordenen
Romanfiguren d’Artagnan, den drei Musketieren und dem Grafen von Monte-Christo.
Dumas
war Enkel eines Marquis Alexandre Davy de la Pailleterie, der um 1760 für
längere Zeit bei einem jüngeren Bruder, Plantagenbesitzer auf Saint-Domingue
(heute Haïti), geweilt und dabei mit der Negersklavin Marie-Césette Dumas nacheinander
vier Kinder gezeugt hatte. Gegen 1775 hatte der Marquis seine Bettgenossin und
die Kinder als Sklaven verpfändet und war nach Frankreich zurückgekehrt. Wenig
später löste er das jüngste Kind, Thomas Alexandre (*1762), aus, holte es nach
Frankreich und ließ ihm unter seinem adeligen Namen eine passable Erziehung
angedeihen. 1786, kurz vor seinem Tod, überwarf er sich mit dem 24-Jährigen,
und dieser trat unter dem Namen seiner Mutter als einfacher Dragoner in die
Armee ein. Während eines längeren Aufenthaltes von Teilen seines Regiments in
Villers-Cotterêts lernte Th. A. Dumas hier die Gastwirtstochter Marie Labouret
kennen, die er 1792 heiratete. In den fast pausenlosen Kriegen der
nachfolgenden Jahre machte er eine fulminante Karriere, die ihn bis zum Rang
eines Generals führte, des ersten farbigen der franz. Armee. Während des
Ägyptenfeldzugs Napoleons 1798/99 fiel er jedoch bei diesem in Ungnade und
geriet bei dem Versuch, vorzeitig nach Frankreich zurückzukehren, in
Gefangenschaft im feindlichen Königreich Neapel. Nachdem er 1801 per Austausch
freigekommen war, kehrte er zu seiner Frau zurück und wurde 1802 Vater eines
nächsten Alexandre, des späteren Schriftstellers. Im selben Jahr wurde er
zusammen mit anderen farbigen Offizieren aus der Armee ausgeschlossen, weil
Saint-Domingue sich als Haïti für unabhängig erklärt hatte und somit als
Feindesland galt. Er starb 1806 mit 44.
1812
schaffte es offenbar seine Witwe, für ihren zehnjährigen Sohn zusätzlich den
adeligen Namensanteil eintragen zu lassen, den man hier und dort als
eigentlichen Namen Dumas’ angegeben findet, den er selbst aber nicht oder kaum
verwendet zu haben scheint.
Eine
solide Schulbildung genoss Dumas nicht, vielmehr musste er schon 1816 einen
Schreiberposten bei einem Notar annehmen. Daneben jedoch versuchte er sich früh
zusammen mit einem Freund im Stückeschreiben. 1822 ging er nach Paris, wo er
dank seiner schönen Handschrift (was damals ein Kapital darstellte) und der
Vermittlung eines Generalskollegen seines Vaters einen Posten im Büro des Duc
d'Orléans erhielt, des späteren "Bürgerkönigs" Louis-Philippe. 1824
wurde er Vater eines unehelichen Sohnes, den er 1831 legitimierte: des späteren
Schriftstellers Alexandre Dumas fils (der Jüngere).
1825
verdiente er sein erstes Honorar als Co-Autor eines Stücks, 1826 beteiligte er
sich an der Abfassung eines ebenfalls aufgeführten Vaudevilles. Darüberhinaus
betätigte er sich in diesen Jahren als Lyriker sowie als Journalist. Spätestens
seit 1828 hatte er Zugang zum Salon des Autors Charles Nodier (s. o.), der die
erste Romantiker-Generation um sich versammelte. Hier lernte er Victor Hugo
kennen (s. o.), dessen Kreis, dem „cénacle“, er sich anschloss.
Ein
erstes historisches Stück mit dem Titel Christine
(sc. Königin Christina von Schweden) wurde zwar angenommen, aber nicht
aufgeführt. Schlagartig bekannt wurde Dumas dann 1829 durch den Erfolg seines
historischen Stücks Henri III et sa cour
(=H. und sein Hof), das als erstes spielbares romantisches Drama gilt.
1830
beteiligte er sich sehr aktiv an der Juli-Revolution, geriet aber schon 1832 in
Distanz, wenn nicht in Opposition zum neuen Regime seines Ex-Protektors
Louis-Philippe. Dies hinderte ihn nicht, 1833 seinen jungen Status als
Erfolgsautor mit einem prächtigen Fest für die Pariser Literaten zu
demonstrieren.
Nach
dem Henri III verfasste er zahlreiche
weitere historische und andere Stücke, die er mehr und mehr wieder in
Zusammenarbeit mit Co-Autoren verfasste, darunter 1837 und 39 auch mit Gérard
de Nerval (s. u.). Eher autobiografisch waren die Stücke Antony (1831), das um das ihm sehr vertraute Skandalthema Ehebruch
kreist, und das erfolgreiche Kean, ou
Désordre et génie (=K. oder Unordnung und Genie,1836), wo sich Dumas
in die Figur jenes berühmten exzentrischen englischen Schauspielers
hineinprojiziert (1953 von J.-P. Sartre
neu bearbeitet). Sein erfolgreichstes Stück wurde 1839 Mademoiselle de Belle-Isle, das bis 1844 über vierhundert
Aufführungen erlebte.
Nachdem
er sich ab 1835 mit mehreren Novellen auch als Erzähler versucht hatte,
verfasste er ab 1838 erste Romane in Zusammenarbeit mit dem heute unbekannten
jüngeren Autor Auguste Maquet (1813-1888). Wirklich populär wurde er nach 1840,
wo er mit Maquet und dann mehr und mehr in Serienproduktion mit weiteren
Angestellten (sog. „nègres“) begann, spannende Abenteuerromane herzustellen
(insgesamt ca. 600 Bde.!). Diese erschienen i.d.R. zuerst im Feuilleton von
Zeitungen, bevor sie als Bücher gedruckt und z.T. anschließend für die Bühne
adaptiert (und im 20. Jh. verfilmt) wurden.
Ein
Markenzeichen der Dumas'schen Romane ist das Hineinstellen fiktiver oder
pseudohistorischer Protagonisten (z.B. des „mousquétaire“ d'Artagnan) und ihrer
fiktiven Abenteuer in einen Kontext historischer Ereignisse (z.B. die Belagerung
von La Rochelle 1627/28) und historischer Personen (z.B. Richelieu).
Die
bekanntesten, immer wieder aufgelegten und nicht nur von Jugendlichen gelesenen
Romane sind: Les trois mousquétaires/Die
drei Musketiere (1843), Vingt ans
après/Zwanzig Jahre später (1845), La
reine Margot (=Königin M.,1845), Le
comte [=Graf] de Monte-Christo
(1845-46) und Le collier de la reine/Das
Halsband der Königin (1848-50). Die neben den Romanen auch weiterhin
regelmäßig mit Co-Autoren produzierten Stücke wurden zwar allesamt gespielt,
sind heute aber praktisch vergessen.
Über
seiner Schriftstellerei verzichtete Dumas nie darauf, seine offenbar enorme
Vitalität in vielerlei politischen, mondänen, unternehmerischen,
organisatorischen und intimen Aktivitäten auszuleben, und zwar so sehr, dass er
trotz seiner beachtlichen Einkünfte oft in Schulden steckte, denen er sich z.T.
durch längere Auslandsaufenthalte zu entziehen versuchte, darunter 1851-53 in
Belgien, 1858/59 in Russland oder 1860-64 in Italien, wo er sich im Umkreis des
Italien-Einigers Giuseppe Garibaldi bewegte.
Selbstverständlich
verstand er es anschließend jeweils, diese Reisen in Reportagen zu verarbeiten,
die damals von den Zeitschriften und Zeitungen sowie auch von Buchverlagen
gesucht und gut bezahlt wurden. Sein bewegtes Leben vermarktete Dumas
ebenfalls, in den vielbändigen Mémoires
(1852-54 in Brüssel publiziert).
Nachdem
er schon des öfteren von Neidern als Literaturfabrikant ohne eigene
schöpferische Leistung abqualifiziert worden war (was sicherlich ungerecht ist)
und 1857/58 von seinem kreativsten Co-Autor A. Maquet auf Beteiligung an den
Namensrechten für die gemeinsamen Romane verklagt worden war, geriet Dumas in
seinen letzten Lebensjahren etwas ins Abseits des Literaturbetriebs, wenn nicht
in Vergessenheit. Zu seiner Renaissance im 20. Jh. (nunmehr unter der ebenso
ungerechten Verdrängung der Leistung Maquets) trugen zweifellos die zahlreichen
Kino- und Fernsehfilme bei, die nach seinen Stücken und Romanen gedreht wurden.
2002,
zum 200. Jahrestag seiner Geburt, wurden seine Gebeine feierlich ins Pantheon
überführt – auch als ein Signal gegen den Rassismus, denn Dumas war zu seinen
Lebzeiten aufgrund seiner Abkunft und seines leicht negroiden Aussehens oft als
„Neger“ geschmäht worden.
Sein unehelicher, aus einem seiner
vielen Verhältnisse stammender Sohn Alexandre
Dumas "fils" (1824–1895) trat zumindest literarisch in die
Fußstapfen des Vaters. Seinen Durchbruch erzielte er 1848 mit dem sehr
erfolgreichen Roman La Dame aux camélias
(Die Kameliendame), den er 1852 zu einem ebenso erfolgreichen Stück
verarbeitete (das 1853 von Verdi als La
Traviata zur ebenfalls erfolgreichen Oper vertont wurde). Hiernach wendete
sich Dumas fils ganz dem Boulevard-Theater zu und wurde einer der bekanntesten
Dramatiker der 1850er und 60er Jahre, wo er die Unterhaltungsbedürfnisse der
aufstrebenden Bourgeoisie des Second
Empire von Napoléon III befriedigen half.
Prosper Mérimée (*28.9.1803 Paris; †23.9.1870 Cannes)
Sein
Platz in der franz. Literaturgeschichte ist gewissermaßen ganz vorne in der
zweiten Reihe der zwischen Romantik und Realismus oszillierenden Autoren. In
Deutschland ist er kein völlig Unbekannter dank seiner Novellen Carmen
und Mateo Falcone.
Mérimée
wurde geboren als Sohn gutbürgerlicher, geistig interessierter und sehr
anglophiler Eltern. Nach dem Besuch des Lycée Napoléon alias Henri-IV (ab
1815), absolvierte er ein Jurastudium.
Zugleich
begann er sich als Autor zu betätigen, z.B. mit ersten dramatischen und
erzählerischen Versuchen sowie einer Übertragung der Poems of Ossian, der damals vielgelesenen (auch z.B. von Goethe
hochgeschätzten) Gesänge eines angeblichen altkeltischen Barden, die um 1770
ein gewisser James Macpherson gesammelt und ins Englische übersetzt haben
wollte.
Früh
auch fand Mérimée Zutritt zu Pariser Künstler- und Literatenkreisen. So lernte
er schon 1822 z.B. Stendhal kennen, mit dem er befreundet blieb, sowie danach
die meisten Romantiker, darunter deren erstes Oberhaupt Charles Nodier, oder
Victor Hugo, dem er bei der denkwürdigen „bataille d'Hernani“ (1830)
applaudieren half. 1825 und 26 bereiste er England und 1830 Spanien (wo er die
Familie der späteren Gattin des späteren Kaisers Napoléon III kennenlernte, was
ihm von Nutzen sein sollte).
Sein
erstes gedrucktes Werk war 1825 Théâtre
de Clara Gazul, comédienne espagnole, eine Sammlung von Stücken, die
angeblich von einer spanischen Schauspielerin dieses Namens verfasst waren und
in denen gemäß der neuen romantischen Ästhetik die klassischen drei Einheiten
missachtet werden. 1827 publizierte Mérimée La
Guzla, ou Choix de poésies illyriques, recueillis dans la Dalmatie, la Croatie
et l'Herzégovine, eine Sammlung angeblicher Übertragungen angeblicher
Volkslieder aus Illyrien (dem Schauplatz von Nodiers Räuberroman Jean Sbogar, 1818). Hiermit betätigte er
sich in der romantischen Modegattung Volksliedersammlung, die 1806-08 von
Clemens Brentano und Achim von Arnim mit Des
Knaben Wunderhorn initiiert worden war.
1828
versuchte sich Mérimée nochmals als Dramatiker und publizierte die unaufgeführt
gebliebenen Stücke La Jacquerie, scènes
féodales und La Famille Carvajal,
drame. Hiernach war er praktisch nur noch Erzähler. Er begann, mäßig
erfolgreich, mit 1572 : Chronique du
temps de Charles IX (1829), einem historischen Roman à la Walter Scott,
dessen Handlung im Jahr der Bartholomäusnacht, d.h. zur Zeit der
Religionskriege, spielt.
Dauerhaften
Ruhm erlangte er dann mit einer Serie von gut 25 Erzählungen, die zunächst
(1829/30) in rascher, anschließend nur noch in lockerer Folge erschienen und
ihn zu einem Klassiker der neuen Modegattung Gattung Novelle machten. Die
bekanntesten dieser Erzählungen sind: Mateo
Falcone, Tamango (beide 1829), Le
Vase étrusque (1830), La Vénus d'Ile (1837), Colomba (1841) und Carmen (1847; 1874 von
Georges Bizet zu seiner berühmten Oper verarbeitet).
Nach
der Juli-Revolution 1830 hatte Mérimée immer weniger Zeit zum Schreiben. Er
hatte sich dem neuen Regime des "Bürgerkönigs" Louis-Philippe
angeschlossen und avancierte 1834, im Anschluss an einige höhere Posten in
diversen Ministerien und an die Ernennung zum Chevalier de la Légion d'honneur,
zum obersten franz. Denkmalschützer (Inspecteur des monuments historiques de France). Dies ließ ihn viel unterwegs sein, auch im Ausland, und
füllte ihn mehr und mehr aus.
Immerhin
gewann er beim Reisen nebenher den Stoff für etliche der damals bei
Zeitschriften und Buchverlagen begehrten Reisereportagen (z.B. Notes d'un voyage dans le midi de la France,
1835; oder Notes d'un voyage en Corse,
1840).
1844
wurde er mit knapper Mehrheit in die Académie française gewählt, doch war zu
dieser Zeit seine literarische Karriere im Grunde schon beendet.
Die
Februar-Revolution 1848 überstand er unbeschadet in seinem Amt. Nach der
Ernennung von Louis Napoléon Bonaparte zum Staatspräsidenten auf Lebenszeit
(Dez. 51) profitierte er von seiner alten Bekanntschaft mit dessen neuer
spanischen Gattin Eugénie. So wurde er 1852 zum Officier de la Légion d'honneur
befördert. 1853, nachdem Bonaparte sich zum Kaiser Napoléon III hatte ausrufen
lassen (Dez. 52), wurde Mérimée sogar zum Mitglied des parlamentarischen
Oberhauses, des Sénat, ernannt und verkehrte am kaiserlichen Hof. Dies trug ihm
die Missgunst vieler Literaten-Kollegen ein und die Feindschaft alter
Romantiker-Freunde, insbes. Hugos, der inzwischen oppositioneller Republikaner
geworden war.
Ab
1856 gesundheitlich angeschlagen (Asthma) quittierte Mérimée 1860 nach 26
Jahren sein Denkmalschützeramt; einer möglichen Ernennung zum Minister für das Bildungswesen
(1863) wich er aus.
In
seinen letzten Jahren machte er sich verdient als Vermittler der
zeitgenössischen russischen Literatur in Frankreich. Schon 1849 hatte er eine
Novelle von Puschkin nachgedichtet; später betätigte er sich, in Zusammenarbeit
mit den Autoren selbst, als Übersetzer Puschkins (1856) und Turgenjews (1869).
Die
Absetzung seines Protektors Napoléon am 4. Sept. 1870 überlebte er nur um
wenige Wochen.
George Sand (=Amandine-Aurore-Lucile Dupin de
Francueil, verh. Dudevant; *1.7.1804 Paris; †8.6.1876 Nohant)
Diese
sehr fruchtbare Autorin, die es jedoch noch für ratsam hielt, unter einem
männlichen Namen zu schreiben, ist heute hauptsächlich bekannt in ihrer
Eigenschaft als die emanzipierte Frau
des 19. Jh., die sich z.B. nie bemühte, ihre wechselnden Liebesverhältnisse
geheim zu halten.
Sie
wuchs nach dem frühen Tod des Vaters auf bei ihrer Großmutter in Nohant (Berry)
und heiratete früh (1822). 1830 verließ sie samt ihren beiden Kindern ihren
Mann, was damals ungewöhnlich war, um, noch ungewöhnlicher, Schriftstellerin zu
werden.
Sie
arbeitete zunächst zusammen mit dem jungen Autor Jules Sandeau, mit dem sie den
Roman Rose et Blanche verfasste. Nach
der raschen Auflösung des Teams, aus dem sie das Pseudonym "Sand"
mitnahm, schrieb sie zuerst leidenschaftliche Liebesromane aus der Perspektive
der Frau: Indiana, 1831; Valentine, 1832; Lélia, 1833; Jacques,
1834.
Sie
selbst lebte auch nicht eben leidenschaftslos, ihre Verhältnisse waren Legion
(die bekanntesten Geliebten waren 1834 der Autor Musset, 1838 der Komponist
Chopin). Auch sonst war ihre Existenz sehr bewegt, sie lebte teils in Paris,
teils auf Reisen und teils in Nohant, das nach und nach wieder zu ihrem
Lebensmittelpunkt wurde.
1835
liierte sie sich mit dem Saint-Simonisten und Frühsozialisten Pierre Leroux und
schrieb anschließend unter seinem Einfluss sozial engagierte, in den unteren
Volksschichten spielende Romane: Le
Compagnon du tour de France, 1840; Consuelo,
8 Bde, 1842-43; La Comtesse de
Rudolstadt, 8 Bde, 1843-45; u.a.m. Hiernach verlegte sie sich auf Heimat-
und Bauernromane: Le Meunier d'Angibault
1845; La Mare au Diable, 1846; La petite
Fadette, 1849; François le Champi,
1850.
Nach
dem Staatsstreich von Louis-Napoléon Bonaparte am 2. Dez. 1851 zog sie sich,
enttäuscht über das Scheitern der Ziele der Februarrevolution von 1848, ganz
aus Paris zurück und schrieb ihre Histoire
de ma vie (20 Bde., 1854), aber auch weitere Romane, z.B. Les beaux Messieurs de Bois-Doré, 1858.
In
ihren älteren Jahren entwickelte sie sich mehr und mehr zur „bonne dame de
Nohant“, die um sich herum Gutes zu tun und zu bewirken versuchte und auch in
ihrem weiteren Umfeld einflussreich blieb dank ihrer Freundschaft mit vielen
Intellektuellen und Autoren, darunter auch jüngeren, wie Gustave Flaubert.
Gérard de Nerval (=Gérard Labrunie, *22.5.1808 Paris;
†26.1.1855 ebd.)
Er
ist ein als schwer klassifizierbar und schwierig geltender Vertreter der
Romantik, dessen beste Texte heute jedoch frischer wirken als die gar mancher
renommierterer Autoren der Zeit. Mit seinen Übertragungen deutscher Lyrik und
von Goethes Faust war er ein
wichtiger kultureller Mittler zwischen Deutschland und Frankreich.
De
Nerval (wie er sich ab 1831 nannte) wurde geboren in Paris als Sohn eines
Mediziners, der wenig später zum Stabsarzt ernannt und zur franz. Rheinarmee
nach Deutschland versetzt wurde. Da die junge Mutter ihren Mann an seinen
wechselnden Einsatzorten begleiten wollte, gab sie das Kind zu einer Amme im
heimatlichen Valois, starb allerdings schon 1810 im fernen Schlesien. Gérard
kam hiernach zu einem Onkel der Mutter, ebenfalls im Valois. Dort blieb er, bis
er 1814, nach dem Ende der napoleonischen Feldzüge, vom endlich heimgekehrten
Vater nach Paris geholt wurde. Hier besuchte er das Lycée Charlemagne, wo er den
späteren Autor Théophile Gautier (s. u.) als Mitschüler hatte.
Nachdem
er schon mit 13 das Versemachen angefangen hatte, wurde er erstmals 1826 und 27
gedruckt, und zwar mit politisch oppositionellen Gedichten im Trend der
Napoleon-Nostalgie dieser Jahre, sowie mit einem satirischen Sketch über die
„unauffindbaren“, d.h. oft die Sitzungen schwänzenden, Mitglieder der Académie
Française. Zur selben Zeit, d.h. 18-19 Jahre alt, verfasste er eine Übertragung
von Goethes Faust I, die ihm große
Anerkennung verschaffte, als sie 1827 erschien, und die von Hector Berlioz 1829
auszugsweise vertont wurde.
1828
wurde er Victor Hugo vorgestellt und verarbeitete dessen Roman Han d'Islande zu einem Stück, das aber
erst 1831 aufgeführt wurde. Am 25. Febr. 1830 war er mit dem gesamten Kreis der
Romantiker zugegen bei der legendären „bataille d'Hernani“, der „Schlacht“ von Applaus und Buh-Rufen während der
Aufführung des als programmatisch romantisch intendierten Stücks Hernani von Hugo. Im selben Jahr gab er
eine vielbeachtete Anthologie selbst übertragener deutscher Gedichte samt einer
einleitenden „Étude sur les poètes allemands“ heraus.
Obwohl
Nerval als Literat quasi professionell aktiv war, begann er 1832 auf Drängen
des Vaters ein Medizinstudium. Als er jedoch 1834 von einem Großvater 30.000
Francs erbte (wovon eine sparsam wirtschaftende Einzelperson an die 20 Jahre
hätte leben können), brach er das lustlos betriebene Studium ab und schloss
sich der Bohème um Th. Gautier an, jenem provokativ zigeunerhaften Literaten- und
Künstlermilieu am Rand der bourgeoisen Pariser Gesellschaft. Im selben Jahr
unternahm eine erste längere Reise (Südfrankreich und Italien).
Ebenfalls
1834 verliebte er sich in die Schauspielerin Jenny Colon, die ihn zwar offenbar
nicht erhörte, aber bis 1838 stark beschäftigte. So gründete er ihr zu Gefallen
1835 eine aufwendig gemachte Theaterzeitschrift. Als diese ein Jahr später
Pleite ging, war Nerval ruiniert und musste hinfort von seiner Feder leben, was
ihm jedoch als Co-Autor von Theaterstücken, z.B. 1837 und 39 mit dem
geschäftstüchtigen Alexandre Dumas (s.o.), und als Journalist, z.B. mit
Literaturkritiken und Reisereportagen, passabel gelang.
1837
unternahm er mit Gautier zum Zweck des Eindrucksammelns eine Reise nach
Belgien. 1838 führte ihn eine erste Deutschlandreise bis Frankfurt, 1839/40
eine zweite bis Wien. 1840 auch schloss er eine Übertragung des Faust II ab und publizierte einen Band,
der das gesamte Stück sowie weitere deutsche Gedichte enthielt.
1841
hatte er erstmals Wahnvorstellungen und verbrachte fast das ganze Jahr in
Kliniken. 1842 versuchte er mit journalistischen Arbeiten wieder Tritt zu
fassen und bereitete eine Orient-Reise nach dem Muster von Chateaubriand und
Lamartine vor, die ihm frische Kraft und neue Inspirationen bringen sollte.
Tatsächlich war er das ganze Jahr 43 unterwegs: Malta, Kairo, Beirut, Rhodos,
Smyrna. Berichte über diese Reise veröffentlichte er ab 1844 in Zeitschriften.
Auch
in den Jahren 44 bis 47 war Nerval viel unterwegs (Belgien, Holland, London,
Umland von Paris) und verfasste entsprechende Reportagen. Zugleich betätigte er
sich als Novellist und Lyriker sowie als Übersetzer der Gedichte Heinrich
Heines, mit dem er befreundet war (gedruckt 1848).
1848
brachte er unter dem Titel Scènes
orientales, I: Les Femmes du Caire eine Teilsammlung der Berichte von
seiner Orient-Reise als Buch heraus, das jedoch aufgrund der Revolutionswirren
dieses Jahres fast unbeachtet blieb.
Obwohl
oder vielleicht weil sein Gesundheitszustand sich ab 1850 drastisch
verschlechterte und er immer häufiger in Kliniken war, arbeitete er, wenn er
konnte, wie besessen. So publizierte er 1851 die endgültige Version der
Orientreise (Voyage en Orient) und
brachte im Dez. L'Imagier de Haarlem
zur Aufführung, ein Stück, das sein Faust
werden sollte, aber durchfiel.
Hiernach
suchte er ältere und neuere, in der Regel schon in Zeitschriften publizierte
Texte zusammen, überarbeitete sie und reihte sie möglichst sinnfällig
aneinander, wodurch zwei seltsam heterogen und homogen zugleich wirkende kürzere
Sammelbände entstanden: Les Illuminés, ou
Les Précurseurs du socialisme (1852) und Les filles du feu (1854).
Der erste enthält sechs fiktionale Porträts etwas exzentrischer historischer
männlicher Personen, deren „Sozialismus“ eher Anarchismus ist; der andere
umfasst acht sehr unterschiedliche, meist erzählende Texte um weibliche
Protagonistinnen sowie, mit dem Sammeltitel Chimères
12 sehr kunstvolle, ziemlich hermetische Sonette, darunter das berühmte El
desdichado (der Unglückselige), das die problematische Existenz Nervals auf
den Punkt zu bringen scheint.
Sein
letztes Werk wurde der schwer zu klassifizierende, wohl schon 1841 begonnene
mittellange Prosatext Aurelia, der
als eine formvollendete Gratwanderung zwischen Wirklichkeit und Traum, wenn nicht
Wahn, erscheint und dessen letzter Teil erst postum herauskam.
1854
unternahm Nerval eine Reise nach Deutschland. Als er sich Ende des Jahres nach
einem erneuten Klinikaufenthalt ohne feste Bleibe und mit nur noch tröpfelnden
Honoraren auf den Pariser Straßen wiederfand, beging er Anfang 1855 Selbstmord
durch Erhängen.
Nervals
Platz in der Literaturgeschichte ist der einer Randfigur mit gleichwohl großer
Nachwirkung. Zumal die für normale Leser quasi unzugängliche, als Kunst am
Rande des Wahnsinns erscheinende Aurelia
hat viele spätere Autoren fasziniert, z.B. Baudelaire oder die Surrealisten der
1920er Jahre.
Alfred de Musset (*11.12.1810 Paris; †2.5.1857 ebd.)
Musset
zählt, vor allem als Dramatiker und als Lyriker, zu den großen romantischen Autoren
der franz. Literatur.
Er
wuchs auf in Paris als wohlbehüteter Sohn adeliger Eltern und absolvierte seine
Schulzeit mit Glanz auf dem Traditionsgymnasium Henri-IV. Hiernach begann er
lustlos ein Jura- und dann ein Medizinstudium, betätigte sich aber vor allem
als junger Lebemann. Daneben war er ein frühreifer Dichter, der sich ab 1828 im
Kreis um Victor Hugo, dem „Cénacle“, bewundern ließ.
Schon
1830 erschienen die Contes d'Espagne et d'Italie, eine Sammlung äußerst
formvollendeter Gedichte im Stil der Romantik, voller Exotik und exaltierter
Gefühle. 1832, nach dem Tod seines Vaters in der großen Typhusepidemie dieses
Jahres, beschloss er (wohl auch dank der ihm zugefallenen Erbschaft) als
Schriftsteller zu leben.
1833
lernte er die sechs Jahre ältere Romanautorin George Sand (s.o.) kennen und
begann mit ihr ein romanesk-leidenschaftliches Liebesverhältnis. Dieses endete
jedoch schon bald auf einer gemeinsamen Italienreise (Winter 33/34), als er in
Venedig erkrankte und sie ihn mit seinem Arzt betrog. Die tiefe Krise, die dies
auslöste, inspirierte Musset zu Gedichten voller Weltschmerz (gesammelt
publiziert als Nuits, 1835 u. 1837),
aber auch zu dem autobiografischen Roman Confessions
d'un enfant du siècle (=Geständnisse eines Weltkindes, 1836), dessen
Protagonist Octave einer jener typisch romantischen, d.h. desillusionierten,
sich selbst und ihrer Umwelt problematischen Helden ist.
Schon
seit 1830 hatte Musset auch Theaterstücke geschrieben, die er nach dem
Misserfolg des ersten aufgeführten Stücks (La
Nuit vénétienne, 1830) jedoch nur noch zum Lesen „im Sessel“ bestimmte und
in Sammelbänden publizierte. So erschienen 1832 und 34 je ein Band Spectacles dans un fauteuil und 1840 ein
Band Comédies et Proverbes.
Die
bekanntesten und auch heute noch gelegentlich aufgeführten Stücke hieraus sind Les caprices de Marianne (1833), Fantasio und On ne badine pas avec l'amour (beide 1834), sowie Lorenzaccio (1833/34). Die Ersteren
handeln von enttäuschter Liebe – ein Thema, das den offensichtlich leicht
entflammten, aber narzistischen Musset immer wieder beschäftigte. Lorenzaccio, die Geschichte eines den
Täter am Ende nur frustrierenden Tyrannenmords, spiegelt die politische
Enttäuschung Mussets und vieler Intellektueller seiner Generation, die große
Hoffnungen in die Juli-Revolution von 1830 gesetzt hatten und sich betrogen
fühlten durch das neue Regime unter dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe, das rasch
von der Großbourgeoisie vereinnahmt und ab 1832 zunehmend autoritär und
repressiv wurde.
Neben
seinen zahlreichen Theaterstücken und seiner Lyrik verfasste Musset in den für
ihn höchst fruchtbaren 1830er Jahren auch eine Reihe Erzählungen.
1838
erhielt er einen bescheidenen Posten als wenig belasteter Bibliothekar im
Innenministerium.
1840
verursachte eine schwere Krankheit einen tiefen Einbruch. Danach litt er an
häufigen Despressionen, schrieb nur noch wenig und flüchtete sich in
Liebesaffären und Alkoholkonsum, was seinen Zustand weiter verschlechterte.
Immerhin erhielt er 1845 das Kreuz der Légion d'honneur und erlebte er 1847 die
sehr erfolgreiche Aufführung eines seiner Stücke, Un Caprice (1837). 1852 wurde er (nach vergeblichen Anläufen 1848
und 1850) in die Académie française gewählt, nachdem er sich dem neuen Regime
von Louis-Napoléon Bonaparte angeschlossen hatte.
Als
bleibende Leistung Mussets gilt heute sein dramatisches Werk, das er nach dem
Misserfolg gleich zu Beginn nicht mehr mit Blick auf die gerade herrschende
romantische Theaterdoktrin verfasste, sondern nach seinen eigenen, gemäßigt
klassizistischen Vorstellungen, die letztlich zukunftsweisender waren als z.B.
die seines zunächst erfolgreicheren Konkurrenten Victor Hugo, dessen Stücke
schon seit langem kaum mehr aufgeführt werden.
Théophile Gautier (*30.8.1811 Tarbes; †23.10.1872
Neuilly/Paris)
Mit
seinem Namen verbindet sich heute vor allem die Erfindung der Formel „l'Art
pour l'art“.
Geboren
in Tarbes (Südwestfrankreich), wuchs Gautier auf in Paris, besuchte das selbe
Gymnasium wie Gérard de Nerval (s. o.) und schloss sich 1829 dem Kreis um
Victor Hugo an, dem „Cénacle“. 1830 erschien er zur Uraufführung von Hugos
Stück Hernani mit einem
provozierenden, weil im Theater unziemlichen roten Wams (le gilet rouge) und
war einer der lautesten Claqueure (=bestellter Applaudierer) in der legendären
„bataille d'Hernani“.
Er
publizierte dann Gedichte und Erzählungen und wurde zu einem der
Hauptrepräsentanten der „Bohème“, jenes provokativ zigeunerhaften Literaten-
und Künstlermilieus am Rand der bourgeoisen Pariser Gesellschaft. Sein erster
Erfolg war der Briefroman Mademoiselle
Maupin (1835), die Geschichte einer jungen Frau, die als Mann verkleidet
über homo- und hetero-erotische Erfahrungen zur Verwirklichung ihres
Liebesideals zu gelangen versucht, dies in einer schönen Nacht auch schafft,
dann aber auf jede Fortsetzung verzichtet, um nicht in der Routine einer
Beziehung zu versanden. Heute ist vor allem das Vorwort des Romans interessant,
wo Gautier die Theorie des L'Art pour
l'Art entwirft, d.h. die Doktrin,
dass Kunst völlig zweckfrei zu sein habe, jedes gesellschaftliche oder gar
politische Engagement meiden müsse und allein in der Perfektion ihrer Produkte
einen Sinn finde – eine Doktrin, die zweifellos eine Reaktion darstellte auf
die kollektive Frustration einer ganzen Intellektuellen-Generation, die durch
die Juli-Revolution 1830 zunächst in Aufbruchstimmung versetzt, dann aber durch
die politische Repression nach 1832 enttäuscht worden war.
Ab
1836 verdiente Gautier sein Geld bei der sich rasant entwickelnden Presse mit
Berichten über gesellschaftliche Ereignisse, Kunstausstellungen und
literarische Neuerscheinungen, aber auch mit den bei Zeitschriften und
Verlegern begehrten Reisereportagen und -impressionen, zwecks deren Herstellung
er (z.T. zusammen mit Nerval) England, Holland, Belgien und den Mittelmeerraum
bereiste.
In den Jahren nach 1839 versuchte sich Gautier, eher
glücklos, auch als Dramatiker mit den Stücken Une larme du diable („Eine
Träne des Teufels“), Le Tricorne Enchanté („Der verzauberte
Dreispitz(hut)“) und Pierrot posthume sowie, mit mehr Glück, als
Librettist. 1841 erzielte das Ballettstück Giselle einen fulminanten
Erfolg.
Daneben
verfasste er weiter Erzählungen und schrieb vor allem Gedichte, die er wie ein
Kunsthandwerker ziselierte. Berühmt wurde seine Gedichtsammlung Émaux et camées (1852), die einer ganzen
Lyrikergeneration, den „Parnassiens“, zum Vorbild wurde.
Gautiers
späte Romane Le Roman de la momie (1858) und Le Capitaine Fracasse, (1863) waren nur mäßig erfolgreich. Immerhin
wurde letzterer im 20. Jh. mehrfach verfilmt.
Pierre-Joseph
Proudhon (*15.1.1809
Besançon; †19.1.1865 Paris)
Er
war einer einflussreichsten „frühsozialistischen“ Autoren in Frankreich.
Er
wurde geboren als Sohn eines Böttchers und musste seinen Schulbesuch frühzeitig
beenden. Er lernte dann den damals quasi intellektuellen Beruf eines
Schriftsetzers, machte den traditionellen tour
de France der wandernden Handwerksgesellen und erwarb sich als Autodidakt
ein umfangreiches Wissen. Zunächst war er sprachwissenschaftlich interessiert
und erhielt für seinen Essai de grammaire
générale ein Stipendium der Akademie seiner Vaterstadt Besançon (1837). Er
ging nach Paris, geriet dort in den Bann der politischen und sozialen
Diskussionen der Zeit und wurde zum soziologischen und politologischen Denker
und Autor.
1840
veröffentlichte er die Streitschrift Qu'est-ce
que la propriété ? (Was ist Eigentum?) Seine eigene Antwort war:
"La propriété, c'est le vol !" (Eigentum ist Diebstahl). Als
privates Eigentum, so Proudhon, dürfe das Individuum außer den persönlichen
Arbeitsmitteln, z.B. Werkzeugen u.ä., nur diejenigen Güter besitzen, die es
durch eigene, ggf. kollektive, Arbeit hergestellt oder im Tausch dagegen
erworben hat. Kapitalanhäufung durch Erbschaft oder die Ausbeutung der
Arbeitskraft anderer und die daraus resultierende Macht gehöre unterbunden. Die
Beziehungen der Individuen untereinander seien wieder auf die Basis eines
freiwilligen gegenseitigen Austausches von Gütern und Dienstleistungen zu
stellen ("mutualisme"), die Gesellschaft sei auf den freiwilligen
Zusammenschluss dezentral organisierter, überschaubarer Einheiten zu gründen
("fédéralisme"), was ein herrschaftsfreies System
("anarchie") ohne Staat und große Institutionen wie z.B. die Kirche
ermögliche.
Die
erwähnte Streitschrift Proudhons und seine weiteren in den 40er Jahren
erscheinenden Schriften, z.B. Système des
contradictions économiques ou Philosophie de la misère
(1846),
begründeten einen reformistischen
"wissenschaftlichen" Sozialismus und hatten großen Einfluss auf zahlreiche
Intellektuelle und Literaten der Zeit, vor allem aber auf die entstehende
Gewerkschaftsbewegung in Frankreich, die lange (z.T. bis in die jüngste
Vergangenheit) "anarchistisch" orientiert blieb. Naturgemäß wurde
Proudhon zu einem der Vordenker der Februar-Revolution von 1848 und zu einem
der Chefideologen der Linken in der kurzlebigen Zweiten Republik. Folgerichtig
auch landete er 1849, nach dem Wahlsieg der konservativen Kräfte um
Louis-Napoléon Bonaparte, für drei Jahre im Gefängnis.
Proudhons
Vorstellungen von der Möglichkeit sukzessiver Reformen und der letztlichen
Abschaffung des Staates reizten Karl Marx (der ihn zunächst geschätzt hatte)
zum Widerspruch und ließen ihn nach seines Erachtens realistischeren Lösungen
suchen, nämlich: Klassenkampf, (Welt)Revolution, Diktatur des Proletariats und
schließlich Etablierung eines allmächtigen, für das Wohlergehen seiner Bürger
rundherum sorgenden Staates.
Eugène Sue (*10.12.1804 Paris; †3.8.1857 Annecy)
Dieser
heute kaum mehr bekannte Autor war zu seinen Lebzeiten einer der meistgelesenen
und einflussreichsten Romanciers Frankreichs. Er ist in die Literaturgeschichte
eingegangen als einer der Begründer des Fortsetzungsromans in Tageszeitungen
und als Verfasser des vielleicht erfolgreichsten Zeitungsromans überhaupt, Les mystères de Paris. Vermutlich
leistete Sue darüber hinaus mit seinen Romanen, zumal den Mystères, die in ganz Europa übersetzt und nachgeahmt wurden, mehr
für die Bewusstmachung der sozialen Probleme der Zeit als alle damaligen
Theoretiker zusammengenommen.
Sue
wuchs auf als Sohn aus eines wohlhabenden und hochangesehenen Chefarztes und
dessen zweiter Frau. Er verließ mit 16 vorzeitig das Gymnasium und wurde
zunächst eine Art Arzt-Lehrling (ohne Studium) bei seinem Vater. 1823 nahm er
als blutjunger Hilfschirurg am Spanienfeldzug der französischen Armee teil und
blieb noch eine Weile bei den in Cadiz stationierten Truppen. 1825 wechselte er
zur Marine nach Toulon. Hier übte er erstmals nebenher seine Feder als
Journalist. 1826 machte er als Schiffsarzt zwei längere Seereisen (Südsee und
Antillen) und war 1827 beim Sieg der vereinigten
englisch-französisch-russischen Flotte gegen die türkisch-ägyptische Flotte vor
Navarino dabei, der entscheidend zur Unabhängigkeit Griechenlands beitrug.
1828
zurück in Paris interessierte sich Sue für Malerei, betätigte sich aber auch
als Journalist in der Zeitschrift La Mode
von Émile de Girardin, der in den Folgejahren durch die Einführung der Annonce
und die dadurch mögliche Verbilligung der Zeitungen die franz. Presse
revolutionierte. Für La Mode verfasste
Sue auch erste erzählende Texte, z.B. Kernock
le pirate und El Gitano (=span.
der Zigeuner).
1830
erbte er von seinem Vater ein hübsches Vermögen und begann ein Dandy-Leben in besten
Pariser Kreisen. Mehr nebenher schrieb er weiter Erzählungen und Romane für
diverse Zeitschriften. 1835-37 publizierte er eine fünfbändige Histoire de la marine française. Als er
1838 das väterliche Erbe fast aufgebraucht hatte, machte er mehr nolens als
volens das Schriftstellern zum Beruf. Hierbei betätigte er sich zunächst im
modischen Genre des "Sittenromans" (roman de mœurs), versuchte sich
aber auch mit einem Co-Autor als Dramatiker.
1841
erlebte er eine Art Bekehrung vom unpolitischen Dandy zum engagierten
Sozialisten, der sich für die Probleme des rasch wachsenden Pariser
Proletariats zu interessieren begann und dieses Interesse literarisch
umzusetzen versuchte.
Schlagartig
berühmt wurde Sue dann 1843 mit den Mystères
de Paris (Die Geheimnisse von P.),
die von Juni bis Oktober fast täglich in der (eher konservativen) Tageszeitung Le Journal des Débats erschienen und zu
einem literarischen und sozialen Ereignis ersten Ranges wurden. Dieses keinem
zielstrebigen Plan folgende, aus einer Serie locker gereihter Episoden
bestehende Werk, in das auch zahllose Leser-Vorschläge aus allen
Bevölkerungsgruppen eingeflossen sind, spielt im Pariser Unterschichten-Milieu
der "classes laborieuses et dangereuses" (so der Titel eines
sozialwissenschaftlichen Buches der Zeit). Hierbei schildert Sue den
schwierigen Alltag dieser Menschen zwischen Arbeit, Elend und Verbrechen teils
realistisch, teils pittoresk idealisierend, aber immer spannend und mit
wachsender Anteilnahme. Eine zentrale Person und Identifikationsfigur des
Autors ist der Comte (=Graf) de Gérolstein, der sich unter dem Namen Rodolphe
inkognito unter das Volk mischt und rettend und rächend als Superman auftritt.
Auch eine siebenstündige Theaterversion der Mystères,
die Sue mit einem Co-Autor 1844 herstellte, wurde ein großer Erfolg.
Hiernach
führte er die Form des Zeitungsromans fort
mit Le Juif errant (Der ewige Jude),
das von Juni 44 bis Oktober 45, nunmehr im eher linken Constitutionnel, herauskam und worin er sein soziales und vor allem
sein politisches Engagement noch verstärkte, und zwar im Sinne eines radikalen
Antiklerikalismus, der vor allem die Jesuiten aufs Korn nahm. Auch dieser Roman
wurde in ganz Paris diskutiert und landete naturgemäß rasch auf dem Index.
Weniger
erfolgreich war Sue, erneut im Constitutionnel,
mit Martin l'enfant trouvé (M. das
Findelkind, 1846/47), das eine Art proletarisches Epos sein sollte. Auch das
wieder dem "Sittenroman" nahestehende Fortsetzungswerk Les sept péchés capitaux (Die sieben
Todsünden, 1847-51) schlug nicht recht ein.
Bei
der Februar-Revolution 1848 trat Sue als linker Journalist und Politaktivist
auf den Plan, der 1850 auch zum Ageordneten gewählt wurde.
Nach
dem Staatsstreich von Louis-Napoléon Bonaparte 1851 wurde er kurz verhaftet und
emigrierte danach ins damals (bis 1860) noch piemontesische Savoyen. Hier
beendete er, neben anderen fiktionalen und politischen Texten, ein schon 1849
begonnenes Werk, das schließlich rund 6000 Seiten umfasste: Les Mystères du peuple (Die Geheimnisse des Volkes). Es ist eine
gewissermaßen aus der Perspektive von unten gesehene Geschichte Frankreichs,
dargestellt als Familiensaga einer bretonischen Unterschichtenfamilie von der
Keltenzeit um 50 v. Chr. bis 1848.
Nach
dem Abschluss des Buches 1856 unternahm Sue eine größere Europareise und starb
einige Monate nach der Rückkehr. Ein weiteres monumentales Werk, Les Mystères du monde (Die Geheimnisse der Welt), das
Ungerechtigkeiten und Nöte in aller Welt darstellen und anprangern sollte, kam
über Anfänge nicht hinaus.
Die
Zeitungsromane à la Sue und ihr Erfolg waren einerseits ein Abfallprodukt der
Presserevolution durch vielen neugegründeten billigen Tageszeitungen; sie
beförderten diese Revolution aber auch ihrerseits dadurch, dass sie leicht
konsumierbaren Lesestoff für ein breites Publikum bereitstellten und dieses
damit zu treuen Zeitungs-Lesern und -Käufern machten.
Joseph-Arthur, comte
de Gobineau (1816–82)
Dieser
nur noch aus historischen Gründen interessante Autor war Historiker, Romancier,
Dramatiker und von Beruf Diplomat. Als solcher war er längere Zeit in Persien
tätig, aber auch in verschiedenen europäischen Staaten, darunter im Königreich
Hannover und in der freien Reichsstadt Frankfurt (die beide 1866 von Preußen
annektiert wurden). Gobineaus, rückblickend gesehen, einzig bedeutsames Buch
war der Essai sur l'inégalité des races (1853-55), der
erste Versuch, die Vorstellung von der Überlegenheit des Weißen Mannes
wissenschaftlich zu begründen, eine Vorstellung, die im imperialistisch und
kolonialistisch denkenden Europa der Zeit inzwischen selbstverständlich war.
Die beste weiße ("arische") "Rasse" und damit die
eigentliche "Herrenrasse" sind laut Gobineau übrigens die Germanen
(von denen er selbst, als französischer Adeliger, abzustammen glaubte), und
nicht z.B. die durch "Rassenvermengung" schon
"degenerierten" Franzosen. Demgemäß wurde sein Buch bzw. dessen Fazit
vor allem im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jh. willig rezipiert.
Leconte de Lisle (=Charles Marie Leconte, *22.10.1818
auf La Réunion; †18.7.1894 Voisins/ Louveciennes)
Obwohl
er jahrzehntelang als Lyriker zu den „grands auteurs du Programme“ zählte und
in Schullesebüchern bestens vertreten war, ist dieser Autor mit dem sprechenden
Pseudonym Leconte de Lisle (=„le comte de l’île=der Graf von der Insel“) heute
kaum mehr bekannt.
Er
wurde geboren auf der Île Bourbon (heute La Réunion) im Indischen Ozean, wo
sein Vater, ein ehemaliger napoleonischer Feldarzt, nach 1815 eine
Zuckerrohr-Plantage übernommen hatte. Seine Kindheit ab 4 verbrachte er in Nantes,
seine Jugendzeit wieder auf La Réunion. Nach lustlosem Jurastudium in Rennes
und ersten Versuchen als Journalist (1837-43) lebte er nochmals kurz auf der
Insel. Ab 1845 blieb er endgültig in Frankreich, meist in Paris, und schlug
sich mühsam durch als Journalist und Literat.
Schon
während seiner Studienzeit war er mit dem „socialisme évangélique“ von Félicité
de Lamenais (eines der Begründer der katholischen Soziallehre) in Berührung
gekommen; in der Zeit der Politisierung und Polarisierung der französischen
Gesellschaft gegen Ende der Juli-Monarchie schloss er sich dem radikaleren
Fourierismus an (s. Fourier). Während der Februar-Revolution 1848 war er
aktiver linker Republikaner.
Nach der blutigen Niederschlagung der
Revolte der Pariser Arbeiter im Juni 48 und gänzlich nach dem Staatsstreich
Louis-Napoléon Bonapartes im Dez. 51 war er, wie viele linke Literaten der
Zeit, desillusioniert und wurde unpolitisch, um nur noch der Literatur zu
leben, insbesondere der Lyrik. Lecontes Ideal ist eine „poésie objective“, die
keine romantischen Gefühlsergüsse eines lyrischen Ichs in Verse fassen will,
sondern, weitgehend deskriptiv, ästhetisch schöne belebte und unbelebte Sujets
aus Gegenwart und Vergangenheit, aber auch alte und neue mythologische und
kosmologische Vorstellungen zu bedichten versucht.
Seine
Gedichte publizierte er, wie üblich, in Zeitschriften und von Zeit zu Zeit in
Sammelbänden. So erschienen 1852
die Poèmes antiques, 1862 die Poèmes barbares, 1873 Les Érinnyes, 1884 die Poèmes tragiques.
Seine
formvollendet ziselierten, gewollt eher kühlen Gedichte brachten Leconte
schließlich bei Literaturkritikern und –kennern Bewunderung ein, und seine
bescheidene Pariser Wohnung wurde zum Zentrum der Dichterschule der
„Parnassiens“.
Irgendwann
machte er seinen Frieden mit dem Regime von Napoléon III und erhielt eine
kleine staatliche Pension. Die (1871 beginnende) Dritte Republik bedachte ihn
1873 mit einer pro forma-Bibliothekarsstelle und 1886 erhielt er sogar einen
Sitz in der Académie française.
Für
deutsche Leser von speziellem Interesse ist z.B. das Gedicht Le Rêve du jaguar, das Rilke zu seinem Der
Panther inspiriert haben könnte.
Charles Baudelaire (*9.4.1821 Paris; †31.8.1867 ebd.)
Er gilt heute als einer der größten franz. Lyriker,
vielleicht sogar als der größte überhaupt und als einer der wichtigsten
Wegbereiter der europäischen literarischen Moderne. Viele deutsche Lyriker
haben ihn zu übertragen versucht.
Baudelaire
war einziges Kind aus der späten zweiten Ehe eines wohlhabenden Ex-Verwaltungsbeamten
und Freizeitmalers sowie dessen 34 Jahre jüngerer Frau, die als Tochter einer
englischen Mutter in London geboren war und ihm früh das Englische nahe
brachte. Mit sechs verlor er seinen knapp 68-jährigen Vater. Ein noch größeres
Trauma für ihn war jedoch, dass sich seine Mutter rasch mit dem Berufsoffizier
Jacques Aupick wiederverheiratete. Umzüge der Familie von Paris nach Lyon
(1832) und zurück nach Paris (1836) taten ein übriges, ihn zu einem sich
ungeliebt und wurzellos fühlenden, schwierigen, oft depressiven Jungen werden
zu lassen, den man in Internate abschob und der kurz vor dem Baccalauréat
(Abitur) noch wegen Ungehorsams von der Schule verwiesen wurde.
Nachdem er als Externer 1839 das „bac“ dennoch abgelegt
hatte, schrieb er sich für ein Jurastudium ein, das als Vorbereitung für die
von den Eltern gewünschte Diplomatenkarriere dienen sollte. Da er selbst sich
jedoch schon als angehenden Schriftsteller sah, trieb er sich meist in der
Pariser Literaten- und Künstler-Bohème herum und schrieb Gedichte (was er seit
spätestens 1838 tat). Daneben machte er Schulden, rutschte in ein Verhältnis
mit einer Prostituierten und zog sich eine Syphilis zu.
Auf Drängen seiner Mutter und vor allem
seines autoritären und ehrgeizigen Stiefvaters, der inzwischen zum General
avanciert war und sich des offenbar missratenden Stiefsohnes schämte, trat
Baudelaire im Juni 1841 in Marseille eine Schiffsreise an, die ihn bis nach
Indien führen und auf andere Gedanken bringen sollte. Er fuhr aber nur bis zu
den Inseln Mauritius und La Réunion im Indischen Ozean mit, wo er insgesamt
einige Wochen verbrachte und von der tropischen Natur sowie den Menschen dort
beeindruckt und zu etlichen Gedichten inspiriert wurde.
Als er nach gut acht Monaten zurückkam, gelobte er seinem Stiefvater
zwar Besserung, schloss sich aber rasch wieder der Bohème an. Nach Erreichen
der Volljährigkeit 1842 verlangte er seinen Anteil am Erbe seines verstorbenen
Vaters (sehr stattliche ca. 75.000 Francs) und begann das Geld in einer
luxuriösen Dandy-Existenz zu verschleudern, tatkräftig unterstützt von seiner
neuen Geliebten, der Schauspielerin Jeanne Duval, einer Mulattin, deren
exotische Schönheit er bedichtete. 1844 ließ ihn die besorgte Familie
gerichtlich unter die finanzielle Vormundschaft eines Notars stellen, was ihn
zutiefst kränkte und vielleicht 1845 zu einem Selbstmordversuch beitrug.
Immerhin garantierte ihm der verbliebene Rest des Erbes eine kleine Rente von
der er, sparsam, durchaus hätte leben können.
Seine Schriftstellerei, die er nun systematischer und
berufsmäßig zu betreiben versuchte, blieb wenig einträglich. Immerhin konnte er
sporadisch Gedichte in Zeitschriften unterbringen. 1846 und 47 erschienen,
ebenfalls in Zeitschriften, seine einzigen etwas längeren erzählenden Texte:
die hübsche, angeblich aus der Antike stammende, raffiniert durch angebliche
Textlücken unterbrochene Liebesgeschichte Le jeune enchanteur und die
zunächst abgelehnte, dann mehr per Zufall doch noch gedruckte Künstlernovelle La
Fanfarlo, die witzig verschlüsselt und voll funkelnder Selbstironie
Baudelaires Metamorphose vom dichtenden Dandy zum fast verbürgerlichten
Literaten und Quasi-Ehemann zu spiegeln scheint. Einige Dramenentwürfe, die er
zwischen 1843 und 54 skizzierte, darunter ein Stück La Fin de Don Juan,
blieben Projekt,
ebenso die vielen Entwürfe zu weiterer Prosa. Eine
gewisse Anerkennung fand er lediglich mit den Berichten über Kunstausstellungen
(Salons), die er ab 1845 mit zunehmender Kompetenz verfasste. Da er sich andererseits aber dem
Konsum von Haschisch, Opium und Alkohol ergeben hatte und auch Jeanne Duval
aushielt, war er ständig in Geldnot, was wiederum seine Neigung zu Depressionen
verstärkte.
Während der sozialen und politischen Agitation
des Jahres 1847 wurde Baudelaire Sozialist Fourierscher Observanz und verkehrte
in Kreisen linker Intellektueller. Bei Ausbruch der Februarrevolution 1848 war
er begeisterter Revolutionär in den Pariser Straßen, gründete mit zwei Freunden
eine kurzlebige linke Zeitschrift und betätigte sich auch anderweitig als
politischer Publizist. Am Juni-Aufstand der aus den staatlichen Werkstätten
entlassenen Pariser Arbeiter beteiligte er sich an vorderster Front. Angesichts
der anschließenden schrittweisen Machtergreifung der konservativen „Partei der
Ordnung“ fühlte er sich zunehmend frustriert, wie so viele engagierte jüngere
Intellektuelle. Nach seiner Teilnahme am kurzen und vergeblichen gewaltsamen
Widerstand gegen den rechtsgerichteten Staatsstreich Louis Napoléon Bonapartes
(2. Dez. 1851) zog er sich zurück auf eine Existenz als unpolitischer Literat,
der sich darauf beschränkte, mit Lyrik, Kurzprosa, Essays, Autorenporträts und
Buchkritiken in der Pariser literarischen Szene präsent zu sein.
Schon 1845 hatte er erstmals eine und 1848 eine weitere
Erzählung des amerikanischen Erzählers und Lyrikers Edgar Allan Poe (1809-1849)
übertragen, den er als einen Geistesverwandten empfand. 1857 publizierte er
einen Band mit Erzählungen von Poe und machte ihn den franz. Lesern in einem
längeren Vorwort bekannt, das eine wichtige zeitgenössische Quelle über den
Autor darstellt. 1858 schloss er seine Poe-Übertragungen ab mit den Aventures
d'Arthur Gordon Pym.
Obwohl er weiterhin mit Jeanne Duval zusammen lebte, himmelte
er von 1852 bis 57 in anonymen Briefen und Gedichten Jenny Sabatier an, eine
hübsche, charmante und geistreiche Frau, die als gutsituierte Mätresse eines
Bankiers einen Salon unterhielt, in dem viele Literaten und Künstler
verkehrten. Als Baudelaires Versteckspiel herauskam und sie sich ihm hingab,
akzeptierte er nur zögernd und warf ihr anschließend vor, sie sei nun als
Idealbild und Inspirationsquelle für Gedichte untauglich geworden. Sie war
enttäuscht, blieb ihm aber trotzdem freundschaftlich verbunden.
Im
Juli 1857, mit 36, veröffentlichte Baudelaire das Werk, mit dem er in die
Literaturgeschichte eingehen sollte: Les Fleurs du Mal, eine Sammlung
von 100 Gedichten, die ab ca. 1840 entstanden und teilweise schon einzeln
gedruckt erschienen waren, aber jetzt, nach Themen geordnet, ein quasi
komponiertes Ganzes zu bilden versuchten. Die Grundstimmung dieser sprachlich
und formal äußerst ausgefeilten, meist eher kurzen Gedichte ist (wie auch oft
bei den Romantikern) Desillusion, Pessimismus, Melancholie; die evozierte
Realität erscheint (anders als bei den Romantikern) häufig als trivial, oft
hässlich und morbide, der Mensch als hin und her gerissen zwischen den Mächten
des Hellen und Guten („l’idéal“) und denen des Dunklen und Bösen, ja Satans
(„le spleen“). Das historische Verdienst der Fleurs und ihre Modernität
liegt in dem Versuch einer Integration der Welt der Großstadt bzw. des
Großstädters in die Lyrik – einer als insgesamt als eher abstoßend und düster
vorgestellten Welt, was jedoch durchaus der Realität des übervölkerten,
explosionsartig wachsenden und schmutzigen Paris der Zeit entsprach.
Obwohl einige klarsichtige Kollegen erkannten, dass die
besten Gedichte des Bandes zu den bleibenden Leistungen der franz. Lyrik
zählen würden, war der Erfolg zunächst gering. Sechs von einem Pariser
Starkritiker als obszön oder blasphemisch denunzierte Gedichte trugen dem Autor
und seinem Verleger sogleich einen Strafprozess wegen „Beleidigung der
öffentlichen Moral“ ein. Als 1861 eine um 35 neue Gedichte vermehrte Neuauflage
der Fleurs erschien, wurden sie deshalb fortgelassen. Erst die dritte,
1868 postum publizierte und nochmals erweiterte Auflage enthielt sie wieder.
Die Welt des Städters, speziell des Parisers ist häufig auch
Gegenstand der thematisch sehr vielfältigen kurzen Prosatexte, die Baudelaire
ab 1855 verfasste. Nachdem sie zu seinen Lebzeiten nur verstreut gedruckt
worden waren, etablierten sie, als sie 1869 postum gesammelt als Le Spleen
de Paris erschienen, eine neue literarische Gattung, das „poème en prose“.
Zwar hatte Baudelaire gegen 1860 einen gewissen
Bekanntheitsgrad im literarischen Paris erlangt und wurde er von Kollegen
geschätzt, doch ging es ihm finanziell eher schlechter als zuvor, nicht zuletzt
deshalb, weil er nun das Pflegeheim für Jeanne Duval bezahlte, die ab 1858
gelähmt war. Er hielt sich deshalb häufig in Honfleur bei seiner Mutter auf,
die 1857 erneut verwitwet war.
1860 verfiel auch er der Wagner-Begeisterung, die in Paris
grassierte, und publizierte eine längere Étude sur Richard Wagner et
Tannhäuser.
Ende 1861 beschloss er, sich für einen freigewordenen Sitz
in der Académie Française zu bewerben. Seine Sondierungsbesuche bei einigen
„Académiciens“ verliefen jedoch so enttäuschend, dass er sich von Freunden
überreden ließ zu verzichten.
Die folgenden Jahre waren geprägt von finanziellen und
zunehmend auch gesundheitlichen Problemen im Gefolge seines Alkohol- und
Drogenkonsums sowie der damals unheilbaren Syphilis. Im April 1864 versuchte er
so etwas wie einen Befreiungsschlag und ließ sich in Brüssel nieder. Er hoffte,
dort und in anderen der wirtschaftlich fulminant aufstrebenden belgischen
Städte Vorträge zur franz. Literatur halten zu können. Doch der Erfolg blieb
aus, weshalb er zunehmenden Groll gegen die Belgier entwickelte, dem er auch in
Gedichten Luft machte.
Im März 1866, nachdem er knapp zwei Jahre häufig krank,
elend und kaum arbeitsfähig in Brüssel verbracht hatte, erlitt er einen
Schlaganfall. Im Juli wurde er in ein Pariser Pflegeheim verlegt, wo er,
halbseitig gelähmt und sprechunfähig, aber betreut von seiner Mutter, noch fast
ein Jahr lebte.
Zwar hat Baudelaire selbst seine Anerkennung nicht mehr
erfahren, doch galt er schon der nachfolgenden Lyriker-Generation, den
Symbolisten, z.B. Verlaine, Rimbaud oder Mallarmé, als epochemachendes Vorbild.
In franz. Schullesebüchern ist er seit längerem der am besten vertretene
Lyriker. Auch in andere Länder wirkte seine Dichtung hinüber, z.B. nach
Deutschland, wo sie u.a. Stefan George beeinflusste, der die erste deutsche Übertragung
der Fleurs du Mal versuchte. Für die direkten Zeitgenossen allerdings,
d.h. für die nicht allzu vielen, die als Leser seinen Namen kannten, war er vor
allem ein kompetenter Verfasser von Berichten über Kunstausstellungen, ein
guter Literaturkritiker, ein fleißiger Übersetzer Poes sowie ein
Wagner-Enthusiast und ̵Promotor.
Gustave Flaubert (*12.12.1821 in Rouen; †8.5.1880 in Croisset bei Rouen)
Er
gilt heute als einer der besten Stilisten der franz. Literatur und als ein
Klassiker des Romans. Zusammen mit Stendhal und Balzac wird er gern als
Dreigestirn der großen realistischen franz. Erzähler gesehen. Ganz wie die
beiden anderen wurde auch er von der Académie Fançaise
nicht für würdig befunden aufgenommen zu werden.
Er
wuchs auf in Rouen als jüngerer Sohn des Chefarztes des städtischen
Krankenhauses und erlebte, da dessen Dienstvilla, wie damals üblich, auf dem
Krankenhausgelände lag, das Leiden und Sterben dort aus nächster Nähe mit. Er
galt als begabter, aber wenig disziplinierter Schüler, der es vorzog, seine
Zeit mit Lesen und Schreiben statt mit Lernen zu verbringen. Zu seinen
Jugendfreunden gehörten Louis Bouilhet, der sich später einen gewissen Namen
als Lyriker machte, sowie der Bruder von Laure Le Poittevin, der späteren Mutter
Guy de Maupassants. In den Sommerferien 1836 verliebte sich Flaubert in
Trouville in eine etwas ältere Frau, Élisa Schlesinger, die ihn jahrelang als
große, unerreichbare Liebe beschäftigte und sein Schaffen inspirierte.
Nach dem
Baccalauréat begann er auf Drängen des Vaters ein Jurastudium, das er aber
aufgab, nachdem er 1843 einen epileptischen (?) Anfall erlitten hatte. Dennoch
machte er in diesen Jahren größere Reisen, deren vorläufig letzte ihn 1850/51
auf den Spuren Chateaubriands, Lamartines oder Nervals in den Vorderen Orient,
insbes. Ägypten, führte, zusammen mit einem wenig jüngeren Freund, dem fast
schon arrivierten Literaten Maxime Du Camp.
Nach der
Rückkehr richtete sich Flaubert als schriftstellernder Rentier bei seiner
verwitweten Mutter ein und führte mit ihrem und seinem Erbe ein zurückgezogenes
Dasein in Croisset nahe Rouen, das er nur noch gelegentlich verließ, um in
Paris gesellschaftliche Kontakte, z.B. mit Autorenkollegen, zu pflegen oder um
sich mit seiner langjährigen Geliebten (seit 1846) zu treffen, der zehn Jahre
älteren Schriftstellerin Louise Colet, mit der er auch in vielen Briefen über
literarische Fragen diskutierte.
Wie
erwähnt, schrieb Flaubert schon seit seiner Jugend unermüdlich, zunächst im
Stil der Romantik. Er stellte aber so hohe Ansprüche an sich selbst, dass er
lange Jahre alle Manuskripte unpubliziert ließ. Sein erstes gedrucktes Werk
wurde schließlich der 1851 begonnene Roman Madame Bovary, der 1856 im
Feuilleton der Revue de Paris erschien. Der Roman trug ihm sogleich
einen Prozess wegen Verstoßes gegen die Sitten ein, doch wurden Flaubert und
die Zeitschrift Anfang 1857 dank dem geschickten Plädoyer ihres Anwalts
freigesprochen. Der Prozess wirkte sich insofern sogar positiv aus, als er der
Buchversion, die 1857 herauskam, zu einem Verkaufserfolg verhalf. Die Handlung
beruht auf einem Zeitungsbericht aus dem Journal de Rouen von 1848 über
den Selbstmord der Arztgattin Delphine Delamare aus Ry bei Rouen. Sie stellt
die Geschichte einer Pächterstochter dar, die nach der Heirat mit einem
Dorfarzt rasch unzufrieden mit ihrem sie zwar liebenden, aber biederen Mann
ist, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nach dem Vorbild von Romanen
und Frauenmagazinen ein Leben in Leidenschaft und Luxus erträumt. Zwar schafft
sie es, mittels zweier Liebschaften und eines gewissen Luxuskonsums einige
Schritte zur Realisierung eines solchen Lebens zu tun, wird aber immer wieder
eingeholt von der Trivialität und Enge ihrer realen Verhältnisse, bis sie
schließlich von Schulden erdrückt Selbstmord begeht. Thema ist also das
Scheitern einer romantischen Idealistin (mit der Flaubert sich sehr
identifiziert) an einer Welt, in der die Opportunisten und Materialisten
obsiegen, die im Roman vor allem von dem Apotheker Homais und dem Händler
Lheureux verkörpert werden.
Weniger erfolgreich, aber noch
einflussreicher auf die Entwicklung des europäischen Romans war Flaubert mit L'Éducation sentimentale (1869). Es ist
die Geschichte des jungen Provinzlers Frédéric Moreau, der nach Paris geht, wo
er sich eine große Zukunft in Politik, Literatur und Liebe erhofft, jedoch die
ihm sich durchaus bietenden realen Chancen zugunsten irrealer, idealer Ziele
verpasst, und zwar vor allem aufgrund einer langen schwärmerisch-unerfüllten
Liebe zu einer verheirateten Frau, die ihn absorbiert und paralysiert. Nachdem
auch seine kurze Begeisterung für die politischen Ideale und Ziele der 48er
Revolution verpufft ist, versinkt er in intellektueller Mittelmäßigkeit und
wird nur durch eine hübsche Erbschaft vor einem auch materiellen Niedergang
bewahrt. Frédéric ist eine Symbolfigur des weniger tragischen als traurigen
Weges der „Quarante-huitards“, d.h. der durch die Februarrevolution in
Aufbruchstimmung versetzten, dann aber durch die weitere Entwicklung politisch enttäuschten
48er Generation, der auch Flaubert sich zurechnete. Der Titel des Romans ist
übrigens (was keiner der verschiedenen Titel der deutschen Übertragungen ahnen
lässt) ironisch zu verstehen. Denn, anders als z.B. der jugendliche Julien
Sorel in Stendhals Le Rouge et le Noir oder der junge Rastignac in
Balzacs Le Père Goriot, die jeweils durch eine reifere verheiratete Frau
in die Liebe eingeführt und so tatsächlich in ihren „Gefühlen“, sprich ihrem
Sexualleben, zu erwachsenen Männern gemacht werden, erfährt Frédéric von der
angehimmelten reiferen Frau letztlich keine solche „Erziehung“. Vielmehr wird
er, aufgrund auch seiner Unentschlossenheit, in seinen schwärmerischen Gefühlen
für sie nur frustriert und muss sich seine Mannwerdung bei einer bezahlten
Geliebten beschaffen.
Die
übrigen Werke Flauberts werden heute weniger oder kaum mehr gelesen. Es sind
insbes. der im antiken Karthago spielende historische Roman Salammbô (1862), für dessen Vorbereitung
der Autor 1858 nach Tunesien reiste; die lange Erzählung La Tentation de Saint Antoine
(erschienen, nach vielen Jahren Arbeit daran, 1874); der seinerzeit recht
erfolgreiche Erzählband Trois Contes
(1877) mit der anrührenden Erzählung Un cœur simple
sowie der als Satire auf das Durchschnittsbürgertum gedachte unvollendete Roman
Bouvard et Pécuchet (postum 1881).
Die Bovary und die Éducation gelten, wie erähnt,
als epochemachend für die Entwicklung des europäischen Romans, und zwar
aufgrund der Idee Flauberts, seine Protagonisten nicht mehr (wie z.B. Balzac
dies tat) als Ausnahmepersonen zu konzipieren, sondern als gänzlich unheroische
Durchschnittscharaktere.
Edmond (*26.5.1822 in Nancy, †16.7.96 bei Paris) und Jules (*17.12.1830 in Paris, †20.6.70
ebd.) de Goncourt
Die
Goncourts (wie sie in Literaturgeschichten meistens heißen) verkörperten einen
im 19. Jh. gar nicht so seltenen Typ: den des Autoren-Tandems. Sie gelten als
Begründer der literarischen Strömung des Naturalismus.
Sie
waren Enkel eines kurz vor der Revolution durch den Kauf eines Rittergutes (seigneurie)
in den Adelsstand gelangten Großvaters und Söhne eines ebenfalls sehr
wohlhabenden napoleonischen hohen Offiziers. Beide absolvierten sie Pariser
Gymnasien, Edmond studierte Jura und arbeitete einige Jahre als
Ministerialbeamter.
1849/50, d.h.
nachdem auch Jules erwachsen war, zog Edmond sich aus dem Berufsleben zurück.
Die Brüder machten nun, obwohl Jules sich 1850 mit Syphilis infiziert hatte und
seitdem kränkelte, längere Reisen. Deren Eindrücke verarbeiteten sie zu
Reportagen, wie sie beim Publikum beliebt und entsprechend bei Zeitschriften
und Verlegern begehrt waren. Auf den Geschmack gekommen, betätigten sie sich
danach gemeinsam als freie Schriftsteller: Kunstkritiker, Theaterkritiker,
Historiker, Dramatiker und schließlich Romanciers. Hierbei hatten sie die Idee,
in ihren Romanen die Doktrin der zeitgenössischen positivistischen Philosophie
zu exemplifizieren, laut der der Mensch vor allem durch sein Erbgut (la race),
seine Zeit (le moment) und sein soziales Umfeld (le milieu) determiniert sei.
Damit schufen sie eine literarische Schule: den Naturalismus.
Ihre
wichtigsten – allesamt zu zweit verfassten – Romane sind: Les hommes de lettres (1860), die Geschichte eines Literaten in
seinem Milieu; Renée Mauperin (1864),
die Geschichte einer jungen Großbürgerin in ihrem Milieu; Manette Salomon (1867), die Geschichte einer Frau im
Künstlermilieu; und vor allem Germinie
Lacerteux (1864), die Geschichte eines Dienstmädchens, das quasi
idealtypisch alles Gute und Böse erlebt, das einem Dienstmädchen widerfahren
kann (z.B. dass sie von dem Mann, den sie liebt, gewissenlos ausgenutzt wird
und schließlich in Schulden versinkt).
Auch
ihre Biografien (z.B. von Marie-Antoinette, Madame Pompadour oder Madame Du
Barry) und die kulturgeschichtlichen Monografien (z.B. Histoire de la
société française sous la Révolution,
1854; L’Art du XVIIIe siècle, 1859 ff., oder La Femme au XVIIIe
siècle, 1862 ) gelten rückblickend als richtungweisend.
Wenig erfolgreich
blieb ihr Versuch als Dramatiker: das dreiaktige Schauspiel Henriette
Maréchal (1865), wurde wegen der bekannten Nähe der Autoren zum
kaiserlichen Hof von republikanisch eingestellten Teilen des Publikums
ausgebuht.
Ein
kulturhistorisches Dokument ersten Ranges ist das Tagebuch (Journal), das die Brüder ab 1851 führten
und das Edmond nach Jules’ frühem Tod (1870) allein fortführte.
Edmond
stiftete 1896 mit seinem Vermögen die Académie Goncourt. Diese besteht aus zehn
Autoren (die nicht der Académie Française
angehören dürfen), die jährlich im Herbst als Jury zusammentreten und einen
französischen Roman mit dem Prix Goncourt auszeichnen, dem seit Jahrzehnten
begehrtesten und werbewirksamsten der zahllosen franz. Literaturpreise.
Jules Verne (*8.2.1828 Nantes; †24.3.1905 Amiens)
Dieser
immer noch viel gelesene Autor (vielleicht ist er bei uns sogar der
meistgelesene Franzose überhaupt) gilt als einer der Väter des Science
fiction-Romans. Von seinem umfangreichen Schaffen in verschiedenen Gattungen
sind vor allem die erzählenden Werke bekannt, die das Genre Reiseroman mit
Science fiction-Elementen verbinden. Trotz seines dauerhaften internationalen
Erfolges wird Verne von der zünftigen Literaturgeschichtsschreibung weitgehend
ignoriert.
Er
wuchs auf im Reederviertel der Hafenstadt Nantes als ältestes von fünf Kindern
eines Anwalts und seiner aus Reederkreisen stammender Frau. Mit elf soll er
heimlich versucht haben, eine Seereise als Schiffsjunge anzutreten,sei aber im
letzten Moment von Bord geholt worden. Seine Schulzeit verbrachte er auf katholischen
Privatschulen seiner Heimatstadt und beendete sie dort 1846 auf dem staatlichen
Gymnasium. Anschließend ging er zum Jurastudium nach Paris, weil er die
väterliche Anwaltspraxis übernehmen sollte.
Spätestens
als Student begann er jedoch zu schreiben und erhielt Kontakt zur Welt der
Pariser Literaten, u.a. zu Alexandre Dumas père (s.o.), der ihn etwas
protegierte, und zu dessen Sohn Alexandre Dumas fils, mit dem er sich
befreundete.
Er
blieb deshalb nach Abschluss des Studiums (1849) in Paris und versuchte sich
zunächst vor allem in verschiedenen dramatischen Genres, von der Tragödie bis
zum Opernlibretto. 1851 wurde ein erstes Stück von einer literarischen
Zeitschrift angenommen, wo im selben Jahr auch zwei Erzählungen von ihm
erschienen. Deren Sujets ‚Seefahrt’ bzw. ‚Ballonfahrt’, ließen ihn nicht mehr
los, auch wenn er noch längere Zeit vorwiegend Texte mit ganz anderer Thematik
verfasste.
1852
wurde Verne Sekretär des Intendanten des Pariser Théâtre lyrique, für
das er in den nächsten Jahren, teils allein, teils in einem Autorenteam, Stücke
produzierte. Zugleich schrieb er weiterhin Erzählungen mit diverser Thematik,
darunter 1855 die Reiseabenteurgeschichte Un
hivernage dans les glaces/Ein Winter im ewigen Eis.
1857
heiratete er eine Witwe mit zwei Kindern (mit der er 1861 ein weiteres bekam)
und betätigte sich danach einige Jahre zwecks Broterwerb mäßig erfolgreich in
dem bürgerlichen Beruf eines Börsenmaklers. Nebenher (1859 und 61) machte er
mit einem befreundeten Reedersohn Schiffsreisen nach Schottland und nach
Norwegen, die ihm die Welt der Seefahrt erschlossen.
Doch
konnte er auch das Schreiben nicht lassen. Entscheidend war schließlich, dass
er 1862 den umtriebigen Jugendbuchverleger Jules Hetzel kennenlernte. Dieser
brachte seinen gerade fertigen ersten Science fiction-Reiseroman Cinq semaines en ballon/Fünf Wochen im
Ballon heraus, nahm ihn für weitere Romane derselben Machart unter Vertrag
und leitete ihn zum publikumswirksamen Schreiben an. Spätestens über Hetzel
auch kam Verne in Kontakt mit Naturforschern und Erfindern, die seine
Kenntnisse erweiterten, ihn fachlich berieten und ihm Ideen eingaben, die er in
einem immensen Zettelkasten sammelte.
Nach
dem Erfolg der Cinq semaines hatte
Verne seinen Durchbruch als Autor geschafft und konnte gut von seiner Feder
leben. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose Romane, die meist
fortsetzungsweise in Hetzels 1864 gegründeter Jugendzeitschrift Magazin illustré d'éducation et de
récréation (=Illustrierte für Erziehung und Erholung) erschienen, ehe sie
auch als Buch herauskamen. Seine eigentliche Domäne hierbei waren und blieben
Reise- und Abenteuerromane mit mehr oder weniger großem Science fiction-Anteil,
die von Hetzel in der Buchreihe „voyages extraordinaires“ (=außergewöhnliche
Reisen) vermarktet wurden. Hierin nahm Verne mit viel wissenschaftlicher und
technischer Intuition manche später realisierte Entwicklung vorweg.
Vernes
Bücher, die sich an ein vorwiegend jüngeres und passabel gebildetes männliches
Publikum richteten, schlugen nicht nur in Frankreich gut ein, sondern dank
Übersetzungen auch in ganz Europa und Amerika. Denn die Zeit war geprägt vom
beschleunigten technischen Fortschritt und zugleich von den letzten großen
Entdeckungsreisen.
Die
bekanntesten Titel sind: Voyages et
aventures du capitaine Hatteras/Reisen und Abenteur von Kapitän H. (1864/65);
Voyage au centre de la Terre/Reise zum
Mittelpunkt der Erde (1864);
De la Terre à la Lune/Von der Erde zum
Mond (1865); Autour de la Lune/Rund um den Mond und Vingt mille lieues sous la mer/Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (beide 1869). 1872 kam Le Tour du monde en 80 jours/Die Reise um
die Welt in 80 Tagen heraus, Vernes größter Erfolg, den er mit einem
Co-Autor auch für das Theater adaptierte. 1876 erschien der in Sibirien um
einen „Kurier des Zaren“ (so der Titel der deutschen Übersetzung) spielende
Abenteuer-Politkrimi Michel Strogoff,
aus dem ebenfalls ein erfolgreiches Stück gemacht wurde.
Spätestens
seit Le Tour du monde war Verne ein
geachteter und reicher Mann. Er unternahm zahlreiche Reisen per Bahn und per
Schiff, 1867 z.B. mit dem größten Passagierdampfer der Zeit, der Great
Eastern, in die USA, und ab 1866
auch mit eigenen Segel- und schließlich Dampfer-Yachten auf Kanal, Nord-
und Ostsee sowie im Mittelmeer. Zudem unterhielt er ein repräsentatives Haus in
Amiens, der Heimatstadt seiner Frau, wo er seit 1870 lebte.
Nach
1880 war sein schöpferischer Zenith überschritten, doch schrieb und publizierte
er fast pausenlos weiter, wobei seine Technik- und Fortschrittsgläubigkeit nach
und nach gedämpfter erscheint.
1883
scheiterten seine Versuche, sich als Kandidat für die Académie Française ins Spiel zu
bringen. Sichtlich wurden seine Bücher von den Académiciens nicht als
seriöse Literatur betrachtet.
1886
wurde er durch den Pistolenschuss eines geistesgestörten Neffen am Fuß schwer
verletzt und behielt Behinderungen zurück. Immerhin brachte dieses Ereignis ihn
seinem Sohn Michel wieder näher, den er 1876 als15-Jährigen zeitweilig in eine
Erziehungsanstalt gesteckt und schließlich quasi verstoßen hatte und mit dem er
sich nun aussöhnte.
1888
begann er, sich kommunalpolitisch zu betätigen und wurde mehrfach in Amiens als
Stadtrat gewählt, wobei er zunächst eher der linken, später der rechten Mitte
angehörte und sich vor allem für Stadtplanung und das städtische Theater
engagierte. 1898, bei der Dreyfus-Affäre, schlug er sich auf die Seite der
konservativen und nationalistischen Rechten.
Nach
seinem Tod gab Sohn Michel noch zahlreiche Werke aus dem Nachlass heraus, wobei
er sie in seinem Sinne bearbeitete.
Vernes
handlungsreiche Romane haben im 20. Jh. viele Filmemacher gereizt. Nicht
zufällig erhielt 1954 das erste Atom-Uboot der Welt, die amerikanische Nautilus, den Namen des futuristischen
Ubootes von Kapitän Nemo aus Vingt
mille lieues sous la mer.
Émile Zola (*2.4.1840 Paris; †29.9.1902 ebd.)
Er
gilt als einer der großen Romanciers des 19. Jh. und als Leitfigur der
gesamteuropäischen literarischen Strömung des Naturalismus.
Er wurde
geboren in Paris als Sohn einer Französin und eines Bauingenieurs italienischer
Herkunft. Dreijährig kam er nach Aix-en-Provence, wo sein Vater ein
Kanalprojekt leitete, aber früh (1847) starb und seine Familie unversorgt
zurückließ. In Aix war Zola befreundet mit Paul Cézanne, dem späteren großen
Maler. Seine letzten Schuljahre verbrachte er wieder in Paris, wohin seine
Mutter schon vor ihm zurückgekehrt war. Nachdem er durchs Baccalauréat gefallen
war (1859), jobbte er (z.B. längere Zeit als Werbechef beim Verlag Hachette)
und schriftstellerte in allen Genres, sogar als Lyriker.
Sein
Durchbruch wurde der Roman Thérèse Raquin
(1867), der eine spannende Handlung um die zur Ehebrecherin und Mörderin
werdende Titelheldin mit einer ungeschönten Schilderung des Pariser
Kleinbürgertums verbindet. Das Vorwort zur zweiten Auflage 1868, in dem Zola
sich gegen seine gutbürgerlichen Kritiker und ihren Vorwurf der
Geschmacklosigkeit verteidigt, wurde zum Manifest der jungen naturalistischen
Schule, zu deren Chef Zola nach und nach avancierte.
Ab
1869 (bis 1893) konzipierte er, ähnlich wie Balzac, die meisten seiner Romane
als Teile eines Zyklus mit dem Titel Les
Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d'une
famille sous le Second Empire. Die insgesamt 20 Romane des Zyklus
sollten eine Art positivistisch begründeter Familiengeschichte sein, wobei die
Rougons den bürgerlichen, die Macquarts den proletarischen Zweig der Familie
repräsentieren. Die so durch Verwandtschaft verbundenen Figuren sollten als
durch ihre Erbanlagen (z.B. den Hang zum Alkoholismus), ihr Milieu (Bourgeoisie
oder Unterschicht) und die historischen Umstände (die sozio-ökonomischen
Verhältnisse des Zweiten Kaiserreichs, 1852-70) völlig determiniert vorgestellt
werden. Gottlob wirken sie, dank Zolas schriftstellerischem Temperament,
menschlich und lebendig genug, um dem Leser nicht als bloße Marionetten und
Demonstrationsobjekte zu erscheinen.
Das
erzählerische Werk Zolas ist, ähnlich wie das der Goncourts, eine Fundgrube für
Sozialhistoriker, wobei die vom Autor geschilderten Verhältnisse naturgemäß
eher die der 1870er/80er Jahre sind, d.h. die der Entstehungszeit der Romane,
und weniger die der 1850er/60er, in denen die Handlungen angesiedelt sind.
Zu
Zolas Lebzeiten am erfolgreichsten war La
Débâcle (1892), dessen Handlung vor dem Hintergrund des franz.-deutschen
Krieges von 1870/71 und der blutig unterdrückten Pariser Commune spielt.
Ebenfalls ein großer Erfolg war Nana
(1879/80), die Geschichte einer jungen Frau aus dem Volk, die dank ihrer
sexuellen Attraktivität einen Aufstieg zur kostenträchtigen Geliebten eines
Grafen erlebt, durch ihren Hang zu Ausschweifungen aller Art jedoch in
Niedergang, Krankheit und frühem Tod endet. Noch heute gelesen werden vor allem
L'Assommoir (1877), wo am Schicksal
einer Wäscherin und ihrer Familie sehr eingängig die Auswirkungen des
Alkoholismus im beengten und ärmlichen Pariser Unterschichtenmilieu beschrieben
werden, und Germinal (1885): die
dramatische Geschichte eines Bergarbeiterstreiks im Kräftefeld der
wirtschaftlichen und ideologischen Antagonismen der Zeit, die Zola aus der
Perspektive eines sozial engagierten Bourgeois beurteilt, der die Lehren der
sozialistischen Denker Fourier, Proudhon und Marx zumindest in ihren Leitlinien
kennt und billigt. Erwähnenswert ist auch L'Œuvre
(1886), weil in dessen Hauptperson, einem hyperperfektionistischen Maler,
Cézanne sich karikiert glaubte, der daraufhin empört mit Zola brach.
Mehrere
der Romane, u.a. Thérèse Raquin, Nana, L'Assommoir und Germinal,
wurden bald nach ihrem Erscheinen zu erfolgreichen Theaterstücken (und später
zu Filmen) verarbeitet.
Neben
seiner Arbeit als Romancier war Zola immer auch journalistisch aktiv. So
versuchte er am 13. Januar 1898 mit einem offenen Brief an den Staatspräsidenten
sein persönliches Prestige für den Hauptmann Dreyfus einzusetzen, der zu
Unrecht als angeblicher prodeutscher Spion verurteilt worden war. Dieser Brief
mit dem Titel J'accuse entfachte
einen ungeahnten innenpolitischen Sturm, der Frankreich für Jahre, oft bis in
die Familien hinein, spaltete in „Dreyfusards“ und „Antidreyfusards“, d.h. ein
progressives linkes Lager und ein konservatives rechtes, das zugleich militant
nationalistisch und antisemitisch war. Zola selbst wurde sofort vom Kriegsminister
sowie von einigen Privatpersonen verklagt und in durchaus politischen Prozessen
wegen „Diffamierung“ zu einer Geld- und (kurzen) Gefängnisstrafe verurteilt,
der er sich jedoch durch Flucht nach London entzog, wo er fast ein Jahr blieb,
bis die Affäre begelegt war.
Sein
Tod durch eine Rauchvergiftung in seiner Pariser Wohnung zu Beginn der
Heizperiode 1902 war möglicherweise das Werk eines nationalistischen
Ofensetzers, der im Sommer eine Reparatur vorgenommen hatte.
Sully Prudhomme (=René François Armand Prudhomme,
*1839; †1907)
Er
ist in die Geschichte eingegangen als der erste Literatur-Nobelpreisträger. Als
Autor ist er heute so gut wie vergessen.
Prudhomme
wuchs auf in Paris in einer gutbürgerlichen katholischen Familie und machte am
Lycée Bonaparte die Reifeprüfung zunächst im naturwissenschaftlichen Zweig
(baccalauréat scientifique) und dann im altsprachlich-literarischen Zweig
(baccalauréat de lettres). Nach kurzer Tätigkeit als Ingenieur bei der
aufstrebenden Firma Schneider in Le Creusot, dem „franz. Krupp“, absolvierte er
ein Jurastudium und arbeitete, wiederum nur kurz, als Anwalt in Paris.
Da
er schon seit vielen Jahren Gedichte verfasste, besann er sich mit Mitte 20 auf
sein hübsches ererbtes Vermögen und widmete sich ganz der Literatur und der
Philosophie, wobei er die Welt der Technik und der Wissenschaft mit der des
Geistes und der Schönheit zu verbinden versuchte.
Zunächst
schrieb Sully Prudhomme, wie er sich als Autor nun nannte, kunstvoll ziselierte
Gedichte in der eher kühlen Manier der Parnassiens, die er, wie damals üblich,
in Zeitschriften publizierte und von Zeit zu Zeit gesammelt in Buchform
herausgab (Stances et Poèmes, 1865; Les épreuves, 1866; Les écuries d'Augias und Les
solitudes, 1869). Seine Teilnahme am preußisch-französischen Krieg 1870/71
verarbeitete er in Impressions de la
guerre (1872) und La France
(1874).
Hiernach
schwenkte er um auf eine „poésie personnelle“, die formale Eleganz mit schönen
Bildern, schönen Gedanken und schönen Gefühlen gefällig vereinte und die von
den Lesern der Fin de Siècle-Epoche ebenso goutiert wurde wie die gefälligen
philosophischen Essays über Alles und Jedes, die er zu schreiben verstand und
in großer Zahl produzierte.
1881
wurde er als Literat mit der Aufnahme in die Académie Française belohnt, 1895
sah er sich als moralische Autorität anerkannt mit der Ernennung zum Chevalier
de la Légion d'honneur; und als 1901 der erste Literatur-Nobelpreis verliehen
wurde, erhielt ihn wie selbstverständlich Sully Prudhomme, so beliebt in
Frankreich und bekannt in ganz Europa war er.
Stéphane Mallarmé (* 18.3.1842 in Paris; † 9.9.1898 in Valvins bei
Fontainebleau)
Er
schuf zwar nur ein schmales Œuvre, ging aber mit beachtlichem Ruhm vor allem
als bedeutender symbolistischer Lyriker in die franz. Literaturgeschichte ein.
Er war Sohn eines Pariser Beamten und verlor mit fünf seine
Mutter, weshalb er in die Obhut von Großeltern kam und seine Gymnasialzeit
freudlos als „interne“ in Schülerwohnheimen verlebte. 1855, im Todesjahr seiner
geliebten Schwester Maria, wurde er von seiner Schule verwiesen, konnte aber
dann, wiederum als „interne“, am Gymnasium von Sens, der Heimatstadt seines
Vaters, das „baccalauréat“ ablegen.
Schon
in seinen letzten Schülerjahren schrieb er Gedichte; seine Vorbilder waren
Victor Hugo (s.o.), Théodore de Banville oder Théophile Gautier (s.o.). 1860
stieß er auf die Fleurs du Mal (1857) von Baudelaire (s.o.) und war
beeindruckt. Neben Gedichten verfasste er nun auch kleine Artikel für
literarische Zeitschriften.
Ebenfalls
1860 begann er sein Erwerbsleben als „surnuméraire“, d.h. Hilfslehrer ohne
feste Anstellung, in Sens. 1862 lernte er dort die sieben Jahre ältere Maria
Gebhard kennen, ein Kindermädchen deutscher Herkunft, die ihm offenbar zugleich
so etwas wie Mutter- und Schwesterersatz bedeutete. Wenig später ging er mit
ihr nach London, wo er sie 1863, nach dem Tod seines Vaters und Erreichen
seiner Volljährigkeit, heiratete. Zurück in Frankreich, legte er eine
Eignungsprüfung für die Position eines nicht-beamteten Englischlehrers an Gymnasien
ab und nahm eine Berufstätigkeit auf, die er, wenn auch widerwillig und in der
Lehrerhierarchie weit unten stehend, 30 Jahre lang ausübte. Immerhin war er so
einer der wenigen Lyriker seiner Epoche, die die Kunst und ein halbwegs
bürgerliches Leben einschließlich Frau und zwei Kindern (von denen eines
achtjährig starb) zu vereinbaren schafften.
Seine
erste Stelle erhielt er noch 1863 in Tournon a. d. Rhône, wo er sich wie im
Exil fühlte (und 1864 Vater wurde). Immerhin schriftstellerte er und verfasste
1865 das szenisch-monologische Langgedicht L'Après-midi
d'un faune, das er vergeblich dem Pariser Théâtre Français zur Aufführung
anbot. Im Jahr darauf, inzwischen in einer Schaffenskrise steckend, trat er
eine Stelle in Besançon an. Schon 1867 wechselte er nach Avignon, wo er die
okzitanisch schreibende Autorengruppe des „félibrige“ um Frédéric Mistral
kennenlernte und einige Prosagedichte publizierte. 1869 begann er die
philosophische Verserzählung Igitur, die jedoch Fragment blieb. Nachdem
er sich 1870 hatte beurlauben lassen und nach Sens gezogen war (wo er zum
zweiten Mal Vater wurde), gelang ihm 1871 der Sprung an eine Schule in Paris.
Hier wurden ab 1877 die „mardis“ in seiner Pariser Wohnung in der Rue de Moscou
zum Jour fixe für jüngere Dichter, die seine äußerst ausgefeilten, allerdings
auch sehr hermetischen Gedichte und seine so scharfsinnigen wie radikalen
poetologischen Überlegungen bewunderten. U.a. verkehrten bei ihm später so
renommierte Autoren wie Paul Valéry, Oscar Wilde, André Gide oder Stefan
George.
Aufgrund
der übergroßen Ansprüche, die Mallarmé an sich stellte, blieb der Umfang seines
publizierten dichterischen Werkes gering: Erst 1876 erschien als Liebhaberdruck
mit Illustrationen seines Maler-Freundes Édouard Manet eine erste Buchpublikation:
das schon 1865 verfasste Langgedicht L'Après-midi
d'un faune. 1887 gab er in jeweils kleinen Auflagen ein Sammelbändchen mit
Gedichten und einen weiteren Band mit vermischten Texten heraus, denen 1893 ein
letztes Bändchen folgte.
In
diesem Jahr konnte er endlich, da er nun mit Vortrags- und
Zeitschriftenhonoraren ausreichend verdiente, den ungeliebten Schuldienst
quittieren. 1896 erlebte er stolz seine Wahl zum „prince des poètes“ (=Fürst
der Dichter) als Nachfolger von Paul Verlaine (s.u.). 1898 erlag er einer
Kehlkopfentzündung in seinem Landhaus bei Paris.
Obwohl
als Person eher zurückgezogen und introvertiert, wurde Mallarmé zum Meister und
Mentor der symbolistischen Schule aufgrund der Formvollendung und Dichte seiner
Lyrik sowie seiner fast priesterhaft zelebrierten Vorstellung vom absoluten
Primat der Kunst gegenüber dem Leben, d.h. des geformten Schönen gegenüber der
Realität. Einem etwas größeren Publikum bekannt geworden ist er lediglich mit L'Après-midi d'un faune, dessen intensive Stimmung Claude Debussy in seiner
gleichnamigen Ballettmusik einzufangen versucht hat.
Paul Verlaine (* 30.3.1844 Metz; † 8.1.1896 Paris)
Er
ist eine der Galionsfiguren der symbolistischen Schule, hatte großen Einfluss
auf die Lyriker der Generation nach ihm und gilt als einer der Großen der
franz. Lyrik überhaupt.
Verlaine
war das einzige lebend zur Welt gekommene, spät geborene Kind seiner Eltern.
Seine frühe Kindheit verbrachte er in Metz, Montpellier, Nîmes und wieder Metz,
Stationen seines Vaters, eines Berufsoffiziers. Nachdem dieser den Dienst 1851
quittiert hatte, ließ sich die durchaus wohlhabende Familie in Paris nieder.
Hier wurde Verlaine 1853 Internatsschüler in einer Privatschule (pension) und
besuchte von dort aus später zugleich das Lycée Bonaparte (heute Condorcet). Er
war zunächst ein guter Schüler, ließ um die 14 aber stark nach und begann
Gedichte zu schreiben, deren ältestes bekanntes von Ende 1858 stammt und dank
seiner Zusendung an Victor Hugo erhalten ist.
Nach
dem Baccalaureat, das er per Kraftakt 1862 doch noch passabel absolvierte,
immatrikulierte sich Verlaine als Jurastudent, verkehrte vor allem aber in
Pariser Literatencafés und literarischen Zirkeln. In diesem Ambiente lernte er
praktisch alle Autoren seiner Generation kennen und schrieb er: überwiegend
Lyrik. Im August 63 erschien erstmals ein Gedicht von ihm in einer Zeitschrift.
Allerdings fing er um diese Zeit auch an zu trinken. Sein inzwischen stark
kränkelnder Vater war besorgt und zwang ihn nach längerem Hausarrest (er war ja
minderjährig), eine Stelle bei einer Versicherung anzunehmen. Von dort
wechselte Verlaine Anfang 1864 in die mittlere Angestelltenlaufbahn bei der
Pariser Stadtverwaltung.
Neben
seiner Berufstätigkeit war er weiter literarisch aktiv. Schon mit 16 war er auf
Baudelaires (s.o.) Les Fleurs du mal (1857) gestoßen, die sein
wichtigstes Vorbild wurden. 1865 war ein Aufsatz über Baudelaire sein erster
längerer gedruckter Text. 1866 nahm Théodore de Banville für seine Anthologie Le
Parnasse contemporain (nach der sich später die Dichterschule der
Parnassiens benannte) sieben Gedichte von ihm an; im selben Jahr publizierte er
einen ersten kleinen Sammelband als Privatdruck unter dem Titel Poèmes saturniens. Der Einfluss der
Parnassiens und vor allem der von Baudelaire ist deutlich, doch sind Verlaines
Gedichte elegischer, melodischer, weicher. In der Sammlung Fêtes galantes (1869) versuchte er, die verspielten Figuren und die
wehmütig-heitere Stimmung der Bilder Antoine Watteaus (1684-1721) lyrisch
einzufangen, die ihn im Louvre fasziniert hatten und die ihm durch die
Artikelserie (1859 ff.) L'Art du dix-huitième siècle der
Brüder Goncourt (s.o.) nahegebracht worden waren.
Zugleich jedoch verfasste er auch sozialistisch orientierte politische Gedichte,
die eine Sammlung mit dem Titel Les Vaincus ergeben sollten.
Seine
psychische Verfassung war wenig stabil: Immer wieder verfiel er seit dem Tod
seines Vaters (1865) in Alkoholexzesse, die ihn im Juli 1869 sogar zu zwei
Mordversuchen an seiner Mutter führten.
Kurz
zuvor hatte er sich in Mathilde Meuté de Fleurville verliebt, die 16-jährige
Halbschwester eines Freundes. Die Verliebtheit stabilisierte ihn dann offenbar,
und da er als wohlhabender Erbe in spe gelten konnte, durfte er sich trotz starker
Bedenken von Mathildes Vater Ende des Jahres mit ihr verloben und sie im Juni
1870 heiraten (mit einer vorsichtshalber nur aus Pachteinnahmen bestehenden
Mitgift). Fast am selben Tag erschien die Mathilde gewidmete Sammlung La
bonne chanson, die etliche seiner
schönsten Gedichte enthält und das Glück seiner Liebe und
vorübergehenden Abstinenz spiegelt.
Schon
im Jahr darauf endete die kurze halbwegs bürgerliche Phase seines Lebens. Im
März 71 schloss er sich nach der Niederlage Frankreichs im preußisch/deutsch-französischen
Krieg den marxistisch inspirierten Revolutionären der Pariser Commune an, dem ersten kommunistischen
Experiment in der Geschichte Europas. Als die provisorische franz. Regierung im
Mai die Commune blutig niederschlug und die Verlierer bestrafte, verlor
Verlaine im Juli seinen Posten bei der Stadtverwaltung.
Im
September nahm er den knapp 17-jährigen Arthur Rimbaud (s.u.) bei sich auf, der
ihm Gedichte zugeschickt hatte und den er nach Paris eingeladen hatte. Ende
Oktober wurde er Vater eines Sohnes, doch begann er etwa zur selben Zeit ein
homosexuelles Verhältnis mit Rimbaud. Es folgten lange verworrene Monate,
während derer er hin und her pendelte zwischen Mathilde (die er des öfteren
bedrohte und misshandelte und zur Flucht zu ihren Eltern trieb), seiner Mutter
und Rimbaud (der sich im Früjahr 72 ein paar Wochen absentierte).
Am
7. Juli 72 verließ Verlaine zusammen mit Rimbaud Paris. Anschließend
vagabundierte er mit ihm durch Nordostfrankreich, England und Belgien, sich
mehrfach trennend und versöhnend, häufig depressiv und suizidgefährdet, immer
wieder jedoch von seiner Mutter aufgesucht und unterstützt.
Dichterisch
war es (wie auch für Rimbaud) durchaus eine fruchtbare Zeit, er verfasste u.a.
die Ariettes oubliées und die Romances sans paroles (erschienen
1874).
Am
4. Juli 73 schrieb er, nachdem er kurz zuvor Rimbaud in London im Streit
verlassen hatte, in Brüssel Abschiedsbriefe an seine Frau (die seine
wiederholten Kontaktversuche abgelehnt und die Scheidung eingereicht hatte), seine
Mutter und Rimbaud. Die beiden Letzteren reisten sofort an, Rimbaud allerdings
blieb unversöhnlich. Der verzweifelte Verlaine schoss hierauf betrunken in
Gegenwart seiner Mutter auf den Freund, verletzte ihn jedoch nur leicht. Als er
nach dem gemeinsamen Aufsuchen einer Ambulanz nochmals auf ihn zu schießen
drohte, flüchtete Rimbaud zu einem Polizisten. Verlaine wurde festgenommen und
zu zwei Jahren Haft verurteilt. In diesen Jahren war seine Mutter einmal mehr
sein psychologischer und finanzieller Halt.
Schon
in der Untersuchungshaft hatte er viele Gedichte verfasst. Im Gefängnis
(1873/75) wurde er unter dem Einfluss des Gefängnispfarrers fromm und schrieb
religiöse Gedichte, die er später (1880) in dem Band Sagesse vereinte. Auch das berühmte Gedicht Art poétique,
das zu einer Art Manifest des Symbolismus wurde, stammt aus der Haftzeit.
Nach
der vorzeitigen Entlassung Anfang 1875 besuchte er Rimbaud in Stuttgart. Sein
Versuch, ihn ebenfalls zur Frömmigkeit zu bekehren, scheiterte. Auch die
erhoffte Versöhnung misslang. Im März ging er nach England und hielt sich dort
mit Französisch- und Zeichenunterricht über Wasser, war aber kurz auch
angestellter Lehrer.
1877
erhielt er vertretungsweise eine Lehrerstelle in Rethel/Ardennes, wurde aber
1878 nicht verlängert, wohl wegen vermuteter homosexueller Beziehungen zu einem
Schüler, Lucien Létinois. Er ging nun mit diesem, den er als Ziehsohn
betrachtete, einmal mehr nach England, kehrte aber Ende 79 zurück. Anfang 1880
übernahm er, dank einem Zuschuss seiner Mutter, gemeinsam mit Létinois und
dessen Eltern einen Pachthof und versuchte sich als Landwirt. Schon Anfang 82
ging der Hof Pleite. Verlaine schlüpfte in Paris bei seiner Mutter unter. Seine
Bemühungen, wieder Lehrer zu werden, scheiterten.
Er
lebte hiernach schlecht und recht bei seiner Mutter, zunächst in Paris, dann
auf einem kleinen Anwesen, das sie in Coulommes von den Eltern Létinois’
gekauft hatte, nachdem dieser 1883 an Typhus gestorben war. Er trank nun jedoch
wieder und versuchte im Suff einmal mehr, sie zu erwürgen, was ihm kurze Haft
und eine Geldstrafe eintrug und zu einem vorübergehenden Zerwürfnis führte
(1885). Gegen Jahresende erkrankte er und wurde in der Folgezeit, vielleicht
z.T. aufgrund einer fortschreitenden Syphilis, nie mehr völlig gesund. Als
seine Mutter Anfang 86 starb, vererbte sie den schmalen Rest ihres Vermögens an
ihm vorbei an seinen Sohn.
Verlaine
war nun endgültig mittellos. Die nächsten Jahre verbrachte er elend und mit
ständig wechselnden Adressen meistens in Paris, wo er in Armenasylen,
Spitälern, Absteigen oder, wenn er über etwas Geld verfügte, bei Prostituierten
oder in kleinen Hotels logierte.
Als
Autor allerdings begann er nun endlich bekannter zu werden. 1883 hatte er eine
Serie mit Dichterporträts unter dem Titel Les Poètes maudits
(=Fluchbeladene Dichter) veröffentlicht sowie den Gedichtband Jadis et
naguère. Auch in den Jahren seiner Verelendung blieb er erstaunlich kreativ
und schrieb: Lyrik, Essayistisches, Autobiografisches, Autorenporträts,
Reiseberichte usw.. Darüberhinaus publizierte er Werke Rimbauds, die er in
eigenen Abschriften oder auch in Autographen besaß, und rettete sie so vor dem
Vergessen. Ab 1888 wurde er von jüngeren Kollegen und Bewunderern hofiert. 1892
wurde er erstmals zu einer Serie von Vorträgen nach Holland eingeladen, 1893
nach Belgien, Lothringen und England. 1893 auch versuchte er, für die Académie
Française
zu kandidieren, wurde aber schon im Vorfeld ausgebremst.
Immerhin erachtete ihn nun das
Unterrichtsministerium wiederholter stattlicher Gratifikationen für würdig, und
ein eigens gegründeter Freundeskreis zahlte ihm eine monatliche Pension von 150
Frs. 1894 wurde er als Nachfolger des verstorbenen Lyrikers Leconte de Lisle
zum „Prince des poètes“ (=Fürst der Dichter) gewählt und 1895 verbürgerlichte er fast, indem er mit einer
langjährigen Freundin einen gemeinsamen Hausstand gründete.
Der
Normalität war aber keine Dauer beschieden. Ende des Jahres erkrankte Verlaine
und schrieb zwei letzte Gedichte: Mort ! und Désappointement. Er
starb am 8.1.1896. Dem Trauerzug am 12. 1. folgten mehrere tausend Personen und
bekannte Autoren ehrten ihn mit Totenreden.
Zu Verlaine vgl. auch meine kleine Studie „Wie eine Tilgung einen Text total verändert.
Zur Metamorphose von Paul Verlaines Gedicht Croquis parisien“, in
Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen (Bd. 246,
2009, S. 344 ff.).
Anatole France (=Jacques Anatole François Thibault;
*16.4.1844 in Paris, †12.10.1924 in Saint-Cyr-sur-Loire bei Tours)
France wuchs auf
als Sohn eines hochgebildeten Buchhändlers und beendete 1864 seine
Gymnasialzeit am katholischen Pariser Collège Stanislas mit dem Baccalauréat.
Früh interessierte er sich für Literatur und erarbeitete sich eine profunde
humanistische Bildung. 1866 lernte er den Verleger der Parnassiens (s.u.),
Lemerre, kennen und wurde bei ihm freiberuflicher Lektor, als der er z.B. eine
mehrbändige Anthologie zeitgenössischer Lyrik herausgab. 1876 übernahm er, um
zwecks Heirat und Familiengründung ein festes Einkommen zu haben, einen Posten
als Bibliotheksangestellter, den er 1890 aufgab, weil er inzwischen von seiner
Schriftstellerei leben konnte.
Als Autor begann
er mit Lyrik im Stil der Dichter des Parnasse, in deren Kreis um Leconte de
Lisle (s. o.) er sich ab 1867 bewegte. Er betätigte sich aber früh auch als
Erzähler sowie als Literaturkritiker (der z.B. den neuen Symbolismus etwa
Mallarmés oder Verlaines zunächst nicht goutierte).
Sein Durchbruch
war 1881 der Roman Le Crime de Sylvestre Bonnard, membre de l'Institut (=das
Verbrechen S. B.s, Mitglied des Institut [de France]). Er wurde mit dem Prix de
l'Académie française ausgezeichnet, verschaffte ihm Zugang zu den Pariser
literarischen Salons, u.a. dem von Mme de Caillavet, und brachte ihm 1884 das
Kreuz der Ehrenlegion ein. Le Crime (der Titel ist übrigens ironisch zu
verstehen) ist ein rührseliger Roman,
der in Tagebuchform die Geschichte eines weltfremden älteren Privatgelehrten
erzählt, der im zunächst eher zufälligen Einsatz für Hilfsbedürftige, insbes.
die verwaiste Enkelin seiner Jugendliebe, das wirkliche Leben findet.
Gemäß seinem
gutbürgerlichen Herkommen vertrat France lange Zeit eine eher konservative
Einstellung, so z.B. in dem zur Zeit der Pariser Commune spielenden Roman Les
désirs de Jean Servien (1882) oder 1887 in einer negativen Besprechung
Émile Zolas). 1888 sympathisierte er kurze Zeit sogar mit dem Chauvinismus von
Georges Boulanger, dem „Général revanche“. Gegen 1890 rückte er jedoch langsam
nach links. Er öffnete sich antiklerikalen und humanitär-sozialistischen Ideen,
wobei ihn weniger eine Revolutionierung der Gesellschaft interessierte als die
Emanzipation des Individuums von inhumanen materiellen und moralischen Zwängen.
Nicht unbeteiligt an seinem Umdenken war vermutlich der biografische Umstand, dass
er 1888 ein außereheliches Verhältnis mit Mme de Caillavet begonnen hatte, das
ihn 1892 zur Trennung von Frau und Tochter veranlasste.
Ein Reflex des
Umdenkens Frances war 1889/90 sein erster historischer Roman, Thaïs.
Dieser erzählt die im weltoffenen Alexandria des 4. Jahrhunderts spielende
Geschichte eines asketischen christlichen Mönchs, der die heidnische Kurtisane
Thaïs zu bekehren versucht, dabei aber selbst zu der Einsicht gelangt, dass der
Verzicht auf jegliche Sinnenfreude nicht gottgewollt sein kann. (1894 von Jules
Massenet als Oper vertont.)
Frances
antiklerikales und progressistisches Denken zeigt sich auch in dem sehr
erfolgreichen Kurzroman La Rôtisserie de la Reine Pédauque (Die
Brat-/Garküche „Zur Königin P.“) von 1892/93. Es ist ein handlungsreiches Werk
im Stil der philosophischen Romane und Erzählungen des 18. Jahrhunderts, das
angeblich aus einem zufällig wiedergefundenen Manuskript dieser Zeit entnommen
ist. Hierin berichtet ein pikaresker Ich-Erzähler seine vielfältigen Erlebnisse
mit dem sehr unorthodoxen ehemaligen Kirchenmann und Gymnasialprofessor Jérôme
Coignard (dessen Figur eines undogmatischen Skeptikers und Freidenkers France
im selben Jahr 93 in der satirischen Artikelserie Les opinions de Jérôme
Coignard benutzte).
In der Gegenwart
dagegen spielt der autobiografisch inspirierte Roman Le Lys rouge (Die
rote Lilie) von 1894, der die Geschichte der schwierigen Liebe einer
Bankiersgattin zu einem Künstler erzählt. (1899 zu einem Stück verarbeitet und
aufgeführt)
1895 wurde France
in seiner Eigenschaft als gemäßigt progressistischer Autor zum Offizier der
Ehrenlegion befördert. 1896 wurde er als vielseitiger Literat und glänzender
Stilist in die Académie française aufgenommen.
Deutlicher
Ausdruck seiner ständig weiter nach links driftenden Position sind die vier
Bände der Romantetralogie Histoire contemporaine (=Zeitgeschichte).
Waren Band I und II (beide 1897) noch ein satirisches Sittengemälde der von
klerikalen und monarchistischen Kräften beherrschten französischen Provinz, so stehen
Bd. III (1899) und vor allem IV (1901), dessen Handlung um den
Universitätsdozenten Bergeret in Paris spielt, unter dem Eindruck der sich ab
Ende 1897 verschärfenden Dreyfus-Affäre. Sie zeigen Frances Übergang von der
bloßen Gesellschaftskritik aus der Perspektive eines gemäßigt linken
Republikaners zum dezidiert linken Engagement eines Sympathisanten der
sozialistischen Partei und ihres Führers Jean Jaurès.
Sein neues
Engagement manifestierte sich auch 1898 in seinen publizistischen
Stellungnahmen zur Dreyfus-Affäre und in seiner Einmischung in den politisch
motivierten Prozess gegen Zola. Es zeigt sich weiterhin in der bissigen
Erzählung L'Affaire Crainquebille (1901), die schildert, wie ein
rücksichtsloser Richter im Verein mit einem autoritären Polizisten einen
kleinen Gemüsehändler aburteilt und den so Vorbestraften seiner bürgerlichen
Existenz beraubt. (1903 zu einem Stück verarbeitet und aufgeführt). Politisch
linke Intentionen verfolgt France auch in der Biografie La Vie de Jeanne
d’Arc (1908), wo er die Figur Jeannes zu entzaubern versucht, die von der
französischen Rechten gerade zur nationalen Ikone stilisiert (und 1909 vom
Papst selig gesprochen) wurde.
Zwei Ausflüge
Frances ins Theaterfach mit Noces corinthienne'(1902) und La Comédie
de celui qui épouse une muette (1908) blieben eher folgenlos.
Am berühmtesten wurden Frances Romane L'Ile
des Pingouins (Die Insel der Pinguine) von 1908 und Les dieux ont soif (Die
Götter dürsten) von 1912. Ersterer ist ein sarkastischer Abriss der französischen
Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, eine Geschichte, die der
Autor verkleidet in ein fiktives Pinguin-Reich verlegt, wobei er dessen Zukunft
wegen der Habgier und hochmütigen Uneinsichtigkeit der „Pinguine“ sehr
pessimistisch beurteilt. Der andere Roman erzählt die Geschichte eines
mittelmäßigen Malers, der sich zum doktrinären Revolutionär und blutrünstigen
Geschworenen während der Schreckensherrschaft von 1793/94 entwickelt, bis er
selbst, fanatisch bis zuletzt, mit Robespierre auf der Guillotine endet. Es ist
ein Aufruf Frances gegen den ideologischen und politischen Fanatismus, der Frankreich seit der
Dreyfus-Affäre Zeit polarisierte.
Im Ersten
Weltkrieg bezog er, nachdem er anfangs noch als Friedensmahner aufzutreten
versucht hatte, eine gemäßigt patriotische Position.
1921 erhielt
France als vierter französischer Autor den Literatur-Nobelpreis. Von der
Katholischen Kirche dagegen wurden seine Schriften 1922 auf den Index gesetzt.
Nachdem die
Kommunisten Ende 1920 aus der Sozialistischen Partei ausgezogen waren und den
Parti communiste français
(PCF) gegründet hatten, schlug er sich auf ihre Seite
und war damit einer der ersten prokommunistischen Intellektuellen von Rang.
Mitglied im PCF wurde er jedoch nicht, und schon 1922 setzte er sich wegen der
absoluten Moskau-Hörigkeit der Parteiführung vorsichtig ab.
Zu seinem 80. Geburtstag 1924 wurde
France mit Ehrungen überhäuft und bei seinem Tod noch im selben Jahr mit einem
Staatsbegräbnis ausgezeichnet. Heute ist er, trotz seines Ruhmes zu Lebzeiten,
fast vergessen, nicht zuletzt wohl, weil seine Protagonisten auf heutige Leser
psychologisch etwas flach und undifferenziert wirken und meist zu eindeutig das
vom Autor jeweils Gewollte oder Abgelehnte repräsentieren. Auch hatte France in
seinem letzten Lebensjahr das Unglück, von den prokommunistischen Surrealisten,
insbesondere Louis Aragon (s. u.), als pseudolinker Bourgeois geschmäht zu
werden, was ihm bei vielen orthodoxen Linken der Zwischenkriegs-, Kriegs und
Nachkriegszeit das Odium eines verkappten Rechten verschaffte.
In die Literaturgeschichte eingegangen ist France vor allem als Romancier und als der Autor von L'Ile des Pingouins und Les dieux ont soif.
Paul Déroulède (* 2.9.1846 in Paris; † 30.1.1914 in Montboron/Nizza)
Er ist
nicht wegen seiner Qualitäten als Autor erwähnenswert, sondern wegen der großen
politischen Wirkung, die seine Texte zeitweilig entfalteten.
Zunächst
offenbar von einer Dramatiker-Karriere träumend (1869 verfasste er das Stück Juan Strenner), wurde Déroulède Soldat
im preußisch/deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und geriet kurz in
Gefangenschaft, aus der er fliehen konnte. Im Mai 1871 nahm er auf Seiten der
Regierungstruppen an der Niederschlagung der Pariser Kommune teil, wobei er verwundet
wurde.
Nach
seiner Genesung wurde er angesichts der franz. Kriegsniederlage zum
nationalistischen und revanchistischen Autor, der zur Rache an Deutschland und
zur Rückeroberung von Elsass-Lothringen aufrief. Zugleich predigte er eine
geistig-moralische Wende in Frankreich, das er von Atheismus, Gleichgültigkeit
und Willenlosigkeit sowie einem ineffizienten und korrupten Parlamentarismus
zersetzt sah. In diesem Sinne verfasste er martialische und patriotische
Gedichte, die er gesammelt in den Bänden Chants
du soldat (Gesänge des Soldaten, 1872) und Nouveaux chants du soldat (1875) publizierte, denen er 1881 Marches et sonneries (Märsche und
Klingklang) und 1888 Refrains militaires
(soldatische Reime) folgen ließ. Neben seiner Aktivität als populär-populistischer
Lyriker, die ihm nach und nach bei der politischen Rechten den Ehrentitel
"le poète national" einbrachte, versuchte er sich, allerdings nicht
sehr erfolgreich, auch wieder als Dramatiker mit den Stücken L'Hetman (1877) und La Moabite (1881).
Spätestens
seit dem Erfolg der Chants
entwickelte Déroulède auch politischen Ehrgeiz. 1882 gründete er die
chauvinistische und antiparlamentaristische Bewegung Ligue des patriotes,
die 1888/89 den revanchistischen General und Ex-Kriegsminister Georges Boulanger
("le Général Revanche") unterstützte und zum notfalls bewaffneten
Staatsstreich gegen die 1871 etablierte Republik antrieb. Bei den Wahlen Anfang
1889, wo Boulanger in fünf Wahlkreisen zugleich kandidierte und gewählt wurde
(was seinerzeit ging), schaffte auch Déroulède als boulangistischer
Abgeordneter den Sprung ins Parlament. Als Boulanger jedoch weder die
parlamentarische Mehrheit erreichte, noch einen Putschversuch wagte und vor dem
Haftbefehl der Regierung nach Belgien flüchtete (wo er 1891 Selbstmord beging),
zog Déroulède sich 1892 für einige Zeit aus der Politik zurück.
1894
publizierte er Chants du paysan
(Gesänge des Bauern), ein Lob des "echten", bodenverwachsenen
Frankreichs, und 1895 ein Drama über den mittelalterlichen Nationalhelden Du
Guesclin, der im Hundertjährigen Krieg die Engländer besiegt und die von ihnen
besetzten Gebiete für die franz. Krone zurückerobert hatte.
Als
1898 die Dreyfus-Affäre Frankreich polarisierte, wurde auch Déroulède wieder
aktiv, naturgemäß als nationalistischer und antisemitischer
"Anti-Dreyfusard". Nachdem er erneut zum Abgeordneten gewählt worden
war, versuchte er 1899, nach dem skandalumwitterten plötzlichen Ableben des
Staatspräsidenten Félix Faure, das franz. Militär zur Beseitigung der parlamentarischen
Demokratie aufzuwiegeln. Er scheiterte jedoch und wurde zu zehn Jahren
Verbannung verurteilt, allerdings nach sechs Jahren Exil in Spanien 1905
begnadigt.
1906
kandidierte er nochmals bei den Parlamentswahlen, fiel aber durch, da seine
Basis, die Ligue des patriotes,
inzwischen rechts überholt worden war von der Action française Charles Maurras'. Hiernach war Déroulède als
Politiker ein Auslaufmodell, so wie auch seine "Gesänge" selbst
rechtsstehenden Lesern als hohltönend und vorgestrig zu erscheinen begannen.
Seine
Rolle als einer der Vorbereiter des Ersten Weltkriegs war zweifellos sehr
bedeutend. Jean Giraudoux verhöhnt ihn noch 1935 in La Guerre de Troie n'aura pas lieu in Gestalt des Propagandapoeten
Demokos.
Joris Karl Huysmans (eigentl. Georges Marie Charles Huysmans; *5.2.1848 Paris,
†12.5.1907 ebd.)
Dieser
heute vor allem durch seinen Roman A rebours bekannte Autor wurde
geboren als Sohn einer Pariser Buchhefterin und eines Zeichners und
Lithographen niederländischer Herkunft. Nach dessen frühen Tod 1856 und der
raschen Wiederverheiratung seiner Mutter 1857 kam er in eine Pension, wo er
eine wenig glückliche Schulzeit verbrachte. Nach dem Baccalaureat
immatrikulierte er sich für ein Jura- und Literaturstudium, nahm zugleich aber
einen Posten als kleiner Ministerialangestellter an, was er, wenn auch mit
häufigeren Beurlaubungen, 32 Jahre lang blieb (1866-98). Weniger beständig war
er in seinen Beziehungen mit Frauen, was ihm viele Enttäuschungen bereitete und
reichlich Stoff für seine Romane lieferte, in deren Mittelpunkt meist ein vom
Leben und den Frauen frustrierter Junggeselle steht.
Seine
Karriere als Autor begann Huysmans 1874 mit dem als Privatdruck
veröffentlichten Prosagedicht-Bändchen Le
Drageoir aux épices (= die Gewürzschachtel/-dose). 1876 lernte er Zola
kennen und schloss sich der um ihn vereinten Gruppe der Naturalisten an. Im
selben Jahr brachte er seinen ersten Roman heraus: Marthe, histoire d’une fille (=M., Geschichte eines leichten
Mädchens), worin er den naturalistischen Romanen Germinie Lacerteux (1863/64) der Gebrüder Goncourt und Thérèse Raquin (1867) von Zola
nacheifert, dies aber so drastisch tut, dass das Buch sofort für einige Zeit
als sittenwidrig verboten wurde. Auch Huysmans' nächste erzählende Werke sind
überwiegend im Milieu der Pariser Unterschicht angesiedelt und von einem
drastischen Realismus: Es sind der Roman Les
sœurs Vatard (=die Schwestern V., 1879), wo er die mediokre amouröse und
berufliche Existenz zweier Buchhefterinnen schildert; die antimilitaristische
Erzählung Sac au dos, die er für den Sammelband Les soirées de Meudon
verfasste, der eine Art Manifest der naturalistischen Schule war; der Roman En
ménage (=Leben zu zweit, 1881),
wo Huysmans die ihm nur allzu gut bekannte Problematik des Künstlers zwischen
dem Drang nach ungestörtem Schaffen und dem Bedürfnis nach einer sexuellen und
affektiven Beziehung darstellt, zugleich aber auch zwei Künstlertypen
konfrontiert in Gestalt eines mehr realitätsverbundenen Schriftstellers und
eines eher realitätsfernen, ästhetisierenden Malers; die Romane La Retraite de M. Bougran (=die
Verrentung Herrn B.s, 1881), wo er die Schwierigkeiten eines frühverrenteten
Ministerialbeamten bei der Findung eines neuen Lebenssinns beschreibt, und A vau-l'eau (=den Bach runter, 1882), wo
er einen kleinen Beamten in den Mittelpunkt stellt, der aus seinem kläglichen
Trott nicht herauskommt. Die beiden letzteren Romane scheinen z.T. Probleme des
Autors selbst zu spiegeln, der sich 1881 für längere Zeit hatte beurlauben
lassen müssen, um sich in einer Privatklinik von einer nervösen Erschöpfung zu
erholen.
1883
gab Huysmans einen Sammelband seiner Kunstkritiken der vorangegangenen Jahre
heraus als L’Art moderne.
1884
publizierte er das Werk, das ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte
sichern sollte: den Roman A rebours
(=gegen den Strich). Die minimale Handlung kreist um einen neurotischen jungen
Aristokraten namens Des Esseintes, der sich aus der Realität zurückzieht, sich
in seinem Vorstadthäuschen in eine artifizielle Welt des Ästhetizismus und
Mystizismus einspinnt und am Rande geistiger Umnachtung endet. Der Roman war
ursprünglich als naturalistische Studie eines erblich belasteten und
krankmachend lebenden „dekadenten“ Individuums konzipiert, das in vielen Zügen
dem Autor selber ähnelt. Offensichtlich erkannten sich jedoch erstaunlich viele
Leser darin wieder, und zwar nicht nur politisch unbefriedigte konservative
Bildungsbürger, die sich offenbar mit Des Esseintes' Realitätsflucht
identifizierten, sondern auch Intellektuelle, z.B. die symbolistischen Lyriker,
die A rebours als Kultbuch, als „Brevier des Dekadentismus“, lasen. (So
formuliert Mallarmé 1885 die symbolistische Poetik in einem langen Gedicht mit
dem paradoxen Titel Prose pour Des
Esseintes.)
Der
nächste Roman von Huysmans, und sein erster, der auf dem Land spielt, En
rade (=auf Reede), erschien erst 1887. 1888 folgte der Autor einer
Einladung nach Hamburg und schloss eine längere Reise durch Deutschland an.
1890
war er einer der Gründer der Académie Goncourt und wurde ihr erster
Vorsitzender.
Um
dieselbe Zeit begann er, offenbar einmal mehr in eine Phase der Sinnsuche
eingetreten, sich dem Einfluss okkultistisch interessierter Personen zu öffnen
und sich mit entsprechenden Vorstellungen und Praktiken zu beschäftigen. Die
Krise mündete schließlich in Frömmigkeit und führte ihn ab 1892 zu mehreren
Klosteraufenthalten in der Provinz und zur Einkleidung als Laienbruder (oblat)
in Ligugé bei Poitiers.
Die
genannte Entwicklung verarbeitete Huysmans in einer Serie von vier Romanen um
denselben Protagonisten, einen Schriftsteller namens Durtal. Es sind: Là-bas (=da drüben, 1891), En route (=unterwegs, 1895), La Cathédrale (1898) und L'Oblat (=der Laienbruder, 1903). War
schon Là-bas ein Bestseller gewesen, wurde der in der Kathedrale von Chartres
und in ihrem Umkreis spielende Roman La
Cathédrale Huysmans' größter Verkaufserfolg mit ca. 40 Auflagen in 20
Jahren. Heute ist er jedoch auch zünftigen Literarhistorikern kaum noch
bekannt.
Huysmans
starb an Krebs in einem Pariser Benediktiner-Kloster, in das er sich gegen 1905
zurückgezogen hatte.
Guy de Maupassant (* 5.8.1850 Miromesnil/Dieppe; †
6.7.93 Passy bei Paris)
Entgegen
der oft zu findenden Meinung von Zweiflern, die das normannische Hafenstädtchen
Fécamp für seinen Geburtsort halten, wurde Maupassant geboren auf Schloss
Miromesnil bei Dieppe, das seiner Familie zwar nicht gehörte, aber 1849 von ihr
angemietet worden war. Allerdings verbrachte er seine Kindheit überwiegend in
Fécamp. Seine Mutter, Laure Le Poittevin, war Schwester eines Jugendfreundes
von Flaubert, sein Vater ein aus einer neuadeligen Familie stammender
Privatier, der sich bald durch seinen aufwändigen Lebensstil ruinierte und
seine Frau zudem durch Seitensprünge verdross. Als der Vater sich 1859 in Paris
als Bankangestellter verdingen musste, trennte sich die Mutter kurz danach von
ihm und ging mit Guy und seinem jüngeren Bruder Hervé zurück in die Normandie,
in das aufstrebende Seebad Étretat.
Maupassant
besuchte zunächst als Internatschüler das nicht nur angehende Priester
unterrichtende katholische Seminar (petit séminaire) der Kreisstadt Yvetot,
fühlte sich dort aber unwohl. Früh machte er literarische Versuche und wurde
mit 17 wegen eines frechen Gedichts auf Lehrer von der Schule verwiesen. Er
wechselte auf das staatliche Collège
impérial (Gymnasium) von Rouen, wo er von einem anderen Jugendfreund
Flauberts, dem heute vergessenen Autor Louis Bouilhet, betreut wurde und auch
Flaubert selbst kennenlernte, der ihm später ein väterlicher Freund wurde.
Nach
dem Baccalaureat 1869 begann er in Paris ein Jurastudium, musste dieses aber
unterbrechen, als er nach Beginn des französisch-preußischen Krieges
(19.7.1870) eingezogen wurde. Er kam zwar nicht zur kämpfenden Truppe, doch
erlebte er die Niederlage und die teilweise Besetzung Frankreichs durch
preußisches Militär hautnah mit.
Nach
seiner Demobilisierung im Herbst 1872 führte Maupassant sein Studium nicht
weiter, sondern nahm, dank der Vermittlung Flauberts, einen Posten als
mittlerer Angestellter zuerst im Marine- und 1877 im Bildungsministerium an.
Als Ausgleich für die lustlos ausgeübte Berufstätigkeit verbrachte er seine
Freizeit Kanu fahrend auf der Seine und mit diversen Liebesabenteuern. Hierbei
infizierte er sich 1877 mit Syphilis, was ihm (bald zusammen mit der Angst,
verrückt zu werden wie sein Bruder Hervé) den Rest des Lebens verdüsterte.
Neben
Beruf und Hobby betätigte er sich unter Anleitung Flauberts literarisch in
verschiedenen Gattungen, veröffentlichte lange Zeit jedoch fast nichts. Über
Flaubert auch, der häufig in Paris weilte, erhielt er Kontakt zu Pariser
Literaten, insbesondere 1875 zu Zola, dem Chef der der jungen Schule des
Naturalismus. Maupassants Durchbruch als Autor war 1880 die meisterhafte
längere psychologische Novelle Boule de suif ("Fettklößchen"),
die in einem Sammelband antimilitaristischer Erzählungen erschien, den Zola,
Huysmans und andere schon bekannte naturalistische Autoren unter dem Titel Les
soirées de Meudan herausgegeben hatten.
Nach
dem Erfolg von Boule de suif gab Maupassant das Verfassen auch lyrischer
und dramatischer Texte weitgehend auf. In den nächsten zwölf Jahren betätigte
er sich mit rasch wachsendem Prestige und Einkommen (Ende 1880 konnte er seinen
Angestelltenposten aufgeben, 1883 ein Haus in Étretat bauen und 1885 eine
Segelyacht kaufen) vor allem als Erzähler. Insgesamt brachte er es auf ca. 300
Novellen und 6 Romane. Seine drei Reisebücher, ein Gedichtband und ein Band
Theaterstücke waren eher Beiprodukte.
Die Handlungen der meist dem
Naturalismus nahestehenden erzählenden Werke spielen überwiegend in der
heimatlichen Normandie und in Paris. Ort der Erstveröffentlichung war in der
Regel das Feuilleton von Pariser Zeitschriften, wie Le Gaulois und Gil
Blas. Heute noch gelesen werden – neben zahlreichen als Schullektüre
obligaten Erzählungen – die Romane Une Vie (1883) und vor allem der in
vielen Punkten autobiografische Bel-Ami (1885). Une Vie erzählt die Enttäuschung
aller Jungmädchenhoffnungen und den sozialem Abstieg einer adeligen Frau von
ihren ca. 15. bis ca. 50. Lebensjahr. Bel-Ami
schildert die entscheidenden Jahre eines (von Maupassant sichtlich als Figur
zugleich ungeliebten und bewunderten) jungen Mannes kleinbürgerlicher Herkunft,
der durch sein Glück bei den Frauen, aber auch durch Energie, Geschick und
Ehrgeiz vom Provinzler und kleinen Büroangestellten zum erfolgreichen Pariser
Journalisten, Schwiegersohn eines reichen Zeitungsverlegers und künftigen
Politiker aufsteigt. Weniger bekannt geblieben ist der Roman Pierre et Jean
(1887/88), den manche für seinen besten halten.
Außer
seinen literarischen Texten verfasste Maupassant zahlreiche politische – meist
regierungskritische – Artikel (sog. chroniques) für Pariser Zeitungen. Zugleich
führte er neben seiner Schriftstellerei eine unruhige Existenz. Er hatte
wechselnde Geliebte (mit denen er insgesamt drei Kinder bekam), weilte oft in
seinem Haus in Étretat, unternahm drei längere Reisen nach Nordafrika, lebte
zeitweilig in Cannes und Antibes und unternahm dort Reisen auf seiner Yacht Bel-Ami.
Offensichtlich war ihm die Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes aufgrund
seiner Syphilis bewusst.
Obwohl
seine gesundheitlichen Probleme (Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Sehstörungen,
Angstzustände, Halluzinationen usw.) in den späten 1880er Jahren stark
zunahmen, hielt er sie geheim und arbeitete wie besessen. Seine düsterer
werdenden Texte, z.B. die bekannte Schauernovelle Le Horla, spiegeln
jedoch seinen Zustand. Am Neujahrsabend 1892 brach er beim Abendessen bei
seiner Mutter zusammen, kam aber bald wieder zu sich. Er kehrte trotz Bitten
der Mutter, bei ihr zu bleiben, nach Cannes zurück und unternahm dort einen
Selbstmordversuch. Tage später wurde er in eine psychiatrische Klinik in Passy
bei Paris eingeliefert, wo er knapp 43-jährig in geistiger Umnachtung starb.
Maupassant gilt neben Stendhal, Balzac,
Flaubert und Zola als einer der großen französischen Erzähler des 19.
Jahrhunderts. Er ist auch einer der am häufigsten verfilmten.
Paul Bourget (* 2.9.1852 Amiens; † 25.12.1935 Paris)
Er
war mehrere Jahrzehnte ein vielgelesener und hochgeschätzter Autor, der heute
jedoch fast vergessen ist.
Bourget
wuchs auf in Clermont-Ferrand, wo sein Vater eine Universitäts-Professur
erhalten hatte und etwas später hoher Beamter des Bildungswesens (recteur de
l’Académie) wurde. Mit 15 kam er nach Paris und absolvierte die letzten
Gymnasialjahre am renommierten Lycée Louis-le-Grand. 1870 erlebte er hautnah
den Aufstand der Pariser Kommune, der ihn nach anfänglichen Sympathien für die
Revolutionäre in seiner konservativen Einstellung bestärkte. Während seines
anschließenden Literaturstudiums entwickelte er Kontakte zu den Parnassiens,
schrieb Lyrik, die er 1875 erstmals auch in Bandform publizierte, und betätigte
sich als Journalist, insbes. als Theaterkritiker.
Um
1880 verfasste er eine Serie scharfsinniger Porträts bedeutender neuerer
Autoren, unter anderem Baudelaire (s.o.), Ernest Renan, Stendhal, Hippolyte
Taine, die er 1883 in dem vielbeachteten Band Essais de psychologie
contemporaine gesammelt herausgab. Hiernach entwickelte er sich zum
Romancier, der sich ebenfalls auf die Psychologie seiner Figuren konzentrierte
und sich damit bewusst vom Naturalismus à la Goncourt (s.o.) und Zola (s.o.)
absetzte. Die bekanntesten Titel dieser ersten Romancier-Jahre wurden Cruelle
énigme (1885), Un Crime d'amour (1886), André Cornélis
(1887), Mensonges (1887) und vor allem Le Disciple (=der
Schüler/Jünger, 1889), dessen Handlung im mondänen Pariser Milieu angesiedelt
ist und sich um einen zwanghaften jungen Analytiker seiner selbst und den
Selbstmord der jungen Frau rankt, die ihn liebt und die er verführt und in den
Tod treibt.
Hiernach
begann Bourget sich auf eher moralisch intendierte Romane zu verlegen, mit
denen er vor allem ein mondän-konservatives, d.h. katholisches,
monarchistisches, nationalistisches, bürgerliches und vor allem auch weibliches
Publikum ansprach, bei dem er mit seiner beachtlichen Produktion bis hin zum
Ersten Weltkrieg höchst erfolgreich war.
1894
wurde er mit der Aufnahme in die Académie française belohnt. 1898, zur Zeit der
Dreyfus-Affäre, war er konservativer Anti-Dreyfusard und Sympathisant der
nationalistischen Action française.
1901
kehrte er zur Frömmigkeit seiner Kindheit zurück und behandelte in seinen
Romanen entsprechende Themen.
Nachdem
die Welt, über die und für die er schrieb, im Ersten Weltkrieg weitgehend
untergegangen war, geriet Bourget, obwohl er immer noch fleißig produzierte,
schon zu Lebzeiten in Vergessenheit. Bei Mentalitäts- und Sozialhistorikern
gelten seine Romane als Fundgrube für Informationen zur Lebensweise und
Vorstellungswelt der Pariser Bourgeoisie der Belle Époque.
Arthur Rimbaud (*20.10.1854
in Charleville; †10.11.1891
in Marseille)
Er ist das
„enfant terrible“ der franz. Literatur des
19. Jh. und zugleich eine Legende. Er verfasste sein erhaltenes, ganz
überwiegend lyrisches Werk in nur fünf, sechs Jahren als Heranwachsender, ehe
er 1875 mit 20 aus Frankreich verschwand und, nach einem Leben als Abenteurer
und schließlich Geschäftsmann, mit 37 an Knochenkrebs starb. Seine Gedichte und lyrischen Prosatexte erschienen, bis
auf wenige Ausnahmen, erst ab 1883 ohne sein Zutun nach und nach im Druck,
haben dann jedoch die Entwicklung der franz. Lyrik stark beeinflusst und wurden
nach der Jahrhundertwende auch im deutschen Sprachraum, inbes. von den
Expressionisten, rezipiert.
Rimbaud wuchs auf
in seinem Geburtsort Charleville an der Maas, nahe der Grenze zu Belgien. Sein
aus der Franche Comté stammender Vater hatte erst mit 38 geheiratet (1853) und
hielt sich als aktiver Berufsoffizier meistens fern von der Familie auf. 1861,
kurz nach der Geburt eines letzten Kindes, verließ er sie ganz. Die 11 Jahre
jüngere Mutter, die von einem größeren Bauernhof in Roche in den Ardennen
stammte, betrachtete sich hiernach als Witwe und versuchte ihre Kinder, d.h.
Rimbaud, seinen ein Jahr älteren Bruder und seine beiden vier bzw. sechs Jahre
jüngeren Schwestern, nach ihren konservativ-strengen religiösen und moralischen
Grundsätzen zu erziehen.
Rimbaud
war ein offenkundig hochbegabter Junge und Stolz seiner Mutter, auch wenn er
sich, wie er es 1871 rückblickend in dem autobiografischen Gedicht Les
poètes de sept ans/ Die siebenjährigen Dichter sieht, innerlich früh gegen
sie aufgelehnt haben will. Ab 1865 besuchte er das Gymnasium seiner Stadt, wo
er am Schuljahresende stets mit Preisen ausgezeichnet wurde. Schon in früher
Jugend las er viel und erfand Geschichten und Verse; 1868 und 69 wurden drei
lateinische Gedichte von ihm als vorzügliche Schülerleistungen in
Lehrerzeitschriften abgedruckt. Sein wohl ältestes erhaltenes franz. Gedicht,
das rührselige Les Étrennes des orphelins/ Die Weihnachtsgeschenke der
Waisenkinder, erschien in einer gutbürgerlichen Zeitschrift Anfang Januar
1870, ein anderes, das hübsche erotische (wohl nur geträumte) La première
soirée/ Der erste Abend, in einer literarischen Zeitschrift im August.
Um
diese Zeit war der frischgebackene junge Lehrer Georges Izambard (1848-1931),
der zum Jahreswechsel 69/70 vorübergehend nach Charleville
abgeordnet worden war, ein
Mentor für ihn geworden. Er gewann ihn für seine regime- und kirchenkritische
Gesinnung und lieh ihm, da er selber literarisch ambitioniert war, Werke
neuerer Autoren, z.B. des notorischen Regimekritikers Victor Hugo (was die
Mutter von Rimbaud in einem Brief an ihn rügte). Dessen frühe Gedichte, soweit
sie vor allem aus zwei Anfang 1871 von ihm geschriebenen Heften (s.u.) bekannt
sind, imitieren denn auch, allerdings bemerkenswert eigenständig, die
Spätromantiker sowie die modischen Parnassiens. So ist z.B. das
radikalrepublikanische lange Gedicht Le Forgeron/ Der Schmied sichtlich
von Hugos politischer Lyrik beeinflusst. Dem Stil und der Bilderwelt des
Parnasse verpflichtet ist das ebenfalls sehr lange Soleil et chair/ Sonne
und Fleisch, eine Art heidnisches Glaubensbekenntnis. Bemerkenswert sind
auch zwei hübsche Pastiches aus diesen Monaten: ein in Sprache und Stil
François Villons verfasster fiktiver Brief an König Louis XI und das als Satire
gedachte fiktive Tagebuch eines naiv verliebten angehenden Priesters, Un
cœur sous une soutane/ Ein Herz unter einer Soutane.
Im damals
typischen Gestus junger Dichter hasste Rimbaud die kleinbürgerliche Enge seiner
Vaterstadt, was z.B. in dem sarkastischen Gedicht À la musique/ An die Musik
zum Ausdruck kommt, wo er eine mittelmäßige Militärkapelle und ihr
spießbürgerliches Publikum verspottet.
Im Mai 1870
suchte er erstmals Kontakt mit Paris. Er schickte dem arrivierten Lyriker
Theodore de Banville drei Gedichte, darunter das bekannte Ophélie/ Ophelia,
mit der Bitte, er möge sie in Band II seiner Anthologie Le Parnasse
contemporain aufnehmen (nach der sich anschließend die betreffende
Dichtergruppe benannte). Durchaus selbstbewusst kündigte er Banville an, in
ein, zwei Jahren werde er sicher auch selber in der Hauptstadt präsent sein.
Im Spätsommer
1870 nahm das bis dahin äußerlich ruhige Leben des knapp 16-Jährigen eine
tiefgreifende Wendung. Am 19. Juli 70 hatte der franz. Kaiser Napoléon III. dem
König von Preußen den Krieg erklärt, sich aber rasch als militärisch unterlegen
erwiesen. Mitte August begannen die Preußen und ihre deutschen Verbündeten, die
Festung Sedan einzukreisen, die nur 25 km entfernt maasaufwärts von Charleville
und der südlich hieran angrenzenden Garnison- und Festungstadt Mézières lag.
Wenig später, am 29. August, nutzte Rimbaud das allgemeine Durcheinander, das
in seinem frontnahen Heimatort herrschte: Er setzte sich über den
ausdrücklichen Wunsch Izambards hinweg, der seine Paris-Träume kannte,
inzwischen aber in seinen Heimatort Douai zurückgekehrt war. Und statt zu Haus
bei seiner Familie zu bleiben, bestieg er heimlich einen Zug und fuhr nach
Paris. Ein wichtiges Motiv für ihn war offenbar, dass (wie er in einem Brief an
Izambard beklagt hatte) keine neuen Bücher und Zeitschriften mehr in
Charleville ankamen und er sich z.B.
den neuesten Gedichtband von Paul Verlaine (s.o.) nicht beschaffen konnte,
dessen Fêtes galantes (1869) er mit Begeisterung gelesen hatte.
Bei der Ankunft
in Paris wurde er, weil er keine ausreichende Fahrkarte und auch kein Geld zum
Nachlösen hatte, festgenommen und in ein Gefängnis gesteckt. Von dort richtete
er am 5. September (einen Tag nach der Abdankung Napoléons) einen Brief an
Izambard mit der Bitte, dieser möge kommen und ihn auslösen.
Izambard schickte
die nötige Summe sowie Geld für eine Fahrkarte nach Douai. Hier brachte er
Rimbaud, nicht ohne dessen Mutter zu informieren, bei zwei verwandten alten
Damen unter und stellte ihn einem ebenfalls dichtenden Freund vor, Paul Demeny.
Vor allem begeisterte er ihn für die Sache der soeben ausgerufenen Republik.
Sicher unter dem noch frischen Eindruck der Niederlage von Napoléon III. verfasste
Rimbaud das ironisch-satirische Sonett L’éclatante victoire de Sarrebruck/
Der tolle Sieg bei Saarbrücken; und das boshafte Rages des
Césars/Caesarenzorn, das den gefangenen Kaiser als ohnmächtig grollenden
alten Mann vorführt. Dass der nicht einmal 16-Jährige in Douai reguläres
Mitglied der dortigen Abteilung der Nationalgarde geworden sei, ist
unwahrscheinlich. Immerhin verfasste er offenbar in deren Namen unter dem
Pseudonym „F. Petit“ einen an den Bürgermeister gerichteten Protestbrief, der
in einer republikanischen Zeitschrift erschien.
Ende September
kehrte er auf Verlangen seiner zornigen Mutter nach Charleville zurück,
begleitet von Izambard, der sie vergeblich zu besänftigen versuchte.
Kaum zwei Wochen
zu Haus, riss er erneut aus und ging mit der Idee Journalist zu werden, ins neutrale
Belgien nach Charleroi, dem Hauptort Walloniens, wo er über Izambard oder
Demeny eine Adresse als Anlaufstelle hatte. Als er, sicher auch wegen seiner
Jugend, abgewiesen wurde, fuhr er weiter nach Brüssel, in der Annahme, dort
Izambard bei einem Freund vorzufinden. Einige Gedichte, z.B. Au
Cabaret-Vert/ Im Grünen Cabaret (i.e. eine Kneipe in Charleroi), entstanden
während dieser Exkursion.
Als er Izambard
in Brüssel nicht antraf, reiste er nach Douai, von wo er zwei Wochen später,
Anfang November, nach Hause zurückkehrte, wohl auf Drängen des Mentors, mit dem
es hiernach übrigens zu keiner direkten Wiederbegnung mehr kam.
Die beiden Wochen
von Douai hatte Rimaud vor allem dazu genutzt, zwei Hefte mit 22 seiner bis
dahin verfassten Gedichte zu füllen und Demeny zu geben. Seine mutmaßliche
Hoffnung, Demeny, der Miteigentümer eines kleinen literarischen Verlags war,
könnte sie publizieren, erfüllten sich nicht.
Viele dieser
Gedichte sind, im Sinne der Lyrik der Zeit, hübsch und gefällig, auch wenn die
nach dem Kriegsausbruch verfassten zunehmend Dissonanzen enthalten. Von
Anthologien und Schullesebüchern werden sie deshalb bevorzugt abgedruckt, wie
z.B. das bekannte Sonett über den toten jungen Soldaten am Fluss, Le Dormeur
du val, das vermutlich nicht auf eigener Anschauung beruht. Die vier oder
fünf Gedichte zum Thema Liebe/Erotik, z.B. Rêve pour l’hiver/ Wintertraum,
sind ebenfalls mehr Fiktion als Spiegel realer Erlebnisse.
Den
Winter 70/71 verbrachte Rimbaud lesend und schreibend in Charleville, das im
Januar nach kurzem Beschuss von deutschen Truppen besetzt worden war. Die
Schulen waren noch geschlossen, doch offensichtlich hatte er, entgegen den
Wünschen seiner Mutter, die ihn angeblich in eine Privatschule („pension“)
stecken wollte, das Ziel des Baccalauréats auch aufgegeben. Seine häufigen
Besuche in der Stadtbibliothek spiegelt das Gedicht Les assis/ Die Sitzenden,
worin er boshaft die anderen Leser, meistens alte Männer, karikiert und hierbei
zugleich einen sehr unpoetisch wirkenden neuen Dichtstil erprobt.
Ende Februar riss
er erneut aus und schlug sich durch nach Paris, das inzwischen von deutschen
Truppen eingekreist und teilweise besetzt worden war. Er stöberte, wie sich
einem Brief an Izambard entnehmen lässt, in Buchhandlungen, trat jedoch nach
wenigen Tagen zu Fuß den Heimweg an. Unbewiesen und wenig wahrscheinlich ist
die Vermutung, er habe sich nach Ausrufung der Pariser Kommune am 18. März
erneut in die Hauptstadt aufgemacht und dort als Freischärler an der
vergeblichen Verteidigung dieses ersten Experiments eines kommunistischen
Regimes teilgenommen. Seine Sympathien für die Kommune spiegeln sich jedoch in
einigen Gedichten aus der Zeit, z.B. in dem bitterbösen Chant de guerre
parisien/ Pariser Kriegsgesang oder dem sarkastischen L’Orgie parisienne
Ou Paris se repeuple/ Die Pariser Orgie, Oder: Paris bevölkert sich wieder.
Im April bekam er
einen kleinen Job bei der neuen, linksgerichteten Charleviller Zeitung Le
Progrès des Ardennes, die jedoch kurz darauf einging.
Während Paris in
politischen Wirren versank und die Entwicklung auf die blutige Niederschlagung
der Kommune durch die Truppen der provisorischen franz. Regierung zusteuerte
(22.-28. Mai), saß Rimbaud frustriert zu Hause, las sich weiter durch die
Bestände der Stadtbibliothek, spintisierte und schrieb. Gelegentlich wurde er
von Kumpanen zum Trinken eingeladen, wobei er als Gegenleistung offenbar den
Clown und Unterhalter spielte. In dieser Zeit wurde der ebenfalls dichtende
Freund Ernest Delahaye für ihn wichtig, dem er zeitlebens verbunden blieb und
dessen Erinnerungen eine bedeutende biografische Informationsquelle wurden.
Erneute
Versuche, gemäß dem Wunsch der zunehmend ungehaltenen Mutter einen Beruf zu
ergreifen, unternahm er nicht, obwohl er finanziell von ihr schmerzhaft kurz
gehalten wurde. Vielmehr schrieb er Gedichte in seinem neuen, provokativ
unlyrisch wirkenden, oft hermetischen Stil und spann sich ein in seiner
Vorstellungswelt. Hiervon zeugen die beiden exaltierten Briefe vom 12. und 15.
Mai, die als „lettres du voyant“ (Briefe des Sehers) bekannt sind. Der erste,
kürzere, ist an Izambard gerichtet, der inzwischen in Douai wieder brav als
Lehrer arbeitete und deshalb von Rimbaud etwas spöttisch behandelt wird. Der
zweite, erheblich längere, ging an Demeny, der immerhin schon ein
Gedichtbändchen publiziert hatte und der ihm jetzt offenbar eher als
Geistesverwandter erscheint.
In diesen Briefen
stellt er sich als eine Art Medium der Dichtkunst dar, sichtlich nicht zuletzt
aus dem Bedürfnis, die höchst vernünftigen Mahnungen seiner Mutter und wohl
auch Izambards abzuwehren, er möge sich nicht in Fantastereien verlieren. Denn
mit der berühmt gewordenen Formel „JE est un autre“ (ICH, das ist ein Anderer)
stilisiert er sich zum dichtenden „Seher“ und Erfüller einer Art höherem
Auftrags, der ihn, ob er wolle oder nicht, in Ekstasen und in unbekannte
Regionen der Phantasie und der Erkenntnis treibe, die den normalen Menschen
unzugänglich und bisher auch von Dichtern kaum erreicht worden seien. Zugleich
bricht er den Stab über alle Lyriker vor ihm, mit partieller Ausnahme Hugos,
Baudelaires (s.o.) und Verlaines, und illustriert mit einigen eingestreuten
eigenen Gedichten seine neuen Ideen von einer Dichtkunst, die weniger nach
Schönheit strebt als nach enger Beziehung zur Realität, auch zur sozialen und
politischen. Entsprechend beauftragte er brieflich wenig später Demeny, dieser
möge die beiden Hefte mit seinen älteren Texten verbrennen (was der nicht tat).
Das mitgeschickte längere Gedicht Les poètes de sept ans soll offenbar seinen
Bruch mit der gutbürgerlichen Kindheit beweisen.
Mitte August 1871
sandte Rimbaud erneut ein Gedicht an Banville, samt einem Brief mit der wohl
eher rhetorischen Frage, ob er seit dem letzten Jahr Fortschritte gemacht habe.
Anscheinend kam aber keine Antwort auf das 160 Verse lange Opus Ce qu’on dit
au Poète a propos de fleurs/ Was man [d.h. ein anonymer typischer Spießbürger]
dem Dichter zum Thema Blumen sagt. Vielleicht hatte die bewusst ungefällige
Behandlung eines eigentlich gefälligen poetischen Sujets befremdlich auf
Banville gewirkt.
Wenig später, im
September, suchte Rimbaud brieflich Kontakt mit dem bewunderten Verlaine.
Dieser war beeindruckt von den mitgeschickten Gedichten und lud ihn ein nach
Paris.
Rimbaud, der sich
zu Hause unter Druck und fehl am Platz fühlte, folgte sofort und wurde
aufgenommen von Verlaine und seiner hochschwangeren Frau Mathilde. Verlaine
hatte zwar gerade als Sympathisant der Kommune seine Anstellung bei der Pariser
Stadtverwaltung verloren, war aber dank seiner wohlhabenden verwitweten Mutter
nicht mittellos. Als im Oktober Mathilde niederkam, wurde Rimbaud umquartiert
zu deren Eltern, wo er sich der knapp 17-Jährige allerdings durch betont
flegelhaftes Betragen so unbeliebt machte, dass er zu Freunden Verlaines umziehen
musste, die er jeweils auch verärgerte.
Nach Paris
mitgebracht hatte er unter anderem sein 100 Verse langes Gedicht Le Bateau
ivre/ Das trunkene Schiff, das sein berühmtestes Werk werden sollte. Dieser
surrealistisch wirkende Text, in dem das lyrische Ich als ein Schiff auftritt,
das in eindrucksvollen Bildern von einer traumartigen Reise steuerlosen
Dahintreibens erzählt, verschaffte dem dem jugendlichen Autor die sofortige
Bewunderung des Kreises meist jüngerer (politisch eher „linker“) Literaten, in
den er von Verlaine eingeführt wurde. Daneben schrieb er weitere Gedichte,
darunter politisch motivierte, sowie zum Spaß auch einige Parodien im Stil
seiner neuen Bekannten (erhalten in einem Sammelalbum des Kreises, dem sog. Album
zutique). Die meisten Texte dieser Zeit, insbes. das Bateau ivre,
sind nur dadurch erhalten, dass Verlaine sie für sich abschrieb.
Spätestens gegen
Jahresende entspann sich ein homosexuelles Verhältnis zwischen Rimbaud und
Verlaine, wobei letzterer offenbar die Weibchenrolle übernahm. Seine Frau,
seine Schwiegereltern und seine Mutter waren empört, etliche Bekannte offenbar
auch. Rimbaud zog sich deshalb Ende Februar 1872 wie ein Verstoßener zurück
nach Charleville bzw. nach Roche, wo sich seine Familie jetzt immer häufiger
aufhielt. Die nach dieser Art Flucht verfassten Gedichte zeugen von seiner
Enttäuschung und Verunsicherung. Sie vollziehen zugleich einen weiteren Schritt
zu hermetischen, mitunter sinnfrei wirkenden Texten und lösen sich zunehmend
von den Zwängen korrekter Metrik und korrekten Reimens.
Im Mai folgte
Rimbaud den Bitten Verlaines und kam wieder nach Paris. Ein paar Wochen später,
am 7. Juli, brachen die beiden, zunächst offenbar in Hochstimmung, Richtung
Nordosten auf. Es war der Beginn eines einjährigen wechselvollen Wanderlebens,
meistens zu zweit, aber immer wieder auch, nach Streitereien, getrennt. Ihren
Lebensunterhalt bestritten sie anscheinend überwiegend mit Zuwendungen ihrer
Mütter.
So waren sie im
Herbst 72, nach einer Stippvisite in Charleville und einem gescheiterten
Versöhnungsversuch Verlaines mit seiner Frau, längere Zeit in London, wo sie
unter emigrierten Kommunarden verkehrten. Hier schrieb Rimbaud wohl seine
letzten Gedichte in Versform und schwenkte um auf Prosa, die ihm nun sichtlich
als die angemessenere Form für die zunehmend unkonkreten Inhalte seiner Texte
erschien. Wahrscheinlich entstanden in dieser Zeit erste Stücke der späteren
Sammlung Illuminations.
Die Jahreswende
72/73 verbrachte er bei seiner Familie in Charleville, reiste im Januar jedoch
auf Kosten der Mutter von Verlaine nach London, um den dort erkrankten Freund
zu pflegen. Im April findet man ihn in
Roche, im Mai und Juni wieder mit Verlaine in London. Spätestens in
Roche stürzte der inzwischen gut 18-Jährige offenbar in eine tiefe Krise, die
er hier und dann in London literarisch zu verarbeiten versuchte in kurzen
Prosatexten mit gelegentlich eingestreuten Versen. In diesen gattungsmäßig
schwer einzuordnenden Texten blickt das Ich mehr alogisch assoziierend als
logisch referierend auf seine Vergangenheit zurück und nimmt ebenso sprunghaft
seine Gegenwart ins Visier. In Form einer Mischung aus Rückschau, Beichte,
Selbstgespräch, Bericht, Reflexion, Klage und Selbstanklage bricht Rimbaud
deprimiert und fast zornig mit seinen bisherigen dichterischen und sonstigen
Ambitionen, die ihm nun als Hybris und als Selbstbetrug erscheinen. Une
Saison en Enfer/ Eine Zeit in der Hölle betitelte er denn später auch das
fertige Bändchen, das in manchen Passagen wie ein desillusionierter Widerruf
der fast hochmütigen Seher-Briefe erscheint.
Am 10. Juli 73
suchte er in Brüssel Verlaine auf, der ihn wenige Tage zuvor in London im
Streit verlassen und dann in Briefen an seine Mutter und an ihn mit Selbstmord
gedroht hatte. Statt zur Versöhnung kam es jedoch zu neuem Streit, wobei der
betrunkene Verlaine vor den Augen der Mutter mit einem Revolver auf Rimbaud
schoss und ihm eine Wunde an der Hand beibrachte. Zwar verzichtete Rimbaud auf
eine Strafverfolgung, doch wurde Verlaine inhaftiert und anschließend zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt, die praktisch das Ende ihrer schwierigen
Freundschaft bewirkte.
Rimbaud
ging nach Roche, wo er Une Saison en Enfer zum Abschluss brachte, und zwar sichtlich mit dem Vorsatz,
in Zukunft ein normaleres Leben zu führen. Offenbar auch
hielt er das etwa 25 Taschenbuch-Druckseiten umfassende kleine Werk für
ausreichend bedeutsam und gelungen um es, auf Kosten seiner Mutter, als
Privatdruck herauszubringen. In der Tat
erfolgte der Druck im Oktober 73 in Brüssel, doch blieb die
gesamte Auflage, außer einigen Vorab-Exemplaren, die er verschenkte, offenbar
unbezahlt im Lager der Druckerei. Sie galt sogar, bis zu ihrer zufälligen
Wiederentdeckung 1901, als von Rimbaud selbst in einem Akt der Abtötung seiner
Dichterträume vernichtet.
Ende
des Jahres lernte er bei einem Paris-Besuch als neuen Freund Germain Nouveau
kennen. Mit ihm reiste er im März 1874 nach London. Dort schrieb er an einer
offenbar schon 1872 begonnenen Serie von kurzen Texten in Prosa (den späteren Illuminations), die,
suggestiv-assoziativ verfahrend, weitgehend sinnfreie, teils bewegte, teils
unbewegte impressionistische Bilder aus Wort-, Klang-, Gedanken- und
Dingmalereien entwerfen, sich wie Traumvisionen oder gar Halluzinationenlesen
und jeder logischen Deutung entziehen, aber dennoch keinen Zweifel an ihrem
Charakter als bewusst geformte und ausgefeilte Kunstwerke lassen.
Im
Juli empfing er seine Mutter und die beiden Schwestern zu einem Besuch in
London, von wo er selbst zum Jahresende nach Charleville zurückkehrte.
Sichtlich
hatte der nunmehr 19-Jährige mit der Literatur zu diesem Zeitpunkt
abgeschlossen. Er begann Klavierspielen zu üben und ging im Februar 1875 nach
Stuttgart, mit der Absicht Deutsch zu lernen. Hier erhielt er Besuch von dem
vorzeitig entlassenen Verlaine, der ihn zu versöhnen und vergeblich zu der
Frömmigkeit zu bekehren versuchte, die ihn selber im Gefängnis überkommen
hatte.
Im
Mai brach er zu Fuß in Richtung Italien auf, wo er Italienisch zu lernen
gedachte. Seinen Plan, vorher sein letztes Werk, die etwa 30 Taschenbuch-Seiten
umfassenden Illuminations, in Druck zu geben, verwirklichte er nicht. Es
wurde erst 1886 ohne sein Wissen von einer Zeitschrift publiziert, wobei der
seltsame Titel (etwa: kolorierte Buchillustrationen) von Verlaine festgelegt
wurde.
Zurück
aus Italien, wo er erkrankt war und mit vorgestrecktem Geld eines Konsulats die
Rückreise nach Roche hatte antreten müssen, stellte Rimbaud Überlegungen an, ob
er vielleicht als Externer noch das Baccalauréat ablegen könne. Doch wurde
hieraus nichts, vielmehr findet man ihn im Juli 75 in Paris, wo er eine
befristete Stelle als Repetitor erhalten hatte. Das Winterhalbjahr 75/76
verbrachte er in Charleville, wo er weiter Klavierspielen übte, aber auch den
Tod seiner ältesten Schwester erlebte.
Mit
dem Frühjahr überkam ihn offenbar neue Unrast. Im April 76 findet man ihn in
Wien und wenig später in Brüssel, wo er sich als Söldner in der holländischen
Kolonialarmee anwerben ließ. Auf Java angekommen, desertierte er jedoch und
fuhr als Matrose auf einem englischen Segelschiff zurück. Nach einer kürzeren
Zeit in Nordeuropa (1877) ging er nach Alexandria, erkrankte dort und schlüpfte
kurz bei seiner Familie unter. 1878 findet man ihn in Hamburg, später in
Italien und schließlich auf Zypern, wo er im Dienst einer franz. Firma einige
Zeit einen Steinbruch leitete. 1880 gelangte er nach Aden (im heutigen Jemen)
und wurde dort Angestellter einer franz. Firma, die mit Pelzen und Kaffee
handelte. Für sie, aber später auch auf eigene Initiative und Rechnung
unternahm er mehrfach Expeditionen in das fast noch unbekannte Innere von
Äthiopien und Somalia, wobei er die geschäftlichen Aspekte mit
wissenschaftlichen zu verbinden versuchte und z.B. einen mit eigenen Fotos
illustrierten Bericht für eine geographische Fachzeitschrift verfasste, der
1884 erschien.
Anfang
1891, während eines Aufenthalts in Somalia, bekam er starke Schmerzen im Knie.
Er liquidierte unter Verlusten, aber immer noch mit einem hübschen Kapital,
sein Geschäft und reiste unter großen Strapazen nach Marseille. In einer
dortigen Klinik für gut situierte Patienten stellte sich heraus, dass er
Knochenkrebs hatte und das Bein amputiert werden musste. Hiernach verbrachte
er, auf Genesung hoffend, einige Sommerwochen in Roche, fuhr dann aber wieder
unter Schmerzen in die Klinik nach Marseille. Zuvor vernichtete er, offenbar
unter dem Einfluss seiner frommen Schwester Isabelle, praktisch alle
Materialien aus seiner Zeit als moralisch, politisch und religiös nicht eben
korrekter junger Dichter, die er schon lange als fern und abgetan betrachtete.
Trotz
des Fehlens dieser Materialien, inbes. der meisten an ihn gerichteten Briefe,
sind die Stationen der Biografie Rimbauds als jugendlicher Literat, junger
Abenteurer und zuletzt offenbar auch wohlhabend gewordener Geschäftsmann
relativ gut bekannt dank zahlreicher erhaltener Briefe von ihm, z.B. an
Izambard oder seine Mutter, sowie vieler weiterer Dokumente (abgedruckt z.B. in
der vorzüglichen Werkausgabe von Antoine Adam, 1972).
Die Nachwirkung
Rimbauds setzte ein, als ab 1883 literarische Zeitschriften ohne sein Zutun
Werke von ihm abzudrucken begannen, und zwar vor allem auf Initiative Verlaines
und nach Texten, die dieser als Autographen oder, wie z.B. das Bateau ivre,
in eigenen Abschriften besaß. Verlaine selbst verfasste ein vielbeachtetes
literarisches Porträt Rimbauds, das er 1883 in einer Zeitschrift publizierte
und 1884 in seinen Band Les Poètes maudits/ Verfemte Dichter aufnahm.
Der erste Versuch einer Sammelausgabe der Versdichtungen Rimbauds, insbes. auch
mit den frühen Texten, die Izambard und Demeny besaßen, erschien 1891 wenige
Tage vor seinem Tod und zweifellos ohne sein Wissen unter dem seltsamen Titel Le
Reliquaire (=der Reliquienschrein). Sie fand eine gewisse Verbreitung, obwohl sie aus
verlagsrechtlichen Gründen sofort verboten worden war, weil sie ein Raubdruck
von Teilen einer von Verlaine und Anderen vorbereiteten Gesamtausgabe war.
Diese Ausgabe selbst wurde anschließend lange behindert von
Rimbauds Schwester, die sich als Erbin und
Sachwalterin ihres Bruders sah und in seinem Sinne zu handeln glaubte, wenn sie
alle in ihren Augen anstößigen Texte, auch solche, die schon publiziert waren,
auszumerzen versuchte. 1895 kam, schließlich doch mit ihrem Placet, die erste
Gesamtausgabe heraus, deren Korpus sich in den nachfolgenden Jahrzehnten immer
wieder um neu aufgetauchte Texte vermehrte. Denn Rimbaud hatte häufig Blätter
mit handgeschriebenen Gedichten an Bekannte verschenkt.
Rückblickend
gesehen verdankt er sein literarisches Überleben wohl weitgehend dem Einsatz
seines Exfreundes Verlaine, auch wenn dieser sicher ebenfalls davon
profitierte.
Der
Einfluss des insgesamt nur schmalen Werkes sowie auch der mysteriösen Figur
Rimbauds auf die Dichter des Symbolismus und des Expressionismus war
beträchtlich, auch die Surrealisten mit ihrer Idee des vom Unbewussten
gesteuerten Schreibens, der „écriture automatique“, orientierten sich an ihm.
In Deutschland beeinflusste die auf Le Reliquaire beruhende Teilübertragung
K. L. Ammers (=Karl Klammer, 1907) die expressionistischen Lyriker, z.B. Georg
Heym und Paul Zech. Dieser, der sich Anfang der 1920er Jahre auf die für ihn
typische äußerst freie Weise als Rimbaud-Nachdichter betätigte, ein
umfangreiches Rimbaud-Porträt schrieb und 1925 auch ein Drama mit Rimbaud als
Protagonisten verfasste, hat offensichtlich das Bild des Autors im deutschen
Sprachraum maßgeblich geprägt. Einer der bekanntesten deutschen
Rimbaud-Übersetzer der neueren Zeit wurde Paul Celan (1958).
Henri
Bergson (*18.10.1859 Paris; † 4.1.1941 ebd.)
Er figuriert zwar in Deutschland (sofern man seinen Namen
noch kennt) eher unter dem Etikett „Philosoph“, zählt in Frankreich aber zu der
dort gut vertretenen und geachteten Kategorie „philosophischer Schriftsteller“.
1927 wurde er als fünfter franz. schreibender Autor mit dem Nobelpreis für
Literatur ausgezeichnet. Er gilt als bedeutendster Vertreter der sog.
Lebensphilosophie und als ein Vorläufer des Existenzialismus. Sein markantestes
Philosophem ist der Begriff des élan vital, „einer alle Gebiete des
Seienden durchwaltenden geistigen Kraft, die die Entwicklung vorantreibt“
(Manfred Naumann), einer Kraft, die vom Menschen nicht rational, sondern nur
intuitiv erkannt werden kann und sich z.B. im künstlerischen Schöpfungsprozess
manifestiert. Bergsons Philosophie, die im Rückblick eher als eine Art
antipositivistischen philosophischen Dichtens erscheint, hat die franz.
Literatur der Zeit stark geprägt.
Er wurde geboren in Paris als Kind eines polnischstämmigen
jüdischen Vaters (dessen ursprünglicher Name Berekson war) und einer englischen
Mutter, die aus einer irischen jüdischen Familie stammte. Seine frühe Kindheit
verlebte er überwiegend in London, ehe er mit 8, eher anglo- als frankophon,
wieder nach Paris kam.
Hier besuchte er das Lycée Fontaine (heute Lycée Condorcet),
wo er 1877 den Schulpreis für Mathematik erhielt mit einer Problemlösung, die
er anschließend sogar in einer mathematischen Fachzeitschrift veröffentlichen
durfte. Dennoch entschied er sich nach dem Baccalaureat (1878) für ein
Literatur- und Philosophiestudium und unterzog sich mit Erfolg der
Aufnahmeprüfung an der École Normale Supérieure (ENS), der Pariser
Elitehochschule für die Lehramtsfächer.
Nach dem Studienabschlussexamen (licence) im Fach Literatur
absolvierte er 1881 erfolgreich auch die Rekrutierungsprüfung (agrégation) für
das Amt eines Gymnasialprofessors im Fach Philosophie und bekam eine Stelle an
einem Gymnasium in Angers zugewiesen. 1883 wurde er nach Clermont-Ferrand
versetzt. Neben seiner Unterrichtstätigkeit fand er, wie damals viele Agrégés,
Zeit zum wissenschaftlichen Arbeiten. So publizierte er 1884 eine Edition von
ausgewählten Passagen aus den Werken des antiken Philosophen Lukrez, der er
eine textkritische Studie und Ausführungen über die Philosophie des Autors
beifügte und die in der Folgezeit mehrfach nachgedruckt wurde. Zugleich
arbeitete er an einer ersten größeren Schrift, die er 1889 unter dem Titel Essai
sur les données immédiates de la conscience (Zeit und Freiheit,
1911) an der Pariser Sorbonne als Dissertation („thèse d’État“) einreichte. Mit
dieser wurde er nach erfolgreich absolviertem Prüfungsverfahren, zu dem auch
das Vorlegen einer kurzen, lateinisch verfassten „thèse supplémentaire“
gehörte, zum docteur-ès-lettres promoviert (was in etwa einer deutschen
Habilitation entsprach).
Nach der Promotion und der Publikation seiner thèse,
die er geschickt seinem obersten Dienstherrn, dem Bildungsminister, widmete
(der allerdings auch sein Philosophieprofessor an der ENS gewesen war), hatte
Bergson wie selbstverständlich Anspruch auf den Wechsel an ein Gymnasium in
Paris. Nach einer kurzen Zwischenstation am dortigen Collège Rollin erhielt er
1890 eine Stelle am renommierten Lycée Henri-IV. 1892 heiratete er und wurde
später Vater einer Tochter.
1896 publizierte er seine zweite größere Schrift, Matière
et mémoire (Materie und Gedächtnis, 1908), in der er auch die
Ergebnisse der neuesten Hirnforschung zu verwerten versuchte. Im Anschluss
hieran wurde er 1897 als maître de conférences mit Vorlesungen an der ENS
betraut und kurz darauf dort zum Professor ernannt.
1900 druckte die Revue de Paris den Essay Le Rire (Das
Lachen, 1914), der 1901 sehr erfolgreich auch in Buchform erschien. Hierin
versucht Bergson eine Theorie des Komischen zu entwickeln, stimmt vor allem
aber auch das Hohelied des künstlerischen Schöpfertums an und wurde damit zum
Propheten einer ganzen Generation symbolistischer Literaten und Künstler.
Im selben Jahr 1900 wurde er auf den Lehrstuhl für Griechische
Philosophie am Collège de France berufen, der prestigereichsten aller
französischen Bildungsinstitutionen. 1901 wählte ihn in die Académie des
Sciences morales et politiques zum Mitglied.
Inzwischen hatte er auch außerhalb Frankreichs Anerkennung
zu finden begonnen: Auf dem ersten internationalen Philosophen-Kongress in
Paris im August 1900 durfte er einen der Vorträge halten. Der Titel Sur
les origines psychologiques de notre croyance à la loi de causalité lässt
sehr schön die antiszientistische Tendenz Bergsons erkennen.
1903 publizierte er den programmatischen längeren Aufsatz Introduction
à la métaphysique (Einführung in die Metaphysik, 1909), der entgegen
dem allgemein gehaltenen Titel vor allem in sein eigenes Denken einführt. 1904
hielt er auf dem zweiten internationalen Philosophen-Kongress (Genf) den
Vortrag Le Cerveau et la pensée: une illusion philosophique (=Das Gehirn
und das Denken: eine philosophische Illusion).
Im selben Jahr wechselte er im Collège de France auf den
Lehrstuhl für moderne Philosophie, womit er, 45jährig, den Höhepunkt einer
glänzenden beruflichen Karriere erreicht hatte.
1907 erschien seine dritte große Schrift: L’Évolution
créatrice (Die schöpferische Entwicklung, 1912). Sie war gedacht als
kritischer Beitrag zur Darwinschen Evolutionstheorie, die Bergson als zu
deterministisch betrachtete. Sie fand auch über die Fachwelt hinaus Verbreitung
und wurde mit 21 Auflagen in zehn Jahren Bergsons bekanntestes und
meistgelesenes Werk. Es konsekrierte ihn als bedeutenden philophischen
Schriftsteller und war neben Le Rire der wichtigste Faktor dafür, dass
er später für den Literaturnobelpreis in Frage kommen konnte.
1908 traf Bergson in London William
James, einen bekannten amerikanischen Philosophen, dem er einige Anstöße
verdankte. James war angetan von seinem 17 Jahre jüngeren franz. Kollegen und
dessen Ideen und trug in der Folge viel dazu bei, ihn in der anglophonen Welt
bekannt zu machen.
Im April 1911 besuchte Bergson den
internationalen Philosophen-Kongress in Bologna. Er hielt dort den Vortrag L’Intuition
philosophique, dessen Titel die Bedeutung erkennen lässt, die er in seiner
Erkenntnistheorie der Intuition beimisst. Im selben Jahr wurde er nach England
eingeladen, unter anderem nach Oxford, wo er über das Thema La Perception du
changement (=Die Wahrnehmung des
Wandels) sprach und den Ehrendoktortitel erhielt, sowie nach Birmingham und
nach London, wo er über Vie et conscience (=Leben und Bewusstsein) bzw. La
Nature de l’âme (=Die Natur der Seele) dozierte.
1913 folgte er einer Einladung der New
Yorker Columbia University und las dort über Spiritualité et liberté (=Geistigkeit
und Freiheit). Vorträge in anderen amerikanischen Städten folgten. Im Herbst
wurde ihm der Vorsitz der British Society for Psychical Research angetragen, wo
er sich mit dem Vortrag Phantoms of Life and Psychic Research einführte.
1914 war ein besonders erfolgreiches
Jahr für Bergson. Er wurde er in seiner Eigenschaft als ein bedeutender franz.
Autor, dessen Schriften inzwischen auch in zahlreiche Sprachen übersetzt
wurden, in die Académie française aufgenommen, darüberhinaus zum Vorsitzenden
der Académie des sciences morales et politiques gewählt sowie zum „Offizier“
der Ehrenlegion und zum „Offizier der Volksbildung“ ernannt.
Im selben Jahr versuchten liberale „Neo-Katholiken“ (ähnlich
wie es schon vorher manche sozialistischen Partei- und Gewerkschaftsführer
getan hatten) ihre Vorstellungen mit Ideen Bergsons zu untermauern. Als
Reaktion darauf setzte der Vatikan dessen drei Hauptwerke auf den Index, was
jedoch in Frankreich eher wie ein Ehrentitel wirkte.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1.8.14) engagierte
auch Bergson sich als Patriot mit Artikeln und Vorträgen, mit denen er
versuchte, die Moral der franz. Truppen zu stärken, die Position Frankreichs zu
verklären und dem Deutschen Reich Imperialismus vorzuwerfen. Nach dem Eintritt
der USA in den Krieg 1917 reiste er als Mitglied einer diplomatischen
Delegation dorthin und warb auf einer Vortragstournee für die Sache
Frankreichs.
1919 gaben Freunde eine schon vor dem Krieg geplante
zweibändige Sammlung kürzerer Texte heraus, die um den zentralen Begriff der
„force mentale“ (geistige/mentale Kraft) kreisen. Sie trug den Titel L’énergie
spirituelle (Die seelische Energie, 1928), der die
antirationalistische Stoßrichtung der Bergsonschen Philosophie zum Ausdruck
bringt.
1920 erhielt er Ehrendoktortitel der Universität Cambridge.
Im Herbst durfte er seine Pflichtvorlesungen am Collège an einen Vertreter
(Édouard Le Roy) delegieren, um sich ganz seinem Schaffen als Autor widmen zu
können.
Immerhin war er 1921 nebenher politisch tätig als
Gründungsmitglied und erster Präsident der Commission internationale de la
Coopération intellectuelle, einer dem jungen Genfer Völkerbund zugeordneten
Vorläuferinstitution der Unesco.
Als ihm 1927 der Nobelpreis zugesprochen wurde, konnte er
nur noch unter Schwierigkeiten zur Entgegennahme nach Stockholm reisen, denn
seit 1925 plagten ihn rheumatische Schmerzen, die seinen Körper lähmten und
deformierten.
Krankheitsbedingt mehr und mehr zurückgezogen, vollendete
und publizierte er 1932 sein letztes größeres Werk, Les deux sources de la
morale et de la religion (Die beiden Quellen der Moral und Religion,
1933). Seine Überlegungen zum Zusammenhang von Gesellschaft, Moral und Religion
wurden mit der gebührenden Achtung aufgenommen, aber nur noch wenig diskutiert.
Die Zeit Bergsons war sichtlich vorbei.
Spätestens mit den Deux sources hatte er sich
christlich-mystischen Vorstellungen angenähert und dachte daran katholisch zu
werden. Er nahm jedoch Abstand davon, weil er angesichts des auch in Frankreich
anschwellenden Antisemitismus seine jüdischen Wurzeln nicht verleugnen wollte.
Entsprechend verzichtete er 1940 demonstrativ auf alle seine Auszeichnungen,
Titel und Mitgliedschaften und ließ sich als Juden eintragen, als das neue
Regime des Marschalls Pétain diese gesetzlich zu diskriminieren begann.
An seinem Grab sprach jedoch, gemäß seinem Wunsch, ein
katholischer Priester das Gebet.
Die Ideen Bergsons scheinen heute nur noch von historischem
Interesse zu sein und wirken rückblickend wie eine Übertragung von Symbolismus
und Jugendstil in die Philosophie. Sie haben jedoch zwischen 1900 und 1930
stark gewirkt und insbesondere zahlreiche Schriftsteller beeinflusst, u.a.
Marcel Proust, Charles Péguy, André Gide, Paul Claudel oder T.S. Eliot.
Maurice Barrès (* 19.8.1862 in Charmes-sur-Moselle; †
4.12.1923 in Neuilly-sur-Seine)
Er
war in seinen besten Zeiten als Romancier, Publizist und homo politicus sehr
bekannt und einflussreich.
Er
wurde geboren in Lothringen nahe der nach dem Krieg von 1870/71 neugezogenen
deutsch-französischen Grenze (die ungefähr dem damaligen Verlauf der
Sprachgrenze folgte). Seine Gymnasialjahre verbrachte er als Internatschüler in
Nancy, quasi mit dem Blick auf die von den Revanchisten in Frankreich
vielzitierte „ligne bleue des Vosges“ (=die blaue Horizontlinie der Vogesen).
Entsprechend wurde auch er sehr früh zum Nationalisten, der Rache forderte an
Deutschland.
1882
ging er nach Paris, wo er Jura studieren sollte, zugleich aber als ein zunächst
den Symbolisten nahestehender Feuilletonist und Erzähler eine literarische
Karriere zu beginnen versuchte. 1888 wurde der Roman Sous l'œil des barbares (=unter den Augen der Barbaren) sein
Durchbruch. Es ist der erste Teil der stark autobiografischen Romantrilogie Le Culte du moi (=Kult des Ich), deren
Protagonist ein junger Intellektueller ist, der in die Pariser Fin de
Siècle-Kultur eintaucht, in dieser als überfeinert und kosmopolitisch
überfremdet vorgestellten Welt aber keinen Halt findet, weshalb er schließlich
seinem dekadenten Narzissmus abschwört, heimkehrt in sein angestammtes
Lothringen und dort zu den nationalen Traditionen und zum Katholizismus
zurückfindet.
1889
wurde Barrès folgerichtig Anhänger des politisch rechtsaußen agierenden
populistischen Generals Georges Boulanger („le Général Revanche“) und war aktiv
in dessen kurzlebiger nationalistischen und revanchistischen Bewegung. Für eine
Legislaturperiode (1889-93) war er sogar boulangistischer
Parlamentsabgeordneter für den Wahlkreis Nancy. Auch nach dem Selbstmord
Boulangers (1891) und der Auflösung von dessen Bewegung betätigte er sich als
weit rechts stehender Intellektueller und Politiker, scheiterte aber vier Male
beim Versuch, sich wieder ins Parlament wählen zu lassen. Im Rahmen der
Frankreich spaltenden Dreyfus-Affäre (1898) bezog er selbstverständlich
Position als rechter „Anti-Dreyfusard“.
1897-1901
ließ er eine weitere Trilogie erscheinen: Le
Roman de l'énergie nationale (=der Roman der nationalen Kraft). Es ist die
Geschichte einiger junger Lothringer, die zunächst nach Paris gehen, dadurch
„entwurzelt“ werden (Teil 1 heißt auch Les
déracinés/Die Entwurzelten), dies aber zumindest teilweise bemerken,
heimkehren und für die Rückeroberung des von den Deutschen annektierten Elsass
und (Deutsch-)Lothringens kämpfen.
1906
war das Jahr seines Triumphes: Barrès wurde in die Académie française
aufgenommen und er wurde wieder zum Abgeordneten gewählt (Wahlkreis Neuilly bei
Paris), was er bis zu seinem Tod blieb, obwohl er eigentlich
Anti-Parlamentarist war.
1913
hatte er eine weitere Romantrilogie fertig: Les
bastions de l'Est (=die Bastionen des Ostens). Die ersten Bände, Au service de l'Allemagne (=im Dienste
Deutschlands, 1905) und Colette Baudoche (1909),
sind Geschichten voller nationalistisch-antideutscher Ressentiments, der
dritte, La Colline inspirée (=der
beseelte Hügel), handelt von der national inspirierten Auflehnung dreier lothringischer
Priester gegen die ultramontane römische Amtskirche.
1914
wurde Barrès als Nachfolger von Paul Déroulède (s.o.), des turbulenten „poète
national“ (1846-1914), Chef der antideutschen, antisemitischen und
antiparlamentarischen Ligue des patriotes. Im anschließenden Weltkrieg
1914–18 betätigte er sich publizistisch an vorderster Front mit einem
antideutschen und militaristischen Zeitungsartikel pro Tag.
Nach
dem Kriegsende allerdings wurde er zum Buhmann der pazifistischen,
internationalistischen, prokommunistischen Linksintellektuellen, die ihn
attackierten und verhöhnten.
20. Jahrhundert
Romain Rolland (*29.1.1866 Clamecy/Dép. Nièvre;
†30.12.1944 Vézelay/ Bourgogne)
Dieser lange
Zeit auch in Deutschland wohlbekannte und geschätzte Autor wurde 1916 als
dritter Franzose mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Heute wird er,
trotz seines Ruhmes in den 1920er, 30er und 40er Jahren, kaum mehr gelesen,
nicht zuletzt vermutlich, weil die gebildete bürgerliche Leserschaft, für die
er schrieb, praktisch nicht mehr existiert und seine Sprache für jetzige Leser
oft zu jugendstilig-gefühlig wirkt.
Rolland war Sohn eines Notars und erhielt eine
gutbürgerliche Erziehung und Bildung. Mit elf begann er zu schreiben. Daneben
begeisterte er sich unter Anleitung seiner sehr musikalischen Mutter früh für
Musik. 1880 verkaufte der Vater seine Praxis, und die Familie zog nach Paris,
um dem Jungen bessere Vorbereitungsmöglichkeiten zu verschaffen für die
Zulassungsprüfung (concours) zur École Normale Supérieure (ENS), der
französischen Eliteschule für die Lehramtsfächer an Gymnasien. Rolland, der bis
dahin das katholische Gymnasium seines Heimatstädtchens besucht hatte,
wechselte nun an das Lycée Saint-Louis und 1882 an das Traditionsgymnasium
Louis-le-Grand, wo er sich u.a. mit Paul Claudel (s. u.) befreundete. 1886
wurde er in die ENS aufgenommen und studierte hier bis 1889 Literatur und
Geschichte.
Nach Ablegung des Schlussexamens (licence) und erfolgreich
absolvierter Einstellungsprüfung (agrégation) für das Amt eines
Gymnasialprofessors für Geschichte ließ er sich beurlauben und ging für zwei
Jahre (1889-91) als Stipendiat der École française nach Rom, um dort Material
für eine musikhistorische Doktorarbeit (thèse) über die Geschichte der Oper vor
Jean-Baptiste Lully und Scarlatti zu sammeln. In Rom verkehrte er, der schon
länger Wagner-Fan war, im Salon der Wagner-Freundin Malwida von Meysenbug, die
ihn zu einem Besuch in Bayreuth mitnahm. Seine wichtigste Nebenbeschäftigung in
den römischen Jahren war die Kunstgeschichte, doch schrieb er auch, wie immer:
z.B. Überlegungen zu einem „roman musical“ (1890) und erste Dramen (1890/91),
die aber ungedruckt blieben.
Zurück in Paris nahm er 1892 eine Teilzeitstelle am
Traditionsgymnasium Henri-IV an und heiratete. Nachdem er 1895 seine Thèse
abgeschlossen und die dazugehörige Prüfung (soutenance) absolviert hatte, ließ
er sich als Dozent für Kunstgeschichte an die ENS abordnen und später (1904)
als Dozent für Musikgeschichte an die Sorbonne versetzen. Seine kinderlos gebliebene
Ehe wurde 1901 geschieden.
In allen diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg unternahm
Rolland viele, teils längere Bildungsreisen durch West- und Mitteleuropa,
verbrachte oft mehrmonatige Arbeitsurlaube in der Schweiz und schrieb:
Erzählendes, Essayistisches, Musik- und Kunsthistorisches sowie
Künstler-Biografien, z.B. Beethovens, Michelangelos oder Tolstois (gedruckt
jeweils 1903, 1906, 1911).
Die zahlreichen Dramen, die er ebenfalls verfasste, blieben
weiterhin lange Zeit unpubliziert bzw. ungespielt. Die ersten angenommenen und
aufgeführten waren 1898 Aërt und Les Loups. Letzteres wurde der
erste Teil aus einem über 40 Jahre hinweg fortgesetzten und schließlich
achtteiligen Dramenzyklus, der eine Art Epos der franz. Revolution zu bilden
versucht, naturgemäß aber jeweils aktuelle Probleme und Konflikte spiegelt. Die weiteren
Stücke (mit Aufführungsdaten) sind: Danton, 1899; Le Triomphe de la
raison, 1899; Le Quatorze-Juillet, 1902; Le Jeu de l’amour et de
la mort, 1925; Pâques fleuries, 1926; Les Léonides, 1928; Robespierre,
1939.
1903 begann Rolland das Werk, das ihn bekannt machen sollte:
den 10-bändigen „roman fleuve“ Jean-Christophe (gedruckt 1904-12).
Titelheld ist der (fiktive) deutsche Komponist Johann-Christoph Krafft, der als
junger Mann nach Frankreich gelangt, sich dort mit Hilfe eines franz. Freundes
assimiliert und so in seiner Musik quasi die ihm angeborene „deutsche Energie“
mit „französischen Geist“ verbinden und veredeln kann. Der Jean-Christophe war
ein großer Erfolg und wurde nach 1918 auch von den gar nicht so wenigen
frankophilen Deutschen geschätzt, die das Gerede von der deutsch-franz.
Erbfeindschaft satt hatten und auf Verständigung zwischen beiden Völkern
setzten.
Im Okt. 1910 wurde Rolland in Paris von einem Auto
angefahren und erlitt Verletzungen, die ihn für mehrere Monate dienstunfähig
machten. Der Unfall war nicht unbeteiligt an seinem Entschluss, seine Professur
aufzugeben und freier Schriftsteller zu werden (1912).
1913/14 verfasste er Colas Breugnon, einen kürzeren
historischen Roman in Form eines (fiktiven) Tagebuchs aus den Jahren 1616/17
(gedruckt erst 1919).
Der Erste Weltkrieg überraschte ihn in der Schweiz. Er
blieb, engagierte sich beim Roten Kreuz und publizierte im Journal de Genève
die kriegskritische Artikelserie Au-dessus de la mêlée, mit der er „über
dem Schlachtgetümmel“ stehend, sowohl nach Frankreich hineinzuwirken versuchte
(wo man ihn wegen angeblich unpatriotischer Haltung jedoch schmähte) als auch
nach Deutschland (wo man ihn kaum hörte). Nachdem sie 1915 in Paris als Buch
erschienen war, fand die Artikelserie in der zweiten Kriegshälfte größeres
Gehör. Sie wurde nun rasch in mehrere europäische Sprachen übersetzt (nicht ins
Deutsche) und hatte neben dem Jean-Christophe großen Anteil daran, dass
Rolland 1916 für eine nachträgliche Vergabe des Nobelpreises von 1915
ausersehen wurde.
Nach dem Krieg (1919) initiierte er mit dem Autor Henri
Barbusse die Gruppe Clarté, eine Friedensbewegung linker Intellektueller
mit gleichnamiger Zeitschrift. Etwas später (1923) wurde er Mitgründer die
Zeitschrift Europe, die sich insbes. für eine Verständigung zwischen
Frankreich und Deutschland einsetzte. Auch der Roman Clérambault, histoire
d’une conscience libre pendant la guerre (1920) ist Ausdruck seines
transnationalen Pazifismus.
Anfang der 20er Jahre nahm Rolland,
neben einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit, wieder ein größeres
Romanprojekt in Angriff: L’Âme enchantée, dessen vier Teile in drei
Bänden von 1922 bis 1933 erschienen. Die Handlung erstreckt sich von ca. 1890
bis ca. 1930 und stellt die Geschichte einer Frau dar, die es akzeptiert,
ledige Mutter zu sein, und sich so zunächst gesellschaftlich, dann durch ein
linksgerichtetes aktives Engagement politisch und schließlich in einer
mystischen Spiritualität religiös emanzipiert.
Diese Entwicklung spiegelt in gewissem
Umfang die des Autors, der sich nach dem Krieg links engagiert und sich, wie so
viele franz. Intellektuelle der Zeit, daneben mit fernöstlichen geistigen und
religiösen Traditionen zu beschäftigen begonnen hatte (woraus u.a. 1923 eine
Artikelserie über Mahatma Gandhi erwuchs).
Seit der russischen Oktober-Revolution 1917 sympathisierte
Rolland mit dem Kommunismus und entsprechend mit dem 1920 gegründeten Parti
communiste français. Er war hiermit einer der nicht wenigen bürgerlichen
Intellektuellen, die der PCF als „Weggenossen - compagnons de route“
sehr schätzte, als Mitglieder wegen ihres selbständigen Denkens allerdings
gerne entbehrte. Auch Rolland machte sich 1925 vermutlich wenig beliebt, als er
im Stück Le Jeu de l’amour et de la mort die Frage diskutierte, ob
radikale politische Führer das Recht haben, das Glück und gar die Existenz der
gegenwärtig Lebenden zu opfern, um dem Ziel einer künftigen idealen
Gesellschaft näher zu kommen. Dennoch und trotz angegriffener Gesundheit reiste
er 1935 auf Einladung seines Schriftstellerkollegen und Brieffreundes Maxim
Gorki nach Moskau und ließ sich dort von Stalin als Repräsentant der franz.
Intellektuellen hofieren. Ab 1936, dem Jahr der Moskauer Schauprozesse gegen
angebliche Verräter in der Kommunistischen Partei, ging er jedoch deutlich auf
Distanz und brach 1939 völlig mit der Sowjetunion Stalins, als dieser seinen
Beistandspakt mit Hitler schloss.
Ende der 20er Jahre hatte Rolland sich
wieder Beethoven zugewendet und eine auf fünf Bände angelegte Monografie
begonnen, die in Teilen 1928, 1930, 1937 und schließlich posthum 1945 erschien,
aber unvollendet blieb.
1934 verheiratete er sich mit der russischen Übersetzerin
seiner Werke, Maria Kudaschewa, mit der er seit 1923 in Kontakt stand.
1937 zog er sich zurück in den burgundischen Wallfahrtsort
Vézelay, wo er seinen Lebensabend zu verbringen gedachte. Hier schrieb er an
seinen Memoiren, vollendete u.a. die 1924 begonnene Geschichte seiner Kindheit Voyage
intérieur (gedr. 1942) oder ein schon lange in Arbeit befindliches Buch
über den katholischen Autor Charles Péguy (1943). Anfang November 44 reiste er
trotz Krankheit ins kürzlich befreite Paris, um an einem Empfang in der
Sowjetischen Botschaft teilzunehmen. Zurück in Vézelay, erlebte er noch die
letzte Phase der Zurückwerfung der deutschen Truppen aus Frankreich.
Nach seinem Tod erschienen seine umfangreiche und
vielfältige Korrespondenz sowie seine Tagebücher.
Charles Maurras (* 20.4.1868 Martigues; † 16.11.1952
Tours)
Der
Name und das Wirken Maurras' waren nach 1944 in Frankreich jahrzehntelang quasi
tabu, obwohl er zu den einflussreichsten franz. Intellektuellen der Zeit vor
und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte. In Deutschland ist er kaum bekannt
geworden.
Seit
frühem Kindesalter stark schwerhörig, wuchs Maurras in einer
katholisch-konservativen bürgerlichen Familie auf. Er absolvierte ein
katholisches Gymnasium in Aix-en-Provence, erhielt eine solide klassische
Bildung, verlor aber früh den Glauben. Nach dem Baccalauréat ging er 1885 nach
Paris. Hier betätigte er sich als Literaturkritiker, Lyriker, Erzähler und
Essayist, der vor allem für konservative und katholische Zeitschriften schrieb.
Er schloss Freundschaft mit dem gut 20 Jahre älteren Autor Anatole France (der
zu dieser Zeit politisch noch rechts stand, allerdings zugleich Agnostiker war)
und geriet in den Bann der progressistischen, d.h. tendenziell eher „linken“
Philosophie des Positivismus.
1891
schloss er sich der kurz zuvor von einigen Literaten, insbes. Jean Moréas,
gegründeten „école romane“ an, die die Wurzeln der franz. Kultur in deren
griechisch-römischem Erbe und ihren reinsten Ausdruck in der franz. Klassik des
17. Jahrhunderts sah, wogegen sie die angeblich jüdisch-germanisch (!) geprägte
Romantik als einen Beginn und den späteren Symbolismus als eine „weitere
Ursache allen Übels für Frankreich“ betrachtete. Literarischer Ausdruck dieser
Sicht waren z. B. Maurras' Erzählband Le Chemin du paradis (=der Weg zum
Paradies, 1895) oder die Essaysammlung Les amants de Venise (=die
venezianischen Liebenden, i.e. die romantischen Autoren George Sand und Alfred
de Musset, 1902).
Spätestens
1895 stand er politisch auf der Seite der chauvinistischen Rechten in
Frankreich und trat u.a. mit dem nationalistischen Abgeordneten und Romancier
Maurice Barrès in Kontakt.
1896
besuchte er, da er sich schon früh für die Ideen des französischen
Sportpädagogen Pierre de Coubertin interessiert hatte, als Reporter für eine
französische Zeitschrift die ersten Olympischen Spiele in Athen.
In
seinen politisch intendierten Büchern, Broschüren und Artikeln propagierte
Maurras die Wiedereinführung der Monarchie als Staatsform und (obwohl er selbst
Agnostiker war) die Retablierung des Katholizismus als Staatsreligion, denn von
beiden Re-Formen erhoffte er sich ein weniger zentralistisches, aber
ideologisch geeintes, starkes Frankreich, das dem aufstrebenden Deutschen Reich
wirtschaftlich, militärisch und geistig-moralisch Paroli bieten sollte.
Als
1898 Frankreich tief gespalten wurde durch die Dreyfus-Affäre (den Streit um
das zweifelhafte Gerichtsurteil gegen den vermeintlichen prodeutschen Spion
Dreyfus), war er einer der aktivsten Anti-Dreyfusards, d.h. kompromissloser
Gegner einer Revision des Prozesses oder gar eines Freispruchs. Er schloss sich
dem von anderen Anti-Dreyfusards gegründeten nationalistischen Comité
d'Action française an und trug maßgeblich bei zu dessen Umformung zu einem
straffer organisierten Verband, der Ligue d'Action française, die unter
seiner Ägide eine monarchistische, chauvinistische, fremdenfeindliche und
antisemitische Ideologie propagierte: den „integralen Nationalismus“. Als Organ
der „Liga“ diente ab 1899 die von Maurras und seinem Gesinnungsgenossen Léon
Daudet geleitete Zeitschrift La Revue de l'Action française. Zunächst
eher zum Vertrieb dieser Zeitschrift in den Straßen bildete sich eine
Jugendorganisation, „Les camelots du roi“ (=die Marktschreier/Hausierer des
Königs), die bald auch durch die Schlägereien von sich reden machte, die sie
sich mit politisch linken Gruppen lieferte.
1908
ermöglichte der Erfolg der Zeitschrift ihre Umformung zur Tageszeitung unter
dem Titel L'Action française. Maurras avancierte hierbei zu einem der
wichtigsten Vordenker des konservativen, nationalistischen Frankreichs.
Nach
Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 betätigte er sich als publizistische Stütze
der „Union sacrée“ zwischen den rechten Parteien und den Sozialisten, die dem
gleichzeitigen „Burgfrieden“ der Parteien in Deutschland entsprach.
In
der Zwischenkriegszeit wurde die Ligue d'Action française zahlenmäßig
zwar von anderen rechten Organisationen überholt, doch behielt Maurras und
seine ideologischen Positionen einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die
rechten Intellektuellen und die rechten Politiker. Entsprechend gerieten viele
franz. Katholiken und auch Priester in tiefe Loyalitätskonflikte, als der Papst
1926 Maurras’ Schriften sowie die Action française auf den Index setzte,
weil darin die katholische Kirche als Mittel zu nationalistischen Zwecken
instrumentalisiert werde.
Nachdem
er 1923 schon die Machtergreifung des italienischen Faschisten Mussolini
begrüßt hatte, sympathisierte Maurras während des Spanischen Bürgerkriegs
(1936-39) und danach mit dem faschistoiden Franquismus von General Franco.
Trotz seiner notorischen Deutschfeindlichkeit schien ihm auch der
Nationalsozialismus Hitlers in vielerlei Hinsicht interessant und besonders in
seinem Antisemitismus nachahmenswert.
Die
aus den Wahlen von 1936 hervorgegangene gebildete linke Volksfront-Regierung
bekämpfte er mit allen Mitteln, wobei er nicht zurückschreckte vor
antisemitischischer Hetze gegen die Person des sozialistischen Regierungschefs
Léon Blum, der aus einer jüdischen Familie stammte. Nach der Niederlage
Frankreichs 1940 unterstützte er den neuen franz. Staatschef Marschall Pétain
und dessen „Révolution nationale“, die sich weitgehend an seinen Ideen
inspirierte. Entsprechend billigte er auch Pétains Politik der „collaboration“,
d.h. der Kooperation mit dem Deutschen Reich.
Nach
der „libération“ 1944/45 wurde Maurras, im Rahmen des allgemeinen politischen
Linksschwenks in Frankreich, als geistiger Ziehvater Pétains geschmäht und zum
prodeutschen Kollaborateur erklärt. Im Sept. 44 verhaftet, wurde er zu einer
längeren Gefängnisstrafe verurteilt und von seinem Sitz in der Académie
Française, die ihn 1936 aufgenommen hatte, suspendiert (also nicht förmlich
ausgeschlossen).
1951
wurde er krankheitshalber begnadigt und in eine Klinik verlegt, wo er im Jahr
darauf starb. Kurz vor seinem Tod war er zu der Frömmigkeit seiner Kindheit
zurückgekehrt.
Paul Claudel (*6.8.1868 in Villeneuve-sur-Fère; †23.2.1955
in Paris)
Er
wurde in den 1920er bis 40er Jahren im katholischen Milieu sehr geschätzt, aber
auch von anderen Lesern und den Literaturkritikern hoch bewertet. 1946 wurde er
mit der Aufnahme in die Académie Française belohnt. Heute scheint er fast
vergessen.
Claudel
wuchs auf in einem Dorf der Picardie als Sohn eines aufgeklärt-positivistisch
denkenden Kataster-Beamten, verbrachte aber seine letzten Schuljahre auf dem
Pariser Traditionsgymnasium Louis-le-Grand,wo er sich u.a. mit Romain Rolland
(s.o.) befreundete. Mit 18 hatte er bei der Weihnachtsmesse in der Pariser
Kathedrale Notre-Dame ein Erweckungserlebnis und war hinfort gläubiger
Katholik.
Nach
Abschluss eines Studiums an der École libre des Sciences politiques, während
dessen er schon Gedichte schrieb und dem Kreis um Mallarmé angehörte, dachte er
daran fernöstliche Sprachen zu studieren, bewarb sich dann aber für eine
Ausbildung als Diplomat im konsularischen Dienst. Hierin war er bis zu seiner
Pensionierung gewissenhaft tätig, und zwar 1893-95 in den USA, 1895-1909 in
China, danach jeweils kürzere Zeit in Deutschland, Brasilien und Dänemark, dann
länger in Japan (1921-27) und nochmals in den USA (1927-33) sowie schließlich
in Belgien.
Das trotz
seiner bewegten Existenz sehr umfangreiche literarische Schaffen Claudels (für
das er jeweils die ersten Stunden seines Arbeitstages reservierte) umfasst
Lyrik, Philosophisch-Essayistisches (stark beeinflusst von seinen
Fernost-Aufenthalten) und vor allem Theaterstücke. Diese verfasste er in einer
pathetisch-lyrischen Sprache und unter Verzicht auf eine spannende Handlung,
wobei im Mittelpunkt meist das Motiv des Sich-Aufopferns im Sinne einer
religiös orientierten Moral steht. Das bekannteste und am häufigsten
aufgeführte Stück ist das im Mittelalter spielende L'Annonce faite à Marie (1911/12). Einigermaßen bekannt wurde auch
die Trilogie L'Otage (1909), Le Pain dur (1914) und Le Père humilié (1916), deren Handlung
fast sechs Jahrzehnte (1812 bis 1869) überspannt. Als am bedeutendsten gilt
jedoch das im spanischen 16. Jh. angesiedelte Le Soulier de satin (fertiggesstellt 1925), ein immens langes
Stück, das die Summa von Claudels Vorstellungen präsentiert (die stark
beinflusst waren vom Denken Henri Bergsons, s.o.). Es wurde erst 1943 in einer
vom Autor selbst und dem Regisseur Jean-Louis Barrault stark gerafften Version
uraufgeführt.
Als Librettist
betätigte sich Claudel in dem dramatischen Oratorium Jeanne d’Arc au bûcher
(Johnanna auf dem Scheiterhaufen, 1938) von Artur Honnegger und in mehreren
Opern von Darius Milhaud, darunter Christophe Colomb (1930).
André Gide (*22.11.1869 Paris; †19.2.1951 ebd.)
Er
zählt zu den Großen der franz. Literatur der ersten Jahrhunderthälfte und
spielte einige Jahrzehnte eine dominierende Rolle im Pariser Literaturbetrieb.
1947 wurde er als siebter frankophoner Autor mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Auch in Deutschland wurde er geschätzt und gelesen.
Gide
wuchs auf in Paris als einziges Kind einer wohlhabenden protestantischen
Familie, wobei der Vater, ein Juraprofessor, aus der mittleren Bourgeoisie der
südfranzösischen Kleinstadt Uzès stammte, die Mutter aus der Großbourgeoisie
von Rouen. Mit knapp elf verlor er den Vater. Zwar trat dadurch keine
finanzielle Notlage ein, doch war er nun ganz der strengen Erziehung seiner
Mutter ausgesetzt.
Vielleicht
auch deshalb war er ein schwieriges Kind, was häufige Wechsel von Schulen und
Privatlehrern verursachte. Zudem litt er in der Vorpubertät mehrfach unter
Nervenkrisen, konnte 1890 jedoch seine Schulzeit normal auf dem
Traditionsgymnasium Henri IV abschließen (wo er sich u.a. mit dem späteren
Autor Pierre Louÿs und dem späteren sozialistischen Politiker Léon Blum
befreundete).
Bei
einem längeren Besuch in Rouen 1882 hatte er ein inniges Verhältnis zu seiner
fast drei Jahre älteren Kusine Madeleine Rondeaux entwickelt, mit der er sich
ab Anfang 1890 stillschweigend verlobt glaubte, die sich aber, z.T. wohl auf
Druck beider Mütter, seinen Heiratswünschen zunächst entzog.
Den
Sommer 1890 verbrachte Gide in Savoyen, wo er sein erstes längeres Werk
verfasste: Les Cahiers d’André Walter (erschienen als Privatdruck 1891).
Es hat die Form eines angeblich nach dem Tod des Schreibers veröffentlichten
Tagebuches und spiegelt offenbar den ohnmächtigen Trotz Gides gegenüber seiner
strengen Mutter sowie seine erotischen Sehnsüchte gegenüber Madeleine zu einer
Zeit, wo ihm seine Homosexualität noch nicht oder allenfalls diffus bewusst
war.
Da
Gide es nach dem baccalauréat nicht nötig hatte, ein Studium oder gar
eine Berufstätigkeit aufzunehmen, begann er eine Phase des Experimentierens und
zahlreicher, oft längerer Reisen. Hierbei lernte er im Dez. 90 in Montpellier
über einen Onkel väterlicherseits den etwas jüngeren Lyriker Paul Valéry (s. u.)
kennen, dem er 1894 seine ersten Schritte in Paris erleichterte.
1891
fand er Zugang zu dem Kreis symbolistischer Autoren um den Lyriker Stéphane
Mallarmé (s.o.), wo er u.a. Oscar Wilde traf. Auch Gide selbst betätigte sich
als Symbolist mit dem Gedichtbändchen Poésies d’André Walter (Privatdruck
1892) und der kleinen Abhandlung Traité du Narcisse. Théorie du symbole. Letztere beginnt mit dem hübschen
Satz „Les livres ne sont peut-être pas une chose bien nécessaire“. Dieser zeigt treffend Gides Hang zur selbstironischen
Reflexion der egozentrischen Existenz reicher junger Literaten wie er, deren
Hauptproblem ihr Mangel an realen Problemen war und die dieses Problem in einer
Art narzistischen Priestertums der Kunst zu sublimieren versuchten.
1893
schrieb er die kurze Erzählung La Tentative amoureuse, deren
Haupthandlung eine hübsche Liebesgeschichte (wie der Autor sie wohl gerne
erlebt hätte) bildet, in welche kleine Erzählungen des Liebenden für die
Geliebte eingeflochten sind und welche ihrerseits gerahmt wird von einem
erzählenden Vorspann und einem briefartigen, leicht ironischen Nachspann, der
eine (Madeleine ähnelnde?) „Madame“ anspricht, die sichtlich diffiziler ist als
die Geliebte der Haupthandlung. Im selben Jahr verfasste Gide die lange
lyrische Erzählung Le Voyage d’Urien, wo er in Form eines Reiseberichts
einmal mehr die schwierige Suche eines müßigen, materiell sorgenfreien jungen
Intellektuellen nach dem „wahren Leben“ thematisiert.
Im
Herbst 93, nachdem er wegen einer (offenbar leichten) Tuberkulose vom
Wehrdienst befreit worden war, ging er zusammen mit einem befreundeten jungen
Maler für einige Monate nach Nordafrika, um dort die Krankheit auszuheilen. Ein
erstes homosexuelles Erlebnis, aber auch die ersten heterosexuellen Erfahrungen
Gides datieren von dort. Insgesamt empfand er diese Zeit als Befreiung aus den
Zwängen seiner calvinistisch-puritanischen Erziehung.
Im
Herst 1894 schrieb er, fern von Paris in der Schweiz, sein erstes längeres
Werk, Paludes, wo er nicht ohne Melancholie den Leerlauf in den
Literatenzirkeln der Hauptstadt, aber auch seine eigene Rolle darin karikiert.
Das Frühjahr verbrachte er einmal mehr in Nordafrika, teilweise in Gesellschaft
von Oskar Wilde und dessen Geliebten.
Im
Mai 1895 starb die Mutter Gides. Wenige Wochen später verlobte er sich mit
Kusine Madeleine und heiratete sie im Herbst, nicht zuletzt wohl mit der
Absicht, so seine homosexuellen Neigungen zu bekämpfen, die ihm inzwischen
bewusst geworden waren. Die Ehe blieb jedoch, offenbar für beide Seiten, unbefriedigend.
Nach
der Heimkehr von der fast halbjährigen Hochzeitsreise durch Italien und
Nordafrika wurde Gide 1896 zum Bürgermeister des Dorfes La Roque-Baignard
gewählt, wo er ein Landgut besaß. Natürlich lebte er trotzdem weiterhin in
Paris. Hier knüpfte er neue Beziehungen in Literatenkreisen und wurde
regelmäßiger Beiträger der Zeitschrift L’Ermitage. 1897 erschien, einmal
mehr als Privatdruck, das zunächst kaum beachtete, nach 1918, d.h. nach dem
Ersten Weltkrieg, aber sehr erfolgreiche Buch Les Nourritures terrestres.
Es ist ein in pathetischer lyrischer Prosa vorgetragener Aufruf zur Öffnung
gegenüber dem „wirklichen“ Leben und zur Sinnenfreude als dessen legitimem
Bestandteil. Gide, so scheint es, hatte seinen Weg gefunden.
Auch
die nächsten Jahre verbrachte er reisend (meist mit Madeleine) und schreibend.
1899 verfasste er Le Prométhée mal
enchaîné, eine Erzählung um das Motiv des „acte gratuit“, einer völlig
freien, willkürlichen Handlung. 1901 erschien ein erstes Stück, Le roi
Candaule. (Diesem folgten noch etliche andere, die aber ebenfalls wenig zu
Gides Ruhm beitrugen und keine Spuren in der Geschichte des franz. Theaters
hinterließen.)
Sein
Durchbruch (und finanzieller Grundstock für den Bau einer Villa in Auteuil bei
Paris) war der Anfang 1902 erschienene Roman L’Immoraliste. Es ist die
Geschichte eines jungen Mannes, der nach der Heilung von einer Tuberkulose ein
völlig neues, sinnenfrohes Lebensgefühl entwickelt und diesem seine junge Frau
rücksichtslos opfert, als sie ihrerseits erkrankt und Pflege nötig hätte − wobei er immerhin nach ihrem Tod sein Verhalten als
unmoralisch erkennt.
1907
erschien Le Retour de l'enfant prodigue,
eine Erzählung um das biblische Motiv von der Heimkehr des verlorenen Sohns,
der bei Gide jedoch seinem jüngeren Bruder rät, ebenfalls das elterliche Haus
zu verlassen und nicht zurückzukommen, d.h. sich definitiv zu emanzipieren.
Als
1908 sein gewohntes Publikationsorgan L’Hermitage einging, gründete Gide
1909 mit einigen befreundeten Autoren die Zeitschrift La Nouvelle Revue Française.
Dieser wurde 1911 ein gleichnamiger Verlag angegliedert, der unter der Leitung
von Gaston Gallimard bald prosperierte. Über die NRF und den NRF-Verlag wurde Gide wohl der einflussreichste franz. Literat der
Jahrzehnte bis ca. 1940, der mit fast allen europäischen Autoren von Rang in
Kontakt stand.
1909
kam La Porte étroite heraus, ein in vieler Hinsicht
autobiografischer Roman um den jungen Jérôme und seine etwas ältere Kusine
Alissa, die von Kindheit an füreinander bestimmt scheinen, bis Alissa trotz
ihrer Liebe Jérôme die Heirat verweigert, ihm ihre jüngere Schwester zu nehmen
empfiehlt und sich in Askese und Frömmigkeit zurückzieht.
Das
1911 verfasste und zunächst nur privat und anonym gedruckte Werk Corydon, bestehend aus vier
„sokratischen“ Dialogen, die die Klischeevorstellung von der Perversheit der
Homosexualität zu korrigieren versuchen, kam erst 1924 im Buchhandel heraus.
1913
beteiligte sich Gide an der Eröffnung eines neuen Pariser Theaters, Le
Vieux-Colombier, das vor allem den Autoren des NRF-Verlags eine
Bühne bieten sollte.
Im Folgejahr (1914) erschien Les Caves du
Vatican, ein Roman mit mehreren
Handlungssträngen, die in der schillernden Figur des schönen jungen
Kosmopoliten Lafcadio Wluiki und einem als „acte gratuit“ von ihm begangenen
Mord zusammenlaufen. Der stilistisch sehr kunstvolle und von einer feinen
Ironie getragene Roman gilt heute als Gides bestes Werk.
1915/16 war er
aktiv in einer humanitären Organisation zur Betreuung von Flüchtlingen aus den
vom Krieg verwüsteten nordostfranzösischen Gebieten.
Eine tiefe moralische und
religiöse Krise Gides 1916 endete mit dem Kennenlernen seines dann langjährigen
Partners Marc Allégret. Gide und Madeleine, die kinderlos geblieben war, lebten
hiernach, ohne sich scheiden zu lassen, überwiegend getrennt. 1918 zog sie
innerlich den Schlussstrich, indem sie (sehr zu seinem Ärger) alle seine Briefe
an sie verbrannte, während er mit Allegret auf einer längeren England-Reise
war.
1919
erschien der Roman La Symphonie pastorale,
die Geschichte eines Pastors, der ein blindes Waisenmädchen in seine Familie
aufnimmt, sie erzieht, sich in sie verliebt, sie aber an seinen Sohn verliert.
Die Symphonie war der größte Bucherfolg Gides zu seinen Lebzeiten mit
mehr als 1 Mio. Exemplaren und rd. 50 Übersetzungen.
Nach
dem Kriegsende entwickelte auch er, wie so viele Autoren der Zeit, Sympathien
für den von Russland nach Europa ausstrahlenden Kommunismus. Zugleich
interessierte er sich für die russische Literatur: 1923 erschien sein Buch über
Dostojewski, 1928 eine Übertragung der Novellen Puschkins.
1923
wurde er Vater einer außerehelich gezeugten Tochter (mit der und deren Mutter
er ab 1927 im selben Pariser Mietshaus wohnte und die er nach dem Tod seiner
Frau Madeleine adoptierte).
1924
(Gide war nun immerhin Mitte 50) erschien in drei Bänden eine Autobiografie bis
zum Jahr seiner Heirat: Si le grain ne meurt.
1925
beendete er Les Faux-Monnayeurs (1926), einen kunstvoll angelegten Roman
um die Entstehung eines Romans, die er überdies in einem Tagebuch begleitete
(gedruckt ebenfalls 1926). Die Handlung (die damit beginnt, dass eine der
Hauptfiguren sich als außerehelich gezeugt entdeckt) wirkt aufgrund häufiger
Perspektivenwechsel etwas verwirrend, steht aber auf der Höhe der zeitgenössischen
theoretischen und erzähltechnischen Errungenschaften der Gattung Roman, einer
Gattung die sich selbst inzwischen zum Problem geworden war. Die Faux-Monnayeurs gelten als ein
richtungweisendes Werk der modernen europäischen Literatur. Gide selber nennt
es in seiner Widmung an Roger Martin du Gard (s.u.) mit leichter Ironie „mon
premier roman“.
Im
selben Jahr 25 verkaufte Gide er Villa in Auteuil und ging mit Allégret auf
eine fast einjährige Reise durch die damaligen franz. Kolonien Congo
(Brazzaville) und Tschad. Die seines Erachtens unhaltbaren ausbeuterischen
Zustände dort schilderte er anschließend in Vorträgen und Artikeln sowie in den
Büchern Voyage au Congo (1927) und Retour du Tchad (1928), womit
er heftige Diskussionen entfachte und viele Angriffe auf sich zog.
1929
kam L'École des femmes heraus, die
tagebuchartige Geschichte einer Frau, die ihren Mann als starren und
seelenlosen Vertreter der bürgerlichen Normen demaskiert und ihn verlässt, um
im Krieg Verwundete zu pflegen.
1931
beteiligte sich Gide an der von Jean Cocteau initiierten Welle antikisierender
Dramen mit dem Stück Œdipe.
Ab
1932, im Rahmen der wachsenden politischen Polarisierung zwischen „rechts“ und
„links“ in Frankreich und ganz Europa, engagierte Gide sich zunehmend auf Seiten
der franz. kommunistischen Partei (PCF) und antifaschistischer Organisationen.
So reiste er z.B. 1934 nach Berlin, um die Freilassung kommunistischer
Regimegegner zu verlangen. 1935 leitete er einen Kongress antifaschistischer
Schriftsteller. Auch mäßigte er seinen bis dahin vertretenen kompromisslosen
Individualismus zugunsten einer Position, die die Rechte der Gesellschaft vor
die des Einzelnen setzt.
Im Sommer 36 reiste er auf Einladung
der russischen Regierung mit einer Gruppe von Autoren mehrere Monate durch die
UdSSR. Seine Enttäuschung beim Blick hinter die Kulissen der kommunistischen
Diktatur war jedoch groß. Seine Eindrücke
von dieser Reise fasste er in dem vorsichtig-kritischen Bericht Au retour de
l'U.R.S.S. zusammen. Als trotz seiner Zurückhaltung viele Kommunisten ihn
attackierten und ihm vorwarfen, er unterstütze mit seiner Kritik indirekt
Hitler, ging Gide auf Distanz zur Partei.
Nach
dem Tode Madeleines (1938) verfasste er 1939 während einer Ägypten-Reise das
autobiografische Et nunc manet in te (Und nun bleibt es in dir). Im
Mittelpunkt des erst 1947 publizierten Buches steht die Person der Verstorbenen
und das Drama ihrer Ehe.
Bei
Kriegsausbruch 1939 zog Gide sich zurück zu Freunden in Südfrankreich. 1942
ging er nach Nordafrika, nachdem er vom passiven Sympathisanten des Marschalls
Pétain zu einem aktiven Unterstützer General de Gaulles mutiert war. Für diesen
warb er z.B. mit einer Propagandareise (1944) durch die westafrikanischen
Kolonien, deren Gouverneure lange zwischen der offiziellen franz. Regierung
unter Pétain und der Londoner Exilregierung unter de Gaulle schwankten.
1946
publizierte Gide sein letztes größeres Werk, Thésée, eine fiktive
Autobiografie des antiken Sagenhelden Theseus.
In den
Nachkriegsjahren konnte er noch seinen Ruhm genießen mit Einladungen zu
Vorträgen, Ehrendoktorwürden, der Verleihung des Nobelpreises, Interviews,
Filmen zu seiner Person u.ä.m.
1939,
1946 und 1950 erschienen seine Tagebücher unter dem Titel Journal. Sie enthalten Erlebnisse und Reflexionen eines Autors, der
sich seiner Bedeutung durchaus bewusst ist, und sind naturgemäß ein
faszinierendes Zeitdokument.
Eine indirekte Anerkennung seiner
Bedeutung war, dass 1952 seine Bücher auf den Index gesetzt wurden.
Paul Valéry (*1871; †1945).
Er war
einer der letzten, wenn nicht der letzte unbestritten große Lyriker
Frankreichs.
Nach der Kindheit im
südfranzösischen Sète verbrachte er seine Jugendjahre in Montpellier und
studierte, als Sohn eines höheren Beamten, dort auch Jura. 1894 (er schrieb
schon seit vielen Jahren Gedichte) ging Valéry nach Paris, wo er sich von Gide,
den er 1890 in Montpellier kennengelernt hatte, in Literatenkreise und vor
allem bei Mallarmé einführen ließ, der ihm zum Vorbild wurde.
1897 erhielt er eine Anstellung als rédacteur im Kriegsministerium, wo er
z.B. eine längere Studie über die Gefahren des deutschen Expansionismus
verfasste. 1900 wurde er Privatsekretär bei einem Wirtschaftsmagnaten, bis er
wenig später als freier Schriftsteller leben konnte. Als dieser verfasste er
vor allem Essais über kulturelle, philosophische, literaturtheoretische und
−kritische sowie literarhistorische Themen, daneben schrieb er kürzere,
oft schwer klassifizierbare literarische Texte und vor allem immer wieder
Lyrik. Diese entwickelte er, nach symbolistischen Anfängen, hin zu einer
"poésie pure", die gedankliche Präzision und formale Vollendung zu
vereinen versucht, allerdings auch sehr hermetisch ist.
Um 1920 galt er als der größte franz.
Lyriker seiner Zeit und genoss hohes Ansehen auch im übrigen intellektuellen
Europa. 1923 wurde er chevalier de la
Légion d'honneur, 1925 erfolgte seine Aufnahme in die Académie française,
1937 wurde er mit einer Professur für Poetik am Collège de France
ausgezeichnet. Valéry war wohl der letzte Autor in Frankreich, der auskömmlich
von Lyrik leben konnte, d.h. genauer von seinem Status als eine Art
Dichterfürst, der nebenher mit gut bezahlten Auftragsarbeiten von Verlagen und
Zeitschriften bedacht und häufig zu Vorträgen, Lesungen und Ähnlichem
eingeladen wurde. Nach ihm sank die ein Jahrhundert lang so erfolgreiche
Gattung Lyrik in Frankreich zu einer marginalen Gattung ab, mit der auch kaum
mehr Geld zu verdienen ist.
Valérys lyrische Hauptwerke sind: La jeune Parque (1917) und die Gedichtsammlung Charmes (1922). Sie enthält u.a. das
berühmte Langgedicht Le Cimetière marin
(1920) und wurde von Rilke ins Dt. übertragen. Sein Leben lang beschäftigte
sich Valéry auch mit erkenntnistheoretischen Überlegungen, die er in seinen Cahiers sammelte (29 Bde!, erst postum
publiziert).
Marcel
Proust (*1871;
†1922)
Dieser heute als richtungweisend für den
modernen Roman betrachtete Autor war Sohn eines renommierten und wohlhabenden
Reiche-Leute-Arztes, der aus der Provinz nach Paris gekommen war, und einer
Mutter aus reicher jüdischer Pariser Familie. Er absolvierte seine Schulzeit am
Lycée Condorcet und studierte dann an der École des Sciences politiques. Als
junger Mann verkehrte er in der Pariser High Society von Großbourgeoisie und
Adel. Früh betätigte er sich literarisch, aber auch als Literaturtheoretiker,
z.B. mit dem Essai Contre Sainte-Beuve
(1905), wo er als einer der ersten gegen den allzu kausal denkenden
Biografismus zu Felde zieht, der die positivistische universitäre
Literaturkritik der Zeit beherrschte. Nachdem er schon als Kind viel krank
gewesen war, lebte Proust ab etwa 30 als Dauerkranker (Asthma) an sein Zimmer
gefesselt. 1905 begann er seine Jugenderinnerungen zu verarbeiten in dem nach
und nach auf sieben Bände anwachsenden Roman A la recherche du temps perdu, dessen erzählte Zeit die Spanne von
etwa 1880 bis 1920 umfasst. Der erste Band, Du
côté de chez Swann, erschien 1913 und erhielt 1919 den Prix Goncourt; der letzte Band, Le
Temps retrouvé, kam erst postum 1927 heraus. Die Recherche gilt inzwischen als eine der literarischen Großtaten des
20. Jahrhunderts: formal wegen Prousts damals revolutionären Verzichts auf eine
chronologische und lineare Handlung, stilistisch wegen der kunstvollen, oft
leise ironischen Sprache, inhaltlich wegen der psychologisch einfühlsamen und
zugleich distanzierten Darstellung eines bestimmten Milieus, nämlich der
Pariser Oberschicht der Belle Époque.
Sidonie-Gabrielle Colette (*28.1.1873 in Saint-Sauveur-en-Puisaye (Bourgogne); †3.8.1954 in Paris)
Von vielen Lesern und auch Literatenkollegen
seit langem hochgeschätzt, findet diese sehr fruchtbare Romanautorin erst seit
kurzem auch bei der universitären Literaturkritik die ihr gebührende
Anerkennung.
Colette
(wie sie sich als Autorin ab 1923 schlicht nannte) wurde geboren und wuchs auf
als jüngstes von vier Halbgeschwistern und Geschwistern in dem o.g.
burgundischen Dorf, wo ihr Vater, ein wegen Kriegsverletzung ausgemusterter
Offizier, Steuereinnehmer war. Anders als die drei älteren Geschwister besuchte
sie keine weiterführende Schule, wurde jedoch gefördert von ihrem literarisch
interessierten Vater sowie vor allem der klugen und verständnisvollen Mutter,
mit der sie später in engem Briefkontakt blieb.
Bei einer Reise nach Paris lernte sie mit 16 (1889) den 30-jährigen
Henry Gauthier-Villars kennen, der sich dort schon einen gewissen Namen als
Literat und Salonlöwe gemacht hatte. 1893 heiratete sie ihn und wurde von ihm,
der rasch ihr Schreibtalent erkannte, angelernt und ausgenutzt. So verfasste
sie ab 1896 eine Serie von Romanen, die in der Ich-Form und mit vielen
autobiografischen Elementen die Geschichte einer jungen Frau erzählen und die
von ihm unter seinem Pseudonym „Willy“ von 1900-1903 zunehmend erfolgreich
publiziert wurden: Claudine à l'école, Claudine à Paris, Claudine
en ménage und Claudine s'en va (C. in der Ehe; C. geht fort; die
Titel hier und im Folgenden sind wörtlich bzw. sinngetreu übersetzt und
entsprechen nicht unbedingt den eventuellen Titeln deutscher Ausgaben).
Bald nach dem letzten Claudine-Roman ging auch sie selbst,
verletzt und angewidert von den ständigen Seitensprüngen „Willys“. Nach ihrer
Scheidung (1905), bei der er sich die Autorenrechte an den Claudines zu
sichern schaffte, nahm sie Unterricht bei dem Pantomimen Georges Wague und
gastierte ab 1906 sechs Jahre lang mit „Mimodramen“ auf zahlreichen
Variété-Bühnen in Paris und der Provinz. Anfangs trat sie hierbei des öfteren
zusammen mit der zehn Jahre älteren Mathilde („Missy“) de Morny auf, der als
unkonventionell bekannten Tochter eines Halbbruders von Kaiser Napoléon III,
mit der sie ein (damals naturgemäß skandalöses) lesbisches Verhältnis
unterhielt und von der sie auch finanziell unterstützt wurde.
Zugleich schrieb und publizierte sie weiter, nunmehr unter
dem Namen „Colette Willy“: u.a. La Retraite sentimentale (=Rückzug von
der Liebe), 1907, Les vrilles de la vigne (=die Ranken der Weinrebe),
1908, oder L'ingénue libertine (=die naive Freizügige/freizügige Naive),
1909.
1909 begann sie La Vagabonde (=die Vagabundin), einen
einmal mehr autobiografischen Roman, in dem sie in der Ich-Form die Existenz
einer enttäuscht geschiedenen Ehefrau, erfolgreichen Varieté-Künstlerin und
Angebeteten eines reichen Erben darstellt. (Ihr eigenes kurzlebiges Verhältnis
mit dem Millionen-Erben Auguste Hériot, der 1910 eine Italienreise mit ihr
unternahm, lag zeitlich offenbar erst nach dem Roman.) La Vagabonde, die
zunächst im Feuilleton einer Zeitschrift erschien, kam 1910 in die engere Wahl
für den renommierten Literaturpreis Prix Goncourt und bedeutete den Durchbruch
Colettes als Autorin.
Auch als Journalistin war sie nun gesucht und erhielt eine
eigene Rubrik im Feuilleton des Pariser Tageblattes Le Matin. Ab 1911
lebte sie zusammen mit dessen Chefredakteur, dem ebenfalls geschiedenen, ein
Jahr jüngeren Baron Henry de Jouvenel des Ursins, den sie Ende 1912 heiratete.
Kurz zuvor starb ihre Mutter, wobei ihr Halbbruder (aus Zorn, weil sie nicht
zur Beerdigung gekommen war?) ihre ca. 2000 Briefe an sie verbrannte.
1913 verarbeitete sie nochmals ihr früheres Leben im Variété
in L'Envers du music-hall (=Die Kehrseite des Variétés).
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 war auch
für Colette ein tiefer Einschnitt: Jouvenel wurde zum Militär eingezogen
(brauchte aber nicht an die Front, sondern bekleidete ständig höhere Posten im
Umfeld der Regierung). Sie selbst schickte im Überschwang der allgemeinen
Kriegsbegeisterung ihre 1913 geborene Tochter samt Gouvernante auf ein Landgut
der Jouvenels und betätigte sich als Krankenschwester, zunächst in Paris, dann
in einem Lazarett bei Verdun. 1915 waren Überschwang und Opferbereitschaft
offenbar auch bei ihr verflogen und sie bereiste das mit Frankreich gegen
Deutschland und Österreich verbündete Italien als Reporterin für Le Matin,
für den sie auch die nächsten Jahre schrieb. Anfang 1917 begleitete sie
Jouvenel nach Rom, der dort auf einer Konferenz Frankreich vertrat. Hier wurde
in ihrem Dabeisein und nach einem Drehbuch von ihr La Vagabonde verfilmt.
Zurück in Paris, begann sie endlich wieder einen neuen
Roman, Mitsou, ou comment l'esprit vient aux filles (=M., oder wie den
Mädchen ein Licht aufgeht), der 1919 erschien. Im selben Jahr wurde sie
Leiterin des literarischen Feuilletons des Matin. 1919/20 verfasste sie
ihren bekanntesten Roman: Chéri (=Liebling), die Geschichte der
letztlich unmöglichen Liebe eines jungen Mannes und einer älteren Frau. Das
Thema lag ihr nahe, denn sie hatte gerade selber eine Affäre mit ihrem
Stiefsohn Bertrand de Jouvenel (geb. 1903) begonnen. Chéri wurde 1921
von ihr und einem Co-Autor zu einem Theaterstück verarbeitet, in dem sie bei
der 100. Aufführung, aber auch später noch des öfteren, selbst die Rolle der
weiblichen Protagonistin spielte.
Inzwischen hatte ihr Mann als Politiker Karriere gemacht,
und auch sie war arriviert: 1920 war sie zum Chevalier de la Légion d’honneur
ernannt worden (1928 wurde sie sogar zum Officier und 1936 zum Commandeur
befördert.) Ihre Ehe allerdings ging in die Brüche, denn auch Jouvenel hatte
sich als untreu erwiesen und verließ sie 1923.
1922 begann sie im Feuilleton des Matin den kleinen
Roman Le Blé en herbe abzudrucken (=noch grünes Getreide [das aus
irgendwelchen Zwängen vor der Reife geschnitten wird]). Er kreist um das Thema
der sexuellen Initiation eines Jugendlichen durch eine ältere Frau und um den
unseligen Zugzwang, in den hierdurch seine jugendliche Freundin gerät. Der
Abdruck musste wegen moralischer Entrüstung vieler Leser der Zeitung
abgebrochen werden. Bei der Buch-Publikation 1923 benutzte die Autorin erstmals
das schlichte „Colette“ als Namen.
1922 und 1929 setzte sie ihrer eigenwilligen naturliebenden
Mutter ein Denkmal in den Romanen La maison de Claudine und Sido.
1925 lernte sie den deutlich jüngeren reichen Perlenhändler
Maurice Goudeket (geb. 1889) kennen, mit dem sie zunächst häufig längere Reisen
unternahm und den sie 1935 heiratete.
Ab 1939 litt sie unter einer fortschreitenden Arthrose der
Hüftgelenke, die ihr das Leben erschwerte und sie zunehmend an ihre neue
Wohnung im Palais Royal fesselte. Ein 1941 gedruckter autobiografischer Text
hieß entsprechend De ma fenêtre (=aus meinem Fenster).
Während der deutschen Besetzung Nordfrankreichs und der
antisemitischen Aktionen der französischen Vichy-Regierung gelang es ihr, ihren
aus einer jüdischen Familie stammenden Mann aus der Haft zu befreien und ihm
beim Untertauchen zu helfen.
1942 erzielte sie einen ihrer größten Erfolge mit dem kurzen
Feuilleton-Roman Gigi (als Buch
erschienen 1944). Er erzählt von der
Heirat einer hübschen, aber mittellosen jungen Halbwaise mit einem wohlhabenden
älteren Mann zur Zeit der Belle Époque und versetzte so, mitten im Zeiten
Weltkrieg, Autorin und Leser zurück in bessere Zeiten.
Nach dem Kriegsende wurde Colette zur (längst auch
wohlhabenden) großen alten Dame der französischen Literatur der ersten
Jahrhunderthälfte. Sie schrieb und publizierte, wurde gelesen und verfilmt,
hielt Vorträge und reiste hin und wieder, meist allerdings zu Kuren um ihre
Arthrose zu lindern. Sie wurde geehrt wie kaum eine Schriftstellerin vor ihr.
Z.B. wurde sie 1945 eines der zehn Mitglieder und 1949 sogar Vorsitzende der
Académie Goncourt, wogegen sich die Académie française noch nicht zu ihrer
Aufnahme durchringen konnte.
Von 1948 bis 1950 erschien in 15 Bänden eine Gesamtausgabe
ihrer Werke, betreut von ihrem Mann Goudeket.
Ihr 80. Geburtstag 1953 war ein nationales Ereignis und
brachte ihr die Beförderung von Commandeur zum Grand Officier der Légion
d’Honneur. Ein pompöses Staatsbegräbnis wurde ihr zuteil, als sie 1954 starb.
Colette verstand es vor allem, Frauengestalten und
Frauenschicksale psychologisch einfühlsam und lebensnah zu beschreiben. Ihr
unkonventioneller Lebensstil schlug sich auch in ihren Werken nieder, insbes.
darin, dass sie sich kritisch mit der Institution Ehe auseinandersetzte und die
Sexualität der Frau nicht tabuisierte.
Guillaume Apollinaire (*26.8.1880 Rom; †9.11.1918 Paris)
Er
gilt heute als wohl bester franz. Lyriker des Jahrhundertbeginns.
Geboren
wurde er (laut Taufurkunde) als Guglielmus Apollinaris Albertus Kostrowitzky in
Rom, erster von zwei Söhnen des Francesco Flugi d'Aspermont, eines hochadeligen
Ex-Offiziers des 1861 aufgelösten Königreichs Neapel, und seiner jungen
Geliebten Angelica (de) Kostrowicka, Tochter eines 1866 nach Rom emigrierten kleinadeligen
polnisch-russischen Ex-Offiziers und einer Römerin.
Seine
Vorschulzeit verlebte er in Rom; seine Schülerjahre verbrachte er (unter dem
Namen Wilhelm de Kostrowitzky) überwiegend in Monaco, wohin die Mutter 1887
umgezogen war, nachdem der Vater 1885 auf Druck seiner Familie das Verhältnis
mit ihr aufgelöst hatte. 1895 wechselte Apollinaire auf ein Gymnasium in Cannes
und 1897 auf eines in Nizza, offenbar aber ohne dort, wie sicherlich geplant,
1898 das baccalauréat abzulegen. In
all diesen Jahren kümmerte sich ein Onkel väterlicherseits, der in Monaco
Geistlicher war, um ihn und seinen jüngeren Bruder Roberto, während die Mutter
sich weiter als Geliebte reicher Männer durchschlug und viel abwesend war.
Apollinaire
war guter Schüler und lernte neben dem Französischen, das ja nicht seine
Muttersprache war, Latein, Griechisch und Deutsch. Warum er das „bac“ nicht
abgelegt hat, ist unbekannt.
Das
Jahr 1898 verlebte er lesend und schreibend in Monaco (wobei er diverse
Pseudonyme ausprobierte, darunter auch schon „Guillaume Apollinaire“). Anfang
1899 zog die Mutter mit ihrem aktuellen Liebhaber und den beiden Söhnen nach
Paris. Den Sommer verbrachte die Familie in Stavelot in Belgien, wo Apollinaire
sich in den Ardennen-Wald verliebte —
sowie in eine Gastwirtstochter, auf die er Gedichte verfasste. Auch seine
ersten Versuche als Erzähler unternahm er hier.
Zurück
in Paris, lebte er schlecht und recht von kleinen Jobs, unter anderem als
„nègre“ (Lohnschreiber) eines arrivierten Romanciers und als Schreibkraft.
Nebenbei verfasste er weiter eigene Texte: ein kurzes Theaterstück (das
angenommen, aber nicht aufgeführt wurde), Gedichte (vor allem an die Schwester
eines Freundes, die ihn aber nicht erhörte), sowie Erzählungen, darunter als
Auftragsarbeit eine pornographische.
Im
Sommer 1901 wurde er von der gebürtigen Deutschen Mme de Milhau für ein Jahr
als Französischlehrer ihrer Tochter eingestellt. Samt seiner jungen englischen
Kollegin Anny begleitete er Mme de Milhau, die Besitzungen in und bei Bad
Honnef geerbt hatte, auf einem längeren Aufenthalt dorthin. Hierbei inspirierte
ihn das Rheinland
— und mehr noch seine unglückliche
Verliebtheit in Anny — zu einer Reihe meist melancholischer Gedichte, die
später z.T. in sein Hauptwerk eingingen, die Sammlung Alcools. Während zweier Urlaube Anfang und Mitte 1902 bereiste er
Deutschland, vor allem den Westen und Süden, von Düsseldorf bis München, aber
auch Berlin, Dresden, Prag und Wien. Diese Reisen verarbeitete er in seinen
Gedichten und Erzählungen sowie in Reise-Impressionen für Pariser Zeitungen.
Nachdem
er 1901 seine ersten zum Druck angenommenen Gedichte noch als „Wilhelm
Kostrowitzky“ gezeichnet hatte, wählte er Anfang 1902 für seine erste gedruckte
Erzählung, L'Hérésiarque, das
Pseudonym „Guillaume Apollinaire“, das er von nun an ständig benutzte.
Seit
seiner Rückkehr nach Paris 1902 arbeitete er als kleiner Bankangestellter. Zwei
Reisen nach London, um Anny zu erweichen, blieben erfolglos.
Neben
seiner Büroarbeit schrieb er Gedichte, Erzählungen, Literaturkritiken und
diverses Journalistisches. Nach und nach fand er Zugang zu mehreren der damals
zahlreichen Pariser literarischen Zeitschriften und befreundete sich mit
diversen Literaten, insbes. Alfred Jarry.
Obwohl
nicht eben Fachmann, aber immerhin ja Bankangestellter, spielte er 1904 den
Chefredakteur einer Zeitschrift für Geldanleger, Le Guide des Rentiers. Im selben Jahr ließ er in einem Feuilleton
die märchenhaft surrealistische, ziemlich misogyne Erzählung L’Enchanteur pourrissant erscheinen (Der faulende Zauberer, i.e.
Merlin), die 1909 als Buch herauskam, vermehrt um einen neuen Anfangs- und
Schlussteil sowie Holzschnitte von André Derain.
1905
lernte er Picasso und Max Jacob kennen, über die er in das Milieu der Pariser
Avantgarde-Maler gelangte und in die Rolle eines Kunstkritikers hineinwuchs.
Wohl nicht nur aus Geldnot schrieb er hin und wieder auch pornographische
Texte, z.B. Les onze mille verges und
Les exploits d'un jeune Don Juan (beide
1907), und betreute er ab 1909 bei einem Verlag die Buchreihe Les maîtres de l'amour, die er mit
ausgewählten Texten von Sade (der zu dieser Zeit noch wenig bekannt war) und
Aretino eröffnete.
1907
begegnete er bei Picasso der Malerin Marie Laurencin, mit der er einige Jahre
liiert blieb, bis sie ihm wegen seiner Macho-Allüren 1912 den Laufpass gab. Das
bekannte Bild La Muse inspirant le poète,
das der „Zöllner“ Henri Rousseau von beiden malte, entstand 1908.
1910
publizierte Apollinaire unter dem Titel L'Hérésiarque
& Cie. eine Sammlung seiner bis dahin verfassten Erzählungen: 23 meist
kurze, oft düster fantastische Texte in der Art von E.T.A. Hoffmann, Nerval,
Poe und Barbey d'Aurevilly. Das Buch wurde für den Prix Goncourt nominiert, bekam ihn aber nicht.
1911
stellte ein Bekannter eine im Louvre gestohlene Büste bei Apollinaire ab. Als
dieser deren Herkunft erfuhr und versuchte, die Rückgabe einzufädeln, wurde er
als Hehler verdächtigt und verhaftet. Obwohl er —
nicht zuletzt dank einer Unterschriftenaktion vieler Literaten und Künstler — nach fünf Tagen freikam, war er traumatisiert und fühlte
sich als Ausländer diskriminiert.
1912,
nachdem ihm der Schock der Verhaftung und der Bruch mit Marie Laurencin noch
einige gelungene Gedichte eingegeben hatten, beschloss er, die besten seiner
lyrischen Texte zu einem Sammelband zu komponieren, der Eau-de-vie (Schnaps) heißen sollte. Auf den schon fertigen
Druckfahnen änderte er den Titel in Alcools
und tilgte kurz entschlossen die gesamte Interpunktion (was damals zwar
nicht völlig neu war, aber erst in den 20er Jahren Schule machen sollte). Die
offiziöse Kritik von 1913 stieß sich so sehr am ungewohnten Fehlen der
Interpunktion, dass sie das ganze, teils noch dem Symbolismus verpflichtete,
teils dezidiert modernistische Bändchen negativ bewertete, als es im April
erschien. Apollinaire, der sich von ihm einen Durchbruch erhofft hatte, war
enttäuscht. Er reagierte mit literatur-, aber auch kunsttheoretischen Artikeln,
worin er aggressiv die neuen Formen verteidigte. Dies trug ihm Gegenangriffe
ein, die wiederum ihn provozierten und bis zu Duellforderungen trieben, die
aber folgenlos blieben. Den epochemachenden Erfolg des Bändchens sollte er
nicht mehr erleben.
Kurz
vor Alcools (März 13) hatte er eine
Sammlung von Zeitschriftenartikeln über Kunst und Künstler publiziert, die
schlicht Méditations esthétiques
heißen sollte, vom Verlag aber den zugkräftigeren Obertitel Les peintres cubistes erhielt und den
neuen Begriff etablieren half.
Wie
immer, schrieb er auch Erzählendes in diesem Zeitraum, insbes. die Langnovelle Le Poète assassiné (die erst 1916,
zusammen mit einigen kürzeren Novellen in Buchform herauskam) und Les trois Don Juan.
Im
Mai 1914 beteiligte er sich mit drei von ihm gesprochenen Gedichten aus Alcools an der Aufnahme einer
Schallplatte mit symbolistischer Lyrik. Kurz hiernach begann er mit der
Abfassung von „idéogrammes“ (Bildgedichten, die er später „calligrammes“
nannte).
Als
am 1. August 1914 der Krieg ausbrach, ließ auch Apollinaire sich von der
allgemeinen Begeisterung anstecken und feierte den Krieg literarisch. Er
meldete sich sofort als Freiwilliger, wurde aber nicht genommen, weil er ja
Ausländer war, nämlich Russe aufgrund seines Großvaters, der aus dem damals russischen
Teil Polens stammte. Erst ein zweiter Anlauf im Dezember hatte Erfolg. Er wurde
nun sogar zu einem Offzierslehrgang zugelassen und beantragte seine
Einbürgerung samt einer Namensänderung, die sein Pseudonym zu seinem
offiziellen Namen machen sollte. Während des Lehrgangs hatte er offenbar genug
Zeit zum Schreiben, vor allem von Liebesbriefen und –gedichten. Diese galten
zunächst einer gewissen Louise de Coligny-Châtillon, in die er sich,
überwiegend unglücklich, kurz vor seiner Einberufung verliebt hatte; sie gingen
dann aber mehr und mehr an eine junge Algerien-Französin, die er auf der
Rückfahrt von einem enttäuschenden Treffen mit Louise im Zug kennengelernt
hatte (und mit der er sich im Sommer 15 brieflich und auf einem Besuch bei
ihrer Familie Silvester 15/16 auch persönlich verlobte).
Im
Frühsommer 1915 kam Apollinaire an die Front, zunächst zur Artillerie, wo er
etwas hinter der Linie war und auch Zeit zum Schreiben fand. Im November durfte
er ganz nach vorn, war aber nach kurzer Faszination desillusioniert vom Dreck
und Elend der Schützengräben. Im März 16, wenige Tage nach Vollzug seiner
Einbürgerung und Namensänderung, verletzte ihn ein Granatsplitter an der
Schläfe. Er musste mehrfach operiert werden, wurde aber auch mit einer
Auszeichnung bedacht.
Während
des anschließenden, gut einjährigen Genesungsurlaubs versuchte er — mit bandagiertem Kopf und in Uniform (denn er war ja
offiziell Soldat) — sein altes Pariser Leben wieder aufzunehmen. Dies gelang
trotz seiner geschwächten Gesundheit und der Kriegsverhältnisse relativ gut. Er
machte vor und nach dem Kriegsanfang begonnene Werke fertig, z.B. die
Gedichtsammlung Calligrammes oder den
Erzählband Le Poète assassiné.
Daneben schrieb er das surrealistische Stück Les mamelles de Tirésias (Auff. Juni 17, später von Francis Poulenc
zur Oper verarbeitet, Premiere 1947) und hielt Vorträge über die
zeitgenössische Lyrik. Hierbei konnteer feststellen, dass er inzwischen etwas
galt im Pariser Literaturbetrieb. Seine Verlobung löste er Ende 16 auf mit der
Begründung, er sei erschöpft und habe sich sehr verändert.
Halbwegs
genesen, verfasste er im Frühjahr 17 den Roman La Femme assise. Im Juni wurde er reaktiviert, konnte aber in Paris
bleiben, wo er Dienst in der Zensurabteilung des Kriegsministeriums tat. Aus
dieser Zeit stammt das künstlerische Manifest L'esprit nouveau et les poètes.
Im selben Jahr gründete er zusammen mit Max Jacob und Pierre Reverdy die
Avantgarde-Zeitschrift Nord-Sud, die Beiträge zu Kubismus und
Surrealismus enthielt, aber schon 1918 wieder einging.
Im
Januar 18 musste Apollinaire mit einer Lungenentzündung mehrere Wochen in eine
Klinik. Hiernach pflegte ihn eine junge Frau aus dem Künstlermilieu, Jacqueline
Kolb, mit der er sich im Mai kurzentschlossen verheiratete. Ob „la jolie rousse“
(die hübsche Rothaarige), wie er sie in einem Gedicht besang, die Frau fürs
Leben war, die ihn endlich von seinem quälerischen Selbstbild eines ungeliebten
„mal-aimé“ hätte befreien können, steht dahin, denn im November erlag er der
Virus-Grippe, die in Europa grassierte (und mehr Menschen dahinraffte als der
ganze Erste Weltkrieg). Er wurde beigesetzt auf dem Friedhof Père Lachaise.
Im
Nachlass fanden sich zahlreiche Gedichte und Prosa-Fragmente, die in den
folgenden Jahren gedruckt wurden und die seine Position in der
Literaturgeschichte festigten.
Roger Martin du
Gard (* 23.3.1881 in Neuilly bei Paris; †
22.8.1958 in Bellême/Normandie)
Er wurde in der Zwischenkriegszeit
sehr geschätzt und 1937 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Heute scheint er fast
vergessen.
Martin du Gard stammte von beiden
Elternteilen her aus katholisch-konservativen Juristenfamilien. Er wuchs auf in
dem gutbürgerlichen Pariser Vorort Neuilly und besuchte zunächst eine
katholische Schule, dann das renommierte Gymnasium Condorcet (wo er den
späteren Verleger Gaston Gallimard als Klassenkameraden hatte). Seine
Schulleistungen dort waren schlecht, denn statt zu lernen, las er wahllos
vielerlei im Lehrplan nicht Vorgesehenes und schrieb. Er wurde deshalb vom
Vater in ein Pariser Privatinternat gegeben, wo er durch einen tüchtigen Lehrer
eine strenge, aber wirksame Förderung erfuhr, so dass er schließlich auf das
katholische Gymnasium Janson de Sailly wechseln und das Baccalaureat ablegen
konnte.
Inzwischen hatte
er beschlossen, Romancier zu werden nach dem Vorbild vor allem Leo Tolstois,
dessen historischer Familienroman Krieg und Frieden ihn beeindruckt
hatte. Er begann deshalb 1898 ein Literatur-Studium an der Sorbonne, brach
dieses aber ab und bewarb sich 1900 erfolgreich für die École des chartes, die
traditionsreiche Pariser Hochschule für Archivare und Bibliothekare. Hier
erhielt er ein fundierte Ausbildung zum Historiker, die sein späteres Schaffen
prägte.
Nachdem er 1902/03 zwischendurch den
Militärdienst abgeleistet hatte, beendete er 1906 sein Studium mit Diplom und
Doktorat. Anschließend heiratete er (trotz latenter homosexueller Neigungen),
machte eine längere Hochzeitsreise nach Nordafrika und wurde 1907 Vater einer
Tochter. Einem Broterwerb nachgehen musste er dank ausreichendem eigenem
Vermögen nicht. Vielmehr schriftstellerte er, abwechselnd in Paris oder der
Ferienvilla seiner Eltern und vor allem im Schlösschen seiner Schwiegereltern
in Bellême, das er später (1925) kaufte und zu seinem Lebensmittelpunkt machte.
Nach ersten
Schreibversuchen schon als Schüler hatte M. du G. in seiner Studienzeit mehrere
Werke verfasst, die aber ungedruckt geblieben waren: 1901 den Roman La
Chrysalide, 1903 die beiden Novellen in Dialogform Jean Flers und La
Méprise sowie anschließend den Dialogroman Une vie de saint, den er
1906 halb fertig aufgab.
Sein erstes
publiziertes Werk wurde 1908 der formal konventionellere autobiografische Roman
Devenir !, in dem sich ein junger Notar zum Autor entwickelt. Als
Privatdruck publiziert, erzielte es zwar keinen Verkaufserfolg, bekam jedoch
einige positive Kritiken. Erstes von einem Verlag angenommenes Werk M. du G.s
war 1910 die Erzählung L’Une de nous.
1910 kehrte er
zurück zu der Form, mit der er schon länger experimentiert hatte und die ihm
der Moderne besonders angemessen schien: einer Montage von Dialogen sowie auch
Briefen, Tagebuchpassagen u.ä. mit kurzen, verbindenden auktorial erzählenden
Zwischentexten. In dieser Manier schrieb er den Roman Jean Barois, wo es
vor dem historischen Hintergrund der Dreyfus-Affäre (1894-1906) und der heiß
umstrittenen Trennung von Staat und Kirche (1905) um den Konflikt zwischen
szientistischem Agnostizismus und traditioneller Frömmigkeit geht, einen
Konflikt, der viele bürgerliche Zeitgenossen und auch den Autor selber plagte,
der gegen seine katholische Erziehung ankämpfend zum Atheisten mutiert war. Von
einem ersten Verleger (Grasset) abgelehnt, kam das Werk 1913 dank Schulfreund
Gallimard auf den Schreibtisch von André Gide, der beeindruckt war und es für
den Verlag der jungen Zeitschrift La Nouvelle Revue française annahm.
Der Jean Barois hatte dann trotz oder auch wegen seiner
avantgardistischen Form beachtlichen Erfolg und verschaffte seinem Autor
Anschluss an den Kreis um Gide, Jean Schlumberger und Jacques Copeau.
1912 mündete die
Vorliebe M. du G.s für die Dialogform in einem genuinen Theaterstück: der im
bäuerlichen Milieu spielenden Farce Le Testament du Père Leleu. Das
Stück wurde 1914 von dem zum Freund gewordenen Regisseur Copeau im soeben
gegründeten Pariser Theater Le Vieux-Colombier inszeniert, kam gut an
und wurde bis in die 30er Jahre hinein häufig gespielt. (Eine weitere
bäuerliche Farce, Le Gonfle, verfasst 1922-24, blieb unaufgeführt.)
Die Kriegsjahre
verbrachte M. du G. zwar bei einer Logistikeinheit in der Etappe, war aber
dennoch erschüttert beim Anblick Zeuge der Verwüstungen und des menschlichen
Elends im Frontbereich. Immerhin konnte er zwischendurch zwei Stücke von Anton
Tschechow für das franz. Publikum bearbeiten. Im ersten Nachkriegsjahr
(1918/19) war er Soldat im Rheinland, das von Frankreich besetzt worden war.
Zurück in Paris,
half er Copeau das Théâtre du Vieux-Colombier wiederzueröffnen.
1920 – es war die
Epoche der langen „romans fleuve“ – entwarf
er den Plan für einen vielbändigen Familienroman mit dem Titel Les Thibault,
dessen Handlung von 1905 bis in die jeweilige Schreib-Gegenwart reichen sollte
(letztlich bis ca. 1940!), schließlich aber nur die Zeit bis 1918 überspannte.
Die Hauptrollen in dem formal eher konventionellen Werk spielen der
großbürgerliche und autoritär-konservative Witwer Oscar Th. sowie seine beiden
Söhne Antoine, der zu Beginn schon als tüchtiger junger Arzt arbeitet, und
Jacques, der anfangs noch 14jähriger Schüler ist. Der die Handlung tragende
Generations- und Mentalitäten-Konflikt hat als Kontrahenten vor allem Oscar,
den hypermoralisch-katholischen, z.B. die Sexualität tabuisierenden Patriarchen
alter Schule, und den aufsässigen Jacques, der vollends rebelliert, als er
wegen seiner jugendlichen Schwärmerei für einen Klassenkameraden und einem
Ausreißversuch mit ihm als homosexuell gefährdet betrachtet und in ein
Erziehungsheim gesteckt wird. Nachdem er dank dem stets vermittelnden Antoine
daraus freigekommen ist, entwickelt er sich später zum linken Intellektuellen
und pazifistischen Aktivisten. Die Handlung schließt, nachdem die beiden
Kontrahenten, Vater Oscar und Rebell Jacques, schon vorher gestorben bzw.
umgekommen sind, mit dem tragischen Ende auch des pflichtbewussten
Philanthropen Antoine, der immer wieder zwischen Sohn und Vater vermittel hat,
im Krieg Opfer eines Giftgasangriffs geworden ist und sich, unheilbar leidend,
das Leben nimmt. Die schließlich
acht Bände des Romans sind: Le Cahier gris (1922), Le Pénitencier
(1922), La Belle Saison (1923), La Consultation (1928), La
Sorellina (1928), La Mort du père (1929), L’Été 1914 (1936)
und Épilogue (1940). Den 1930 fast fertiggestellten
ursprünglichen Band 7, L’Appareillage, vernichtete M. du G., als er,
auch durch einen schweren Autounfall zusammen mit seiner Frau (Jan. 1931), in
eine Krise geraten war und die Arbeit an den Thibaults einzustellen
gedachte.
Da gleich die
ersten Bände des Romans den Zeitgeschmack getroffen hatten und sich gut
verkauften, konnte M. du G. 1924 von seinem Schwiegervater das Schlösschen Le
Tertre in Bellême erwerben und sich aus dem ungeliebten Pariser
Literaturbetrieb dorthin zurückziehen.
Während des
Stillstandes der Thibaults war er nicht völlig inaktiv. 1930 schrieb er
die um das Inzest-Motiv kreisende Rahmen-Erzählung Confidence africaine.
1931 verfasste er das „drame moderne“ Un Taciturne, dessen Protagonist
Selbstmord begeht, als er sich seiner Homosexualität bewusst wird. Das Stück
wurde zwar aufgeführt, kam aber beim Publikum nicht an und blieb der letzte
Versuch seines Autors als Dramatiker. 1932 erzielte M. du G. einen schönen
Erfolg mit dem satirischen Roman La Vieille France, der einen
Dorfbriefträger auf Stationen seiner Tour begleitet.
1933 machte er
sich wieder an sein großes Werk, allerdings nach einem neuen, stark verkürzten
Konzept. 1936 kam in drei Teilen der Band L’Éte 1914 heraus. Er
beeindruckte als eine scharfsichtige Analyse der Situation vor dem Ausbruch des
Ersten Weltkriegs und war ein großer Erfolg. Zweifellos waren es dieser Erfolg
und die pazifistische Grundtendenz von L’Été, die 1937, in einem Moment
erneut wachsender Kriegsgefahr in Europa, G. du M als nobelpreiswürdig
erscheinen ließen.
Der
Kriegsausbruch 1939 überraschte ihn auf einer längeren Karibik-Reise; über die
USA gelang ihm schließlich die Heimkehr. Bei Beginn des deutschen „Blitzkriegs“
1940 flüchtete er aus Bellême und ließ sich in Nizza nieder (das wenig später
jedoch von Italien annektiert und 1943 von deutschen Truppen besetzt wurde).
In Nizza begann
er einen neuen Roman, der wiederum bis in die unmittelbare Gegenwart führen
sollte: Les Mémoires du lieutenant-colonel Maumart. Das Werk kam jedoch
über die weit vor 1900 liegende Jugendzeit des latent homosexuellen fiktiven
Protagonisten nicht hinaus und wurde erst postum als Fragment samt zusätzlichen
Entwürfen gedruckt.
In der
Nachkriegszeit blieb es still um M. du G. Schon im Krieg hatte er es
unterlassen, sich politisch zu engagieren und auch später widerstrebte ihm das.
So geriet er völlig ins Abseits des damals stark politisierten Pariser
Literaturbetriebes, zumal er auch, wie früher, wieder abseits in Bellême
wohnte. Da darüber hinaus seine bisherigen Themen aufgrund des tiefen
historischen Einschnittes nach 1940 obsolet geworden waren, beschäftigte er
sich nur noch mit kleineren Projekten, z.B. einer Romanübertragung aus dem
Amerikanischen, dem Drehbuch für eine Verfilmung der Anfangsbände der Thibaults
oder einem Buch über seinen 1951 verstorbenen Freund André Gide.
Immerhin erlebte
er noch das Erscheinen einer Gesamtausgabe seiner Werke mit einem höchst
anerkennenden Vorwort von Albert Camus in der renommierten Klassikerreihe
Bibliothèque de la Pléiade (1955).
2003 bewirkte
eine Fernsehserie nach den Thibaults
eine kleine M. du G.-Renaissance in Frankreich.
Louis Pergaud (* 22. 1.1882
in Belmont/Dép. Doubs, † 8.4.1915 bei
Marchéville-en-Woëvre/Dép. Meuse)
Er ist einer der
nicht wenigen Autoren seiner Generation, die vielleicht zu Größerem berufen
waren, aber jung im Ersten Weltkrieg umgekommen sind.
Pergaud
wuchs auf in seinem Geburtsort Belmont nahe Besançon als einziges Kind eines
Dorfschulmeisters und einer Bauerntochter. Mit 16 (1898) bestand er mit Glanz
die Aufnahmeprüfung für das Lehrerseminar in Besançon, das er, ebenfalls sehr
gut benotet, 1901 verließ. Anschließend wurde er, mit knapp 20, Dorfschullehrer
in Dunes (Dép. Doubs). Schon ein Jahr später wurde er zum Militärdienst in
Belfort eingezogen, und zwar, da ihm die Ausbildung am Seminar den
Abiturientenstatus verschafft hatte, als
potenzieller Anwärter zum Offizier der Reserve. Danach (1903) war er wieder
Lehrer in Dunes und heiratete mit gerade 21 (seine Eltern hatte er mit 18 kurz
nacheinander verloren), eine Kollegin aus einem Nachbardorf.
Inzwischen hatte
er zu schreiben begonnen, und zwar, wie es damals bei jungen Autoren fast die
Regel war, zunächst Gedichte. 1904 ließ er sie gesammelt unter dem Titel L’Aube
(=Morgenröte) drucken, unterstützt von dem wenig älteren Belforter Freund und
Lyrikerkollegen Léon Deubel.
Als 1905 in
Frankreich Kirche und Staat getrennt und das Primarschulwesen der Aufsicht der
Kirche weitgehend entzogen wurde, wurde Pergaud versetzt in ein anderes Dorf
des Départements, Landresse. Hier brachte ihn seine Weigerung, traditionell im
Sinne der katholischen Kirche zu unterrichten und auch privat Frömmigkeit zu
demonstrieren, in Konflikt mit den konservativen Elementen des Dorfes.
Nachdem er sich
offenbar rasch mit seiner Frau auseinander gelebt, aber durch ein nächstes
Lyrikbändchen, L’Herbe d’avril (=Aprilgrün, 1906), sein Bild von sich
selbst als Autor bestätigt hatte, kündigte er 1907 den Schuldienst und ging
nach Paris (gefolgt von seiner Geliebten, die er nach der 1908 vollzogenen
Scheidung 1910 heiratete).
In Paris
arbeitete er zunächst als Schreibkraft und dann wieder als Lehrer. Vor allem
aber schriftstellerte er, nunmehr jedoch, da seine Lyrikbändchen kein
nennenswertes Echo gefunden hatten, fast ausschließlich als Erzähler in einem
dem Naturalismus verpflichteten Stil.
Den Durchbruch
erzielte er 1910 mit den acht Tiererzählungen des Bandes De Goupil à Margot (=Von
[Fuchs] Reineke zu [Elster] Margot). Der eigenwillige makabre Realismus der
meist tragisch endenden Geschichten verschaffte ihm den renommierten Prix
Goncourt. 1911 ließ er in ähnlicher Manier La Revanche du corbeau (=die
Rache des Raben) folgen, 1913 Le Roman de Miraut, chien de chasse (=der
Roman vom Jagdhund Miraut).
Dazwischen, 1912,
kam sein längerfristig bekanntestes Werk heraus: La Guerre des boutons,
roman de ma douzième année (=der Krieg um die Knöpfe. Ein Roman aus meinem
12. Lebensjahr). Der in Pergauds Heimatprovinz spielende Roman schildert mit
viel vordergründigem Witz und hintergründigem Ernst den grotesk-makabren
„Krieg“ der Jungen zweier benachbarter Dörfer, die den jeweils Besiegten zu
deren Demütigung und zur eigenen Bereicherung die Knöpfe abschneiden. (Der
Titel Der Krieg der Knöpfe, den die deutsche Übersetzung trägt, ist
ungeschickt, denn er suggeriert ja einen Krieg zwischen Knöpfen und nicht um
sie.) La Guerre des boutons thematisiert nicht nur allgemein die
menschliche Neigung zu Krieg und Gewalt, sondern speziell auch die Spannungen
zwischen dem klerikalen und dem laizistischen Lager im Frankreich der Zeit.
Der Roman erlebte
mehr als 30 Auflagen bis in die jüngste Zeit hinein und wurde mehrfach
verfilmt, und zwar 1936, 1962 und 2011 in Frankreich und 1994 in einer
englischsprachigen Version.
Bei Beginn des
Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde Pergaud als Unterleutnant eingezogen. Im
Stellungskrieg an der festgefahrenen deutsch-französischen Front wurde er bei
einem erfolglosen Angriffsversuch seiner Kompanie verwundet, offenbar von
deutschen Soldaten geborgen und in ein Lazarett geschafft, dort jedoch kurz
darauf bei einem Flächenbeschuss durch französische Artillerie getötet.
Postum erschienen
einige weitere Erzählungen um Tiere sowie um Menschen im Ambiente der
ländlichen Heimatregion des Autors.
Sein Andenken wird von einer literarischen Vereinigung mit Sitz in Paris gepflegt: Les Amis de Louis Pergaud.
Jean Giraudoux (*29.10.1882 Bellac/Limousin; †31.1.1944 Paris).
Er
wird z.Zt. zwar kaum mehr gelesen und gespielt, ist aber ein für die
Entwicklung des franz. Theaters im 20. Jh. sehr bedeutsamer Autor.
Er
wuchs auf als Sohn eines kleinen Finanzbeamten in verschiedenen
südwestfranzösischen Kleinstädten. Dank eines Begabten-Stipendiums konnte er
das Gymnasium in Châteauroux besuchen und danach die Vorbereitungsklassen (classes préparatoires) des Pariser
Lycée Lakanal absolvieren, wo der bekannte Germanist Charles Andler sein
Interesse für Deutschland weckte. Anschließend bestand er die Aufnahmeprüfung
für die École Normale Supérieure, die Elitehochschule für die Lehramtsfächer,
die er 1905 als Jahrgangsbester mit dem diplôme
d'allemand abschloss. Es folgte ein längerer Deutschlandaufenthalt als
Hauslehrer bei einer reichen französischen Familie in München. Danach meldete
er sich jedoch nicht, wie zunächst wohl geplant, zur Rekrutierungsprüfung (agrégation) für das Amt des
Gymnasialprofessors, sondern ging als Französischlektor nach Harvard in die
USA.
Nach
seiner Rückkehr 1907 gab Giraudoux die potenzielle Gymnasialkarriere endgültig
auf und lebte in Paris schlecht und recht von seiner Feder. Insbesondere
schrieb er Erzählungen, die 1909 als Provinciales
gesammelt herauskamen und ihm erste Anerkennung brachten. 1910 wurde er wenig
belasteter Privatsekretär des Zeitungsmagnaten Bruneau-Varilla und publizierte
in dessen Blatt Le Matin
Literaturkritiken sowie auch Erzählungen, die 1911 in Buchform erschienen als L’École
des indifférents (=die Schule der Gleichgültigen).
Da
der Kontakt zum Journalismus sein Interesse für Politik geweckt hatte, bewarb
er sich 1911 für den diplomatischen Dienst und wurde in die Ausbildung
aufgenommen. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde er Soldat. Er wurde
mehrfach verwundet sowie für Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet. 1917
publizierte er sein Kriegstagebuch als Lettres
pour une ombre (=Briefe für einen
Schatten). Die letzten Kriegsmonate verbrachte er als Ausbilder in
Portugal, das rasch noch Deutschland den Krieg erklärt hatte und seine Armee
modernisierte.
Von
dort zurück, beendete und publizierte Giraudoux 1918 einen ersten Roman, Simon le pathétique. In den nächsten 20 Jahren
führte er ein Doppelleben als Diplomat (wobei er aber meist in Paris im
Außenministerium tätig war) und als Autor.
Als
dieser verfasste er zunächst weitere Romane, z.B. Elpénor (1919), Adorable
Clio (1920), Suzanne et le Pacifique (1921), Églantine (1927),
Les aventures de Jérôme Bardini (1930).
1928
nahm seine Autorenkarriere eine entscheidende Wendung: Er verarbeitete seinen
in Deutschland spielenden Roman Siegfried
et le Limousin von 1922 zu einem Stück, das als Siegfried von dem bekannten Regisseur Louis Jouvet inszeniert wurde
und als ein Signal zur Versöhnung zwischen Deutschen
und Franzosen großen Erfolg hatte.
Jouvet animierte nun Giraudoux zu weiteren Stücken, die denn auch in Serie
folgten: Amphitryon 38 (1929), ein
heiteres Stück um die Zeugung des Herkules durch den als Amphitryon maskierten
Jupiter; Judith (1931); Intermezzo (1933); La Guerre de Troie n'aura pas lieu (1935), ein Stück, das die
Kriegsängste vieler Franzosen angesichts der Hitlerschen Aufrüstung und der
wachsenden Destabilisierung Europas verarbeitet und das, nachdem es
ursprünglich optimistisch enden sollte, pessimistisch ausgeht; Électre (1937), das die politische
Polarisierung Frankreichs nach dem Wahlsieg der Volksfront vom Sommer 1936
spiegelt und in dem die unversöhnliche Électre die dogmatisch-kompromisslosen
Kommunisten inkarniert, die, wie der Autor befürchtet, das von außen bedrohte
Land durch ihre Unnachgiebigkeit lähmen und verteidigungsunfähig machen; Ondine (1939), ein märchenhaftes,
trauriges Stück, das die Ängste und Verdrängungswünsche vieler Franzosen kurz
vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu reflektieren scheint und - wie viele der
Werke des Autors - die tragische
Verquickung von Nähe und Distanz im Verhältnis der Franzosen zu Deutschland
verdeckt thematisiert.
Nach
Kriegsbeginn wurde Giraudoux zum commissaire
général à l'Information ernannt, einer Art Propaganda-Minister. Im Gefolge
des deutschen Angriffs im Mai 1940 und der Etablierung des Pétain-Regimes im
Juni zog er sich mehr und mehr ins Private zurück.
In
der relativen Normalität, die trotz der deutschen Besatzung von Herbst 1940 bis
etwa Ende 1943 in Frankreich herrschte, publizierte er eine Sammlung von
Vorträgen und Essais und schrieb weitere Stücke: Sodome et Gomorrhe, L'Apollon
de Bellac, La Folle de Chaillot
und Pour Lucrèce. Letzteres wurde
1943 sogar aufgeführt, während La Folle
de Chaillot, eine bitter-melancholische Satire auf das Treiben der
Spekulanten und Geschäftemacher im besetzten Paris, erst postum 1945 auf die
Bühne kam.
Anfang
1944 starb Giraudoux an einer Lebensmittelvergiftung.
Während
sein Romanwerk auch zu seinen Lebzeiten nur mäßige Geltung erlangt hat, war
sein Theater zwei bis drei Jahrzehnte lang äußerst erfolgreich. Es hat vor
allem wegen seiner Sprache gewirkt, die in einer unverwechselbaren Mischung
Witz und Tiefsinn, Banalität und Poesie vereint und spätere Dramatiker, z.B.
Jean Anouilh, stark beeinflusst hat.
(Zu den Stücken La
Guerre de Troie und Électre vgl. meine
1996 als Vortrag entstandene Studie „Alte Stoffe – neuer Sinn“ in: G. P., Interpretationen, Heidelberg:
Universitätsverlag C. Winter, 1997). Hieraus entnommen sind im Folgenden die
Einleitung und die Giraudoux betreffenden Passagen:
Antikisierende, also
antike, meist mythologische Stoffe gestaltende Stücke tun zwar so (gemäß der
Konvention historischer Fiktionen generell), als würden sie Historie
vergegenwärtigen, in Wahrheit aber ist es umgekehrt: sie historisieren
Gegenwart. D. h. nur scheinbar stellen sie ein längst vergangenes
Geschehen dar, und nur scheinbar zeigen sie Konflikte und Probleme legendärer
Personen. Tatsächlich aber spiegeln sie aktuelles Geschehen, verarbeiten sie
aktuelle Konflikte und Probleme. Mit anderen Worten: antikisierende Stücke
behandeln, ganz wie andere literarische Werke auch, die Realität der eigenen
Entstehungszeit, diejenige Realität, die den Autor umgab, als er den Text
konzipierte, und die, wie er annehmen musste, nicht nur ihn bedrängte, sondern
auch sein potenzielles erstes Publikum.
Wenn
es aber zutrifft, dass antikisierende Stücke historisierend verkleidete
Spiegelbilder von Realität der Entstehungszeit sind und dass sie vom
zeitgenössischen Publikum letztlich auch als solche Spiegelbilder erkannt
werden sollen, dann muss die Handlung jeweils deutliche Analogien zu aktuellen
Geschehnissen zeigen und müssen die Figuren in deutlicher Weise zeitgenössische
Personen und/oder Personengruppen verkörpern.
Dass
dies in der Regel so ist und wie dies aussehen kann, sei im Folgenden gezeigt
am Beispiel von vier französischen Stücken, die Stoffe aus der griechischen
Antike gestalten, in Wahrheit aber die Realität ihrer Entstehungszeit spiegeln,
nämlich die Realität der 30er und 40er Jahre in Frankreich. Es sind Jean Giraudoux' La Guerre de Troie n'aura pas lieu und Électre, Jean-Paul Sartres Les
Mouches und Jean Anouilhs Antigone.
(Die beiden letzteren s.u. bei Sartre und Anouilh)
Ich verfahre
chronologisch und beginne mit dem im Frühsommer 1935 verfassten und im Herbst
uraufgeführten La Guerre de Troie n'aura
pas lieu. Wie der Titel sagt, benutzt das Stück den Troja-Stoff, der sich
vor allem mit dem Namen von Homer verbindet, der in seiner Ilias die Vorgeschichte des Kriegs und natürlich diesen selber
dargestellt hat, und zwar aus griechischer Sicht. Giraudoux nun macht sich
quasi den Spaß, eine Vorgeschichte aus trojanischer Sicht zu erfinden; und mit
der witzig-paradoxen Formulierung seines Titels suggeriert er die Idee, dass
ein nicht mehr ungeschehen zu machender Krieg womöglich doch noch abgewendet
werden kann. Wirklich zeigt die Handlung des Stücks die hartnäckigen Bemühungen
des Trojaners Hector, einen Kampf zwischen Griechenland und Troja im letzten
Moment zu verhindern – Bemühungen, die der Autor seinem zeitgenössischen Publikum
als offenbar nötiges Vorbild vorführt.
Doch gehen wir
aus von der globalen Deutungshypothese, dass Handlung und Figuren des Stücks
die Realität der Entstehungszeit, d. h. französische Verhältnisse von 1935
spiegeln.
Der Schauplatz
der Handlung, Troja, wäre dann das Frankreich der Zeit; die Trojaner, die das
Gros der handelnden Figuren stellen, wären die Franzosen. Wer aber wären die
Griechen, die offenbar Trojas Erzfeinde und potentielle Kriegsgegner sind?
Sieht man die Geschichte jener Jahre, so kommen nur die Deutschen in Frage, von
denen erstmals nach dem Ersten Weltkrieg wieder Kriegsgefahr ausging für
Frankreich. Denn Mitte März 35 brach der zwei Jahre vorher zum „Führer“
avancierte Hitler eklatant den Versailler Vertrag und führte die Allgemeine
Wehrpflicht wieder ein. Dieser Vertragsbruch war ein Schock für die Franzosen.
Von der Regierung wurde er so ernst genommen, dass sie noch im Mai einen
Beistandspakt mit Russland schloss; und auch Giraudoux reagierte darauf: eben
mit La Guerre de Troie. Liest man das
Stück im Licht der Deutungshypothese, dass die kriegsbereiten Griechen die
Deutschen verkörpern, so findet man viele Textdetails, die dies bestätigen, und
zwar so augenfällig, dass nicht nur das zeitgenössische Publikum dies sah,
sondern auch kaum ein Interpret daran gezweifelt hat.
Der Streitpunkt
zwischen den Trojanern und den Griechen des Stücks ist Hélène, die von den
Griechen zurückverlangt wird. Was aber war der große Streitpunkt zwischen
Franzosen und Deutschen, und was verlangten diese zurück? Das war vor allem
Elsass-Lothringen, d. h. jene damals deutschsprachigen Gebiete links des
Ober-Rheins, die 1871 zurückgekommen waren an Deutschland, doch 1918
reannektiert worden waren von Frankreich. Tatsächlich (aber das ist den
Interpreten bisher offenbar entgangen) gibt es viele Parallelen zwischen der
Hélène Giraudoux' und Elsass-Lothringen bzw. den Elsässern und Lothringern der
Zeit. Eine erste Parallele ist die folgende: In den Augen der Griechen wurde
Hélène vor kurzem von den Trojanern geraubt und muss zurückgeholt werden,
wogegen die Trojaner glauben, sie sei der Attraktion des schönen Pâris gefolgt
und habe sich ihm enthusiastisch hingegeben. Ganz ähnlich war in den Augen der
Deutschen das kürzlich reannektierte Elsass-Lothringen widerrechtlich von
Frankreich geraubt worden, und Hitler forderte die Gebiete lautstark zurück;
wogegen die Franzosen glaubten, die Elsass-Lothringer seien, auch wenn sie
ungefragt annektiert worden waren, nur zu gern der Attraktion der überlegenen
französischen Kultur und Lebensart gefolgt, der sie sich begeistert zugewendet
hätten.
Weitere
Parallelen: Die Hélène Giraudoux' ist sichtlich nicht ungern in Troja, wo sie
sich von vielen Seiten umworben sieht. In ihrem tiefsten Wesen aber ist sie
eine Fremde (eine blonde übrigens), die jederzeit nach Griechenland zurückgehen
könnte. Ähnlich sahen viele Franzosen der Zeit die Elsass-Lothringer. Man
meinte zwar, dass sie lieber zu Frankreich gehörten, empfand sie aber zugleich
– sie sprachen ja Deutsch unter sich – als irgendwie fremd und auch als
unsichere Kantonisten, denen zuzutrauen war, dass sie ohne Zögern wieder
Deutsche würden, wenn sie dies für vorteilhaft hielten – so wie gerade im
Januar 35 die Saarländer per Volksabstimmung beschlossen hatten zurückzukehren
in das im Aufschwung befindliche Deutschland.
Weiter: Hélène
wird von den Chauvinisten und Militaristen in Troja zum nationalen Symbol
überhöht, dessen Verlust um jeden Preis, und sei es Krieg, verhindert werden
muss; für die Realpolitiker und Pazifisten dagegen ist sie eine konkrete
Person, die man, wenn sie selber zustimmt, um des Friedens willen
zurückschicken sollte. Ähnlich sah die nationalistische französische Rechte der
Zeit in Elsass-Lothringen das Symbol
für Frankreichs Sieg im Ersten Weltkrieg, Gebiete, die man nie zurückgeben
durfte, ganz gleich, was die konkreten Elsass-Lothringer selbst vielleicht
wünschten. Für zahlreiche Linke dagegen war Elsass-Lothringen weniger ein
Glaubenssatz als nur ein Element im deutsch-französischen Verhältnis, Gebiete die
man für einen dauerhaften Frieden notfalls hinzugeben bereit gewesen wäre,
zumal wenn eine eventuelle Volksabstimmung in diesem Sinne ausgegangen wäre.
Eine letzte
Parallele: Hélène wird angefleht von Andromaque, sie möge ein Liebesbekenntnis
zu Pâris und damit zu Troja ablegen, weil nur dann ein Krieg um sie einen Sinn
haben könnte für die Trojaner. Hélène aber ist nur zu einer Sympathiebekundung
bereit und nicht zur vollen Identifikation. Ganz ähnlich wie Giraudoux Hélène
hier darstellt, sahen sicher viele Franzosen die Elsass-Lothringer, nämlich als
Leute, die Frankreich zwar attraktiv und sympathisch fanden, sich mit ihm aber
nicht voll identifizierten und deshalb einen Krieg um sie nicht unbedingt
verdienten.
Allerdings mag
Giraudoux sich selber letztlich nicht so recht entscheiden, wie er es mit
Hélène alias Elsass-Lothringen halten soll. Zwar lässt er die mittlere
Generation in Troja für die Rückgabe sein, also Hector, Andromaque, Hécube und
Cassandre, hinter deren Realismus und Pazifismus er deutlich selber steht; die
junge Generation jedoch, nämlich Troïlus und Polyxène, und damit Trojas
Zukunft, lässt er Hélènes Bleiben wünschen; und wenn er das Stück mit dem
Ausbruch des Krieges enden lässt, so zugleich auch damit, dass Hélène den
jungen Troïlus küsst.
Doch sehen wir
nunmehr systematisch die anderen Figuren. Die Trojaner unter ihnen, und damit
die meisten, verteilen sich auf zwei Parteien: die bellizistische ältere
Generation und die pazifistische mittlere Generation.
Chef der
Bellizisten ist ein gewisser Demokos, eine Figur, die keine direkte
Entsprechung hat bei Homer. Er wird vorgestellt als Intellektueller und als
Dichter, der zugleich als Senatspräsident zur herrschenden Klasse in Troja
gehört. Er erscheint vor allem als fanatischer Nationalist, der den Streit um
Hélène als willkommenen Anlass betrachtet zum Krieg, den er selbst am Ende auch
auslösen wird. Auf die Realität um 1935 bezogen verkörpert Demokos sichtlich
den Typ des chauvinistischen Literaten und Politikers, der einen neuen Waffengang
mit Deutschland nicht scheute und einen baldigen Konflikt, z. B. um
Elsass-Lothringen, als willkommene Gelegenheit sah, um den erstarkenden Gegner
zeitig zu schwächen und Frankreichs Vormachtstellung neu zu sichern. Dieser Typ
des rechtslastigen Demagogen war unter den Franzosen jener Jahre reichlich
verbreitet, doch dachte Giraudoux speziell wohl auch an Charles Maurras, den
Chefideologen der nationalistischen und antideutschen Action Française, sowie an den chauvinistischen Lyriker Paul
Déroulède, der zwar nicht mehr lebte, aber sicher noch gut bekannt war als der
„poète national“, der Jahrzehnte lang für die Rückeroberung von
Elsass-Lothringen getrommelt hatte und zu den geistigen Vätern des Ersten
Weltkriegs gehörte.
Neben Demokos
steht die ebenfalls von Giraudoux erfundene Figur des Géomètre. Er assistiert
seinem Meister, indem er von der Harmonie schwärmt, die Trojas Topographie dank
Hélène gewonnen habe. Später im Stück schlägt er Demokos vor, die trojanischen
Soldaten in der Kunst der provozierenden Epitheta zu schulen. Er verkörpert
einerseits offenbar jene Pseudo-Ästheten, denen Elsass-Lothringen bedeutsam war
wegen der Schönheit der „ligne bleue des Vosges“ und wegen der wiedergewonnenen
Vollkommenheit des französischen hexagone
auf der Landkarte. Der Géomètre scheint zugleich jedoch auch Züge des
nationalistischen Journalisten und Maurras-Adepten Léon Daudet zu tragen,
dessen Spezialität provozierende Schimpfnamen waren, mit denen er linke und
gemäßigte Politiker und Intellektuelle belegte.
Neben Demokos
steht weiter König Priam. Auch er ist – zum Erstaunen seines Sohnes Hector, der
ihn für vernünftiger gehalten hatte – bereit, den Krieg zu führen für Hélène,
und zwar vor allem um Trojas Ehre als soldatischer Nation zu retten. Priam
verkörpert zweifellos den Typ des gemäßigten Rechten, z. B. in Gestalt des
Staatspräsidenten Albert Lebrun, einen Typ, der normalerweise rational
reagierte und auf Ausgleich bedacht war, in Zeiten der Spannung aber leicht zum
Hurrah-Patrioten mutierte.
Neben Demokos stehen
schließlich alle alten Männer Trojas, die Hélène fast vergöttern. Sie sollen
wohl die alte Generation in Frankreich verkörpern, die mit der revanchistischen
Elsass-Lothringen-Propaganda der Zeit vor 1914 aufgewachsen war, durch den
Krieg nichts dazugelernt hatte und mit der Reannektierung Elsass-Lothringens
Frankreichs Glück auf Erden verwirklicht glaubte.
Auf der
Gegenseite finden wir die Realisten und Pazifisten. Anders als die schon
ältlichen Bellizisten sind sie meist jüngeren Alters und zählen damit zu der
von einem eventuellen Krieg am meisten betroffenen Generation. Ihr Chef ist
Priams ältester Sohn Hector. Er ist kampferprobter Soldat und kehrt soeben
siegreich heim von einem Feldzug, wo er sich geschworen hat, dass es der letzte
gewesen sein soll. Das ganze Stück hindurch bemüht er sich, den Krieg um Hélène
zu verhindern durch ihre Rückgabe bzw. ihre freiwillige Rückkehr; er muss aber
nicht nur gegen den Fanatismus und die Unvernunft der Bellizisten Trojas und
Griechenlands kämpfen, sondern muss auch erkennen, dass das eventuelle große
Ringen zwischen Griechenland und Troja schicksalhaft ist und damit mehr
bedeutet als nur einen Kampf um Hélène. Hector ist der Realitätssinn, die
Vernunft und die Versöhnungsbereitschaft in Person. Er ist nicht nur die
zentrale Figur in der Handlung des Stücks, sondern sichtlich auch die Figur, mit der der Autor sich am
meisten identifiziert. Versucht man Hector auf die Realität der Zeit zu
projizieren, so verkörpert er offenbar weniger einen konkret vorhandenen Typ
als vielmehr einen Wunschtyp Giraudoux’: Hector ist zugleich der Weltkrieg
I-Soldat, der, ganz wie Giraudoux einst selber, Pazifist geworden ist; er ist
der realistisch und vernünftig denkende Bürger gemäßigt linker Couleur, wie
Giraudoux es selber war und viele andere mit ihm; und er ist der
kompromissbereite Politiker, wie es der von Giraudoux bewunderte Außenminister
Aristide Briand gewesen war.
An der Seite
Hectors stehen vor allem die Frauen Trojas, die es nicht hinnehmen wollen, dass
ihre Söhne, Gatten und Brüder für ein bloßes Symbol, wie Hélène es für die
Bellizisten ist, in den Kampf geschickt werden. Da ist zunächst Hectors
realistisch-nüchterne Mutter Hécube, die genüsslich das hohle Pathos des
Demokos zerpflückt; weiter ist da Hectors schwangere Frau Andromaque mit ihrem
idealistisch motivierten Streben nach einer Zukunft in Frieden; und es ist da
Hectors klarsichtige Schwester Cassandre, die die Demagogie und das Heuchlertum
der Bellizisten durchschaut, letztlich aber wenig Grund zum Optimismus findet.
Sie sollen offenbar die Gesamtheit der französischen Frauen verkörpern, bei
denen Giraudoux den gesunden Menschenverstand und – vermutlich nicht völlig zu
Unrecht – einen aus verschiedensten Quellen gespeisten Pazifismus vermutet.
Etwas zwischen den
Fronten, wenn im Kopf auch mehr auf Seiten Hectors, steht Pâris, der attraktive
Verführer Hélènes und anderer Frauen vor ihr. Er soll sichtlich die
französische Kultur und Lebensart verkörpern, die – nomen est omen – in Paris
ihren attraktivsten Ausdruck besitzt.
Ebenfalls
außerhalb der beiden Lager stehen Troïlus und Polyxène, die Vertreter der
jüngsten Generation. Beide lieben sie Hélène, und diese mag sie. Sie
verkörpern, wie eben schon gesagt, ganz offenbar die Zukunft, und zwar im Sinne
einer rückhaltlosen gegenseitigen Zuneigung zwischen Franzosen und
Elsass-Lothringern. Allerdings gibt Giraudoux dieser Zukunft letztlich doch
wohl keine Chance, denn Griechenland alias Deutschland erscheint im Stück als
die stärkere und vermutlich siegreiche Macht.
Damit sind wir
bei den beiden Griechen des Stücks, Oiax und Ulysse. Oiax, der als derb und
ungehobelt, prahlerisch und agressiv, aber auch als geradeheraus und
kameradschaftlich und damit nicht ganz unsympathisch dargestellt wird, ist
sichtlich der typische deutsche Mann und Frontsoldat aus französischer Sicht.
Ulysse, der äußerst selbstbewusste Abgesandte Griechenlands, vertritt das
wieder selbst- und machtbewusste neue Deutschland unter Hitler, das Giraudoux
ganz offensichtlich nicht umhin konnte zu bewundern. Allerdings scheint er
Ulysse nicht völlig gleichzusetzen mit diesem neuen agressiven Deutschland.
Vielmehr gibt er ihm als Mensch und als Gesandtem Konzilianz und
Versöhnungsbereitschaft, Züge, die an Außenminister Gustav Stresemann erinnern,
der zusammen mit Briand um 1925 eine kurze Phase guter deutsch-französischer
Beziehungen zustande gebracht hatte. Allerdings, so wie Stresemann letztlich
gescheitert war, scheitert am Ende auch Ulysse an dem, was stärker ist als er:
dem Fanatismus und der Perfidie der Kriegstreiber – nicht zuletzt der in Troja.
Es bleibt noch
eine interessante Figur: die des spitzfindigen Völkerrechtlers Busiris, der im
Dialog mit Hector passende Argumente sowohl für als auch gegen eine
Kriegserklärung zu finden versteht. Die Szene mit Busiris hat Giraudoux erst
während der Proben für die Uraufführung im Herbst 35 verfasst und in das Stück
eingefügt. Busiris inkarniert ganz offensichtlich kein Element der
deutsch-französischen Beziehungen, er gleicht vielmehr dem griechischen Völkerrechtler
Nicolas Politis, der im August 35 vom Völkerbund beauftragt worden war, einen
Grenzkonflikt zwischen Italien, d.h. seiner damaligen Kolonie Somalia, und
Abessinien (heute Äthiopien) zu schlichten, womit er aber erfolglos geblieben
war, weil Anfang Oktober der zum Krieg entschlossene Mussolini Abessinien
angegriffen hatte.
Fragen wir uns
nach der Intention, die Giraudoux mit seinem Stück verfolgt, so ist klar, dass
er auf die durch Hitler und auch Mussolini destabilisierte Lage in Europa
reagiert und die Franzosen vor einem neuen Krieg mit Deutschland zu warnen
versucht. Zunächst war Giraudoux hierbei ganz offensichtlich noch gemäßigt
optimistisch, denn das Stück ist voll komödienhafter Züge, und eine erste
Fassung schloss mit den erleichterten Worten Hectors „La guerre n'aura pas
lieu“. In der wenig später angefügten neuen Schluss-Sequenz, wo Demokos mit
einer Lüge die Trojaner in den Krieg treibt, zeigt sich Giraudoux jedoch sehr
pessimistisch. In dieser als Vision der nahen Zukunft zu deutenden Szene meint
er prophezeien zu müssen, dass die Bellizisten im Land die Oberhand behalten
werden und dass die Franzosen insgesamt nicht diplomatisch klug sein werden,
sondern in Überschätzung ihrer Kräfte dumm und agressiv; und sichtlich fürchtet
er, dass gegen das erstarkte Deutschland Frankreich unterliegen wird wie
einstmals Troja.
Unser nächstes Stück ist die im Herbst 1936
konzipierte und im Frühjahr 37 uraufgeführte Électre desselben Giraudoux'. Auch hier stammt der Stoff aus der
griechischen Mythologie. Es ist die Geschichte der Rache Orests, der mit der
Hilfe seiner Schwester Elektra die Mörder seines Vaters Agamemnon erschlägt,
also seine Mutter Klytemnestra und deren Geliebten Ägisth. Sieht man allerdings
genauer, geht es Giraudoux nicht um die Sühnung eines Mords, sondern um die
Frage, ob es zu rechtfertigen ist, wenn die Regierenden eines Staates sich in
internen Querelen zerfleischen, so wie Électre, Clytemnestre, Égisthe und
Oreste als Angehörige des Königshauses von Argos das tun, während von außen
Gefahr droht, eine Gefahr, die am Schluss des Stücks als sehr real erscheint,
wo die Feinde von Argos die Stadt zu erobern beginnen.
Gehen wir
wiederum aus von der globalen Deutungshypothese, dass die im Stück gestaltete
Vergangenheit in Wahrheit die Gegenwart der Entstehungszeit ist, dass also
Giraudoux auf die konkreten französischen Verhältnisse von 1936/37 reagiert. In
diesem Sinne wäre der Schauplatz der Handlung, also das innerlich zerrissene
und von außen bedrohte Argos, gleichzusetzen mit dem innenpolitisch
polarisierten und von Deutschland bedrohten Frankreich der Zeit, einem
Frankreich, wo nach dem Wahlsieg der linken Volksfront im Mai 36 nicht nur
Rechte und Linke, sondern auch Linke untereinander sich in Parlament und
Öffentlichkeit bis aufs Messer bekämpften, während Hitler weiter rüstete. Setzt
man Argos gleich mit Frankreich, dann erkennt man schnell, dass auch die
einzelnen Figuren des Stücks konkrete Personen oder Gruppen der Volksfrontzeit
sind.
So inkarniert die
einerseits als treibende Kraft, zugleich aber als intransigent und dogmatisch
erscheinende Électre sichtlich die Kommunisten der Jahre 36/37. Diese hatten
auf Anweisung Moskaus ein antifaschistisches Wahlbündnis initiiert mit den
anderen linken Parteien, eben die Volksfront mit Sozialisten und
Radikalsozialisten; sie traten nach dem Wahlsieg aber nicht in die Regierung
ein, sondern blieben draußen und machten dem Regierungschef Blum ein
pragmatisches Handeln häufig unmöglich, weil sie festhielten an ihrem
revolutionären Credo und überzogene außen- und sozialpolitische Forderungen
stellten.
Die zweite
Hauptfigur, der Realpolitiker Égisthe, der von Électre die Duldung, wenn nicht
gar die Unterstützung seines Handelns erhofft, ist in der Logik unserer Deutung
eben jener Regierungschef Léon Blum, der als reformistischer Sozialist, der er
war, die Kommunisten beschwor, in die Regierung einzutreten, bei der Lösung der
akuten Probleme zu helfen und die politisch möglichen Reformen mitzutragen,
statt radikale Utopien zu verfolgen.
Clytemnestre, die
Geliebte Égisthes und zugleich die den Schlüssel zur Macht in Argos besitzende
Königin, verkörpert Blums politisch wichtigsten Partner, die damals quasi
staatstragende Mitte-Links-Partei der Radikalsozialisten, ohne die weder linke
noch rechte Regierungen gebildet werden konnten. Und ganz wie im Stück
Clytemnestre gehasst wird von Électre, obwohl sie deren Mutter ist, wurden auch
die Radikalsozialisten innerhalb der Volksfront ständig von den Kommunisten
attackiert, obwohl ihre Partei ja gewissermaßen der Ursprung aller
Linksparteien war.
Der Mörder
schließlich, Oreste, der lange schwankt und sich gern arrangieren würde mit
Égisthe und Clytemnestre, ehe er sich von Électre gegen sie aufhetzen lässt,
verkörpert die Sozialisten, die sich naturgemäß ihrem Partei- und
Regierungschef Blum und dessen Koalitionspartner verpflichtet fühlten, sich
aber immer wieder von den Kommunisten aufwiegeln ließen und der Regierung im
Namen der reinen marxistischen Lehre in den Rücken fielen.
Aber auch die
Nebenfiguren lassen sich als Verkörperungen realer Personengruppen der Zeit
erklären. So inkarniert der vor Électre warnende und gegen Égisthe opponierende
Richter Théocatoclès offensichtlich die volksfront-feindliche höhere Richter-
und Beamtenschaft. Die so naive wie flatterhafte junge Agathe steht für das
leicht zu beeindruckende und wankelmütige Volk. Der außerhalb der Stadtmauern
lebende Gärtner, den Électre heiraten soll und anfangs auch will, scheint die
Bevölkerungen der französischen Kolonien zu verkörpern, die die Kommunisten
eigentlich emanzipieren wollten, aber spätestens ab 1936 über der Innen- und
Europapolitik aus den Augen verloren. Die Götter, die Égisthe aus den inneren
Verhältnissen von Argos heraushalten möchte, sind zweifellos die kommunistische
UdSSR und die neue faschistische deutsch-italienische Allianz, die sich beide
im benachbarten Spanien gerade nach Art von Supermächten in den Bürgerkrieg
hatten hineinziehen lassen. Der Palast, dessen rechter Flügel weint, während
der linke lacht, ist offenbar das Palais Bourbon, der Parlamentsitz, nach dem
Wahlsieg der Linken. Der rauschebärtige Überkönig Agamemnon, den Clytemnestre
und Égisthe ermordet haben und den Électre vergöttert, ist offenbar Karl Marx,
von dem sich die Radikalsozialisten und pragmatische Sozialisten wie Blum schon
lange losgesagt hatten, während ihn die Kommunisten als ihren Propheten
verehrten. Der Geier, der über Égisthe zu schweben beginnt und sein Ende mit
herbeiführt, ist die zunehmende Finanznot der Regierung Blum, die nicht zuletzt
an den leeren Staatskassen scheiterte. Die seltsame Bettlerin Narsès, die
ebenfalls Agamemnon vergöttert und schließlich Électres letzte Zuflucht und
Wahlmutter wird, scheint die Kommunistische Internationale zu bedeuten. Die
Euménides, die analog zum antiken Chor das Geschehen begleiten und
kommentieren, und insbesondere der mysteriöse Mendiant, der als
scharfsichtiger, doch ratloser Beobachter ständig auf der Bühne steht,
erscheinen als Inkarnation des sehenden, aber ohnmächtigen Giraudoux’ selbst.
Vor allem aber
ist, wie schon angedeutet, die Handlung ein Bild der politischen Entwicklungen
des Volksfront-Jahres 1936/37. So spiegelt das Sich-Wiederfinden der vor
längerer Zeit getrennten Geschwister Oreste und Électre die Wiedervereinigung
im Volksfrontbündnis der seit 1920 getrennten Sozialisten und Kommunisten. Der
eifersüchtige Streit von Électre und Clytemnestre um Oreste reflektiert die
Versuche der Kommunisten, die Sozialisten an sich zu binden und zu einer
revolutionären Politik zu treiben, entgegen dem Bestreben der
Radikalsozialisten, sie in gemäßigten Bahnen zu halten. Das Werben Égisthes um
die Duldung, wenn nicht die Unterstützung Électres entspricht, wie schon
erwähnt, den Bemühungen des Regierungschefs Blum, die Kommunisten in die
Regierung einzubinden und so zum Pragmatismus zu zwingen. Der schließliche
Untergang von Argos durch den Einbruch äußerer Feinde, wobei diesen Feinden die
Tore geöffnet werden durch Gesinnungsgenossen in der Stadt, zeigt die
pessimistische Zukunftsvision Giraudoux’ vom drohenden Zusammenbruch
Frankreichs durch einen Überfall der Deutschen unter Beihilfe all derjenigen
französischen Faschisten, die nur zu gerne Hitler oder Mussolini geholt hätten,
um der Volksfront ein Ende zu setzen.
Mit anderen Worten: das Stück ist weniger
das, als was es heute meist gesehen wird, nämlich ein überzeitlicher Beitrag
zur Diskussion der ewig-menschlichen Frage, ob man eher, wie Électre,
kompromisslos seinen Idealen folgen soll, oder ob man sich besser, wie Egisthe,
pragmatisch verhält; das Stück ist vor allem vielmehr der Warnruf eines
klarsichtigen Franzosen angesichts der Situation, dass die Regierenden in
seinem Land sich in internen Querelen erschöpfen, und es ist Ausdruck seiner
Angst, dass sie die äußere Bedrohung nicht abwenden können.
(Es folgen analoge Interpretationen von
J.-P. Sartres Les mouches und J. Anouilhs Antigone. Siehe jeweils
die betreffenden Autorenartikel.)
François Mauriac (*11.10.1885 Bordeaux; †1.9.1970 Paris)
Der
als achter franz. Autor mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Mauriac gilt als
einer der bedeutendsten Romanciers der Zwischenkriegszeit und als wichtiger
Vertreter des "renouveau catholique", einer sich um 1890
herausbildenden linkskatholischen, d.h. sich an der katholischen Soziallehre
orientierenden Bewegung.
Er
wuchs auf als fünftes und jüngstes Kind einer gutsituierten Familie in Bordeaux
und wurde nach dem frühen Tod seines Vaters von seiner frommen Mutter geprägt.
Seine Schulzeit verbrachte er auf katholischen Privatschulen. Der erste von ihm
als Vorbild bewunderte Autor war der katholisch-konservativ-patriotische
Romancier Maurice Barrès (s.o.). Mit 18 jedoch wurde er sich der sozialen
Probleme seiner Zeit bewusst und ging auf Distanz gegenüber der Amtskirche, die
sich um die unteren Schichten, speziell um die Arbeiter, kaum kümmerte.
Nach
einem Literaturstudium in Bordeaux, das er mit der licence abschloss, wurde er 1908 für ein Aufbaustudium zum Archivar
an der traditionsreichen Pariser École des Chartes zugelassen. Er brach aber ab
und verlegte sich auf die Literatur und den literarischen Journalismus.
Er
debütierte mit pathetisch-frommen Gedichten, deren Sammelausgabe Les mains jointes (1909) einen
Achtungserfolg erzielte. Eine zweite Lyriksammlung, Adieu à l'adolescence, kam 1911 heraus. Hiernach wechselte er die
Gattung und veröffentlichte 1913 seinen ersten Roman, L'Enfant chargé de chaînes, dem schon 1914 der nächste folgte, La Robe prétexte.
1913
heiratete er (und wurde rasch dreimal und später noch ein viertes Mal Vater). 1914-17
nahm er als Sanitäter am Weltkrieg teil, bis er sich beim Einsatz auf dem
Balkan eine fiebrige Erkrankung (Malaria?) zuzog und ausgemustert wurde.
Zurück
in Paris, nahm er die Schriftstellerei wieder auf und publizierte eine ganze
Serie von Romanen, die seinen Ruhm begründeten und ihm 1933 die Aufnahme in die
Académie française verschafften.
Die
bekanntesten dieser Romane, denen er auch weiterhin gern sibyllinische Titel
gab, sind: La Chair et le Sang (1920),
Préséances (1921), Le Baiser au lépreux (der ihm 1922 den
Durchbruch brachte), Génitrix (1923),
Le Désert de l'amour (1925), Thérèse
Desqueyroux (1927), Nœud de vipères
(1932), Le Mystère Frontenac (1933).
Die Handlungen spielen meist in der südwestfranz. Provinz, in dem für Mauriac
vertrauten Milieu betuchter Grundbesitzer und Kaufleute, d.h. einer
Sozialkategorie, die nach dem Weltkrieg wirtschaftlich stagnierte oder gar von
der Substanz zehrte und entsprechend auf sich selbst fixiert lebte. Ein
zentrales Thema sind Ehekrisen, die sich nicht zuletzt daraus ergeben, dass
nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer die Sexualität als unrein und
lästig erleben. Ein anderes Thema ist der bis zum Psychoterror gehende
Konformitätsdruck, der im engen Umfeld von Familien herrscht, wo man auf den
Schein von Ehrbarkeit bedacht ist.
1932
machte ein Kehlkopfkrebs eine Operation erforderlich, die Mauriac die heisere
Stimme eines „Erzengels“ (archange) einbrachte, die später, bei seinen
Kommentaren im Radio, eines seiner Markenzeichen wurde.
Ab
1937 versuchte er sich mit Asmodée auch
als Theaterautor, konnte aber dessen Erfolg mit seinen weiteren Stücken Les mal aimées (1945), Le Passage du Malin (1947) und Le Feu sur la terre (1950) nicht
wiederholen. Sein hauptsächliches Genre war und blieb der Roman, wobei er nach
den oben aufgeführten noch etwa 10 weitere verfasste. Diese fanden allerdings
keine größere Resonanz mehr in dem sich politisch und sozial rasant
verändernden Frankreich der späten 30er und der 40er Jahre.
Wenn
Mauriac dennoch seine Position als bekannter und geachteter Intellektueller
halten konnte, so vor allem, weil er ab Mitte der 30er Jahre sein als Romancier
gewonnenes Prestige auch publizistisch einsetzte und sich mit politischen
Artikeln als linkskatholischer Antifaschist engagierte. So nahm er z.B.
Stellung gegen den Äthiopienfeldzug Mussolinis 1935 und den Putsch General
Francos 1936, was ihm nach der Machtübernahme von Maréchal Pétain 1940
Schwierigkeiten eintrug. Folgerichtig schloss er sich der anti-pétainistischen
und antideutschen Widerstandsbewegung an, die er unter dem Decknamen „Forez“
journalistisch unterstützte.
Nach
der Libération wurde er zum Offizier der Ehrenlegion ernannt, ging aber bald
auf Distanz zu den neuen Regierenden und betätigte sich als
christlich-humanitärer Kämpfer gegen Unrecht jeder Art. So tadelte er 1944/45
die summarischen Gerichtsverfahren, in denen viele Leute, die mit Pétain und
den deutschen Besatzern kollaboriert hatten, als „collabos“ abgeurteilt wurden
Wenig später rügte er die grausame Repression und die Kriege, mit denen
Frankreich nach 1945 seine Kolonialgebiete in Südostasien und in Afrika zu
halten versuchte.
Sicher
war es auch in Anerkennung seines journalistischen Œuvres, dass er 1952 den
Literatur-Nobelpreis erhielt.
Während
des Algerienkriegs (1954-62) machte Mauriac sich mit seinen kritischen Kolumnen
(Bloc-notes) im Figaro und im Express zum
Anwalt der Menschenrechte, und geißelte die Erschießungen und Folterungen
Verdächtiger, mit denen das franz. Militär, das sich frustriert und in der
Defensive fühlte, den Aufstand zu bekämpfen versuchte.
In
seinen späten Jahren verfasste er noch eine mehrbändige Autobiografie. In
seinen späten Jahren verfasste er noch mehrbändige Memoiren und eine Biographie
von Charles de Gaulle.
Sein
ältester Sohn Claude Mauriac (1914–96)
trat als Romancier und Literat in die Fußstapfen des Vaters, vermochte dessen
Bedeutung aber nicht zu erreichen.
Alain-Fournier (*3.10.1886 in La Chapelle d’Anguillon bei Bourges;
†22.9.1914 als Soldat nahe Verdun).
Dieser
jung im Krieg ums Leben gekommene Autor wird bis heute nicht nur in Frankreich
viel gelesen, sondern war einige Zeit auch in Deutschland gut bekannt.
Henri-Alban
Fournier, wie er eigentlich hieß, wurde geboren in dem o.g. Dorf im
Berry/Mittelfrankreich als erstes Kind eines Lehrer-Ehepaares. Seine Kindheit
verbrachte er mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Isabelle auf dem Land,
mit 12 wurde er in eine „Pension“ (Privatschule mit Internat) in Paris
gesteckt, weil er anschließend dort ein renommiertes Gymnasium, das Lycée
Voltaire, besuchen und später etwas Besseres werden sollte als seine Eltern.
Mit 15 wechselte er jedoch auf das Gymnasium von Brest, das classes préparatoires (Vorbereitungsklassen)
für die École Navale führte; denn er hatte die Idee entwickelt, Marine-Offizier
zu werden. Mit 16 gab er diese Idee wieder auf und absolvierte mit 17 das baccalauréat de philosophie in Bourges.
Danach
(Okt. 1903) ging er wieder nach Paris, um am Lycée Lakanal die classes préparatoires für die École
Normale Supérieure, die Elitehochschule für die Lehramtsfächer, zu besuchen.
Auf dem Lakanal schloss er Freundschaft mit Jacques Rivière, mit dem gemeinsam
er sich literarisch zu interessieren und zu betätigen begann (und der 1908 sein
Schwager wurde).
Am
Himmelfahrtstag 1905, mit 19, hatte er auf einem Seine-Dampfer eine flüchtige
Begegnung mit einer jungen Frau, Yvonne de Quièvrecourt, in die er sich
schwärmerisch verliebte. Er verlor sie aber nach einem weiteren kurzen Treffen
aus den Augen und erfuhr zwei Jahre später enttäuscht, dass sie inzwischen
geheiratet hatte. Auch sein Wunsch nach einem Studienplatz an der ENS erfüllte
sich nicht: nach einem dritten Jahr classe
préparatoire, nunmehr am Pariser Lycée Louis-le-Grand, hatte er zum zweiten
Mal Pech beim concours (Aufnahmeprüfung)
und musste seine Hoffnungen auf einen glatten Start in eine Karriere als
Gymnasial- oder gar Universtätsprofessor aufgeben.
Während
sein Freund Rivière, der ebenfalls die Zulassung zur ENS nicht erlangt hatte,
in seine Heimatstadt Bordeaux ging, um dort an der Uni eine licence de lettres abzulegen (mit der er
Gymnasiallehrer im Angestelltenverhältnis werden konnte und auch wurde),
absolvierte Alain-Fournier 1907-09 den Militärdienst. Bei einem Urlaub besuchte
er den Wallfahrtsort Lourdes, der ihn beeindruckte, denn er hatte seit 1906
Anwandlungen von Frömmigkeit.
Ende 1907 publizierte er einen ersten
längeren Text unter dem Pseudonym Alain-Fournier: den Essay Le Corps de la femme (=der Körper der
Frau), von dem er vermutlich aber noch nicht allzuviel wusste. 1909, gegen Ende
seiner Militärzeit, ließ er sich (was möglich war) seine drei Jahre Lakanal und
Louis-le-Grand als Äquivalent eines Universitätsstudiums anrechnen und
versuchte eine licence d'anglais
abzulegen, mit der er angestellter Englischlehrer hätte werden können. Offenbar war er jedoch schlecht
vorbereitet und scheiterte.
Zurück
in Paris, wo inzwischen auch Rivière wieder lebte, schlug er sich 1910-12 als
freier Mitarbeiter der Zeitung Paris-Journal mit Literaturkritiken
durch. Während dieser Zeit hatte er eine sehr
wechselhafte Liaison mit einer Modistin, Jeanne Bruneau. Ende 1910 lernte er den 13 Jahre älteren Romancier Charles
Péguy kennen, der ihn zu der Frömmigkeit seiner Kindheit zurückzuführen
versuchte, ihm vor allem aber den nicht sehr arbeitsintensiven Posten eines
Privatsekretärs bei dem Bankier Casimir-Périer vermittelte.
Inzwischen
hatte Alain-Fournier das Buch begonnen, das ihn berühmt machen sollte: Le grand Meaulnes. Es ist ein (wie so
häufig bei jungen Autoren) stark autobiografisch geprägter Roman, der zunächst
wohl allein die enttäuschte Liebe zu Yvonne de Quièvrecourt verarbeiten sollte,
während der Entstehung jedoch mehrfach die Konzeption wechselte und dann auch
z.B. die schwierige Liaison mit der offenbar nur als Ersatz-Yvonne erlebten
Jeanne Bruneau verarbeitete. Im Zentrum der Handlung stehen, wie eine
gedoppelte Hauptperson, der großgewachsene jugendliche Abenteurer Augustin
Meaulnes und sein ihn schüchtern bewundernder jüngerer Freund François Seurel,
die beide, jeder auf seine Weise, die so schöne wie zerbrechliche, weil
schwindsüchtige Yvonne de Galais lieben, sie aber schließlich an den Tod
verlieren. Erzählt wird überwiegend in der ersten Person aus der rückblickenden
Perspektive von François. In dessen traditionell chronologische Ich-Erzählung
sind drei längere, die Perspektive verändernde und formal stark divergierende
Passagen eingefügt, nämlich einmal der in der dritten Person erzählte längere
Bericht von der ersten Begegnung Meaulnes’ mit Yvonne und ihrem kapriziösen
Bruder Franz, zweitens eine Serie Briefe von ihm an François sowie schließlich
eine Folge von Tagebuchaufzeichnungen Meaulnes’, die dessen mit Schuldgefühlen
belastete Beziehung zu einer Ersatz-Yvonne namens Valentine darstellen. Le
grand Meaulnes ist als Kunstwerk eigentlich kein großer Wurf, denn Handlung
und Figuren, insbes. die des Franz, sind nicht immer stimmig, und der Versuch
Alain-Fourniers, sich mit Perspektivenwechseln auf die Höhe der Romantechnik
der Zeit zu schwingen, gelingt mangels Erfahrung und Routine nicht recht.
Dennoch wirkt der Roman sehr eingängig und anrührend, weil sich die sichtlich
starke Identifikation des Autors mit seinemText auf den Leser überträgt.
Le grand Meaulnes war
Anfang 1913 fertig und erschien von Juli bis November 1913 in fünf Folgen in
der Zeitschrift La Nouvelle Revue
Française (wo Schwager J. Rivière seit 1912 Redaktionssekretär war); im
Herbst kam er auch als Buch heraus. Sein Erfolg war sofort beachtlich und er
kam in die engste Wahl für den Prix Goncourt.
Bei
einem Wiedersehen mit seiner großen Liebe (die inzwischen zwei Kinder hatte)
durfte Alain-Fournier sich mit der Tatsache trösten, dass er selbst seit kurzem
eine attraktive Geliebte vorweisen konnte: die bekannte Schauspielerin Mme
Simone, Frau seines Chefs Casimir-Périer. Sie inspirierte ihn zu einem neuen
Roman, Blanche Colombe, der jedoch
unvollendet blieb und erst postum gedruckt wurde.
Als
am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Alain-Fournier eingezogen.
Er ließ sich sofort an die Front schicken, wo vermutlich auch er – wie so viele
junge Franzosen und Deutsche der Zeit – das große Abenteuer zu finden glaubte.
Am 22. September kehrte er mitsamt seinen Leuten von einer Patrouille nicht
zurück und blieb vermisst. Erst 1991 wurden seine sterblichen Reste dank der
Erkennungsmarke in einem Massengrab identifiziert und auf einen
Soldatenfriedhof umgebettet.
Zweifellos
ist der frühe, so mysteriöse wie tragische und gut glorifizierbare Tod
Alain-Fourniers nicht unbeteiligt an der enormen Verbreitung, die der Grand Meaulnes in der Zwischenkriegszeit
und auch danach noch erfuhr, wo er zum Kultbuch von Generationen junger Leser
avancierte. In Deutschland war er ebenfalls erfolgreich und ist noch heute in
verschiedenen Übertragungen erhältlich.
Jean Cocteau (*1889; †1963)
Dieses turbulente Subjekt des franz. Geisteslebens der 20er bis 40er Jahre des 20. Jh. wurde
geboren und wuchs auf im Pariser Villenvorort Maisons-Lafitte. Früh entwickelte
er sich zum Hans-Dampf-in-allen-Gassen des Pariser Kulturbetriebs und kannte
alle in Paris aktiven Literaten, Musiker und Maler, vor allem die
nonkonformistischen, sich zur "Avantgarde" rechnenden.
Er
selbst sah sich in erster Linie als Autor und betätigte sich als Romancier,
Lyriker, Dramatiker, Essayist, Librettist. Doch war er daneben auch Maler und
Zeichner, Filmemacher und Promotor für kulturelle Events. Darüber hinaus outete
er sich früh als Schwuler und als ein Opiumsüchtiger (was damals nicht verboten
war). Seine antike Stoffe verarbeitenden Stücke Antigone (1922), Orphée (1926),
Œdipe roi (1928) und La Machine infernale (1934) lösten eine
regelrechte Mode antikisierender Dramen aus (der z.B. Gide, Giraudoux, Sartre
und Anouilh gefolgt sind).
Cocteaus
Nachruhm ist allerdings weniger der eines bedeutenden Autors als der eines
Allroundgenies, dessen Stärke vor allem das Stimulieren Anderer war.
Louis-Ferdinand
Céline (=Louis-Ferdinand
Destouches, *1894; †1961)
(Der
nachfolgende Artikel ist ein Gastbeitrag, übrigens der einzige des Repertoriums.)
[Céline]
zwingt jeden, der sich ihm nähert, der ihn liest, in die Spannung „zwischen
Bewunderung für den Stilisten, den Revolutionär der Literatur, und das
Erschrecken über die blindwütige, menschenverachtende Hetze, deren er fähig
ist. Diese Spannung wird immer bestehen bleiben.“ Dies schreibt der Übersetzer
Hinrich Schmidt-Henkel (Reise ans Ende
der Nacht, Rowohlt 2003 und Guignols
Band II, Rowohlt 1997). Und der amerikanische Romancier Philip Roth:
"Um die Wahrheit zu sagen: mein ‚Proust’ in Frankreich, das ist Céline! Er
ist wirklich ein sehr großer Schriftsteller. Auch wenn sein Antisemitismus ihn
zu einer widerwärtigen, unerträglichen Gestalt macht. Um ihn zu lesen, muss ich
mein jüdisches Bewusstsein abschalten, aber das tue ich, denn der
Antisemitismus ist nicht der Kern seiner Romane. (...) Céline ist ein großer
Befreier.“
Louis-Ferdinand Céline ist einer, der so gerne auf der
richtigen Seite stehen, berühmt sein und gelten will. Mehr als Proust und
Sartre. „Ich habe nie Joyce gelesen, Proust mag ich nicht, Hemingway kenne ich
nicht.“ Céline lässt nur wenige Autoren gelten wie Lautréamont, Flaubert,
Raymond Radiduet (Den Teufel im Leib)
– und Ramuz. Er bewundert Freud, den er 1923 als seinen literarischen
Lehrmeister benennt. Was auch eine Koketterie ist. Seine letzte Frau Lucette
Destouches schreibt in ihren Erinnerungen: „An die Wände hatte er Zitate aus
literarischen Werken geklebt, die er liebte, vor allem von Shakespeare, den er
verehrte und über den er sagte, er würde alles, was er selbst bisher
geschrieben hatte, dafür hergeben, wenn er nur einen einzigen seiner Verse
verfassen könnte. Über seinem Schreibtisch hing, gleich einem Manifest, eine
Erklärung Baudelaires.“
Beeinflusst
hat Louis-Ferdinand Céline die moderne Literatur nachhaltig: Sartre, Miller,
Genet, Grass, Ginsberg, Selby. Einige Beispiele: Henry Miller schreibt „Ich
verehre ihn, ich verdanke ihm viel, er lebt in mir, für immer.“ 1932 erklären
Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir den Roman Voyage au bout de la nuit / Reise ans Ende der Nacht zu ihrem Buch
des Jahres. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss und der Romancier und Philosoph
Paul Nizan (gefallen im Mai 1940 bei Dünkirchen) bewunderten Céline öffentlich.
Nizan 1932: „Céline ist keiner der Unsrigen [d.h. kein Kommunist], und es ist
unmöglich, seine tiefgehende Anarchie, seine Verachtung zu akzeptieren. Aber
ich erkenne sein grauenhaftes Bild der Welt an: er reißt alle Masken und
Verschleierungen herunter, schlägt alle illusionären Dekors zusammen.“ Trotzkij
spricht anläßlich von Le Voyage von einer „Revolution des Romans“,
Gorkij lobt den Roman, und bei Stalin soll er auf dem Nachttisch gelegen haben.
Proust sagt, dass der Künstler seine Kunst aus einem anderen Ich schöpft als
sein Alltagsverhalten. Kann sein. Seine Aggressivität hat Céline beim Schreiben
weit gebracht und weit getragen. Diese Wut auf die Menschen, die borniert sind,
und schlimmer noch: sie wollen borniert bleiben; sie wollen den Untergang, den
eigenen – aber zuerst sollen die anderen daran glauben. Davon erzählt Céline.
Davon weiß er. Und auch er will, dass die anderen vor ihm daran glauben sollen.
Céline
gilt vielen neben Marcel Proust und James Joyce als der wichtigste Autor des
20. Jh. Céline und Proust, sie beide sind jenes 20. Jahrhundert, in dem
der Glaube an die Zivilisation des 19. Jh. zusammenbricht: der Mensch ist nur
begrenzt zu domestizieren. Proust schreibt mit dem Wissen um das 19. imperiale
Jh. und seine Ordnungsideen; Céline mit dem Lebensgefühl für das Zeitalter der
Massenmorde, der kollektiven Selbstzerstörungen und der Extreme zwischen
Kommunismus und Faschismus. Céline zerpflückt die Sprache, die Formen und die
heiligen Werte, die moderne Fortschrittsgläubigkeit, die Ängste der Kleinbürger
und die Überhebungen der Großbürger: Niemand wird ein besserer Mensch. Auch
Louis-Ferdinand Destouches-Céline nicht. Er will Maßstäbe setzen und kreist
dabei immer um sich: Immer das eigene Leben und Empfinden im Mittelpunkt und
als Maßstab, immer auf der Suche nach Anerkennung. Mit einem für das 20. Jh.
sehr klassischen Weg: Kleinbürger, ein guter freiwilliger Soldat im ersten
Weltkrieg, begeistert für den Kommunismus, enttäuscht von den sowjetrussischen
Verhältnissen unter Stalin, die Suche nach ewigen Werten und einem Feind,
dessen Existenz das Elend in der Welt erklärte, und schließlich: die Anlehnung
an den Faschismus – als gäbe es dort Halt und die Chance zum Ausleben zugleich.
Alles ist erlaubt. Auf faschistischem Terrain.
Der
junge Louis Destouches: „Ich bin viel herumgekommen als ich jung war! Um ein
Haar wäre ich in London Zuhälter geworden. Und meine kaufmännische Lehre habe
ich in der Zweigniederlassung der Juweliere Lacloche in Nizza abgeschlossen;
1912.“ Alles ist aufgeschrieben. In Guignol’s
Band. In allen Romanen. „Und ich! ich bin immer der Held. Mittendrin. In
der Zerstörung von zwanzig Jahrhunderten! Extra dafür geschaffen! Ich! jede
Schöpfung trägt von Geburt an ihr eigenes Ende, ihren Mord in sich selbst.“
Louis-Ferdinand
Destouches (erst später nennt er sich nach seiner Großmutter Céline Guillou)
wird im Mai 1894 in Courbevoie an der Seine in kleine Verhältnisse
hineingeboren, und doch schicken ihn seine Eltern 1907 für ein Jahr auf eine
Mittelschule nach Diepholz bei Hannover, 1908 noch einmal für vier Monate nach
Karlsruhe und 1909 nach England. Im Geburtsjahr 1894 wird Nikolaus II. in
Russland der neue und letzte Zar. In Frankreich wird der jüdische Offizier
Dreyfus ungerechtfertigt des Landesverrats angeklagt, entehrt und eingesperrt.
Er wird erst zwölf Jahre später rehabilitiert. Louis Lumière erfindet den
Kinematographen.
Lucette
Destouches schreibt über Céline: „Er war ein verzweifelter Mensch und von einem
abgrundtiefen Pessimismus, doch gleichzeitig ging eine unglaubliche Kraft von
ihm aus. Seine Traurigkeit war von einer solchen Intensität, dass alle vor ihm
Reißaus nahmen. Ich aber blieb.... Louis’ Mutter hatte den gleichen Charakter
wie ihr Sohn, wenn auch weniger Verstand. Sie war Louis in schlicht. Immer
ängstlich und pessimistisch, verkörperte sie das Elend, das man mit Haltung
erträgt. Sie war Stickerin, doch sie selbst leistete sich keine Spitzen.“
Louis’ Vater starb 1932, ein unzufriedener Mensch, der, wie viele andere
Zeitgenossen, die Freimaurer, die Juden und Dreyfus für eigene Missgeschicke
verantwortlich machte.
Eine
kaufmännische Lehre bricht Céline erst ab, beendet sie dann aber doch. Der
Einberufung zuvorkommend meldet er sich freiwillig am 28. September 1912 für
die Dauer von drei Jahren zum 12. Kürassier-Regiment in Rambouillet. Im August 1913
und nach der Grundausbildung wird er zum Obergefreiten und im Mai 1914 zum
Unteroffizier befördert. Nach dem Kriegsausbruch im August nimmt er teil an den
Schlachten in den Argonnen und in Flandern. Im Oktober erleidet er eine
Verletzung am rechten Arm, im Dezember 1914 wird ihm die Tapferkeitsmedaille
verliehen. Von Mai 1915 bis März 1916 (im Okt. 15 wird er aus dem aktiven
Dienst entlassen) arbeitet Céline in der Passabteilung des franz. Generalkonsulats
in London. Dort heiratet er ein erstes Mal, Suzanne
Nebout. Die Ehe wird jedoch bald geschieden. Frauen, Freundinnen und Mätressen
hatte Céline immer.
Ab
1916 arbeitet er für zwei Jahre als Angestellter einer französischen
Handelsfirma in Kamerun, ab 1918 für die Rockefeller-Stiftung. 1919 legt er die
Reifeprüfung ab, beginnt ein Medizinstudium und heiratet Edith Follet, die
Tochter eines Arztes, der Chef einer Privatklinik ist. Als Céline zum
designierten Nachfolger avanciert, spürt er, dass er ein Schriftsteller ist.
Die Ehe wird 1926 geschieden.
Von
1924 bis 1927 arbeitet er für das Gesundheitswesen des Völkerbundes. Er betreut
drei Jahre lang medizinische Untersuchungen in Afrika und bei den Fordwerken in
Detroit. In dem Bühnenstück L'Eglise
(=Die Kirche) denunziert Céline den Völkerbund „als die größte Synagoge im
größten Freimaurertempel der Welt“. Das ist 1928. Ende 1927 eröffnet er eine
Praxis als Armenarzt, tagsüber ist er Arzt, nachts Schriftsteller. Er gilt als
pazifistisch und kommunistisch gesonnen.
Von
1928 bis 1936 arbeitet er an der Staatsklinik in Clichy. 1932 erscheint Voyage au bout de la nuit. Ein
Roman über die Zeit zwischen den Kriegen und Schlachtfeldern und Systemen. Eine
Höllenfahrt des verlorenen Medizinstudenten und späteren Arztes Bardamu quer
durch das erste Drittel des 20. Jh. Ein Aufschrei gegen die Verhältnisse in der
Welt.
Der
Schriftsteller erzählt in fast enzyklopädischer Totalität. Céline schüttelt
alle Fesseln stilistischer und erzählerischer Konventionen ab. Er schöpft das
ganze Spektrum der Schriftsprache, der Umgangssprache, des Jargons aus. Er
macht sich mit den ‚Gemeinen’ ‚gemein’ und schreibt erschütternde Poesie. Er
spielt mit der Hochsprache und schreibt Argot; er übersteigert jede
Sprachhaltung genüsslich ins Preziöse, auch die Redeweisen der Wissenschaft, er
parodiert den vaterländischen Schwulst und erfindet Sprache und Poesie neu. Er
birgt in seiner Sprache das 20. Jh.: wie die Menschen handeln und wohin sie
sich treiben lassen. Oder andere treiben. Es gibt keine Hoffnung auf
Fortschritt im eigenen kleinen Leben.
1932
erhält in Deutschland die Nationalsozialistische Partei bei der Reichstagswahl
fast 38 Prozent der Sitze. Kanzler wird von Schleicher, der „soziale General“.
Hitler wird zum Regierungsrat in Braunschweig ernannt und erhält so die
deutsche Staatsangehörigkeit. In Frankreich wird Albert Lebrun Staatspräsident.
Der Faschist Salazar wird portugiesischer Ministerpräsident.
Viele
Künstler sind sich zu jener Zeit in einem antibürgerlichen Affekt einig: die
einen engagieren sich bei den Kommunisten, wie Louis Aragon, andere freunden
sich mit den Faschisten an. Wie so viele fährt Céline 1936 in die Sowjetunion,
nach Leningrad – andere kommen enttäuscht zurück, er als Faschist.
Voyage au bout de la nuit
wird sofort nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt von Isak Grünberg,
einem in Paris lebenden österreichischen Journalisten. Auftraggeber ist der
Piper Verlag. 1933 aber will der Verlag den Roman nicht mehr veröffentlichen.
Sind es die Regierenden, die dies unterbinden? Solche Spekulationen gibt es. Die
deutschen Rechte werden samt der Übersetzung des Isak Grünberg an den Verlag
Julius Kittls Nachfolger in Mährisch Ostrau verkauft und der Roman erscheint
dort im Dezember 1933. Grünberg erkennt im Veröffentlichten seine Übersetzung
nicht mehr: „Verstümmelt, missgestaltet, verfälscht ist meine Arbeit“, klagt er
in der Amsterdamer Exilzeitschrift Die
Sammlung. Der Übersetzer der neuen Rowohlt'schen Ausgabe, Hinrich
Schmidt-Henkel, vermutet mehrere Bearbeiter, die den Text, je weiter er
voranschreitet, gekürzt, im letzten Drittel eher zusammengefasst als übertragen
haben. So dass der Roman vollständig erst 2003 in Deutsch zu lesen ist. 1936
erscheint Mort à crédit /Tod auf Kredit,
auch dieser zweite Roman wird sofort (1937) in Deutschland veröffentlicht. Im
selben Jahr beginnt Céline eine Reihe extrem antisemitischer und rassistischer
Bücher zu schreiben; kein versteckter, verhuschter Antisemitismus: Celine
schreibt in unverhüllter Mordlust. Er publiziert Bagatelles
pour un massacre (Paris 1937). Dieses
Buch erscheint 1938 in Dresden unter dem Titel Die Judenverschwörung in Frankreich. In Bagatelles setzt Céline Juden in grotesken Wortkaskaden in eins mit
Negern, Engländern und Asiaten, die den Rest der Welt in einen Krieg treiben
wollen, um ein Massaker unter Franzosen und Ariern anzurichten. Céline spricht
in diesem Buch mit seinem Idol, einem erfundenen Hitler. 1938 folgen (mit einer
weiteren Auflage 1942) L’Ecole des
cadavres /Die Schule der Kadaver und
1941 Les Beaux Draps /Die schönen
Leichentücher.
Im
Krieg will Céline auf die Seite der deutschen Besatzer und Faschisten rücken,
vermutlich aber geht es ihm nicht um Macht, sondern um Anerkennung. Als sich
mit der Niederlage Deutschlands Célines Streben nach Integration als Fehlschlag
erweist, produziert sein Inneres den Mechanismus, auf jede Kränkung mit Hass
gegen andere zu reagieren – nun eben Hassausbrüche gegen die Deutschen. Drei
autobiografische Romane hindurch rechtfertigt er sich und rechnet ab: D’un château l’autre /.Von
einem Schloss zum andern, 1957; Nord 1960
(=Norden) 1964 und Rigodon 1969 (in Deutsch 1974).
Céline
hat eine Reihe von offenen Briefen an kollaborierende Zeitungen während der
Okkupation geschrieben, in ihnen schreckt er auch vor Denunziation nicht
zurück. In Je suis partout schreibt
er 1942 von der Gefährdung der bretonisch-keltischen Rasse durch die
schleichende Verjudung: „50 000 Judensterne werden daran nichts ändern. Die
Maßnahmen der deutschen Besatzung sind absolut unzureichend!“
Die
Destouches gehören nach der alliierten Landung Anfang Juni 1944 zu den ersten,
die Passierscheine bekommen und aus Paris fliehen. Am 17. erreichen sie
Baden-Baden und werden gut untergebracht und versorgt. Bei einer Reise nach
Berlin wird der Schriftsteller im Außenministerium empfangen. Nach kürzerem
Aufenthalt in der Mark Brandenburg gehen sie im Oktober nach Sigmaringen, das
für die Vichy-Regierung und viele faschistische Flüchtlinge der letzte
Zufluchtsort ist. Im März 1944 flüchten die Destouches quer durch Deutschland
über Berlin nach Dänemark, weil Céline 1937 sein Geld in Gold umgetauscht und
bei einer Amsterdamer sowie bei einer Kopenhagener Bank deponiert hatte, wo es
von Karen Jensen (auch eine Tänzerin, wie einige seiner Frauen und Freundinnen)
vor der Konfiszierung durch die Deutschen gerettet worden war. Im März 1945
wird von einem franz. Gericht ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. (Anfang 1950
wird er in Abwesenheit zum Tode verurteilt). Die Dänen liefern ihn jedoch nicht
aus. Wegen und trotz des Todesurteils.
Nach
Kriegsende verdankt Céline sein Überleben vor allem zwei Bürgerlichen: Raoul
Nordling, der schwedische Konsul in Paris, verwendet sich unter Einsatz seines
Ansehens für ihn, und in Dänemark ist es der Rechtsanwalt Mikkelsen, der ihn
und Lucette drei Jahre in einem Gästehaus wohnen lässt, betreut von einem
Verwalterehepaar, und ihnen monatlich 700 Dänenkronen zur Verfügung stellt.
Erwähnt wird Mikkelsen von Céline nicht; er verfälscht das dänische Exil zu
einer grausamen Kerkerhaft, ohne Freunde und Helfer. Dies tut er auch, weil er
für seine Rückkehr nach Frankreich die Strategie verfolgt, sich als zu Unrecht
Verfemten, Bestohlenen und Betrogenen zu stilisieren. Auch deshalb wechselt er
in seinen Romanen die Perspektive und erzählt nun als der einst berühmte, jetzt
berüchtigte Schriftsteller Céline, über den alle herfallen. Er jammert, dass
ihm alle Wertgegenstände aus seiner Wohnung gestohlen seien, dass er hungern
müsse, während es den Sartres gut geht und sie gefeiert werden. Nach einer ihm
Anfang 1952 gewährten Amnestie kehren Céline und seine Frau nach Frankreich
zurück. Céline lässt sich in Meudon als Armenarzt nieder.
Er
hört nicht auf, kollektive Selbstvernichtungen zu beschwören und seine
Katastrophenphantasien auszubreiten, nun sind es eben die Chinesen und die
Wasserstoffbombe. Die Welt soll zugrunde gehen, vielleicht weil Céline sich
selbst nicht leiden kann. Vielleicht weil er auch nur auf der richtigen Seite
stehen möchte, um vor all den Mischlingshorden geschützt zu sein, so sein
grobes Wunschbild. Die Mischlingshorden, Neger, Juden und Chinesen stehen für
das Neue, die Veränderung, das Anstrengende.
Célines
Leben ist eines in extremer Selbstbezogenheit und in reaktionärem Idealismus,
auch in Besserwisserei: Céline will keine Verständigung, er äußert seine
private Wut in seiner privaten Sprache öffentlich. Er collagiert, er schreibt
alles, was geschieht, in sein Delirium hinein: Die Modelle existieren im Leben
und werden variiert wie die Namen: der meldepflichtige Dr. Destouches, der
Bürger Destouches zahlt als Céline Steuern. Der in Abwesenheit zum Tode
verurteilte Schriftsteller Céline entzieht sich moralisch wie juristisch
jeglicher Verantwortung: Sein Anwalt reicht den Antrag auf Amnestie unter „Dr.
Destouches“ ein.
1944
erscheint in Paris der Roman Guignol’s Band.
1947 geht es mit A l’agité du bocal
weiter. Und 1952 mit Casse-pipe und Féerie pour une autre fois. Ganz
gleich was geschieht, Céline schreibt und wird veröffentlicht. Immer unter
Erregung von Aufsehen.
Peter
Weiß sagt: „Wörter, die ihre Unfähigkeit zur Anteilnahme an der Außenwelt
beschrieben, mussten im Kreis laufen und sich dabei zerreiben. Solche Wörter
hatten als letzte Konsequenz nur noch das Schweigen. Damit betrog er aber die
Absichten, die in jeder Mitteilung lagen, denn im Wesen jeder Mitteilung ist
der Wunsch nach Veränderung enthalten.“ Diese
Identität von Mitteilung und Verändernwollen kennt der Schriftsteller Céline
nicht: Seine Prosa suggeriert Bewegung, die epische Struktur ist aber statisch.
„Der Tanz ist ein Totentanz, der Schrei ist nach innen gewendet“, schreibt
Fritz Raddatz. „Celine hat hochgestapelt, er hat so hochgestapelt, wie es nur
ging; wie er es immer tat.“, schreibt der französische Schriftsteller André
Gide.
Célines
Bücher, mitteilsam, geschwätzig, exhibitionistisch fast, verweigern Auskünfte,
sind Spiegelungen, Verstellungen. Der Schöpfer einer neuen Sprache darf nicht
beim Wort genommen werden. Auch nicht in seinen Briefen. „Es ist alles im
Fieber gesagt. Und: Ich muss tüchtig rackern, damit die andern Maulaffen mich
sehen und hören. Und lesen!“ „Ich bin der Autor des ersten kommunistischen
Romans, der jemals geschrieben worden ist....“
Der
Schluss von Le Voyage au bout de la nuit:
„Von fern pfiff der Schleppdampfer; der Ruf hallte über die Brücke, über noch
einen Bogen, noch einen, über die Schleuse, eine weitere Brücke, weit, noch
weiter... Er rief alle Lastkähne des Flusses zu sich, alle, und die ganze
Stadt, und den Himmel und die Landschaft, und uns auch, er trug alles fort, die
Seine auch, alles, damit das alles ein Ende hat.“
Louis-Ferdinand
Céline stirbt am 2. Juli 1961, am Tag des Abschlusses seines Romans Rigodon: „...solch perlende Tiefen, dass
nichts mehr existiert...“ Rigodon ist
apokalyptische Groteske und voller nörgelnder Alterselegie, aber es ist vor
allem eine Chronik des Zusammenbruchs des Faschismus. Und bis jetzt gibt es in
der deutschen Literatur keine bessere.
Gastbeitrag von © Dr. J. Monika Walther
(Aug. 04)
Louis Aragon (*1897; †1982)
Er
zählt als Lyriker, Romancier, Journalist und Historiker zu den fruchtbarsten
und sicher auch bedeutendsten franz. Autoren des 20. Jh., gilt jedoch vielen
nicht-linken Lesern und Kritikern als suspekt wegen seiner Rolle als
unerschütterlicher Kommunist, der nicht nur, wie so viele Intellektuelle seiner
Generation, Sympathisant, sondern auch Mitglied und zeitweilig sogar hoher
Funktionär des PC war. Er wurde geboren in Paris als uneheliches Kind, das von
seinem Vater, einem älteren hohen Beamten, unter dem falschen Namen Aragon
legitimiert wurde. Nachdem seine junge Mutter ihn schamhaft zunächst bei einer
Amme geparkt hatte, wurde er zum spätgeborenen Nachkömmling seiner Großmutter
erklärt und wuchs auf in deren Familienbetrieb, einer Fremden-Pension. Schon
mit 7 begann er "Romane" zu schreiben, die ein Bruder seiner Mutter,
der eine kleine literarische Zeitschrift herausgab, teilweise abdruckte. Nach
dem "bac" begann Aragon 1916 ein Medizinstudium und erhielt 1917 eine
Ausbildung als Militärarzt, wobei er als Kameraden die späteren Autoren und
Weggefährten André Breton und Philippe Soupault kennenlernte. 1918 wurde er
noch an die Front geschickt und erhielt eine Tapferkeitsmedaille. Nach
Kriegsende war er 1918/19 bei den franz. Truppen, die das Saarland und das
linke Rheinufer besetzten. Hier schrieb er Gedichte und begann seinen ersten
längeren Roman, Anicet (gedruckt
1921). Im Sommer 1919 wurde er demobilisiert, nachdem er noch in Saarbrücken
einen weiteren Roman angefangen hatte (Les
aventures de Télémaque, 1922). Zurück in Paris, gründete er mit Breton und
Soupault die Zeitschrift Littérature.
1920 bereiste er, nun als Zivilist, Belgien und Deutschland. Hiernach stieß er
zum Kreis der "Dadaisten", die sich um den soeben aus Zürich nach
Paris gekommenen Rumänen Tristan Tzara (eigtl. Samy Rosenstock) scharten. 1921
dachte er erstmals an einen Eintritt in die soeben (Weihnachten 1920) durch
Abspaltung von den Sozialisten entstandene Kommunistische Partei (was er aber
erst 1927 verwirklichte).
(Fortsetzung
sollte folgen, wird aber wohl nicht mehr fertig.)
Jacques Prévert (* 4.2.1900 Neuilly/Paris; † 11.4.1977
Omonville-la-Petite/Dép. Manche)
Dieser
als Lyriker ungewöhnlich populär gewordene Autor wuchs auf als mittlerer von
drei Söhnen einer kleinbürgerlichen Familie im Pariser Vorort Neuilly und dann
in Paris selbst. Sein Vater war ein Theaterliebhaber und nahm ihn häufig zu
Aufführungen mit, seine Mutter vermittelte ihm die Lust am Lesen. Mit 15
verließ er gelangweilt die Schule und arbeitete, z.B. in einem Pariser
Kaufhaus. 1920, beim Militärdienst, lernte er in Lunéville den späteren
surrealistischen Maler Yves Tanguy kennen und kurz danach in Istanbul (in der
im Ersten Weltkrieg besiegten Türkei waren franz. Soldaten stationiert) den
späteren Schriftsteller Marcel Duhamel. 1925 stieß er über einen anderen
schriftstellernden Freund, Raymond Queneau, zur Gruppe der Surrealisten, aus
der ihn aber bald (wie mehrere andere Mitglieder auch) das autoritäre Gehabe
des selbsternannten Gruppenchefs André Breton vertrieb. Als Ersatz gründete er
mit seinem jüngeren Bruder Pierre sowie Tanguy, Queneau und Anderen einen
eigenen Kreis, die „bande à Prévert“.
1928
versuchte er sich zusammen mit Bruder Pierre als Filmproduzent. 1932-36
verfasste er Stücke für das linke Amateurtheater Octobre, denn in diesen politisch polarisierten Jahren stand auch
er, wie so viele Intellektuelle, den Kommunisten nahe, obwohl er von seinem
Naturell kein Mann der Parteidisziplin, sondern eher Anarchist war.
Zwar
schrieb er schon seit längerem auch Gedichte, doch machte er sich ab Mitte der
30er Jahre einen Namen vor allem als Szenarist und Drehbuchautor für die Filme
Pierres und der epochemachenden Regisseure Jean Renoir (Le Crime de M. Lange, 1935) und Marcel Carné (u.a. Drôle de drame, 1937; Quai des brumes, 1938; Le Jour se lève, 1939; Les visiteurs du soir, 1942, Les enfants du Paradis, 1944; Les portes de la nuit, 1946).
1946
publizierte ein Freund unter dem Titel Paroles
eine Sammlung von Préverts bis dahin nur verstreut in Zeitschriften oder gar nicht
gedruckten Gedichten. Der Erfolg des Bändchens war enorm und machte Prévert zum
repräsentativsten und einflussreichsten franz. Lyriker der Jahrhundertmitte.
Viele seiner Gedichte sind denn auch, vor allem von Joseph Kosma, zu Chansons
vertont worden, die von bekannten Sängern aufgenommen wurden, z.B. Juliette
Gréco oder Yves Montand.
Einige
spätere Textsammlungen hatten ebenfalls Erfolg, ohne jedoch Paroles in den Schatten zu stellen (u.a.
Histoires, 1946; Spectacle, 1951; La Pluie et
le beau temps, 1955; Fratras,
1966; Choses et autres, 1972; La Cinquième Saison, postum 1984).
In
den Jahren nach 1948 war Prévert behindert durch neurologische Probleme,
nachdem er aufgrund eines Sturzes aus einer schlecht gesicherten Fenstertür
tagelang im Koma gelegen hatte.
Préverts
Markenzeichen als Lyriker ist die Schlichtheit und Verständlichkeit seiner
Gedichte, die, obwohl sie voller raffinierter Wortspiele und überraschender
Metaphern sind, dennoch eine unmittelbare Poetizität ausstrahlen und meist eine
eingängige Botschaft vermitteln. Viele von ihnen, vor allem diejenigen, die
menschlich-allzumenschliche Dauerthemen wie Freiheitsstreben, Liebe, Glück und
Enttäuschung gestalten, sprechen Leser auch heute noch an und werden gern im
Schulunterricht besprochen. Die zahlreichen politisch motivierten Gedichte
Préverts, z.B. gegen den Militarismus, die Kirche und die bürgerlichen
Konventionen, sind inzwischen kommentierungsbedürftige Zeitdokumente geworden.
Antoine de Saint-Exupéry (*29.6.1900 Lyon; †31.7.1944 im Mittelmeer bei Marseille)
Dieser
heute langsam in die zweite oder gar dritte Reihe zurücktretende Erzähler war
zu seinen Lebzeiten sehr erfolgreich und nach seinem mysteriösen frühen Tod ein
Kultautor der Nachkriegszeit, obwohl er selbst sich eher als einen nur nebenher
schriftstellernden Berufspiloten sah.
Saint-Ex
(wie ihn seine Verehrer liebevoll nennen) wurde geboren in Lyon als drittes von
fünf Kindern aber erster Sohn eines Vicomte, der plötzlich starb, als der Junge
vier war. Dieser wuchs zunächst auf in Lyon und auf Gütern der Familie in
Südfrankreich. 1909 kam er mit seinem wenig jüngeren Bruder ins Internat eines
von Jesuiten geführten Gymnasiums in Le Mans. Hier wurde er 1912 zum ersten Mal
auf einen Flug mitgenommen und war fasziniert. Die letzten Gymnasialjahre
verbrachten er und sein Bruder in einem Internat der Marianisten in
Freiburg/Schweiz.
Nach
dem "bac" (1917) besuchte er am Lycée Saint-Louis in Paris die
Vorbereitungsklassen (classes préparatoires) für die Aufnahmeprüfung (concours)
der École navale, weil er Marineoffizier werden wollte. Er hatte jedoch kein
Glück beim Concours und war zusätzlich erschüttert, als sein Bruder plötzlich
starb. 1919-21 studierte er lustlos und ohne Abschluss Architektur in Paris.
1921-23 absolvierte er seinen Wehrdienst bei der Luftwaffe und wurde zum
Flugzeugmechaniker und schließlich auch zum Piloten ausgebildet.
Hiernach
hätte er als Berufsoffizier und -pilot bei der Luftwaffe bleiben können, doch
hatte er sich 1923 verlobt mit der Schwester eines Pariser Klassenkameraden,
Louise de Vilmorin (der späteren Schriftstellerin und vorletzten
Lebensgefährtin von André Malraux), und deren adelige Familie war vehement
gegen eine derart gefährliche Existenz ihres Schwiegersohns in spe. In
Erwartung der Eheschließung, aus der dann aber doch nichts wurde, arbeitete
Saint-Ex als biederer Angestellter bei Pariser Firmen. Nebenbei flog er, wann
immer er konnte, hatte allerdings im Salon einer adeligen Kusine auch Kontakte
mit Pariser Literaten. 1925 trat er erstmals als Autor hervor mit der Novelle L'Aviateur.
Ende
1926 wurde er von der Luftfrachtgesellschaft Latécoère in Toulouse eingestellt,
zunächst beim Bodenpersonal. Bald aber kam er zu den Piloten und flog anfangs
die Etappe Toulouse–Casablanca, dann Casablanca–Dakar. 1927/28 war er 18 Monate
Chef des einsamen Zwischenlandeflugplatzes Cabo Juby in der damaligen
spanischen Kolonie Sahara, wo er sich mit den kriegerischen Beduinen der Gegend
herumschlagen und mehrfach in der Wüste notgelandete Kollegen retten musste,
meist aber auf das jeweils nächste Flugzeug wartete. Hierbei schrieb er seinen
ersten längeren Text, den kleinen Roman Courrier
Sud (1928), der den letzten Flug eines Piloten samt einer eingeschobenen,
ebenfalls traurigen Liebesgeschichte erzählt.
1929
absolvierte Saint-Ex eine Fortbildung in Navigation bei den Marinefliegern in
Brest und ging anschließend für seine Gesellschaft nach Argentinien, um in
diesem damals reichsten Land Südamerikas Luftfrachtlinien einzurichten. Seine
Erlebnisse und Erfahrungen als Verantwortlicher für die ersten, trotz aller
Gefahren pflichtgemäß durchgeführten Nachtflüge verarbeitete er zu dem Roman Vol de nuit (1931), der den tödlichen
letzten Flug eines Piloten ins Zentrum stellt. Das Buch wurde mit dem Prix
fémina ausgezeichnet und bedeutete den Durchbruch für seinen Autor.
Anfang
1931 heiratete er in Frankreich mehr nebenher eine jung verwitwete
Salvadorianerin (die er meist arg vernachlässigte) und flog anschließend wieder
teils als Streckenpilot in Westafrika, teils als Versuchspilot für
Wasserflugzeuge, wobei er einmal fast ertrank.
1934
von der neuen Air France eingestellt, zu der sich mehrere
Luftfahrtgesellschaften zusammengeschlossen hatten.
In
den nächsten Jahren führte er eine gemischte Existenz als Flieger,
Werbebeauftragter, Journalist und Autor. So flog er z.B. 1934 werbewirksam nach
Saigon (der damaligen Hauptstadt der damaligen franz. Kolonie Vietnam) und
unternahm 1935 per Flugzeug eine Vortragsreise rund ums Mittelmeer. Im Mai 1935
besuchte er im Auftrag der Zeitung France
Soir Moskau, mit dem Paris gerade einen Beistandspakt gegen
Hitler-Deutschland geschlossen hatte, und schrieb eine vielbeachtete
Artikelserie über seinen Aufenthalt. Ende 1935 musste er bei einem Versuch, den
Streckenrekord Paris–Saigon einzustellen, in der ägyptischen Wüste notlanden,
wurde aber von einer vorbeiziehenden Karawane gerettet. Im Frühjahr 1937
verbrachte er für France Soir einen
Monat als Reporter im Spanien des Bürgerkriegs, den er von der republikanischen
Seite her schilderte, die von der neuen franz. „Volksfront“-Regierung
halbherzig unterstützt wurde.
Mitte
Februar 1938 machte er den Versuch eines Rekordfluges New York–Feuerland
(Südargentinien), stürzte aber in Guatemala beim Start nach einer
Zwischenlandung ab und wurde schwer verletzt. Als Rekonvaleszent in New York
stellte er den Sammelband Terre des
hommes zusammen, dessen teils neue und teils schon ältere Texte vor allem
ein hohes Lied der Kameradschaft unter Männern, der Pflichterfüllung und des
Idealismus sowie der Solidarität und Menschlichkeit singen. Das Buch traf bei
seinem Erscheinen Anfang 1939 offenbar den Nerv der Zeit und hatte großen
Erfolg. Es erhielt den Grand Prix du Roman de l'Académie française, und auch
die amerikanische Übersetzung verkaufte sich vorzüglich und wurde preisgekrönt.
Saint-Ex
war gerade zurück von einer Reise zu seinem amerikanischen Verleger, als Anfang
September 39 der Krieg ausbrach. Er wurde eingezogen und fungierte zunächst als
Ausbilder. Später war er Pilot bei einem Aufklärungsgeschwader und wurde im
Mai/Juni 40 Zeuge, wie Nordostfrankreich nach dem deutschen Angriff, dem „blitz
allemand“, im Chaos versank. Den Waffenstillstand (25. 6.) und die
anschließende Demobilisation der franz. Streitkräfte erlebte er in Algerien,
danach hielt er sich zunächst auf dem Landgut einer Schwester in Südfrankreich
auf. Hier schrieb er an einem schon 1936 begonnenen größeren
philosophisch-moralistischen, lyrisch-erzählerischen Werk: Citadelle, das erst postum als Fragment erschien.
Ende
1940 ging er über Marokko und das neutrale Portugal in die USA, wo sich seine
amerikanischen Autorenhonorare angehäuft hatten. In New York fühlte er sich
aber nicht wohl, weil er Probleme mit den dortigen Franzosen hatte, die anders
als er meist mit dem Maréchal Pétain und dessen soeben etabliertem
faschistoiden Regime sympathisierten. Bei einem längeren Besuch in Kalifornien,
wo der hier im Exil lebende Regisseur Jean Renoir Terre des hommes zu verfilmen
überlegte, verfasste Saint-Ex 1941 das seine Kriegserlebnisse verarbeitende
Buch Pilote de guerre, das 1942
zunächst in amerikanischer Übersetzung herauskam und bei seinem Erscheinen in
Frankreich von der Zensur des Pétain-Regimes verboten wurde.
Anfang
1943 beförderte er in New York zwei kürzere Texte zum Druck: die Lettre à un otage, ein lyrische,
essayistische und erzählerische Passagen mischender fiktiver Brief an einen
jüdischen Freund, mit dem er die Franzosen in aller Welt zur Solidarität mit
dem soeben gänzlich besetzten Frankreich aufzurufen versuchte, sowie die
märchenhafte kleine Erzählung Le petit
prince, die langfristig sein bekanntester Text wurde (rd. 150 Übersetzungen
in andere Sprachen!) und die sich liest wie ein Akt der Verdrängung, mit dem
der Autor die Realität des geknebelten Frankreichs, sein Unbehagen im utilitaristisch
denkenden Amerika und nicht zuletzt sein schlechtes Gewissen gegenüber seiner
zurückgelassenen Frau – der „Rose“ des „kleinen Prinzen“ – zu vergessen
versucht.
Im
Mai 43 begab er sich in das inzwischen von anglo-amerikanischen Truppen
kontrollierte Algerien und wurde wieder Luftwaffenpilot. Seine Flugkünste
hatten aber nach der langen Pause gelitten, und als er im Juli bei der Rückkehr
von einem seiner ersten Flüge eine Bruchlandung baute, wurde er unter Hinweis
auf sein Alter und seine diversen Verletzungen ausgemustert.
Enttäuscht
saß er in einem kleinen Zimmer in Algier, beschäftigte sich mit technischen
Problemen der neuen Düsentriebwerke (denn er besaß schon etliche flugtechnische
Patente), schrieb aber auch weiter an Citadelle.
Da er kein Nobody war, gelang es ihm nach längeren Demarchen, für eine
begrenzte Zahl von Aufklärungsflügen reaktiviert zu werden. Diese unternahm er
zuerst vom inzwischen amerikanisch besetzten Sardinien aus, dann vom
zurückeroberten Korsika.
Am
31. Juli startete er morgens zu seinem planmäßig letzten Aufklärungsflug
Richtung Grenoble, kehrte aber nicht zurück und blieb verschollen. Lange Zeit
hindurch nahm man quasi selbstverständlich an, er sei als strahlender
Kriegsheld in feindlichem Feuer geendet. Allerdings gab es auch bald die
Hypothese eines Selbstmords per Flugzeug, denn er sollte ja anschließend nicht
mehr fliegen dürfen und war zudem nach Auskunft seiner letzten Briefe an seine
Frau depressiv. In den letzten Jahren sah man ihn eher als Opfer eines
technischen Defekts seines Flugzeugs. Dessen Wrack wurde 2000 auf dem Grund des
Mittelmeers bei Marseille geortet und 2004 gehoben und identifiziert. Die
Stelle liegt allerdings weit westlich der vorgesehenen Flugroute, was Anlass
gibt zu neuen Spekulationen. Nach neueren Presseberichten (vgl. z.B. Der
Spiegel Nr. 13, 22.3.08., S. 162 ff.) ist kürzlich der inzwischen 88-jährige
deutsche Ex-Jagdflieger Horst Rippert mit der Behauptung an
die Öffentlichkeit getreten, er sei es gewesen, der Saint-Exupéry abgeschossen
habe. Schriftliche Belege hierfür gibt es jedoch nicht, und die Frage bleibt
offen, warum Rippert erst so spät mit seiner Geschichte herauskam.
Nathalie Sarraute (*18.7.1900 Iwanowo/Russland; †19.10.1999 Paris)
Sie
ist heute einer der bekanntesten Repräsentanten der Gruppe der "nouveaux
romanciers". Geboren (oft findet man als Datum fälschlich 1902) wurde sie
als Natascha Tscherniak unweit Moskau und lebte nach der baldigen Trennung
ihrer Eltern zunächst bei ihrer etwas extravaganten und sehr bestimmenden,
ebenfalls schriftstellernden Mutter sowie deren neuem Partner, einem
freischaffenden Historiker. 1902 kam sie nach Paris, wo sie zur École
maternelle ging und somit früh Französisch lernte; 1906–1909 lebte sie in
Sankt-Petersburg. Jeweils einen Monat im Jahr verbrachte sie mit ihrem Vater,
einem jüdischen (persönlich eher irreligiösen) Chemiker und Farbfabrikanten, in
Iwanow oder bei gemeinsamen Ferien in der Schweiz.
1907
verließ ihr Vater Russland aus politischen Gründen und ging nach Frankreich, wo
er bei Paris eine kleinere Fabrik aufmachte und sich mit einer deutlich
jüngeren Frau wiederverheiratete. Anfang 1909 wurde die achteinhalbjährige
Nathalie zum Vater geschickt, weil ihre Mutter und der Stiefvater einen
längeren Ungarn-Aufenthalt planten. Statt anschließend jedoch, wie eigentlich
gedacht, nach Russland zurückzukehren, blieb sie beim Vater in Paris. Hier
verbrachte sie nun ihre weitere Schulzeit (am Lycée Fénelon) und später mehr
oder weniger auch den Rest ihres Lebens.
Offenbar
ähnlich einschneidend und traumatisierend für sie wie die frühe Trennung der
Eltern und die nachfolgende Entwurzelung war die Wiederverheiratung ihres sehr
liebevollen Vaters mit einer auf sie eifersüchtigen Frau, zu der und deren
Kind, ihrer Halbschwester, sie kein Verhältnis fand. Schon als kleines Mädchen
erfuhr sie so die Schwierigkeiten eines Individuums zwischen wechselnden und
dazu divergierenden Bezugspersonen, was ihren Sinn für alles Psychologische
zweifellos ebenso schärfte wie das Aufwachsen in zwei Sprachen und Kulturen.
Nach
dem "bac" studierte sie zunächst englische Literatur in Paris, wo sie
1920 die Abschlussprüfung (Licence) ablegte. Danach betrieb sie ein Studium der
Geschichte und Soziologie in Oxford (1920/21) und, denn passabel Deutsch konnte
sie auch, in Berlin (1921/22). Allerdings schloss sie dieses Studium nicht ab,
sondern hängte ein Jurastudium in Paris an. Hierbei lernte sie Raymond Sarraute
kennen, den sie, nachdem er sich als Anwalt niedergelassen hat, heiratete
(1925) und mit dem sie rasch drei Töchter bekam. Beruflich scheint sie eher
experimentiert zu haben: so arbeitete sie kurz bei einem Anwalt und
Vermögensverwalter (avoué), erhielt auch die Zulassung als Anwältin und vertrat
ein paar Mandanten, schrieb sich daneben aber noch für ein Promotionsstudium
ein.
Spätestens
ab 1932 war ihr eigentlicher Ehrgeiz die Literatur. Zunächst mehr nebenher
verfasste sie 19 kürzere Texte, in denen sie sogleich die sie auszeichnende
Kunst der Wahrnehmung und Darstellung feinster psychischer Regungen bewies und
die sie 1939, nach langwieriger Suche eines Verlags, unter dem Titel Tropismes publizierte. Der ausbrechende
Krieg ließ das kleine Buch aber unbemerkt bleiben.
Der
deutsche Einmarsch 1940 und der sich bald anschließende Zwang für sie als
"Halbjüdin", unterzutauchen (z.T. in kleinen Orten nahe Paris) und
mit falschem Namen zu leben, verhinderte fürs erste weitere Publikationen.
Schreiben jedoch tat sie: Ab 1941 entstand der Roman Portrait d'un inconnu, der 1948 nach wiederum langwieriger
Verlagssuche schließlich bei Gallimard erschien, aber trotz eines lobenden
Vorworts von Sartre nur bei Insidern Beachtung fand. Ähnlich erging es einem
weiteren Roman, Martereau (1953).
Etwas
bekannter wurde sie 1956 mit dem Sammelband L'Ère
du soupçon, der vier, teils schon etwas ältere, literaturtheoretische
Essays vereinte und so etwas wie ein Manifest der sich um 1955 bildenden Schule
des "nouveau roman" wurde. Entsprechend fiel Sarrautes nächster
Roman, Planétarium (1959), bei jenem
Teil des Publikums, der die "nouveaux romans" goutierte, auf
fruchtbaren Boden, und der Roman Les
fruits d'or (1963) wurde sogar mit dem Prix international de littérature
ausgezeichnet. Hiermit hatte sie den Durchbruch geschafft; zunehmend wurde sie
zu Vortragsreisen, auch ins Ausland, eingeladen.
Ab
1963 versuchte sich Sarraute auch als Theaterautorin mit Le Silence, das zunächst in deutscher Übersetzung als Hörspiel
gesendet, 1964 gedruckt und schließlich 1967 in Paris aufgeführt wurde. Die
sechs weiteren Stücke, die sie in den nächsten 30 Jahren verfasste, nämlich Le Mensonge (1965); Isma (1970); C'est beau und
Le Gant retourné (1975); Pour un oui, pour un non (1982); Elle
est là (1993) kamen zwar alle zur Aufführung, mehrten letztlich ihren Ruhm
aber kaum.
Ihre Domäne blieb, neben einigen weiteren Essays, die
Gattung Roman: Entre la vie et la mort (1968),
Vous les entendez ? (1972), Disent les imbéciles (1976), L'Usage de la parole (1980), Tu ne t'aimes pas (1989), Ici (1995).
Spätestens
ab 1970 war Sarraute anerkannt als eine der zentralen Figuren der franz.
Literatur der Nachkriegsjahrzehnte; Werke von ihr wurden in mehr als 20
Sprachen übersetzt. Leichte Kost allerdings sind ihre ohne zielstrebige
Handlung und weitgehend auch ohne markante Personen konzipierten, ganz auf
psychische Phänomene konzentrierten Romane nicht und es fragt sich, wie viele
Leser jeweils bis zum Ende durchzuhalten schaffen.
Sehr
gut lesbar dagegen, sehr ansprechend und interessant ist das autobiografische
Büchlein L'Enfance (1983), eine mehr
impressionistische denn chronologisch-systematische Darstellung der Kindheit
Sarrautes.
André Malraux (*3.11.1901 Paris; †23.11.1976 ebd.)
Er
ist einer der in Frankreich so zahlreichen Autoren, die zwischen
Schriftstellerei und Politik hin und her gewechselt sind. Seine Biografie bis
ca. 1945 ist wegen seiner Neigung zu selbstgestrickten Legenden in vielen
Punkten nebulös.
Seine
Jugend wurde überschattet von der frühen Trennung der Eltern (1905), nach der
er in kleinstbürgerlichen Verhältnissen bei der Mutter und der Großmutter auf
dem Pariser Montmartre aufwuchs. Er besuchte eine Art Realschule und scheiterte
1918 bei dem Versuch, auf ein Gymnasium zu wechseln und dort das Baccalauréat
abzulegen. Früh interessierte er sich für Literatur und Kunst, bewegte sich in
den Kreisen der Kubisten und Surréalisten und verfasste ab 1920 auch selber
surrealistische Texte sowie Buchbesprechungen und literartheoretische Essays.
1921
verheiratete er sich mit der aus Magdeburg stammenden wohlhabenden Clara
Goldschmidt. Anschließend unternahm er zahlreiche Reisen mit ihr, u.a. nach
Südostasien, das damals weitgehend franz. Kolonialgebiet war und wo sie sich
für die Kunst des kambodschanischen Volkes der Khmer interessierten.
1923
verlor Clara durch eine Fehlspekulation ihr Vermögen. Sie reisten einmal mehr
nach Kambodscha, wo Malraux versuchte, im Urwald gefundene Kunstobjekte zu Geld
zu machen. Er wurde festgenommen und zu einer Haftstrafe verurteilt,
schließlich aber freigelassen. Die Affäre hielt ihn drei Jahre in Pnom
Penh/Kambodscha fest, während derer er zum engagierten Linken und
Antikolonialisten wurde.
Die
Beschäftigung mit Asien inspirierte ihn zu seinem ersten Buch, La Tentation de l'Occident (1926), einer
Art philosophischem Briefroman, in dem ein junger Chinese und ein junger
Franzose ihre Kulturen vergleichen. Seine Geltung als Romancier verdankte
Malraux, der immer wieder große Reisen machte und dabei viele linke
Intellektuelle kennenlernte, vor allem seiner vielleicht hieraus resultierenden
Erfindung, aktuelle politische Ereignisse und Entwicklungen in Action-Romanen
mit hohem intellektuellem Anspruch zu verarbeiten.
1928
war sein Debüt in diesem Sinne Les
Conquérants, ein Roman über den ersten kommunistischen Aufstand in China
(1925-27), den Malraux selbst miterlebt haben wollte. Im Mittelpunkt steht ein
Franzose, der eine Mischung aus Tatmensch und Denker ist. 1930 folgte La Voie royale, ein Roman um einen
Archäologen und einen Abenteurer im Urwald Indochinas, inspiriert von Malraux’
eigenem Abenteuer. 1933 kam La Condition
humaine heraus, ein Roman um drei Teilnehmer am kommunistischen Aufstand in
Schanghai 1927, die ihr politisches Engagement mit einem voll akzeptierten Tod
bezahlen. La Condition humaine gilt
heute als Malraux’ bedeutendstes Werk. Es erhielt den Prix Goncourt und hatte
großen Einfluss auf eine ganze Generation politisch engagierter Romanciers.
1937
folgte L'Espoir, ein filmartig
diverse Kriegsepisoden reihender (1938 in der Tat verfilmter), noch
optimistischer Roman über den Spanischen Bürgerkrieg, an dem der Autor 1936/37
teilgenommen hatte, und zwar als Mitglied der Internationalen Brigaden auf
Seiten der später (1939) von Franco besiegten republikanischen
Regierungstruppen.
Nach
Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde Malraux eingezogen und geriet beim
„Blitzkrieg“ 1940 in deutsche Gefangenschaft. Er konnte aber flüchten und lebte
mehr oder weniger untergetaucht in der von den deutschen Truppen unbesetzten
„zone libre“ in Südfrankreich. Hier verarbeitete er die Niederlage Frankreichs
in einem nächsten Roman, seinem letzten: La
Lutte avec l'ange. Allerdings erschien nur Teil I als Les noyers de l'Altenburg 1943 in der Schweiz, nachdem der Rest
angeblich 1942 von der deutschen Geheimpolizei (Gestapo) konfisziert und
vernichtet worden war.
Ab
1943 war Malraux aktiv im Widerstand gegen das Pétain-Régime und die deutschen
Besatzer, der sich seit der deutschen Niederlage in Stalingrad verstärkte. 1944
wurde er Offizier bei den französischen Truppen, die sich mit amerikanischer
Hilfe neu formierten und an der Befreiung Frankreichs, der Libération,
beteiligten. Nach Kriegsende wechselte er kurz in die Politik: Er, der
ursprüngliche Linke und Sympathisant des Parti Communiste, wurde, nachdem er
zum Patrioten mutiert war, 1945 Informationsminister unter dem eher rechten
Regierungschef de Gaulle.
Als
dieser 1946 zurücktrat, schlüpfte Malraux wieder in seine Intellektuellenrolle,
verfasste allerdings keine literarischen Texte mehr, sondern betätigte sich als
politischer Redner, als Vortragsreisender sowie vor allem als Kunsttheoretiker,
Kunsthistoriker und Kunstkritiker. Nachdem 1958 de Gaulle in die Politik
zurückgekehrt war, wurde er 1959/60 erster Kulturminister der neuen Cinquième
République, was er bis zum Rücktritt de Gaulles 1969 blieb.
1967
unternahm er einen letzten Ausflug in die Literatur im engeren Sinne mit seinen
autobiografischen Antimémoires.
Raymond Radiguet (*1903; †1923)
Ein
sehr jung verstorbener Autor, an dem vielleicht ein Großer verlorengegangen
ist. Er bricht als Fünfzehnjähriger den Schulbesuch in seinem Heimatort
Saint-Maur ab und geht ins nahe Paris, wo er u.a. Jean Cocteau kennenlernt, der
ihn fördert. Nachdem er sich schon früh als Lyriker, Librettist, Dramatiker und
literarischer Journalist betätigt und seine Feder geübt hat, verfasst er mit
knapp 20 den künstlerisch erstaunlich reifen Roman Le Diable au corps (1923). Es ist die weitgehend autobiografische
Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe zwischen einem 15-jährigen frühreifen
Schüler (dem Ich-Erzähler) und einer 18-jährigen Soldatenbraut und dann
Soldatenfrau, die sich langweilt und sich (immerhin erst nach der zwischendurch
vollzogenen Heirat) verführen lässt, weil ihr Verlobter bzw. Mann ständig fern
von ihr ist. Das Verhältnis endet mit der Heimkehr des Soldaten nach dem
Kriegsende, der Roman schließt mit der Geburt eines Kindes und dem Tod der
jungen Mutter. Le Diable au corps,
das erst kurz nach dem plötzlichen Tod Radiguets bei einer Typhusepidemie
erschien, war zunächst ein Skandalerfolg, wurde aber laufend nachgedruckt und
findet offenbar immer noch zahlreiche Leser. Ein zweiter Roman Radiguets, Le Bal du comte d'Orgel, der aus dem
Nachlass publiziert wurde, erreichte nur geringe Verbreitung.
Jean-Paul Sartre (*21.6.1905 Paris; † 15.4.1980 ebd.)
Dieser
als Erzähler, Dramatiker, Philosoph und Publizist aktive Autor gilt als der
wohl bedeutendste und repräsentativste franz. Intellektuelle des 20. Jh., das
von manchen auch schon das „siècle de Sartre“ genannt wird.
Sartre
wurde geboren in Paris als Sohn eines aus Südfrankreich stammenden
Marine-Offiziers, der anderthalb Jahre später an einer Tropenkrankheit starb.
Seine noch sehr junge Mutter, eine Cousine des elsässischen Organisten,
„Urwalddoktors“ und Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer, zog daraufhin
zurück zu ihren Eltern, wo Sartre unter dem Einfluss seines Großvaters
Schweitzer aufwuchs, eines Gymnasialprofessors (agrégé) für das Fach Deutsch.
Von ihm wurde er, sowie durch Privatlehrer, zu Hause unterrichtet.
Spielkameraden hatte er so gut wie nicht. So begann er früh zu lesen (auch auf
deutsch), erlitt aber schon als Junge eine Linsentrübung des rechten Auges, das
nach und nach erblindete und nach außen wanderte, so dass er immer hässlicher
schielte. Erst mit 10 kam er zur Schule, auf das prestigeträchtige Gymnasium
(Lycée) Henri-IV.
1917
heiratete seine Mutter wieder und zog mit ihm nach La Rochelle zu ihrem neuen
Mann (einem Freund ihres verstorbenen) – zwei Veränderungen, die der
Zwölfjährige schwer verkraftete, zumal auch sein Großvater empört mit ihm
brach, als er erfuhr, dass der Junge Geld aus der Haushaltskasse genommen
hatte, um sich mit Süßigkeiten bei seinen neuen Klassenkameraden
einzuschmeicheln.
1920,
mit 15, wurde Sartre nach Paris zurückgeschickt und besuchte, nunmehr als
Internatschüler, wieder das Henri-IV. Hier befreundete er sich mit einem
Klassenkameraden, dem späteren Schriftsteller-Kollegen Paul Nizan, der ihn in
die zeitgenössische Literatur einführte. 1922 legte er das „bac“ ab und
wechselte zusammen mit Nizan auf das Lycée Louis-le-Grand, weil dort die
Vorbereitungsklassen (classes préparatoires) für die École Normale Supérieure
(die Elitehochschule für die Lehramtsfächer) angeblich besser waren als im
Henri-IV.
1923
konnte Sartre eine Novelle und einige Romankapitel in kleinen Zeitschriften
unterbringen, zugleich begann er sich für Philosophie zu interessieren. 1924
war er Rang-Sechster bei der Aufnahmeprüfung (concours) für die ENS. Sein
Wohnheimzimmer dort teilte er mit Nizan, der ebenfalls aufgenommen worden war.
Die vier Jahre auf der ENS waren eine
relativ glückliche Zeit für Sartre: Er las und arbeitete viel (jeden Tag von 9
bis 13 und von 15 bis 19 Uhr, was er sein ganzes Leben lang beibehielt). Er
absolvierte Kurse und Prüfungen in Psychologie, Moralphilosophie, Soziologie,
Logik, Metaphysik und Latein, interessierte sich für die neue Kunstform Kino
und für den aus Amerika importierten Jazz. Auch nahm er Boxunterricht, denn er
war nur 1,57 m groß (weshalb er bei seinen Freunden „le petit homme“, das
Männlein) hieß.
Sonntags,
zu Besuch bei seinen Eltern, die inzwischen nach Paris gezogen waren, führte er
hitzige politische Debatten mit seinem Stiefvater, der ihn als „représentant
patenté [=verbrieft, beglaubigt] du Parti communiste“ apostrophierte. Zwar war
Sartre kein Mitglied in der 1920 gegründeten Kommunistischen Partei (PCF), wie
sein Freund Nizan, doch war er Sympathisant und verweigerte z.B. zusammen mit
ihm die Ausbildung zum Reserve-Offizier, die für ENS-Eleven quasi obligatorisch
war.
Altersgemäß
versuchte er es auch mit der Liebe, und zwar bei einer jungen Verwandten aus
Toulouse, Simone Jollivet, die er auf einer Beerdigung kennengelernt hatte.
Doch wurde er bei den eher raren Treffen meistens frustriert (ähnlich wie
später in seinem Roman La Nausée/Der Ekel
der Ich-Erzähler Roquentin
von seiner kapriziösen Freundin Anny frustriert wird). Immerhin inspirierte ihn
seine Verliebtheit zu einem Roman, La Défaite (=die Niederlage), den er
aber nicht abschloss.
Philosophisch
begann Sartre, der sich in der Familie seiner Großeltern und dann seines
Stiefvaters stets als Randfigur und „überzählig“ (de trop) gefühlt hatte,
während der Jahre auf der ENS eine „Theorie der Kontingenz“ zu entwickeln,
gemäß der das menschliche Leben ein Zufallsprodukt ist und nicht unbedingt
einen von höheren Mächten verbürgten Sinn hat.
Seine
Studienabschlussarbeit verfasste er über „L’Image dans la vie psychologique“
(=das Bild im psychologischen Leben).
Nachdem
Nizan sich 1927 verheiratet hatte, meinte auch Sartre, dies tun zu müssen. Er
verlobte sich mit einer jungen Frau,
die er als Cousine eines ENS-Kameraden kennengelernt hatte, und ließ seine
Eltern um ihre Hand anhalten. Die Verlobung wurde jedoch von ihren Eltern
aufgelöst, als Sartre 1928 bei der Rekrutierungsprüfung (agrégation) für das
Amt des Gymnasialprofessors scheiterte. Alle, die ihn kannten, waren erstaunt,
er selber geknickt. Er habe, so seine eigene Erklärung, unklugerweise versucht,
originelle Ideen zu äußern statt sich darauf zu beschränken, banale Ideen
originell zu formulieren.
Während
der Vorbereitung auf einen zweiten Anlauf wohnte er in der Cité universitaire.
Hier lernte er wenig später über gemeinsame Freunde seine künftige Weggefährtin
kennen, die zweieinhalb Jahre jüngere Simone de Beauvoir (*1908), die sich
ebenfalls auf „l’agreg“ vorbereitete und der er schon seit langem ein Begriff
war. Beide waren sie dann unter den 13 angenommen Bewerbern – Sartre diesmal
auf Rang 1 und Beauvoir auf Rang 2.
Hiernach
wurden sie unzertrennlich, wobei Sartre sie in seine Freundes- und
Diskussionskreise integrierte, u.a. mit dem ein Jahr älteren ENS-Kameraden
Raymond Aron, dem späteren bedeutenden Soziologen und Philosophen, und Nizan.
Schwer zu klären scheint, ob er und Beauvoir sich auf eine intellektuelle
Symbiose beschränkten, wie sie in ihren Memoiren glauben macht, oder auch
intimer wurden.
Während
sie, ohne gleich eine Stelle anzunehmen, in Paris blieb und sich etwas treiben
ließ, trat Sartre im Nov. 29 seinen 18-monatigen Militärdienst an. Seinem
Wunsch gemäß kam er zu den Artillerie-Meteorologen, zunächst in Saint-Cyr nahe
Versailles, wo er als Ausbilder Aron hatte. Nach der Grundausbildung wurde er
in die Nähe von Tours verlegt. Da der Dienst ihn wenig beanspruchte, schrieb er
viel: Gedichte, den Anfang eines Romans, Entwürfe zu Theaterstücken. Seine
Beziehung zu Beauvoir blieb eng, da man sich regelmäßig treffen konnte.
1931,
mit 26, erhielt er nicht den erhofften Posten eines Französischlektors in
Japan, sondern wurde als Gymnasialprofessor für Philosophie nach Le Havre
geschickt. Beauvoir verschlug es zugleich ins noch fernere Marseille. Beide
trafen sich aber weiterhin regelmäßig in Paris, das ihr gemeinsamer Fixpunkt
und Ort ihres intellektuellen Austausches blieb. Zusammen machten eine erste
größere Reise (nach Spanien), was Sartre von dem kleinen Erbe seiner
verstorbenen Großmutter Schweitzer bezahlte.
In
seiner Schule war er bei den Schülern bald als interessanter Lehrer beliebt,
aber bei den Kollegen als arrogant verschrien. Er begann an einem Factum sur la contingence (Streitschrift über den Zufall) zu
arbeiten, einer polemisch-satirischen Schrift gegen die allzu optimistische und
positive Schulphilosophie, die er gemäß Lehrplan verabreichen musste. 1932 ging
er wieder mit Beauvoir auf Reisen (Bretagne, Spanien und das damalige
Spanisch-Marokko). Erfreulicherweise für beide wurde sie zum Schuljahrswechsel
in das nähere Rouen versetzt. Gemeinsam interessierten sie sich für Sigmund
Freud und dessen Psychoanalyse und lasen sie die Romane Ernest Hemingways.
Sartre entdeckte die Phänomenologie Edmund Husserls. 1933 reisten sie wieder
(London und Italien).
Im
Herbst 33 ging Sartre für ein Jahr als Stipendiat am Institut Français nach
Berlin. Hier studierte er Husserl und Heidegger, Faulkner und Kafka und begann
aus dem factum einen Roman zu
entwickeln, das spätere La Nausée.
Die Politik interessierte ihn nur am Rande, die gerade erfolgte Machtergreifung
Hitlers hielt er, wie viele linke Intellektuelle, für einen vorübergehenden
Spuk. Nach Ablauf des Stipendiums reiste er im Spätsommer mit Beauvoir durch
Deutschland, Österreich und die 1919 neugeschaffene Tschechoslowakei.
Ab
Herbst 34 unterrichtete er wieder in Le Havre, wo er sich einsam und
deplatziert fühlte und schließlich depressiv wurde. Denn auch die allgemeine
Stimmung war schlecht in der Hafenstadt, die besonders stark unter der
Weltwirtschaftskrise litt, die mit drei, vier Jahren Verspätung nun auch
Frankreich erreicht hatte und lähmte. Sartres Depression verstärkte sich durch
Wahn- und Panikphasen (wie er sie
Roquentin in La Nausée erleben lässt); denn er hatte sich 1935, nachdem er eine
philosophische Doktorarbeit über die Vorstellungskraft (imagination) zu
schreiben begonnen hatte, von einem befreundeten Arzt die Droge Meskalin
spritzen lassen. Immerhin nahm er am 14. Juli 35 mit Beauvoir an der
antifaschistischen Großkundgebung in Paris teil, mit der die franz.
Linksparteien und Gewerkschaften gemeinsam auf den wachsenden Zulauf der
faschistischen Parteien auch in Frankreich reagierten.
Ebenfalls
1935 begannen Beauvoir und er ein Dreiecksverhältnis samt Wohngemeinschaft mit
einer jüngeren Frau (Olga). Dieses Ausprobieren „einer neuen Lebensform“, wie
sie meinten, brachte allerdings bald mehr Verdruss als Genuss. Beauvoir
reflektierte es in ihrem Roman L’Invitée/Die Eingeladene, Sartre knapp
10 Jahre später in seinem Stück Huis clos/Geschlossene Gesellschaft.
1936
beendete Sartre seinen langfristig bekanntesten Roman, La Nausée, an dem
er seit Berlin gearbeitet hatte und dessen Titel eigentlich Melancholia
lauten sollte. Er war sehr enttäuscht, als der Gallimard-Verlag ihn ablehnte.
Trotzdem schrieb er nun weiter erzählende Texte. In seinen eigenen Augen war er
offenbar zum belletristischen Autor geworden (ganz wie sein Ich-Erzähler
Roquentin im Roman); und er wurde bestärkt von Beauvoir, die inzwischen
ebenfalls an einen Roman arbeitete.
Im
Mai und Juni 36 gingen sie beide aus Prinzip zwar nicht wählen, waren aber
begeistert, als die linke „Volksfront“ (Front populaire) die Wahlen gewann. Der
Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli bewegte auch Sartre zutiefst. Er
verwarf jedoch den Gedanken, sich als Freiwilliger den antifaschistischen
Internationalen Brigaden anzuschließen, denn er war soeben nach Laon versetzt
worden und damit auch näher an Paris herangerückt. Nach einer Italienreise mit
Beauvoir beließ er es dabei, auf den Spanischen Bürgerkrieg literarisch zu
reagieren mit der Novelle Le Mur (Die Mauer), deren absurder Schluss
wie eine Rechtfertigung für sein Nicht-Engagement wirkt. Die Novelle, ein
kleines Meisterwerk, erregte die Aufmerksamkeit nicht nur des großen André Gide
(s.o.), der es im Juli 37 für die Nouvelle
Revue Française angenommen und dort publiziert hatte. Ebenfalls 1937 wurde
schließlich auch sein Roman angenommen, wobei der Verleger Gallimard vorschlug,
er solle ihn kürzen, was ihm gut bekam, und ihn nicht Melancholia, sondern La
Nausée (eigentlich: die
Übelkeit, der Schwindelanfall) betiteln.
Zum
Schuljahr 37/38 wurde Sartre endlich nach Paris, genauer dem Vorort Neuilly,
versetzt; Beauvoir bekam zugleich eine Stelle in Paris-Stadt. Sie wohnten nun
in zwei Zimmern eines kleinen Hotels im XIV. Arrondissement. An eine Heirat
dachten sie trotz ihrer engen Beziehung nicht: Er legte keinen Wert auf eine
bürgerliche Existenz, und sie wollte emanzipiert leben, wozu gehörte, dass sie
weder Ehefrau noch Mutter sein mochte (zumal sie ohnehin wohl eher Frauen
liebte als Männer). Um Sartre nicht unnötig darben zu lassen, ermunterte sie
ihn zu Liebschaften und versuchte sogar, ihm Schülerinnen von ihr zuzuführen.
Es gibt Indizien dafür, dass er einmal sogar im Begriff war, Vater zu werden.
Im
April 38 kam mit erfreulichem Erfolg La
Nausée heraus, ein Roman dessen Ich-Erzähler Roquentin ähnliche Sinn- und
Selbstfindungsprobleme hat, wie sie auch Sartre in den Jahren von Le Havre
hatte, und der, so wie dieser, die Krise schließlich nicht durch Selbstmord
löst, sondern mit dem Entschluss Romancier zu werden (vgl. hierzu meine unten
angehängte Studie). Auch ein Sammelband mit Erzählungen aus den letzten drei
Jahren, den Sartre 1939 unter dem Titel Le
Mur herausgab, fand Beachtung. Zugleich wurde er von Gide beauftragt, eine
Artikelserie über moderne Autoren für die Nouvelle
Revue Française schreiben: Sein Durchbruch als hoffnungsvoller Literat war
geschafft. Er machte sich nun an ein größeres Romanprojekt und begann dessen
ersten Band, L'Âge de raison/Die Zeit der
Reife (eigentl. das Alter der
Vernunft).
Waren
er und Beauvoir bisher fast hochmütig „freischwebende Intellektuelle“ gewesen
(eine Wortschöpfung des Soziologen Karl Mannheim), so begannen sie nun,
angesichts des zunehmenden Expansionsdrangs Hitlers, sich politisch zu
engagieren. Als Frankreich am 3. September Deutschland den Krieg erklärte,
wurde Sartre eingezogen. Die langen Monate von „la drôle de guerre“, des
Krieges, der keiner zu sein schien, verbrachte er im Elsass, wo er fleißig an
seinem Roman schrieb, ein Tagebuch führte und sich Notizen für eine
philosophische Abhandlung machte. Im April 40 konnte er auf einem Urlaub in
Paris den „prix du roman populiste“ entgegennehmen. Während der am 10. Mai
beginnende deutsche Angriff, „le blitz allemand“, Frankreich ins Chaos stürzte,
schrieb Sartre fieberhaft an den letzten Seiten von L'Âge de raison. Ende Juni, kurz vor dem Waffenstillstand, geriet
er mit seiner Einheit in Gefangenschaft. Hierbei nahm ihm ein deutscher
Offizier das fertige Manuskript ab, verwahrte es jedoch und ließ es ihm später
wieder zukommen.
Während
in Frankreich der neue Staatschef Maréchal Pétain ein rechtsautoritäres, von
der großen Mehrheit der Franzosen aber durchaus akzeptiertes Regime errichtete,
verbrachte Sartre in einem Kriegsgefangenenlager bei Trier fast glückliche
Monate. Er schloss Freundschaften, z.B. mit linkskatholischen Priestern, und
verfasste ein (verdeckt) politisches Stück, Bariona
ou le Fils du tonnère/B. oder der Sohn des Donners, das er mit Kameraden zu
Weihnachten aufführte. Anders als die anderen Gefangenen, die nach und nach als
„Fremdarbeiter“ auf deutsche Fabriken und Bauernhöfe verteilt wurden, kam
Sartre wegen seines Augenleidens im März 41 frei. Beauvoir, die sich offenbar
mit den neuen Verhältnissen arrangiert hatte, war frappiert von dem politischen
und moralischen Rigorismus, den er aus dem Lager mitbrachte.
Beide
aktivierten nun alte Bekanntschaften und gründeten eine Widerstandsgruppe Socialisme et liberté/Sozialismuns und
Freiheit, die sich mehr gegen das Pétain-Regime richtete als gegen die
deutschen Besatzer (die man zu dieser Zeit in Frankreich kaum wahrnahm).
Sartres Versuche, Kontakte zu kommunistischen Bekannten zu knüpfen und mit
ihnen zusammenzuarbeiten, schlugen fehl. Die Kommunisten, die als Partei schon
1939 verboten worden waren und seitdem im Untergrund agierten, wiesen ihn ab.
Sie misstrauten ihm wegen seiner anormal raschen Entlassung aus der
Kriegsgefangenschaft und gaben die Parole aus, er sei ein Agent der deutschen
Gestapo (Geheime Staatspolizei). Überdies hielten sie ihn für einen
anarcho-linken kleinbürgerlichen Intellektuellen, der (ähnlich wie der junge
Intellektuelle Hugo im Stück Les mains
sales/Die schmutzigen Hände) für konkrete Aktionen unbrauchbar war, z.B.
für Attentate auf deutsche Soldaten und militärische Einrichtungen, wie sie
Kommunisten nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 41
auszuüben begannen, um mehr deutsche Truppen in Frankreich zu binden.
In
den Sommerferien machte Sartre mit Beauvoir per Fahrrad eine so anstrengende
wie abenteuerliche Reise ins unbesetzte Südfrankreich, um Kontakte zu als links
bekannten Autoren zu suchen, die sich dorthin zurückgezogen hatten. Der Erfolg
war gleich Null. Immerhin entwickelte er auf dieser Fahrt die Konzeption für
sein Stück Les Mouches/Die Fliegen.
Hierin erschlägt ein ihm selber ähnelnder Oreste den dem Staatschef Pétain
ähnelnden Tyrannen Égisthe, wird jedoch vom Volk, das er befreien will,
abgelehnt und verlässt enttäuscht über dessen politische Unreife das Land.
(Vgl. hierzu meine Interpretation am Ende dieses Artikels.)
Auch
Sartre selbst löste 1942 frustriert seine Widerstandsgruppe auf und zog sich
zurück an den Schreibtisch. Er stellte Les
mouches fertig (das ursprünglich Oreste
heißen sollte) und schrieb an L'Être et
le néant/Das Sein und das Nichts,
seinem ersten längeren philosophischen Text, der sein philosophisches Hauptwerk
wurde. Im Oktober wurde er an eines der besten Pariser Gymnasien versetzt, das
Lycée Condorcet. Noch 1942 beendete er L'Être
et le néant und betätigte sich wieder als Erzähler, indem er den an L'Âge de raison anschließenden Roman Le
Sursis/Der Aufschub begann.
Als
nach der Landung der Anglo-Amerikaner in Nordafrika (Nov. 42) und vor allem
nach dem Desaster der sieggewohnten deutschen Truppen in Stalingrad (Jan./Febr.
43) eine Niederlage Deutschlands möglich zu werden schien, organisierte sich in
Frankreich zunehmend der Widerstand. Auch Sartre wurde nun wieder aktiv und
betätigte sich im Comité national des écrivains (Nationalkomittee der
Schriftsteller).
Im
Frühjahr 43 erschienen trotz Papierknappheit L'Être et le néant und Les
mouches. Letzteres wurde am 2. Juni sogar uraufgeführt – mit Plazet der
deutschen Zensur, aber nur mäßigem Erfolg. Später im Jahr verfasste Sartre sein
erstes Film-Drehbuch, Les jeux sont
faits/Das Spiel ist aus. Vor allem schrieb er, in wenigen Tagen, sein wohl
bestes und vielleicht auch persönlichstes Stück: Huis clos/Geschlossene Gesellschaft, ein Beziehungsdrama um einen
(ihm selber ähnelnden) Publizisten und Literaten, eine hochintelligente Lesbe
und eine attraktive Blondine, die sich gegenseitig umwerben, verletzen und
hassen und sich so das Leben zur Hölle machen, wo sie der Fiktion nach schon
sind. Als Huis clos am 27. Mai 44
erfolgreich aufgeführt wurde (zwei Wochen vor der Landung der Alliierten in der
Normandie), bestätigte es Sartre als eine zentrale Figur im intellektuellen
Paris der Zeit. Tatsächlich kannte er inzwischen alle Leute, die dort von
Belang waren oder es werden sollten: Jean Cocteau, Michel Leiris, Albert Camus,
Raymond Queneau, Georges Bataille, Jean Genet, Armand Salacrou, Jacques Lacan
u.a.m.
Nach
der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni zogen er und Beauvoir es
vor, Paris zu verlassen. Sie kehrten erst nach dem Abzug der Deutschen (19.
August) zurück. Da er inzwischen gut von seiner Feder leben konnte, ließ sich
Sartre vom Schuldienst beurlauben (und quittierte ihn 1960 schließlich ganz).
Anfang 1945 flog er als Reporter in die USA, die ihn wenig begeisterten.
Nachdem in diesen Wochen sein Stiefvater gestorben war, zog er nach seiner
Rückkehr bei seiner Mutter ein. Flüchtige Heiratspläne (mit einer Französin,
die er in den USA kennengelernt hatte) realisierte er zu Beauvoirs
Erleichterung nicht.
In
den Nachkriegsjahren war er dann der tonangebende franz. Intellektuelle: Sein L'Être et le néant und der Essai L'Existentialisme est un humanisme (1946)
galten als Hauptwerke der neuen Philosophie des Existenzialismus (wonach der
Mensch durch den Zufall seiner Geburt in die Existenz „geworfen“ ist, aber die
Freiheit, wenn nicht die Aufgabe hat, selber seinem Leben einen Sinn zu geben).
Seine erzählenden Werke wurden gekauft und gelesen, wobei La Nausée
rückblickend in einen quasi philosophischen Text umgedeutet wurde. Die Romane L'Âge de raison und Le Sursis erschienen 1946 gemeinsam unter dem Titel Les chemins de la liberté/Wege der Freiheit; 1949 folgte als ein dritter Teil La Mort dans l'âme/Den Tod in der Seele),
der Sartres letzter Roman blieb. Seine Stücke wurden auf allen franz. und
vielen europäischen Bühnen gespielt: 1946 Morts
sans sépulture/Tote ohne Begräbnis und La
Putain respectueuse/Die ehrbare Dirne (das Erfahrungen Sartres von seiner
Amerikareise spiegelt), 1948 Les mains
sales (wo der bürgerliche junge Intellektuelle Hugo den von den Kommunisten
ausgegrenzten früheren Sartre verkörpert, der reformistische Sozialist Hœderer
dagegen den neuen, realpolitisch denkenden Sartre).
Auch
als Publizist war Sartre höchst aktiv. Die von ihm 1945 gegründete Zeitschrift Les Temps modernes/Moderne Zeiten wurde
ein Forum für fast alle Autoren von Rang.
Entsprechend
wurde sein Leben immer bewegter. Er gab Interviews und machte (oft zusammen mit
Beauvoir) Vortragsreisen im In- und Ausland. Auch politisch blieb er tätig: So
war er 1948 Mitbegründer einer kurzlebigen Partei des „dritten Weges“ zwischen
Sozialisten und Kommunisten. 1950 schlug er sich jedoch ganz auf die Seite der
Kommunisten, was den Bruch mit etlichen gemäßigt linken Intellektuellen, z.B.
Camus, nach sich zog. Schon 1956 kehrte er wiederum den Kommunisten den Rücken,
weil er die brutale russische Intervention in Ungarn missbilligte.
Natürlich
schrieb Sartre auch in allen diesen Jahren immer noch viel. So verfasste er
zahlreiche literaturkritische Artikel (gesammelt gedruckt in den Bänden Situations, 1947-65) und
literaturtheoretische Essais (insbes. den politisches Engagement vom Autor
fordernden Qu'est-ce que la
littérature/Was ist Literatur, 1947). Des weiteren entstanden mehrere
Autorenmonografien (Charles Baudelaire 1947; Jean Genet 1952; Stéphane Mallarmé
1953 und Gustave Flaubert 1971-72) sowie dieses und jenes Theaterstück
(darunter 1951 Le Diable et le bon
Dieu/Der Teufel und der liebe Gott oder 1959 Les séquestrés d'Altona/Die Eingeschlossenen). Große Aufmerksamkeit
fand eine Geschichte seiner Kindheit unter dem Titel Les mots/Die Wörter (1963). Sartres Hauptrolle war jedoch seit
spätestens 1949 nicht mehr die eines belletristischen oder philosophischen
Autors, sondern die eines Allround-Intellektuellen, eines „maître à penser“,
Vordenkers und Mahners der Nation, als
welcher er z.B. gegen Menschenrechtsverletzungen in den französischen
Kolonialkriegen und anderswo eintrat. Naturgemäß trug ihm dies nicht nur
Bewunderung ein, vielmehr wurde er für viele politisch rechte Franzosen zum
Hassobjekt, und zwar in einem Umfang, der heute kaum mehr nachvollziehbar ist.
Als er während der „Mai-Revolution“ 1968 kurzzeitig sehr entschlossen für die
Sache fundamentalistisch linker Studentengruppen eintrat, wurde sogar seine
Festnahme gefordert, was Staatspräsident de Gaulle jedoch ablehnte mit dem
bekannten Statement, „Voltaire sperrt man nicht ein“.
1964
bekam Sartre den Nobel-Preis zuerkannt, er lehnte aber ab. Sein Verhältnis zu
Beauvoir (nach wie vor per „Sie“!) bestand weiter, hatte sich allmählich aber
gelockert. Ab 1973 war er praktisch blind, so dass er nicht mehr schreiben
konnte. Trotzdem versuchte er weiter präsent zu sein, z.B. mit Interviews und
gelegentlichen öffentlichen Auftritten. So besuchte er 1974 spektakulär den
seines Erachtens politischen („RAF“)-Häftling Andreas Baader in dessen
Stuttgarter Gefängnis. 1979 nahm er noch an einer Pressekonferenz zugunsten der
vietnamesischen Flüchtlinge teil, der „boat-people“.
In
der Tat blieb Sartre eine öffentliche Person bis zuletzt: Bei seiner Beerdigung
folgten 50.000 Menschen dem Sarg. Auch wenn inzwischen seine Stücke kaum mehr
gespielt werden, sein erzählerisches Werk (bis auf die ständig nachgedruckten Le Mur und La Nausée) kaum mehr gelesen wird und vor allem seine Philosophie
wohl nur noch von historischem Interesse ist, bleibt sein Rang als eine der
wichtigsten Figuren des geistigen Frankreich im 20. Jh. unbestritten.
Als Anhang
folgt meine zunächst als Vortrag konzipierte Studie (Anmerkungen leider am
Schluss): „La Nausée von
Jean-Paul Sartre: Die Geschichte einer Identitätssuche in politisch polarisierter
Zeit“. In::
Edward Reichel / Heinz Thoma (Hrg.), Zeitgeschichte
und Roman im Entre-deux-guerres. Bonn 1993, S. 221-232; wieder abgedruckt
in: G. P., Interpretationen. Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter,
1997, S. 140-149)
In Literaturgeschichten
und Handbüchern gilt Sartres Anfang 1936 unter dem Titel Melancholia beendeter und im Frühjahr 38 nach einer kürzenden Überarbeitung
unter dem Titel La Nausée bei
Gallimard veröffentlichter Erstlingsroman meist als eine fiktionale
Illustration seiner Philosophie. Natürlich hat diese Sicht ihre Gründe. In der
Tat wurde La Nausée im Herbst 31
konzipiert als Factum sur la contingence,
d. h. als ein Libellum, in dem der gerade als Gymnasialprofessor in Le
Havre debütierende Sartre jugendlich aufsässig den sinngläubigen Optimismus der
etablierten Schulphilosophie zu erschüttern gedachte; und entsprechend der
ursprünglichen Zielsetzung enthält auch der Roman, der dann in zwei
Überarbeitungsphasen (1933/34 und 1935/36) aus dem Libellum hervorging, zahlreiche
kürzere und längere als philosophisch anzusprechende Passagen. Vor allem aber
wurde er, als er nach dem Krieg, also rund zehn Jahre nach seiner Entstehung,
von einer breiteren Leserschaft rezipiert wurde, als ein Werk des inzwischen
bekannten „Existentialisten“ Sartre gelesen, d. h. es wurden vor allem die
genannten philosophischen Passagen und hier wiederum besonders diejenigen
Aspekte wahrgenommen, die auf die Existentialphilosophie vorausdeuteten oder
vorauszudeuten schienen. Und eben diese vom Image des Autors bestimmte,
weitgehend ahistorische Sicht hat auch weiterhin und meist bis heute das Bild
des Romans in der Forschung und vor allem der Lehre bestimmt.2)
Sieht
man jedoch genauer, so erweist sich das gängige Bild als ziemlich partiell,
denn es blendet einen großen Teil des facettenreichen und vielschichtigen
Textes aus. Ich selber werde denn auch anders lesen. Und zwar werde ich
ausgehen von der globalen Deutungshypothese, dass La Nausée die Geschichte einer Identitätskrise und Identitätssuche
ihres Protagonisten und Ich-Erzählers Roquentin ist und dass diese Geschichte
die Identitätskrise und Identitätssuche des 25-30jährigen Sartre selber während
der Entstehungszeit des Werkes spiegelt3), einer Zeit, die geprägt
war von den aus der Weltwirtschaftskrise nach 1929 resultierenden starken
sozialen Spannungen, die ihrerseits das politische, aber auch das geistige
Leben in Frankreich wie in vielen anderen Ländern radikalisierten und
polarisierten.4)
Diese Deutungshypothese
wird zunächst von außen gestützt durch die biografischen Informationen, über
die wir verfügen.5) Dem ersten, individuellen, Element der
Hypothese, gemäß dem La Nausée eine
Identitätskrise, und zwar die des Autors selber spiegelt, entspricht der
Umstand, dass die Jahre 1931 bis 36, in denen Sartre mit dem Werk beschäftigt
war, eine schwierige Phase des Übergangs und der Selbstfindung für ihn waren.
Hatte er nämlich die Jahre davor, d. h. seine Studien- und Militärzeit,
noch relativ problemlos mit der quasi vorläufigen Identität eines angehenden professeur de philosophie gelebt, der
zugleich schon fleißig seine Feder übte, weil er sich seinen Namen – und keinen
geringen – als ein homme de lettres
machen würde, so war es mit dieser Problemlosigkeit jetzt vorbei. Denn nachdem
er der professeur geworden war, erhob
sich nun drängend die Frage, wie er der homme
de lettres werden sollte, der
sein eigentliches Ziel war. Sollte er theoretisch-wissenschaftlich schreiben
wie sein ein Jahr älterer Ex-Studienkamerad und philosophischer Diskussionspartner
Raymond Aron, oder sollte er es mit der Belletristik versuchen wie sein Freund
und Altersgefährte Paul Nizan, der inzwischen fast schon arriviert war, oder
wie seine drei Jahre jüngere Gefährtin Simone de Beauvoir, die an ihrem ersten
Roman saß? Offensichtlich neigte Sartre anfangs mehr der Wissenschaft zu, ohne
jedoch mit seinen philosophischen und psychologischen Schriften den Durchbruch
zu schaffen, bis sich ihm schließlich das nebenher weiterverfolgte Factum zum Roman auswuchs, also zu einem
belletristischen Text, dessen immer neue Umarbeitung und vor allem dessen
Fertigstellung ihn am Ende auch in seinen eigenen Augen zu dem Erzähler werden
ließ, der er dann mit der Novellensammlung Le
Mur und der Romantrilogie Les chemins
de la liberté für einige Jahre hauptsächlich sein sollte.
Doch auch das
zweite, historische, Element unserer Deutungshypothese, wonach La Nausée die radikaliserte und
polarisierte Stimmung seiner
Entstehungszeit reflektiert, wird von den biografischen Fakten gestützt. Zwar
gefiel sich Sartre, ganz wie Simone de Beauvoir, während der Abfassung des
Werkes noch in der Rolle des nicht-engagierten freischwebenden Intellektuellen,
der es u. a. für unter seiner Würde hielt, bei Wahlen seine Stimme
abzugeben, doch lebte er deshalb keineswegs abseits der gesellschaftlichen
Realität. Dies zeigen die häufigen politischen Diskussionen, von denen wir
wissen, z. B. mit dem überzeugten Sozialisten Aron oder dem
kommunistischen Parteimitglied Nizan, die ihn jeweils für ihre Position zu
gewinnen versuchten, sowie die sonntäglichen hitzigen Dispute mit seinem
bürgerlich-konservativen Stiefvater Joseph Mancy, dem er als nichts weniger
denn ein eingefleischter Bolschewist erschien. Es wäre seltsam, wenn diese
Dinge keine Spuren in La Nausée
hinterlassen hätten.
Aber sehen wir
nunmehr den Text. Unserer globalen Deutungshypothese bzw. deren erstem Element,
dem zufolge wir es mit der Geschichte einer Identitätskrise und –suche zu tun
haben, entspricht zunächst die Konzeption des Ganzen als eines in der Ich-Form
verfassten und mehr auf Introspektion und Reflexion als auf Aktion
ausgerichteten Tagebuches. Des weiteren entspricht ihr die Zeitstruktur,
d. h. die Konzentration des Geschehens um den Ich-Erzähler Roquentin auf
einen sehr kurzen, als Phase beschleunigter innerer Entwicklung vorzustellenden
Zeitraum. Ihr entspricht vor allem aber die Handlung. Diese nämlich beginnt,
nach einem kurzen undatierten Vorspiel, mit dem am 25. Januar 1932 realisierten
Beschluss Roquentins, sich durch tägliche Aufzeichnungen Klarheit über das
offensichtliche, ihn ängstigende Sich-Auflösen seiner bisherigen Identität zu
verschaffen, und sie führt ihn durch gut vier Wochen eines oft ziellos
wirkenden Getriebenseins, sich verdichtender Einsichten in sein Scheitern als
Historiker und Biograf (als den er sich bis dahin sah), aber auch einiger
entscheidender, ihm seine Lage bewusster machende Begegnungen hindurch zu der
Idee, seinen derzeitigen Aufenthaltsort Bouville zu verlassen, in seiner
Heimatstadt Paris Romanautor zu werden und in dieser Rolle eine neue,
tragfähigere, vielleicht sogar endgültige Identität zu finden.6)
Unsere Hypothese,
die wir nunmehr stets im Sinne auch ihres zweiten Elementes applizieren wollen,
wonach die Identitätssuche des Protagonisten (ganz wie die gleichzeitige Suche
Sartres selbst) vor dem Hintergrund einer politisch polarisierten,
konfrontationsgeprägten Zeit, nämlich der Jahre 1931-36, zu sehen ist, erklärt
aber nicht nur die großen Züge des Romans, sondern auch die meisten seiner
Einzelaspekte und Details.
Der wichtigste
dieser Aspekte (auf den ich mich in dieser Studie konzentrieren möchte), ist
die konfrontatorische, fast aggressive Grundtendenz, die die Figur Roquentins
bestimmt. Sie spiegelt prinzipiell zunächst ganz offenbar den Sachverhalt, dass
die Identitätsfindung eines Individuums ein Prozess ist, bei dem vieles, sogar
sehr vieles, über ein Sich-Absetzen und
–Abgrenzen läuft. Interessant speziell für Roquentin jedoch, und damit für den
hinter ihm stehenden Sartre selber, ist es zu sehen, worin dasjenige besteht,
was abgelehnt wird und der Abgrenzung dient.
Dies ist
einerseits – und das wäre der traditionell als zentral erachtete Punkt des
Romans – eine bestimmte Philosophie, nämlich die quasi offizielle, pflichtgemäß
optimistische, dem sinnverbürgenden cartesianischen cogito ergo sum vertrauende Schulphilosophie, die der Autor seinen
Protagonisten als illusionär und inadäquat ablehnen und durch eine eigene
Philosophie ersetzen lässt, die dezidiert nihilistisch, wenn nicht destruktiv
ist, eine Philosophie, die ihren Urheber zwar alles andere als glücklich macht,
ihm aber ein Bewusstsein elitärer Besonderheit und damit ein Stück Identität
verschafft.
Noch
interessanter allerdings ist, dass Sartre dieser philosophischen Abgrenzung
Roquentins zugleich eine sehr konkrete Stoßrichtung hin auf bestimmte Personen
und Personengruppen gibt7) und dass er seinen Protagonisten und
alter ego überhaupt in meist recht hochmütiger, oft genug bissiger Satire ablehnen
und Hiebe austeilen lässt, so als sollten auch hier durch Abgrenzung die
Konturen der eigenen Identität gesichert werden.
Wer aber sind
jene Personen bzw. Gruppen, und wie und worin werden sie attackiert? Bei einer
ersten Lektüre mag man zunächst den Eindruck haben, dass Sartre bei den
Personen und Gruppen, von denen er Roquentin sich absetzen lässt, kaum ein
System oder irgendwelche als begründet erscheinenden Präferenzen hat, sondern
dass er ihn im Sinne einer Identitätssuche per Abgrenzung quasi satirische
Rundumschläge vornehmen lässt. Sieht man jedoch genauer, so erkennt man, dass
jene Schläge keineswegs ungerichtet, sondern alle in irgendeiner Form auf
bürgerliche Sozialkategorien der Zeit gezielt sind. So verkörpert etwa der alte
Docteur Rogé, mit dem Sartre seinen Roquentin in einem Augenblick diffuser
Wahnsinns-Ängste konfrontiert, den Typ des älteren, in seiner Jugend zwar
vielleicht einmal progressiven, inzwischen aber nicht nur senil, sondern starr
und konservativ gewordenen Bildungsbürgers, der die Jüngeren mit seiner
vermeintlichen Lebenserfahrung zu dominieren und von Veränderungen abzuhalten
versucht. Derselben Kategorie ist wohl Roquentins frühere Geliebte Anny
zuzurechnen, die als eine Frau erscheint, die, auch wenn sie einen gewissen Grad
an Emanzipation erreicht hat, letztlich auf den schönen Schein, also einen
typisch bildungsbürgerlichen, unauthentischen Wert fixiert geblieben ist und
die, obwohl sie inzwischen ähnlich desillusioniert ist wie Roquentin, sich als
unkritisch und damit nicht entwicklungsfähig erweist, also von dem auf seine
Krise und seine, wenn auch schmerzhafte, Entwicklung stolzen Roquentin hinter
sich gelassen werden kann. Auch der „Autodidakt“, von dem noch die Rede sein
wird, verkörpert eine bestimmte, von Roquentin nicht goutierte bürgerliche
Kategorie, ähnlich wie die diversen kleineren Angestellten und Geschäftsleute
in den Cafés, wo er verkehrt, wie der hohe Kultusbeamte Impétraz auf seinem
Denkmalssockel oder wie die Herde der aus allen bürgerlichen Gruppen zusammengewürfelten
Spaziergänger auf der sonntäglichen Strandpromenade.
Sieht man
allerdings noch genauer, so stellt man fest, dass Sartre es vor allem auf zwei
Kategorien der Zeit abgesehen hat: auf das die Schaltstellen der Gesellschaft
beherrschende, mit der klassischen politischen Rechten gleichzusetzende
Großbürgertum und auf das sich aus unterschiedlichen Gruppen rekrutierende
Kleinbürgertum, das die soziale Basis der politischen Strömungen und
Unterströmungen der gemäßigten Linken darstellte. Beide, rechtes Groß- und
halblinkes Kleinbürgertum, werden am ausführlichsten dargestellt und am
heftigsten attackiert und dienen so der Identitätsfindung Roquentins, und damit
Sartres, nicht nur durch das Sich-Absetzen als solches, sondern auch durch eine
politisch und ideologisch determinierte Konfrontation. Diese groß- und kleinbürgerlichen
Individuen und Gruppen sollen uns im folgenden besonders interessieren. Dabei
stelle ich das wichtigste und eigentlich auch einzig als solches erscheinende
Individuum, nämlich den autodidacte,
erst einmal zurück und befasse mich mit denjenigen Figuren, die vor allem als
typische Vertreter des Großbürgertums erscheinen.
Sartre macht uns
ihre Erfassung und Darstellung leicht, indem er sie in einigen längeren
Episoden konzentriert auftreten lässt. Die erste dieser Episoden ist der
Sonntagsvormittagsspaziergang Roquentins auf der Flaniermeile Bouvilles, der
Rue Tournebride. Sartre erwähnt zwar zunächst auch Arbeiter und kleine
Angestellte, die sich mit ihren Frauen zum Promenieren in die Stadt begeben, de
facto aber lässt er Roquentin nur die großbürgerlichen Anteile der flanierenden
Menge wahrnehmen und beschreiben, nämlich Angehörige der alteingesessenen und
hochmütigen Fabrikanten-, Großkaufmanns- und Reederfamilien vom Villenhügel
Coteau Vert und Vertreter der neureichen, aber selbstbewussten Bourgeoisie vom
Boulevard Maritime, deren wirtschaftliches Betätigungsfeld nicht spezifiziert
wird8). In dieser sichtlich sehr sorgfältig gearbeiteten Episode
karikiert Sartre mit bissiger Ironie und satirischer Verve großbürgerliche
Grußzeremonien. Und mit der Karikatur dieser als prätentiös und verlogen
vorgestellten Zeremonien attackiert er die beiden zwar rivalisierenden, in
ihrem Dünkel und ihrer Borniertheit letztlich aber gleichen Gruppen der die
Stadt beherrschenden Oligarchie, einer Oligarchie, deren Herrschaftsanspruch er
durch diese Attacke lächerlich zu machen und zu erschüttern versucht.
Dass es hierbei
nicht nur um ein bloßes Sich-Absetzen oder um vage Gesellschaftskritik geht, sondern
um eine politisch-ideologisch zu verstehende Attacke, das zeigt sich an einem
die Episode eröffnenden ironischen Exkurs Roquentins alias Sartres über die
Baugeschichte der prächtigen Kirche, aus der viele der großbürgerlichen
Flaneure gerade kommen. Diese Kirche nämlich ist eine Art Zwilling von Sacré
Cœur auf dem Pariser Montmartre, d. h. sie ist gegründet als arrogantes
Symbol des Sieges der Bourgeoisie über die revolutionäre Commune von 1871.
Eine andere
Episode, in der speziell die Großbourgeoisie als der politische und
ideologische Feind attackiert wird, ist der Besuch Roquentins im Bouviller
Museum. Roquentin, der wie Sartre selbst längst heiratsfähige Junggeselle,
stößt zunächst auf das von der Regierung gestiftete Bild La Mort du célibataire. Aber er weist die staatliche Mahnung, zu
heiraten und sich reproduktiv in die Gesellschaft einzuordnen, trotzig zurück.
Er bekennt sich vielmehr zu seiner zwar marginalen und unbequemen, aber auch
elitären Rolle des noch mit seiner Selbstfindung beschäftigten Intellektuellen.
Durch diesen moralischen Sieg bestärkt und bestätigt, lässt er dann die
großbürgerlichen Honoratioren und Gründerväter der Stadt Revue passieren: den
Großkaufmann Jean Pacôme als Inbild des seiner selbst und seiner Rechte
unbezweifelt sicheren autoritären Unternehmers und Chefs; einen namenlos
bleibenden älteren Großbürger als Inbild des patriarchalischen
Familienoberhaupts; den Général Aubry als soldatische Version des Bourgeois;
den Président Hébert als die schöngeistige Ausgabe und vor allem den
Medizinprofessor Rémy Parottin als die universitäre Spielart, eine quasi
besonders gefährliche, weil sie durch ihr scheinliberales und
scheinintellektuelles Auftreten aller jugendlichen Kritik die Spitze abbricht.
Weiter geht es mit dem Generaldirektor Jean Parottin als Verkörperung des
ungebrochenen großbürgerlichen Anspruchsdenkens, mit dem Abgeordneten Olivier
Blévigne als hyperkonservativem und im Bedarfsfall brutalen politischem Arm
der Großbourgeoisie und schließlich mit dem jungen Octave Blévigne, dem
Polytechnicien, als dem Typ des von bestimmten Eliteschulen geformten
großbürgerlichen Nachwuchses. Sartre endet, nach zehn bis zwanzig Namen, die
nur en passant genannt werden, mit Mme Théréson, dem Inbild der frommen,
pflichtbewussten und wohltätigkeitsaktiven großbürgerlichen Gattin, Mutter und
Dame.
Die ganze lange
Passage funkelt vor Ironie und glänzt durch meisterhafte parodistische
Einlagen. Allerdings wird auch deutlich, dass Sartres Verhältnis zu dieser
gesellschaftlichen Elite nicht ohne Komplexe und Neid zu sein scheint. Gar zu
häufig nämlich lässt er seinen Roquentin quasi überkompensieren in seinem
Versuch, sich von jenen selbstbewussten Erfolgsmenschen abzusetzen und sich
über sie zu erheben. So degradiert er z. B. den Generaldirektor Parottin
zum heimlichen Pantoffelhelden, um ihn unterlegen sein zu lassen; den
Abgeordneten Blévigne verkleinert er auf lächerliche 1,53 m Körpergröße8);
dessen Sohn, den Polytechnicien, lässt er kränkeln und früh sterben. Vor allem
lässt er Roquentin am Ende alle diese Großbürger ziemlich vehement und nicht
sehr rational begründet als „salauds“ titulieren, um sie zu disqualifizieren
und moralisch zu besiegen.
Natürlich fragt
man sich als Interpret, warum Sartre seinen Protagonisten gerade die Großbourgeoisie
und ihre Ideologie so ausführlich und gehässig attackieren lässt, um sich
abzusetzen und in der Konfrontation eine eigene Identität zu entwickeln.
Vermutlich gibt es zwei Erklärungen, die sich aber nicht ausschließen, sondern
ergänzen. Die eine ist die allgemeine, sozialpsychologisch bestimmte Antipathie
des Bildungsbürgers Sartre gegenüber der als ökonomisch und sozial überlegen
erlebten Großbourgeoisie. Die zweite und sicher wichtigere aber ist die
politisch-ideologisch determinierte Aversion des linken Intellektuellen Sartre
gegen jenen Hort des Konservativismus und der Reaktion, den ihm die
Großbourgeoisie darzustellen scheint. Diese Aversion aber spiegelt zweifellos
die konkreten Verhältnisse der Entstehungsjahre von La Nausée, d. h. genauer jene enorme politische und
ideologische Radikalisierung und Polarisierung in der von der
Weltwirtschaftskrise erfassten französischen Gesellschaft, jenen erbitterten
Antagonismus zwischen rechts und links, der z. B. in dem rechten
Beinahe-Putsch vom 6. Februar 1934, in den linken Massenkundgebungen der Jahre
34 und 35, der Bildung der antifaschistischen Volksfront 1935 und dem
hasserfüllten Wahlkampf vom Frühjahr 36 zum Ausdruck kam und der in den wilden
Streiks und Fabrikbesetzungen nach der Wahl und in den rechten
Bürgerkriegsdrohungen nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges
kulminieren sollte.
Sartre gefiel
sich zwar, wie wir schon sahen, zu dieser Zeit noch in der Rolle des
parteipolitisch nicht aktiven, sondern fundamentaloppositionellen Intellektuellen,
doch seine Sympathien und seine eigene Position hatten sich eindeutig nach
links bzw. antirechts entwickelt. Und diese antirechte Tendenz wurde mehr und
mehr zu einem bestimmenden Element seiner persönlichen Identität. Der sich
angesichts der großbürgerlichen Flaneure und der Honoratiorenporträts aggressiv
seiner selbst versichernde Roquentin ist also ein alter ego Sartres, der seinem
frischentwickelten Großbürgerhass Ausdruck gibt, einem Hass, dem er wenig
später in der langen satirischen Erzählung L’Enfance
d’un chef nochmals Luft machen wird.
Wechseln wir nun
von den als Gruppe satirisch attackierten Großbürgern zu dem satirisch
attackierten Individuum, dem schon genannten und zurückgestellten autodidacte. Dieser autodidacte, der trotz seiner relativ wichtigen Rolle im Roman
keinen Anspruch auf einen Namen zu haben scheint9), ist die
Abgrenzungs- und Absetzfigur par excellence für Roquentin, eine Antifigur, an
der er sich auch in seinen schlimmsten Krisenmomenten seine grundsätzliche
Überlegenheit bestätigen kann und über die er schließlich eine Art moralischen
Sieg erzielt, der ihm die nötige Sicherheit beim Sprung in seine neue
Romancier-Identität gibt.
In dieser seiner
Eigenschaft als Antifigur par excellence ist der autodidacte wie ein Kontrastprogramm zu Roquentin und damit zu
Sartre selbst. So ist er nicht, wie Roquentin sich sieht und wie Sartre sich
sah, kreativ und kritisch zugleich, sondern ein naiver Konsument fremder Ideen.
Er ist nicht, wie Roquentin sich sieht und wie Sartre sich sah, weitgereist und
welterfahren, sondern typischer Provinzler. Er ist vor allem aber nicht, wie
Roquentin alias Sartre, ein Musterprodukt des französischen Bildungswesens, mit
Gymnasial- und Hochschulstudium und dem Elitetitel eines agrégé, er ist vielmehr nur der unbedarfte kleine Angestellte,
dessen falsch gesteuertes Bildungsstreben trotz allem guten Willen zu nichts
führen wird und dessen unselbständiges Denken trotz aller Bemühung trivial
bleiben muss, zumal er insgesamt ein lächerlicher Kleinstbürger ist, den Sartre
zum Überfluss noch homosexuell sein lässt.
Bei allen diesen
negativen Eigenschaften allerdings, und das erscheint zunächst paradox, ist der
autodidacte politisch links. Und zwar
lässt Sartre ihn nicht nur Mitglied der sozialistischen Partei S.F.I.O. sein,
vielmehr lässt er ihn in einer ausführlichen Konfrontation mit Roquentin als
Inbild aller Linken der Zeit erscheinen, ein Inbild, auf dem Roquentin,
sichtlich stellvertretend für Sartre, kräftig herumtreten darf.
Aber sehen wir
die Szene genauer. Sie spielt in einem kleinbürgerlichen Speiselokal, in das
der autodidacte Roquentin zu einem
Essen auf Essensmarken eingeladen hat. Das Gespräch, von dem der autodidacte sich eine Herzensergießung
unter Linken erhofft, kommt zuerst auf die Frage nach dem Sinn des Schreibens.
Hierbei vertritt der autodidacte die
uns sehr sartresch anmutende Position, dass jeder Autor, auch wenn er selbst
vielleicht das Gegenteil behauptet, beim Schreiben an den potentiellen Leser
denkt, den er zu erreichen und zu beeinflussen hofft. Roquentin allerdings, und
hinter ihm der Sartre von 1935/36, goutiert diese Position überhaupt nicht,
sondern bezieht sehr hochmütig und elitär eine L’art pour l’art-Position. Danach kommt das Gespräch auf den Sinn
des Lebens. Wieder vertritt der autodidacte
einen vom späteren Sartre her wohlbekannten Standpunkt, nämlich den, dass
das Leben denjenigen Sinn hat, den man selber ihm gibt, indem man handelt und
sich engagiert, und zwar sich für die Menschen engagiert. Der Sartre von
1935/36 aber lässt seinen Roquentin erneut in hochmütiger Ablehnung reagieren.
Er erklärt den autodidacte zur
lächerlich biederen Provinz-Version des zeitgenössischen Pariser
Linksintellektuellen, der nur auf der linken Humanismus-Welle mitschwimmt, sich
für seine konkreten Mitmenschen letztlich aber gar nicht interessiert.
Hiernach lässt
Sartre den autodidacte die Geschichte
seiner Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg und seines anschließenden
politischen Engagements erzählen. Diese Geschichte hat ebenfalls eine verblüffende
Ähnlichkeit mit den späteren Erlebnissen Sartres selbst im Zweiten Weltkrieg,
erscheint im Mund des autodidacte aber
als trivial und völlig unauthentisch. Mit dieser Geschichte ist das Maß quasi
voll. In einer kurzen Wachtraum-Vision Roquentins verwandelt sich der autodidacte zum lächerlichen Inbild der
gesamten Linken der Zeit, d. h. einer Linken, die bekanntlich in dem vagen
Begriff des Humanismus den geistigen Kitt gefunden zu haben glaubte, der sie
einigen konnte.
So erscheint er
zunächst in der Gestalt des humaniste
radical, also des gemäßigt linken Radikalsozialisten, der, wie Sartre
ironisch vermerkt, die Menschen vor allem in der Spielart der Beamten liebt,
d. h. eines Großteils der radikalen Stammwählerschaft. Danach nimmt er die
Form des humaniste de gauche an,
d. h. des parteilosen Linksintellektuellen, der das direkte politische
Engagement ablehnt, weil er ja alle menschlichen Werte vertritt, der aber seine
„belle culture classique“, wie Sartre hämisch sagt, für alle Schwachen und Unterdrückten
einsetzt, Hund und Katze eingeschlossen. Es folgt eine Metamorphose zum écrivain communiste, also zum
intransigenten Linksaußen und Dogmatiker, der die Menschen seit dem Zweiten
Fünfjahresplan zwar zu lieben gehalten ist, sie aber mit der alten Strenge
gängelt und züchtigt. Weiter geht es mit dem humaniste catholique, dem Linkskatholiken, dem Benjamin und
Nachzügler, der, wie Sartre bissig vermerkt, den „Engel-Humanismus“ erwählt
hat. Es folgen en passant noch andere Humanistensorten, deren genaue politische
Zuordnung vage bleibt, deren Linkstouch aber eindeutig ist. Mit anderen Worten,
Sartre karikiert und geißelt in der Figur des autodidacte die gesamte 1935/36 in der Volksfront vereinigte oder
mit ihr sympathisierende Linke.
Wenn aber Sartre,
wie vorher an Roquentins anti-großbürgerlichen Attacken abzulesen, spätestens
1936 selbst politisch links stand, wie erklärt sich dann diese satirische
Geißelung des autodidacte als
Inkarnation der ganzen zeitgenössischen Linken? Die Antwort ist offenbar die,
dass Sartre, wie schon mehrfach erwähnt, sich 1935/36 trotz seiner linken
Grundposition immer noch als fundamentaloppositioneller, d. h.
anarchistischer, Intellektueller empfand, der hoch und frei über dem
Alltagsgetümmel und über den daran beteiligten Parteien schwebte, und zwar
insbesondere auch über den Linken und den in ihre Richtungsstreitereien
verwickelten Linksintellektuellen. Im Augenblick der Fertigstellung des Romans
ist Sartre also zwar einerseits schon eindeutig links, andererseits aber noch
nicht bereit, sich aktiv in einer Partei zu engagieren, und zwar vor allem wohl
auch deshalb nicht, weil dieses Engagement nur bei den ihm letztlich
unsympathischen, weil gar zu disziplinierten Kommunisten hätte stattfinden
können. Roquentins Sich-Absetzen von dem autodidacte
als Inbild der Linken ist also nicht zuletzt auch Ausdruck der Weigerung
des damaligen Sartre, sich zu engagieren, und diese Weigerung wiederum dient
indirekt der Bekräftigung seines Entschlusses, Romancier zu sein und in dieser
Rolle seine wahre Identität zu finden.
Bekanntlich war
das Problem des Engagements damit für Sartre durchaus nicht gelöst. Zwar wird
er wenig später in der angesichts des Spanischen Bürgerkriegs entstandenen
Erzählung Le Mur dem Druck zum
Engagement noch einmal ausweichen. Bald danach aber wird er sich in einem
neuerlichen Identitätswechsel endlich doch engagieren, und wie durch eine
Ironie des Schicksals wird er fast alle politisch-ideologischen Positionen
übernehmen, die er in der Figur des autodidacte
noch gegeißelt hatte.
Schließen wir mit
einer Betrachtung über den Anfang und das Ende des Romans. La Nausée wird im Stil der Romane des 18. Jahrhunderts eröffnet
durch ein kurzes „Vorwort der Herausgeber“, wonach einige ungenannt bleibende Personen
die im folgenden unverändert abgedruckten, auf Anfang 1932 zu datierenden
Tagebuchaufzeichnungen Roquentins in dessen nachgelassenen Papieren gefunden
haben wollen. Mit anderen Worten, die von Sartre angesprochenen
zeitgenössischen Leser sollten ihre Lektüre mit der Vorstellung beginnen, dass
der Protagonist vor kurzem gestorben, und zwar wohl, wie die ersten Seiten
nahezulegen schienen, durch Selbstmord geendet sei. Das Romanende dagegen
bestätigt diese Vorstellung nicht. Man verlässt Roquentin bei dessen
Entschluss, Bouville als dem Ort seiner historischen Recherchen und dann seiner
Tagebuchaufzeichnungen den Rücken zu kehren und in Paris als Romancier ein
neues Leben zu beginnen, wobei dieser Entschluss eher in der Stimmung eines
vorsichtigen Optimismus als des Pessimismus gefasst wird. Wie nun ist diese
offensichtliche, von Sartre sicher bewusst nicht beseitigte Inkongruenz von
Anfang und Schluss zu erklären? Applizieren wir wiederum unsere globale
Deutungshypothese, wonach La Nausée
eine Krise ihres Autors in einer krisenhaften Zeit reflektiert. Hiernach
entspräche der pessimistische Anfang der pessimistischen Gesamtbefindlichkeit
Sartres beim Konzipieren des Werkes und in den ersten Phasen der Niederschrift,
eine Gesamtbefindlichkeit, die von seiner persönlichen Identitätskrise, aber
auch den Rückwirkungen einer allgemeinen sozialen und politischen Krise geprägt
wurde (deren wirtschaftliche Determinanten übrigens in der ungekürzten Version
erheblich besser sichtbar wurden11)). Im Frühjahr 1936 dagegen, bei
der Fertigstellung des Textes, war die Gesamtbefindlichkeit Sartres ganz
offenbar besser. Seine Identitätskrise hatte sich in der Weise gelöst, dass er
nun wusste, dass er ein ernstzunehmender, seine Kunst beherrschender Erzähler
war. Und auch die politische Krise hatte sich, wenngleich nicht gelöst, so doch
in jenem Sinne verändert, dass das linke Frankreich sich nach der Gründung der
Volksfront 1935 und einigen beeindruckenden, auf den Wahlsieg von Mai/Juni 36
vorausweisenden Massendemonstrationen in einer gewissen kollektiven Euphorie
befand, an der auch Sartre partizipierte und die das Ende seines Buches
optimistischer sein ließ als den Anfang.
1) Es handelt sich
um die gesammelt herausgegebenen Vorträge aus der gleichnamigen Sektion des
Bamberger Romanistentages 1991.
2 ) Vgl. z. B. die lange Zeit jedem
französischen Gymnasiasten bekannte Literaturgeschichte von André Lagarde und
Laurent Michard, aber auch die hauptsächlich für Studenten bestimmte Monogaphie
La Nausée, Sartre (Paris 1971 u. ö.)
von Geneviève Idt oder die Studie von Brigitta Coenen-Mennemeier, „Jean-Paul
Sartre, La Nausée“ in: K. Heitmann
(Hrg.), Der französische Roman, 2 Bde
(Düsseldorf 1975), II, p. 220-238. Michel Contat und Michel Rybalka, die
Herausgeber der vorzüglich eingeleiteten, interessant dokumentierten und
umfangreich kommentierten Ausgabe: Jean-Paul Sartre, Œuvres romanesques (Paris 1981) mokieren sich in ihrer „Notice“ zu
La Nausée denn auch über die
„paraphrase philosophique qui a longtemps tenu lieu de critique“ (p. 1658).
Ihre etwa 50 Titel umfassende Auswahl-Bibliografie (p. 1712 f.) vermittelt
einen Eindruck von den Tendenzen der neueren Forschung.
3) Auch Contat/Rybalka sprechen von einer
möglichen Lektüre des Romans als "expression d'une crise d'identité",
stellen sich diese allerdings als bloße "crise de la trentaine" vor
und sehen keine zeithistorischen Zusammenhänge (p. 1660). Die weitgehenden
Analogien zwischen dem Protagonisten Roquentin und seinem Autor Sartre haben
sich den Interpreten naturgemäß schon immer aufgedrängt. Sartre selbst bestätigt sie in Les Mots, wo er schreibt: « J'étais Roquentin, je
montrais en lui, sans complaisance, la trame de ma vie. » (Paris
1964, p. 211)
4) Vgl. hierzu z.B. das instruktive Kapitel
„Die Folgen der Weltwirtschaftskrise“ in: Wilfried Loth, Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert (Stuttgart 1987), p.
70 f.
5) Die beste Quelle ist zur Zeit Annie
Cohen-Solal, Sartre 1905-1980 (Paris
1985). Für den normalen Interessenten ausreichend ist die sehr ausführliche
Chronologie von Contat/ Rybalka im Einleitungsteil der Œuvres romanesques. Von besonderem Interesse bleiben die
zahlreichen Passagen, die Simone de Beauvoir in ihren autobiografischen Werken Mémoires d'une jeune fille rangée (Paris
1958) und La Force de l'âge (Paris
1960) ihrem Lebensgefährten Sartre widmet.
6) Zur Zeitstruktur der sich insgesamt von
Anfang Januar bis zum 24. Februar erstreckenden Handlung vgl. auch die
tabellarische Übersicht im Kommentar von Contat/Rybalka (p. 1724 f.)
7) Diese konkrete, nämlich antibürgerliche
(wie vorweg schon gesagt sei) und damit politische Stoßrichtung konstatiert,
allerdings eher en passant und ohne explizit den Bezug auf die polarisierte
Stimmung der Zeit herzustellen, auch Henning Krauß im Rahmen einer ebenso konzisen
wie instruktiven Einordnung des Sartreschen Frühwerks in den
philosophiegeschichtlichen Kontext. (Vgl. „Vom Entweder-Oder zum Weder-Noch.
Existenzialistische und absurde Literatur“, in: Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1982, Bd.
III, p. 217-263)
8) In der (erhaltenen) noch ungekürzten
Version von 1936 wurden sie als Kriegsgewinnler bezeichnet. (Vgl. die im
Kommentar von Contat/Rybalka abgedruckten Streichungen Sartres, p. 1757)
9) Damit wäre er noch kleiner als Sartre
selbst, der auch nur 1,57 m maß. Roquentin dagegen wird übrigens des öfteren
als jemand dargestellt, der das Gros seiner Mitmenschen um Haupteslänge
überragt. (Ob diese Größe seines Protagonisten einem heimlichen Wunsch des
Autors entsprach?)
10) Auch eine erklärende Fußnote der
fiktiven Herausgeber von Roquentins Tagebuch konzediert ihm lediglich einen
Vornamen, indem sie ihn "Ogier P***" nennt.
11) Vgl. z. B. p. 1732 und 1752 des
Kommentars von Contat/Rybalka.
Als
weiterer Anhang folgt ein Exkurs zu Les Mouches,
übernommen aus meiner als Vortrag konzipierten Studie: „Alte Stoffe – neuer
Sinn. Zeithistorische Deutungen antikisierender Stücke“, in: G. P., Interpretationen, Heidelberg:
Universitätsverlag C. Winter, 1997, S. 192 ff.)
Antikisierende,
also antike, meist mythologische Stoffe gestaltende Stücke tun zwar so (gemäß
der Konvention historischer Fiktionen generell), als würden sie Historie
vergegenwärtigen, in Wahrheit aber ist es umgekehrt: sie historisieren
Gegenwart. D. h. nur scheinbar stellen sie ein längst vergangenes
Geschehen dar, und nur scheinbar zeigen sie Konflikte und Probleme legendärer
Personen. Tatsächlich aber spiegeln sie aktuelles Geschehen, verarbeiten sie
aktuelle Konflikte und Probleme. Mit anderen Worten: antikisierende Stücke behandeln,
ganz wie andere literarische Werke auch, die Realität der eigenen
Entstehungszeit, diejenige Realität, die den Autor umgab, als er den Text
konzipierte, und die, wie er annehmen musste, nicht nur ihn bedrängte, sondern
auch sein potentielles erstes Publikum.
Wenn
es aber zutrifft, dass antikisierende Stücke historisierend verkleidete
Spiegelbilder von Realität der Entstehungszeit sind und dass sie vom
zeitgenössischen Publikum letztlich auch als solche Spiegelbilder erkannt
werden sollen, dann muss die Handlung jeweils deutliche Analogien zu aktuellen
Geschehnissen zeigen und müssen die Figuren in deutlicher Weise zeitgenössische
Personen und Personengruppen verkörpern.
Dass
dies in der Regel so ist und wie dies aussehen kann, sei im Folgenden gezeigt
am Beispiel von vier französischen Stücken, die Stoffe aus der griechischen
Antike gestalten, in Wahrheit aber die Realität ihrer Entstehungszeit spiegeln,
nämlich die Realität der 30er und 40er Jahre in Frankreich. Es sind Jean Giraudoux' La Guerre de Troie n'aura pas lieu und Électre, Jean-Paul Sartres Les
Mouches und Jean Anouilhs Antigone.
[Zu den beiden Stücken Giraudoux’ und zu Antigone
vgl. die dortigen Anhänge.]
Sehen wir nunmehr
Sartres im Sommer 1941 konzipiertes, allerdings erst 1943 uraufgeführtes Stück Les Mouches, das sichtlich an Giraudoux'
Électre anknüpft und denselben Stoff
behandelt, nämlich die Rache Orests. Auch bei Sartre geht es nicht um Rache
oder Sühne, das Hauptthema ist vielmehr das des Tyrannenmords zum Zweck der
Befreiung der Tyrannisierten. Von den Interpreten wird Les Mouches bekanntlich meist in Beziehung gesetzt zu Sartres etwa
gleichzeitigem philosophischen Werk L'Etre
et le Néant und somit erklärt als eine Diskussion des Freiheitsproblems im
fiktionalen Gewand. Natürlich sind die Parallelen zwischen beiden Texten
offenkundig, sie festzustellen ist aber nur ein Beitrag zur Kommentierung des
Stücks, und kaum ein Schlüssel zu seiner Erklärung. Denn Sartres
philosophisches Denken war ja ebenfalls zeitbedingt in dem Sinn, dass es kein
Zufall ist, wenn jemand angesichts politischer Unfreiheit nachdenkt über die
menschliche Freiheit.
Gehen
wir also wiederum aus von der These, dass das Stück in seiner Grundstruktur die
Realität der Entstehungszeit spiegelt, d. h. französische Verhältnisse des
Jahres 1941, oder noch genauer: des Sommers 41. Zu dieser Zeit war das die Franzosen beherrschende Faktum
zum einen die deutsche Okkupation, zum andern und vor allem aber die autoritäre
und paternalistische révolution nationale
des im Vorjahr zum neuen Staatschef avancierten Marschalls Pétain. Entsprechend
sah sich Sartre bei seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft Ende März vor
dem Problem, wie er politisch reagieren sollte – was für ihn als Linken auf die
Frage hinauslief, wie er sich engagieren könne gegen Pétain und die ihn
stützenden faschistoiden Kräfte. Er versuchte damals unter anderem, alte
Kontakte zu Kommunisten zu reaktivieren, deren antifaschistisches Feindbild
wieder stimmte nach der raschen Abkühlung der russisch-deutschen Beziehungen
und vor allem nach dem deutschen Angriff auf Russland im Juni. Er musste aber
verärgert und enttäuscht erleben, wie seine kommunistischen Bekannten ihn
abblitzen ließen, da wegen seiner anormal raschen Entlassung aus der
Kriegsgefangenschaft das Gerücht umlief, er sei ein Agent der Deutschen
geworden. Eben diese Realität spiegelt sich in Les Mouches, nämlich die Situation des okkupierten und unter
deutscher Aufsicht von Pétain diktatorisch regierten Frankreichs, sowie die
vorläufig vergeblichen und nicht zuletzt von Kommunisten frustrierten Pläne
Sartres, das Pétain-Regime zu bekämpfen.
Wiederum
beginnen wir mit der Gleichsetzung von Argos und Frankreich. In Argos, so die
Vorgeschichte der Handlung, ist vor einiger Zeit der rechtmäßige König Agamemnon
vom Usurpator Égisthe und seiner Helferin Clytemnestre ermordet worden. Ähnlich
war vor kurzem in Frankreich das legale parlamentarische Regime der Dritten
Republik beseitigt worden durch Marschall Pétain mit Hilfe willfähriger
rechter, aber auch linker Parlamentarier sowie anderer zu ihm gestoßener,
faschistoider Kräfte.
Im
Sinne dieser Deutung verkörpert der Usurpator und autoritäre Diktator Égisthe,
der zugleich als müder alter Mann gezeichnet ist, den schon greisen neuen
Staatschef Pétain. Der Grand Prêtre, der Égisthe mit seinem Ritual und auch
verbal assistiert, inkarniert den hohen katholischen Klerus, der willig Pétain
unterstützte, weil dieser, ähnlich wie Franco in Spanien, die Kirche als
tragende Säule in sein Regime integrierte und mit Privilegien belohnte.
Clytemnestre, die Witwe Agamemnons und Gattin Égisthes repräsentiert die Pétain
politisch tragenden Kräfte, wobei Sartre nicht nur an die französischen
Faschisten der Zeit und an ehemalige Parlamentarier der Dritten Republik zu
denken scheint wie den Ex-Sozialisten und Ex-Regierungschef Pierre Laval,
sondern in seinem Groll auf die Kommunisten auch an die gar nicht wenigen vom
Kommunismus zum Faschismus konvertierten Genossen wie etwa Jacques Doriot; denn
er lässt Clytemnestre sagen, sie selbst sei einst als junges Mädchen ganz wie
Électre gewesen, also Kommunistin. Électre nämlich inkarniert, wie schon bei
Giraudoux, die Kommunisten. Sie probt den Aufstand gegen Égisthe und seinen
Schutzherrn Jupiter, hat aber noch nichts Ernsthaftes gegen sie getan, ganz wie
die französischen Kommunisten im Sommer 41 noch kaum etwas Ernsthaftes
unternommen hatten gegen Pétain und die deutschen Besatzer. Diese selber treten
auf in der Figur des Jupiter, der ebenso allmächtig und beinah allwissend
hinter Égisthe steht wie damals die Deutschen hinter Pétain und der die innere
Entwicklung in Argos gelassen und mit dem Bewusstsein betrachtet, dass er dort
immer Marionetten-Herrscher finden wird – ganz wie 1941 die Deutschen als eine
Macht erscheinen mussten, der die Couleur von Frankreichs Regierung fast
gleichgültig war, vorausgesetzt, sie kollaborierte. Die Fliegen schließlich und
die Erinnyen, die mit ihrer Omni-präsenz die Macht Égisthes und die von Jupiter
stützen, scheinen einerseits die französischen Sonderpolizisten und Spitzel
aller Art und andererseits die deutsche Gestapo verkörpern zu sollen.
Schwieriger
zu lösen ist die Frage: wen inkarniert Oreste, der nach einer Jugend als
freischwebender Intellektueller soeben nach Argos zurückgekehrt ist und sich
hier in einer tiefgreifenden Wandlung – trotz der verächtlichen Zweifel
Électres an ihm und gegen ihren Willen – für die Befreiung des Volkes zu
engagieren beschließt? Er ist ganz offensichtlich Sartre selbst, der nach
langen Jahren fast hochmütiger Politikferne unlängst beschlossen hatte sich zu
engagieren, und der nun nach seiner Heimkehr aus der Kriegsfangenschaft
versucht, diesen Entschluss trotz der ihn demütigenden Ablehnung durch die
Kommunisten in die Tat umzusetzen. Etwas zu bewegen allerdings vermochte Sartre
nicht. Ganz ähnlich ergeht es Oreste auch im Stück. Er schafft es zwar, Égisthe
und Clytemnestre zu erschlagen und anschließend Jupiter verbal zu besiegen,
doch muss er Argos gleich danach verlassen, denn das Volk erkennt ihn nicht an
als Befreier und erweist sich so als unreif zur Befreiung – ähnlich unreif wie
offenbar Sartre die französische Bevölkerung von 1941 einschätzte, die in der
Tat an Widerstand kaum dachte, weder gegen Pétain noch gegen die Deutschen.
Auch
Details anderer Art bestätigen unsere Hypothese, dass Les Mouches Verhältnisse des Jahres 41 reflektiert. So entspricht
die kollektive Reue, die Égisthe dem Volk von Argos aufzwingt, dem schlechten
Gewissen der Franzosen angesichts des ständig wiederholten Vorwurfs Pétains,
sie hätten die Niederlage gegen Deutschland selbst verschuldet durch den
Laxismus ("le relâchement") und die Genuss-Sucht ("l'esprit de
jouissance"), denen sie in der Volksfrontzeit nach 1936 verfallen seien.
Die Toten, deren Gedenken Égisthe kultiviert und mit denen er das Volk zu
disziplinieren versucht, stehen, so scheint es, für die anderthalb Millionen
französischen Kriegsgefangenen in Deutschland, um die Pétain fast einen Kult
trieb und deren Heimkehr angeblich vom Wohlverhalten der Franzosen abhing
gegenüber ihm und den Besatzern.
Ein
anderer, äußerst interessanter Punkt ist Folgendes: Sartre legt den zentralen
Teil der Handlung des Stücks, d. h. die Ermordung Égisthes und
Clytemnestres, auf einen Zeitpunkt fünfzehn Jahre nach dem Tod Agamemnons, also
in der Logik unserer Deutung in eine ziemlich ferne, utopische Zukunft. Diese
Annahme eines eher fernen Zeitpunkts für die Beseitigung des Pétain-Regimes war
aber 1941 nur zu realistisch, denn die Macht des Marschalls schien in keiner
Weise gefährdet. Ein weiterer Punkt ist der, dass Sartre die Herrschaft
Jupiters nicht enden lässt mit dem Tod Égisthes und Clytemnestres. Auch dies
war für die Verhältnisse von 1941 realistisch gedacht, denn in einem
Augenblick, wo die Deutschen gerade Russland überrollten und der Höhepunkt
ihrer Macht in Europa noch längst nicht erreicht schien, war kaum vorstellbar,
dass ein Regimewechsel in Frankreich ihre Stellung dort erschüttern würde.
Interessant
ist schließlich, dass – anders als Oreste – Électre nach der Beseitigung Égisthes
und Clytemnestres der Umgarnung Jupiters erliegt und in seinem Auftrag zu
herrschen bereit ist. Auch hierin spiegeln sich zeitgenössische Verhältnisse,
und zwar der Tatbestand, dass viele französische Kommunisten sich nach der
Niederlage ihres Landes 1940 eingebildet hatten, die Deutschen, die ja als
Verbündete von Stalin kamen, w ürden die 1939 verbotene Kommunistische Partei
reaktivieren und mit dem Regieren Frankreichs betrauen. Sartre in seinem Groll
scheint, indem er Électre als von Jupiter verführbar zeigt, die Kommunisten als
immer noch empfänglich darzustellen für eventuelle deutsche Bündnisangebote.
Wie
man sieht, ist Les Mouches also
weniger ein dramatisierter philosophischer Traktat als vielmehr ein politisches
Stück, wo Sartre die ihn 1941 bewegende Frage umsetzt, ob und wie er gegen das
Pétain-Regime agieren könne – wobei die letztlich ohnmächtige Flucht Orestes,
zunächst in den philosophischen Disput mit Jupiter und dann aus der politischen
Realität von Argos in ein fernes Nirgendwo, den ebenso ohnmächtigen Rückzug des
frustrierten Sartres selbst in die Philosophie und das Wort zu spiegeln
scheint, sprich aus der konkreten Aktion an den bequemeren Schreibtisch.
Samuel Beckett (* 13.4.1906 Dublin; † 22.12.1989 Paris)
Geboren
als britischer Staatsbürger, wurde er 1921 Ire aufgrund der Entlassung Irlands
in die staatliche Unabhängigkeit. Ab 1937 lebte er ständig in Frankreich. Seine
ersten Texte verfasste er in englischer Sprache, in seiner mittleren und
fruchtbarsten Phase schrieb er überwiegend Französisch, später wechselte er,
oft von Text zu Text, die Sprache und übertrug sich häufig selber in die
jeweils andere.
Beckett
wuchs auf in einem Vorort Dublins in einer bürgerlichen protestantischen Familie.
Seine Kindheit und Jugend wurden überschattet von dem langen erbitterten Kampf,
durch den die überwiegend katholischen Iren dem protestantischen England nach
fast 400 Jahren Fremdherrschaft die Unabhängigkeit abtrotzten.
1923,
d.h. mit 17, begann Beckett am renommierten Dubliner Trinity College ein
Studium der Fächer Französisch und Italienisch, in dessen Rahmen er 1926
erstmals nach Frankreich und 1927 erstmals nach Italien reiste.
Nach
dem Abschluss seines Studiums war er 1928-30 zwei Jahre Englisch-Lektor an der
Pariser École Normale Supérieure, der französischen Elitehochschule für die
Lehramtsfächer. In Paris erhielt er Zugang zu Literatenkreisen und wurde
Vertrauter seines 24 Jahre älteren Landsmanns James Joyce, der sich schon vor
längerer Zeit aus dem unruhigen Irland dorthin zurückgezogen und inzwischen mit
dem als Skandalroman betrachteten Ulysses (1922) eine gewisse
Berühmtheit erlangt hatte. Ebenfalls in Paris machte Beckett seine ersten
ernsthaften schriftstellerischen Versuche, unter anderem mit Lyrik und zunächst
in englischer Sprache. Überwiegend von hier aus auch fuhr er mehrfach nach
Deutschland, weil er sich in Kassel in eine dort lebende Kusine verliebt hatte.
1930
kehrte er zurück nach Dublin und wurde Assistent im Fach Französisch am Trinity
College. Doch erlebte er die geregelte Tätigkeit als Last, kündigte und ging
1932, nach einer längeren Reise durch Deutschland, wieder nach Paris - und
wenig später nach Dublin.
1933,
nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, eines kleinen mittelständischen
Unternehmers, widersetzte er sich dem Ansinnen seiner Mutter, als Partner
seines Bruders in die Firma einzutreten. Vielmehr ließ er sich in London
nieder, wo er mühsam und oft depressiv von Zuwendungen der Mutter lebte und als
Autor Fuß zu fassen versuchte. Ein Bändchen erzählende Texte, das er unter dem
obszön deutbaren Titel More Pricks than Kicks 1934 publizierte, blieb
jedoch erfolglos und wurde überdies verboten; für seinen ersten Roman, Murphy,
fand er lange Zeit keinen Verleger.
1936 brach er zu einer halbjährigen
Deutschlandreise auf (deren Tagebuch postum gefunden und 2003 publiziert
wurde). Sie sollte ihm wohl Klarheit über sich selbst und seinen weiteren Weg
verschaffen und führte ihn insbes. nach Hamburg, Berlin, Dresden und München.
Hierbei interessierte sich Beckett vor allem für die bildende Kunst (auch die
oft nicht mehr leicht zugängliche „entartete“), besuchte Museen und knüpfte, da
er passabel Deutsch sprach, auch Kontakte zu Künstlern.
Nach
der Reise ließ er sich 1937 in Paris nieder, das ihm nun zur neuen Heimat
wurde, trotz des lebensgefährlichen Messerstichs eines Unbekannten gleich im
ersten Jahr. Sicher war an seinem Entschluss zu bleiben die junge Pianistin
Suzanne Deschevaux-Dumesnil nicht unbeteiligt, die ihn als Genesenden im
Krankenhaus besucht hatte und seine Lebenspartnerin sowie später (1961) seine
Frau wurde. Auch sprachlich französisierte er sich, indem er Murphy (der
1938 endlich in London erschienen war) selbst ins Französische übertrug.
1939
wurde er vom Kriegsausbruch auf einem Besuch in Irland überrascht, das neutral
blieb. Er kehrte aber sofort nach Paris zurück und schloss sich Ende 1940 dem
französischen Widerstand, der Résistance an. Als 1942 seine Guppe an die
Gestapo verraten wurde, tauchte Beckett unter und ging mit Partnerin Suzanne in
die unbesetzte Südhälfte Frankreichs, in das Dorf Roussillon. Hier verdingte er
sich als Erntehelfer und Gelegenheitsarbeiter und schrieb nachts an seinem
vorerst letzten englischsprachigen Roman, Watt (gedruckt erst 1953).
Nach
der Libération 1944 kehrte er im April 1945 zurück nach Paris und meldete sich
nach einem Besuch in Irland freiwillig als Rot-Kreuz-Helfer. Als solcher
arbeitete er bis zum Jahresende, überwiegend als Dolmetscher, in einem Lazarett
im normannischen Städtchen Saint-Lô. Wieder in Paris, zog er sich ins Private
zurück und trat, als nunmehr französischsprachiger Autor, in seine fruchtbarste
Schaffensphase ein. Zunächst hatte er allerdings Mühe, seine Bücher gedruckt zu
bekommen, bis Suzanne den Inhaber des Verlags Editions de Minuit für ihn
gewann.
Es
entstanden nun 1946 der Roman Mercier et Camier (publiziert erst 1970)
und 1948 die Romane Molloy und Malone meurt (beide gedruckt
1951). Ebenfalls 1948 entstand das Stück En attendant Godot, für das
sich lange kein Theater fand, bis es Anfang 1953 endlich aufgeführt wurde und
durch seinen überraschendem Erfolg Beckett zu einer der Galionsfiguren des
Theaters des Absurden machte. (Zum Godot vgl. den Exkurs am Schluss des
Artikels.)
Ab
1946 entstanden die Erzählungen des Bandes Textes pour rien (1956), 1949
der Roman L’Innommable (gedruckt 1953) und 1954-56 ein weiteres Stück: Fin
de partie (Uraufführung 1957).
1953
fing Beckett an, beginnend mit Molloy, seine französisch verfassten
Werke ins Englische zu übertragen. Dies brachte ihn dazu, teilweise wieder
englisch zu schreiben, wobei er diese englischen Texte meistens, mehr oder
weniger anschließend, wiederum ins Französische übertrug.
1956
konzipierte er, beginnend mit All that fall, für den englischen Radiosender
BBC eine Serie von Hörspielen, eine Gattung, die in Frankreich damals kaum
bekannt war und mit der sich Beckett eine für ihn neue Welt erschloss.
1957/58
verfasste er den Roman From an Abandoned Work, 1958 das hörspielartige
Stück Krapp’s last Tape.
1960
schrieb er französisch den Roman Comment c'est und englisch das Stück Happy
Days (Uraufführung 1961 in New York), das er 1962 als Oh les beaux jours
übertrug (Uraufführung 1963 in Venedig).
1961
wurde Beckett erstmals mit einem Literaturpreis ausgezeichnet, dem „Prix
international des éditeurs“.
1963
verfasste er, neben den Hörspielen Words and Music und Cascando,
die Komödie Play. Im selben Jahr wurde unter seiner Mitwirkung sein
Hörspiel All that fall als Tous ceux qui tombent für das
französische Fernsehen adaptiert und gesendet.
Hiermit
war Beckett professionell in der Welt der Bilder angekommen, die ihn schon
immer interessiert hatte. 1964 konzipierte er ein Filmdrehbuch und drehte in
Zusammenarbeit mit dem Regisseur Alan Schneider (der 1961 schon den Godot
verfilmt hatte) und mit dem Stummfilmstar Buster Keaton in der Hauptrolle den
stummfilmartigen Streifen Film, der im Jahr darauf in Venedig den „Prix
de la Jeune Critique“ erhielt.
Film blieb der letzte originäre Film Becketts, denn 1965 wendete
er sich dem Medium Fernsehen zu und verfasste als sein erstes genuines
Fernsehstück Dis Joe, das er der englischen BBC anbot. Da sich die
Produktion dort verzögerte, das Stück aber inzwischen ins Deutsche übertragen
worden war, entschloss sich der Süddeutsche Rundfunk, es unter der Regie
Becketts selbst zu produzieren. Es wurde 1966, an seinem 60. Geburtstag,
gesendet und öffnete ihm die Tore des SDR, der bis 1985 noch mehrere
Fernsehstücke von und mit ihm produzierte.
1966
erschien unter dem Titel Comédie et actes divers ein Sammelband
französisch verfasster bzw. ins Französische übertragener Stücke.
1967
konnte Beckett sich in Berlin als Theaterregisseur versuchen mit einer
Inszenierung von Endspiel (Fin de partie).
Spätestens
ab dem Ende der fünfziger Jahre war er ein anerkannter Autor. Er figurierte
sogar, obwohl von Natur aus eher scheu und notorisch depressiv, ein wenig als
Star im Pariser Literaturbetrieb. Seine Texte wurden rasch zum Druck angenommen
und seine Stücke umgehend aufgeführt oder produziert.
1969
erhielt er den Nobelpreis für Literatur, blieb der Überreichungszeremonie aber
fern.
In
den Folgejahren verfasste er neben der Erzählung Le Dépeupleur (1970) und einigen – meist relativ wortlosen
– Fernsehstücken zahlreiche weitere kürzere Texte, die in Zeitschriften
abgedruckt wurden und hin und wieder gesammelt in Bandform erschienen.
Insgesamt
allerdings zog er sich als Person mehr und mehr zurück und verschwand auch als
Autor langsam aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Viele Leute waren bei der
Nachricht von seinem Tod erstaunt, dass er überhaupt noch gelebt hatte.
Heute
wird er, trotz gelegentlicher Ehrenrettungen immer weniger gelesen. Zumal seine
erzählenden Werke (die in der Regel keine erkennbare Handlung besitzen und eine
Atmosphäre von Sinnentleerung, Überdruss und Aussichtslosigkeit evozieren)
gelten nicht zu Unrecht als schwer verdauliche Kost. Sein Ruhm beruht vor allem
auf dem nach wie vor erfolgreichen Godot, dessen Titel „Warten auf
Godot“ auch in Deutschland zur Redewendung geworden ist. Laut Le Monde
vom 21.12.07 hält Beckett z.Zt., allerdings mit großem Abstand hinter Eugène
Ionesco, Platz 2 der franz. Theaterautoren, deren Stücke außerhalb Frankreichs
am häufigsten gespielt werden. Vermutlich handelt es sich hierbei vor allem um
Aufführungen des Godot.
Geht man also von der Hypothese aus, dass
der bei Beckett Erwartete und nicht Kommende mit De Gaulle parallel gesetzt
werden kann (der bekanntlich erst 1958 kam), so würden die drei Wartenden (denn
warum sind es drei?) dessen einstige politischen Partner des Tripartisme
verkörpern, und zwar Vladimir die moskauhörigen Kommunisten (denn er hat den
Vornamen Lenins), Pozzo die bürgerlichen und katholischen Christdemokraten
(denn er trägt er bourgeoise Züge und hat einen italienischen Namen) und
Estragon die Sozialisten (denn er hat den Namen einer typischen Pflanze
Südfrankreichs, das damals sozialistische Hochburg war). Lucky wäre in dieser
Deutung wohl das Volk, das (wie man dies als Linker sah, der Beckett damals
war) von der Bourgeoisie ausgebeutet wird, sich aber auch dumm-glücklich
ausbeuten lässt. Der mit hinhaltenden Botschaften Godots auftretende Junge
würde die Leute verkörpern, die von de Gaulle mit vagen Aussagen nach Paris
zurückgeschickt wurden. Auch viele der als völlig absurd erscheinenden Reden
der Protagonisten erhielten in dieser Deutung einen Sinn als Anspielungen auf
zeitgenössische Realitäten, und das Hass-Sympathie-Verhältnis Vladimirs zu
Estragon würde das ganz ähnliche Verhältnis der Kommunisten zu den Sozialisten
spiegeln.
Allerdings ging es Beckett sicher nicht nur
darum, eine Satire auf das politische Paris von 1948 zu schreiben, auch wenn
dies wohl das auslösende Motiv gewesen war. Vielmehr will er am Beispiel seiner
Figuren offensichtlich vor allem ein bestimmtes menschlich-allzumenschliches Verhalten
problematisieren und karikieren, nämlich das illusionäre Warten auf einen
Heilsbringer, Erlöser, Propheten oder Ähnliches. Die konkrete Situation der in
Paris ratlos auf de Gaulle bzw. dessen Entscheidung wartenden Ex-Koalitionäre
lieferte ihm offenbar eine für seine Absichten geeignete Figurenkonstellation
samt dem Schema einer Handlung. Im Sinne seiner allgemeineren Intentionen
reicherte sich die zunächst relativ einfache Grundkonzeption des Stückes
während der Abfassung zusätzlich an mit weiteren, nicht unbedingt politischen
Elementen. Hinzu kam, dass Beckett dann auch noch lange auf den Druck und eine
Aufführung seines Stücks warten musste und es in dieser Zeit noch hier und da
bearbeitet haben dürfte. Der Text enthält also weitere Aspekte, die für seine
Bedeutung oder besser Bedeutungen relevant sind und die o.g. relativ einlinige
Interpretation als nicht erschöpfend erscheinen lassen.
Im Übrigen gab es durchaus zeitgenössische
Theaterkritiker, die den politischen Hintergrund des Stückes geahnt und Godot
mit de Gaulle gleichgesetzt haben. Jedoch taten sie dies intuitiv und bezogen
die anderen Figuren in ihre Überlegung nicht ein. Für das Gros der Zuschauer
der Uraufführung Anfang 1953 war der zeithistorische Bezug offenbar nicht mehr
erkennbar, da ja mehr als vier Jahre vergangen waren seit der Entstehung des
Stücks und der Immobilismus der Zeit kurz nach dem Tripartisme längst vergessen
war. Mit weiter wachsendem zeitlichen Abstand (und da Beckett sich klugerweise
hütete, die Deutung seines Werkes unnötig einzugrenzen) geriet die Möglichkeit
einer historisch basierten Interpretation in Vergessenheit. Die universitären
Beckett-Spezialisten haben sie, sicher nicht zuletzt mangels genauerer
historischer Kenntnisse, ebenfalls nicht aufgenommen, so dass sie nie
überzeugend systematisiert wurde und, wenn überhaupt, eher als Kuriosum zitiert
wird.
Eugène Ionesco (*26.11.1909 [nicht 1912, wie häufig zu finden!] in
Slatina/Rumänien; †
28.3.1994 in Paris)
Der
inzwischen als wohl bedeutendster franz. Dramatiker der Nachkriegsjahrzehnte
geltende Autor wurde geboren unter dem Namen Eugen Ionescu im damaligen
Königreich Rumänien, als Sohn eines Juristen und Verwaltungsbeamten und der in
Rumänien aufgewachsenen Tochter eines dort tätigen franz. Eisenbahningenieurs.
1911 ging die junge Familie nach Paris, weil der Vater dort promovieren wollte.
Als 1916 Deutschland und Österreich Rumänien den Krieg erklärten, kehrte der
Vater zurück in sein Heimatland, wo er bald alle Verbindungen zu seiner Familie
kappte, die Scheidung beantragte und sich wiederverheiratete.
Ionesco
blieb in Paris zusammen mit seiner jüngeren Schwester und seiner Mutter, die
sich und die Kinder mühsam mit Gelegenheitsarbeiten und Zuwendungen ihrer
franz. Verwandten durchbrachte. Damit die Mutter arbeiten konnte, kam er in ein
Kinderheim, wo er sich aber nicht eingewöhnen konnte. Die Jahre 1917-19 lebten
er und seine Schwester bei einer Bauernfamilie in einem Dorf nahe Laval – in
seiner Erinnerung eine paradiesische Zeit.
1922
gingen die Geschwister zum Vater nach Bukarest, wo sie, obwohl rumänische
Staatsangehörige, Rumänisch wie eine Fremdsprache lernen mussten und kein
Verhältnis zu ihrer (kinderlos gebliebenen) Stiefmutter fanden. 1926 überwarf
sich Ionesco mit seinem offenbar sehr autoritären Vater, da dieser für seine
literarischen Interessen nur Verachtung übrig hatte und einen Ingenieur aus ihm
machen wollte. Er zog zur Mutter, die inzwischen auch wieder nach Rumänien
gekommen war und einen passablen Posten bei der rumänischen Staatsbank gefunden
hatte.
1928
begann er ein Französischstudium in Bukarest, wobei er seine spätere Frau
Rodica Burileanu kennenlernte, eine Philosophie- und Jurastudentin aus
einflussreicher rumänischer Familie. Daneben las er viel und schrieb (auf Rumänisch)
Lyrik, Feuilletonistisches und Literaturkritiken. Nachdem er 1934 sein Studium
abgeschlossen hatte, unterrichtete er Französisch an verschiedenen Schulen und
anderen Bildungseinrichtungen. 1936 heiratete er, 1938 beschaffte er sich über
das Bukarester Institut Français ein Promotionsstipendium für Frankreich, nicht
zuletzt um dem Druck zu entgehen, der in dem sich faschisierenden Rumänien auf
eher linken Intellektuellen lastete wie ihm. Von Paris aus, das damals
Vorbildcharakter für das geistige Rumänien hatte, belieferte er rumänische
Zeitschriften mit Neuigkeiten aus der literarischen Szene.
Nach
der Niederlage Frankreichs im „Blitzkrieg“ (Mai/Juni 1940) gingen Ionesco und
seine Frau zurück in das zu dieser Zeit neutrale und relativ ruhige Rumänien, wo
er als Soldat gemustert, aber nicht eingezogen wurde. 1942 oder 43, nachdem
Rumänien 1941 an der Seite Deutschlands in den Krieg gegen die Sowjetunion
eingetreten war, schafften es die Ionescos, wieder in das nunmehr ruhigere
Frankreich zu gehen, wo sie, zunächst in Marseille, dann in Paris, endgültig
blieben und wo 1944 ihr einziges Kind, eine Tochter, zur Welt kam. Finanziell
ging es ihnen schlecht, Ionesco verdingte sich als Druckfahnen-Korrektor in
einem Pariser juristischen Verlag, wo er bis 1955 angestellt blieb.
1948
konzipierte er (zunächst noch auf Rumänisch) sein erstes Stück, La Cantatrice chauve/Die kahle Sängerin,
das 1950 aufgeführt wurde und, wenn auch nicht beim Publikum, so doch bei
etlichen Kritikern und Literaten Beachtung fand. 1950 ließ er sich einbürgern.
Er verfasste die Stücke La Leçon/Die
Unterrichtsstunde (Aufführung 1951) und Jacques
ou la Soumission/J.oder die Unterordnung, die ihn nun ganz zu einem
Französisch schreibenden Theaterautor werden ließen. 1951 folgten Les Chaises/Die Stühle, Le Maître/Der Meister und L'Avenir est dans les œufs/Die Zukunft liegt
in den Eiern. 1952 entstand Victimes
du devoir/Opfer der Pflicht und wurden La
Cantatrice chauve und La Leçon
wieder aufgeführt.
1953
war ein Erfolgsjahr: die Victimes wurden uraufgeführt, dazu mit
Erfolg eine Serie von sieben Sketchen; ein erster Sammelband von Stücken wurde
gedruckt. Vor allem verfasste Ionesco Amédée
ou comment s'en débarrasser/Amadeus oder wie kann man ihn loswerden und Le nouveau locataire/Der neue Mieter,
die rasch aufgeführt wurden. Hiernach hatte er sich als absurd-witziger Autor
etabliert, der fast von seinen Stücken leben konnte. 1954 schrieb er Le Tableau/Die Tafel und die Erzählung Oriflamme/Flagge und machte eine erste
Vortragsreise ins Ausland (nach Heidelberg) in seiner Eigenschaft als ein
interessant erscheinender jüngerer franz. Autor. 1955 verfasste er L'Impromptu [das Stegreifstück] de l'Alma
und erlebte die erste Aufführung eines seiner Stücke im Ausland (Le nouveau locataire).
1957
wurden La Cantatrice chauve und La Leçon von dem kleinen Pariser Théâtre de la Huchette neu einstudiert
und blieben dort ununterbrochen bis heute (2009) auf dem Programm.
Im
Herbst 57 erschien die Erzählung Rhinocéros,
mit der Ionesco offenbar verängstigt auf den seuchenhaften Ausbruch von
Hurrah-Patriotismus und Rassismus und Rechtsradikalismus reagierte, der
Frankreich während der von den Medien aufgebauschten „Schlacht um Algier“
(Winter 56/57) befiel, die die Wende im Algerienkrieg (1954-62) erzwingen
sollte. Im Herbst 1958 entstand das Stück Rhinocéros/Die
Nashörner, das Handlung und Personenkonstellation der gleichnamigen
Erzählung leicht verändert übernimmt und wo Ionesco, offenbar erneut
verängstigt, auf die „Machtergreifung“ von General de Gaulle reagiert, von dem
sich viele von dessen Anhängern in der Tat ein autoritäres rechtes Regime
erhofften. Da sich in Paris kein Theater für eine Inszenierung des sichtlich
als zu politisch erscheinenden Stücks fand, wurde es 1959 in Düsseldorf
uraufgeführt. Hier glaubte das deutsche Publikum allerdings, es nehme den
Nazismus bzw. seine allzu willigen Mitläufer aufs Korn – eine Deutung, die man
dann in Frankreich nur zu gern übernahm, als Rhinocéros 1960 auch in Paris auf die Bühne kam, wo es inzwischen
politisch deutlich ruhiger geworden war. Ionesco selbst präzisierte allerdings
später, das Stück sei nicht gegen den historischen einen Nazismus gerichtet,
sondern gegen jegliche Form totalitärer Massenbewegungen.
Im
Winter 58/59 dramatisierte Ionesco die Erzählung Oriflamme zu dem Stück Tueur
sans gages/Mörder ohne Lohn. 1961/62 entstand Le Roi se meurt/Der König stirbt, eine Parabel auf Frankreichs
endende Rolle als Kolonialmacht. 1962 kamen Délire
à deux/Deliium zu zweit und Le Piéton
de l'air/Fußgänger der Luft heraus (letzteres wiederum zuerst als Erzählung
und erst danach als Stück). Ebenfalls 1962 erschien unter dem Titel Notes et contre-notes, eine Sammlung von
Artikeln und Vorträgen Ionescos zu seinem Theater. 1964 erlebte einmal mehr
Düsseldorf eine Ionesco-Uraufführung: Le
Soif et la faim/Hunger und Durst.
Im selben Jahr wurde mit Rhinocéros erstmals
ein Stück von ihm in seinem Geburtsland Rumänien inszeniert.
Etwas
widerwillig, aber unaufhaltsam avancierte Ionesco nun zu einem etablierten
Autor, der zu Vorträgen eingeladen, mit Preisen und Ehrungen bedacht und 1970
in die Académie Française aufgenommen wurde. Er versuchte sich auch in der
Gattung Roman und stellte 1973 Le
Solitaire/Der Einzelgänger fertig, wo eine Art Aussteiger und Mann ohne
Eigenschaften seine sinnleere Vergangenheit und Gegenwart Revue passieren
lässt. Als der Dramatiker, der er war, machte Ionesco aus dem Roman sogleich
auch ein Stück, Ce formidable
bordel ! (1973), in dem er selbigen Mann als Hauptperson eine völlig
passive, beinah stumme und trotzdem eindrucksvolle Rolle spielen lässt. Da er
hierbei en passant sarkastisch die 68er „Revolutionäre“ verspottet, wurde er,
der einst durchaus Linke, von ihnen als faschistoider Autor beschimpft. 1975
kam sein letztes Stück heraus, L'Homme
aux valises/Der Mann mit den Koffern.
Hiernach
zog sich Ionesco auf seine Position als unbestritten anerkannter Autor zurück
und genoss und verwaltete seinen Ruhm. Zwar schrieb und publizierte er immer
noch fleißig, doch in anderen Gattungen, z.B. Autobiografisches. Er starb 1994
84-jährig in Paris als einer der Großen des franz. Theaters im 20. Jh.
Laut
Le Monde vom 21.12.07 ist Ionesco z.Zt. der meistgespielte franz.
Theaterautor außerhalb Frankreichs.
Zu Rhinocéros, einem in Deutschland relativ
gut bekanntem Stück, vgl. meine nachfolgende Studie:
„Eugène
Ionescos Rhinocéros : Erzählung (1957) und Stück (1958)
als Reflexe der politischen Situation ihrer Zeit“ (aus:
Archiv für das Studium der Neueren
Sprachen Bd. 226, 1989, S. 309-326. Wieder abgedruckt in G. Pinkernell, Interpretationen,
Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1997)
Bekanntlich
gehen mehrere Stücke Ionescos aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren
auf kurze, meist schon vorher publizierte Prosatexte zurück. Dies gilt auch für
Rhinocéros.1)
Das Ende 1959 uraufgeführte Stück ist in den letzten Monaten des Jahres 1958
verfasst, doch war schon im September 1957 in der Zeitschrift Les Lettres nouvelles eine gleichnamige
Erzählung erschienen, die entsprechend wohl im Frühjahr oder Sommer 1957
entstanden sein muss. Vergegenwärtigt man sich diesen zeitlichen Abstand von
rund anderthalb Jahren zwischen den beiden Versionen, so ist von vornherein
unwahrscheinlich, dass die Erzählung einen bloßen Entwurf für das Stück und
dieses nur die quasi mechanische Dramatisierung der Erzählung mit allenfalls
technisch, d. h. gattungsgesetzlich bedingten Modifikationen darstellt.
Man wird vielmehr annehmen müssen, dass auch inhaltliche Veränderungen von der
einen Version zur anderen eingetreten sind. In der Tat ist das so, und diese
inhaltlichen Veränderungen sollen uns im Folgenden beschäftigen.
Indessen
will ich die betreffenden Unterschiede zwischen Erzählung und Stück weniger nur
deskriptiv um ihrer selbst willen betrachten, sondern vor allem zu erklären versuchen, und zwar zu erklären
als Indizien eines veränderten Gehaltes, d. h. veränderter Wahrnehmungen
und Einschätzungen, Sichtweisen und Reaktionen, Vorstellungen und Intentionen
des Autors. Dieser Wandel im Gehalt aber – so meine These – ist zu verstehen
als Reflex eines Wandels der dargestellten Realität, d. h. der vom Autor
verarbeiteten Aspekte der Verhältnisse Frankreichs im betreffenden Zeitraum.
Mit anderen Worten und als globale Deutungshypothese formuliert: in der
Erzählung reagiert Ionesco auf die historische Situation von Anfang 1957, im
Stück auf die von Mitte 58.
Liest
man die beiden Versionen kursorisch nacheinander, so springen zunächst
allerdings die Parallelen ins Auge: Hier wie dort besteht die Handlung
gleicherweise aus den Reaktionen einer Anzahl von Personen auf eine seltsame
Seuche, die "Rhinozeritis", die bald auch, eine nach der anderen, sie
selber erfasst und zu Nashörnern macht, bis schließlich nur der Hauptheld als
Mensch erhalten bleibt. Und hier wie dort haben jene Personen die gleichen
Namen und Hauptcharakteristika, scheinen ihre Rollen so gut wie identisch.2)
Angesichts
dieses Eindrucks einer weitgehenden Übereinstimmung hat sich denn auch die
Forschung, soweit ich sehe, kaum Gedanken gemacht über eventuelle Unterschiede
im Gehalt der beiden Versionen.3)
Sofern man die Erzählung überhaupt zur Kenntnis nahm, hat man ihr unbesehen
dieselbe Aussage zugschrieben wie dem Stück, das seinerseits man zum einen als
Satire auf den Herdentrieb des Menschen, zum andern als eine nachträgliche
Verurteilung des Nazismus und als prospektive Warnung vor rechts-, zumal aber
linksextremen Totalitarismen las4)
– eine Interpretation, bei der man sich auf den Autor selbst berufen zu können
glaubte, der sich in diesem Sinn erklärt zu haben schien5).
Mir selbst allerdings erscheint diese quasi zur Schulmeinung gewordene
Kombination aus enthistorisierend-moralistischer und vage politisierender
Interpretation als wenig befriedigend, und zwar die moralistische Sicht aus dem
Grund, weil sie, obwohl selbstverständlich nicht völlig falsch, so doch
reichlich verallgemeinernd und damit oberflächlich ist; die
Nazismus-Totalitarismus-Deutung deshalb, weil sie die irrige Vorstellung
impliziert, dass Rhinocéros weder ein
zeitgenössisch aktuelles noch ein eigentlich französisches Problem behandelt;
denn der Begriff Nazismus verweist nun einmal – vor allem in Frankreich – auf
Hitler und Deutschland, und das Wort Totalitarismus suggeriert (oder tat dies
doch in den sechziger/siebziger Jahren) die Vorstellung von Kommunismus und
Ostblock oder allenfalls die von Verhältnissen wie in Orwells hoffentlich für
immer utopischem Roman 1984.
So
schreibt z.B. Wolfgang Leiner6),
ohne zu merken, wie widersprüchlich seine Erklärungen eigentlich sind und wie
nahe einem vielversprechenden Deutungsansatz er ist:
Gewiss
ist dieser Dreiakter ein Werk mit politischem Gehalt. Bestimmte Äußerungen
Ionescos, in denen vom Prozess der Nazifizierung die Rede ist, legen es sogar
nahe, an die Entwicklung in Deutschland zu denken. Das Schauspiel jedoch als
[politisches] Melodrama zu sehen oder die Problematik des Werkes nur auf
deutsche Verhältnisse zu beziehen, hieße aber, die Allgemeingültigkeit des
Stückes zu leugnen und damit seinen Wert als Kunstwerk herabzumindern. Man wird
hier in Betracht ziehen müssen, dass Frankreich zu der Zeit, als das Stück
geschrieben wurde, leidenschaftliche politische Auseinandersetzungen erlebte,
die sich am Algerien-Problem entzündet hatten: politische Attentate waren an
der Tagesordnung, und die Furcht vor einem Putsch sowie dem Heraufkommen einer
Diktatur hatte sich vieler Köpfe bemächtigt. In diesem Zusammenhang gesehen,
muss der von Ionesco beschriebene Vorgang deshalb eher als ein archetypisches
Geschehen verstanden werden. Von den konkreten Erfahrungen ausgehend, stellt
Ionesco jene Bedrohung dar, der das Individuum ständig und überall ausgesetzt
ist. (p. 350)
Teilweise
anders, aber letztlich ähnlich argumentiert Frois in dem seit seinem Erscheinen
mehrfach nachgedruckten, sichtlich also vielbenutzten Rhinocéros-Büchlein, wo man liest:
Oui, [Ionesco] a choisi d'évoquer des événements graves, en dénonçant la
violence totalitaire, mais il n'est pas homme à appeler les choses et les êtres
par leur nom, à nommer Hitler et Staline, à parler de la Pologne ou de la Hongrie,
à mentionner l'occupation de la Rhénanie, de la Tchécoslovaquie, Oradour, les
camps de concentration et le massacre des Juifs ! Ce sont tous ces souvenirs pourtant, tous ces
morts qu'il suscite. (p. 52)
Offenbar
ängstlich besorgt, dass diese Interpretation als zu materialistisch erscheinen
könnte, offeriert Frois im Anschluss an sie alternativ aber auch die
obligatorische moralistische Deutung:
Dès lors, que nous
dit Ionesco ? Que dans tout homme, il y a un rhinocéros qui sommeille, qu'un
rien peut faire de nous une bête féroce. Regardez deux automobilistes, dont
l'un vient de prendre la place de stationnement que convoitait l'autre. La
haine et l'envie de tuer se lisent dans leurs yeux. (p. 53)
Übrigens
scheint mit wachsender Entfernung der Interpreten von der Entstehungszeit des
Stücks die dessen Aussage simplifizierende moralistische Deutung zunehmend Raum
zu gewinnen. So schreibt z. B. Peter-Eckhard Knabe in seiner ausführlichen
Studie innerhalb der von Wolf-Dieter Lange herausgegebenen Einführung in das Studium der französischen Literaturwissenschaft (Heidelberg
1979, p. 167-173):
Die
Thesen des Stücks haben allgemeinen Charakter. Nashörner, das sind alle
Mitglieder eines Kollektivs, das kompromisslose Aufgabe des eigenen Wesens
zugunsten kollektiver Qualitäten verlangt. Der einzelne verzichtet darauf,
Persönlichkeit zu sein. „Die Gemeinschaft ist alles, der einzelne ist nichts!“
Eigenleben, Freundschaft und Liebe verlieren ihren Wert. Nashörner sind hier
und jetzt und zu aller Zeit. Jeder Mensch trägt den Keim der Rhinozeritis in
sich. [...] Ionesco wendet sich gegen die Masseninstinkte, die überall wach
werden, wo sich Kollektive bilden. Waren die Vorgänge in totalitären und
faschistischen Staaten zunächst sein Ausgangspunkt, so sagt Ionesco, dass er
ein allgemeines Problem anspricht.
Und
bezeichnenderweise beruft sich Knabe nicht mehr auf die erwähnten Äußerungen
Ionescos von 1960/61 (die, als gut zwei Jahre vom Entstehungszeitraum
entfernt, zweifellos schon ihrerseits manchen dem Autor beim Schreiben des
Stücks nicht bewussten Faktor nachträglich interpretiert und rationalisiert
hatten), sondern er zitiert aus den Entretiens
avec Claude Bonnefoy von 1977 (p. 128), wo Ionesco – mit rund zwei
Jahrzehnten Abstand und aus einer völlig veränderten historischen Situation
zurückblickend – ebenfalls den moralistischen Aspekt in den Vordergrund
gestellt und erklärt hatte: „Plus ou moins inconsciemment, j'ai mis la main sur
un problème terrible : la dépersonnalisation. Or, dans toutes les sociétés modernes, les individus
collecitivisés ont la nostalgie de la solitude, d'une vie personelle. Ce que la
pièce a réveillé dans tous les publics c'est le Bérenger qui dort dans chacun
de nous. „Ähnlich deutet C. E. J. Dolamore, der in
dem Büchlein Ionesco: Rhinocéros (London 1984) zu dem Schluss
gelangt:
As we widen the lens through which we examine
Ionesco's theme, we begin to focus, not only on the specific doctrines of
fascism and communism, but on a great many of ideologies, both political and
religious. [...] We can see, therefore, that the image of the rhinoceros does
not in itself represent a particular ideological stance. It is, like all the
physical elements of Ionesco's theater, the symbol of a state of mind, a visual
projection of the inner world. (p. 31 f.)
Ebenfalls
einer letztlich unpolitischen Deutung zuzuneigen scheint – trotz einer
sichtbaren neuen Sensibilität für die politischen Motivationen und Intentionen
des Stücks – auch Wilfried Floeck, wenn er schreibt:
In Rhinocéros geht Ionesco – nicht zuletzt
unter dem Einfluss wachsender Kritik an dem unpolitischen und
gesellschaftsfernen Charakter seines Theaters – sogar so weit, seine
dramatische Parabel in den Dienst einer konkreten Botschaft zu stellen, ohne
allerdings den kritisierten Konformismus und Massenwahn politisch und
gesellschaftlich zu situieren und sein Theater wie der spätere Adamov in den
Dienst einer politischen Ideologie zu stellen. (Cf. W. F., „Eugène
Ionesco“, in Französische Literatur des
20. Jahrhunderts. Hrg. von W.-D. Lange, Bonn 1986, p. 309-322, hier: p.
314)
Verlässt
man jedoch die eingefahrenen Geleise der etablierten Interpretation, so wird
man erstens grundsätzlich von der Annahme ausgehen, dass Ionesco als
französischer und für ein französisches Publikum schreibender Autor vor allem
französische Verhältnisse im Auge hatte, als er Rhinocéros konzipierte. Zweitens wird man sich fragen, warum er
gerade 1957 und nochmals 1958 diesen Gegenstand behandelte. Und drittens wird
man seine politisch gehaltenen frühen Äußerungen etwas genauer betrachten und
bemerken, dass er darin weder den historischen deutschen (oder rumänischen)7)
Nazismus noch den geographisch mehr oder weniger entfernten kommunistischen
Totalitarismus im Auge hat, sondern die nicht genauer definierte, aber
sichtlich als sehr gegenwärtig und nah empfundene Gefahr einer jener
"hystéries collectives, soutenues ou non philosophiquement, dont des
peuples entiers deviennent périodiquement la proie" (Notes et contre-notes, p. 287). Verbindet man die drei genannten
Punkte, so wird man nach eventuellen Massenhysterien oder hysterischen
Massenbewegungen im Frankreich der Jahre 1957-58 Ausschau halten. Und hierbei
wird man in der Tat schnell fündig.8)
Zunächst
wird man feststellen, dass Anfang 1955 eine neue Rechtsaußen-Partei, die vor
allem rückwärtsgewandte kleinbürgerliche Elemente aktivierende und
radikalisierende Union de la défense des
commerçants et artisans von Pierre Poujade, mit dem Fanal einer Massenkundgebung
von 150.000 Personen lautstark die Bühne der französischen Politik betreten und
bei den Wahlen Anfang 1956 aus dem Stand enorme 12,5 % der Stimmen erhalten
hatte.9) Wichtiger aber
ist vermutlich ein anderer Umstand. 1957, genauer der Winter 1956/57 und das
Frühjahr 1957 war der Höhepunkt des Algerienkrieges: Höhepunkt in
militärischer Hinsicht mit der den Misserfolg des französisch-englischen
Suez-Feldzugs (Okt./Nov. 1956) quasi kompensierenden sogenannten „bataille
d'Alger“, einer von der Armee mit enormer Härte geführten, großangelegten Jagd
auf Freiheitskämpfer und alles Verdächtige; Höhepunkt vor allem aber in
psychologischer Hinsicht mit einem fast die ganze Nation erfassenden ungeheuren
Ausbruch von chauvinistischer und rassistischer Aggressivität angesichts der
vermeintlichen Bedrohung Frankreichs durch die algerischen Rebellen und ihre
angeblichen kommunistischen und panislamistischen Drahtzieher. Es war die Zeit
des Schlachtrufs „l'Algérie française!“, mit dem Regierung und öffentliche Meinung
sich gegenseitig anpeitschten zum Niedermachen aller Defaitisten im Mutterland
und zu brutaler Repression in Algerien. Einen englischen Journalisten in Paris
schockierte diese den Poujadismus geradezu rechts überholende faschistoide
Entwicklung in dem eigentlich von den gemäßigt linken Sozialisten und
Radikalsozialisten regierten Frankreich derart, dass er mit dem Namen des
sozialistischen Regierungschefs Guy Mollet den Begriff „nationalmolletisme“
kreierte. Wenn wir also für die Deutung von Ionescos Erzählung von der These
ausgehen, dass die dortige "Rhinozeritis" eine zeitgenössische
Massenhysterie spiegelt, so ist zweifellos an jenen aggressiven, faschistoiden nationalmolletisme von 1956/57 zu
denken.10)
Wie
aber steht es mit dem über ein Jahr später entstandenen Stück? Massenhysterien
sind meistens von nur kurzer Dauer, und so waren denn auch der nationalmolletisme und sein „Algérie
française“-Geschrei im Frühjahr 1958 fast völlig verebbt. Man begann, den Krieg
als Last zu erleben, ja zu verdrängen, und zwar so sehr, dass die Militärs in
Algerien sich von den Politikern und der öffentlichen Meinung im Mutterland im
Stich gelassen fühlten. Am 10. Mai inszenierten sie deshalb den Putsch von
Algier, der die Rückkehr De Gaulles an die Macht bewirken sollte. Die in der
Tat darauf folgende Machtergreifung des Generals nun löste im Sommer 1958 eine
neue, rechtsgerichtete Massenbewegung aus, eine Massenbewegung, die allerdings
mehr regressiv als aggressiv gestimmt war. Denn die von der Erfolglosigkeit der
Armee in Algerien frustrierten und vom politischen Chaos im Mutterland
verängstigten Franzosen waren vor allem erleichtert, den starken Mann und
Retter der Nation gefunden zu haben. Tant pis, wenn der bejubelte Erlöser sehr
weit rechts zu stehen schien.
Wie
gesagt, war die progaullistische Massenbewegung von 1958 erheblich weniger
aggressiv und hysterisch als der nationalmolletisme
von 1956/57. Dennoch waren viele kritische Geister – und offenbar auch Ionesco
– jetzt eher besorgter als im Vorjahr. Denn statt des blassen und letztlich
doch gemäßigt linken Mollet stand nun, mit De Gaulle, ein Mann an der Spitze,
der Charisma hatte und dessen bekannte, scheinbar eindeutig rechte, ja
rechtsextreme Gegnerschaft gegen das instabile parlamentarische Regime der Vierten
Republik durchaus befürchten ließ, dass er die Hoffnungen derer, die ihn geholt
hatten, erfüllte und eine straffe Diktatur à la Franco, wennn nicht à la
Mussolini oder gar Hitler errichtete.11)
Die Rhinozeritis im Stück – so meine These – spiegelt diese progaullisische
Rechtsbewegung vom Sommer und Herbst 1958, eine Rechtsbewegung, die sich
z. B. im September, also während der mutmaßlichen Anfangsphase von
Ionescos Arbeit am Stück, eindrucksvoll manifestierte, als bei selten hoher
Wahlbeteiligung enorme 80 % der Stimmen De Gaulle und seine neue Verfassung
akklamierten.
Wenn
aber meine Deutungshypothese stimmt, dass die Rhinozeritis in der Erzählung und
die im Stück zwei unterschiedliche historische Massenbewegungen spiegeln, wie
drückt sich dann dieser Unterschied in den beiden Texten aus? Vor allem – und
darauf will ich mich hier beschränken – in dem den einzelnen Figuren jeweils
zugemessenen Gewicht und in den Modalitäten ihrer Verwandlung. Was diese
Modalitäten betrifft, so weist ihnen Ionesco in der Erzählung keine große
Bedeutung zu. Er beschreibt nur einmal kurz bei Bœuf und dann ausführlicher am
Beispiel von Jean, wie eine solche Verwandlung vorzustellen ist, um dann bei
den anderen Figuren nur noch das Faktum zu erwähnen, dass sie sich verwandeln.
Im Stück dagegen werden zwar auch allein die Verwandlungen von Bœuf und Jean
genauer behandelt und letztere sogar auf der Bühne gezeigt, dennoch gibt
Ionesco hier auch den anderen Figuren (Papillon, Botard, Dudard, Logicien,
Daisy) so etwas wie eine eigene Verwandlung mit jeweils spezifischen
Modalitäten. D. h. im Stück ist die Art und Weise der Verwandlung ein
wichtiger Teil der Spezifik der betreffenden Figur, wobei auch insgesamt die
Detailliertheit der Personen-Charaktisierung und -Differenzierung zunimmt. Mit
anderen Worten: die Besonderheiten der Figuren und ihrer Verwandlungen sind in
der Erzählung nur ein Randphänomen verglichen mit dem als zentral erscheinenden
Tatbestand ihrer gemeinsamen Anfälligkeit gegenüber der Rhinozeritis. Im Stück
dagegen geht es zwar auch um diese alle gefährdende Anfälligkeit, doch
erscheint die Krankheit hier zugleich als ein jeweils individuelles Problem,
wirken die Verwandlungen weniger wie eine quasi mechanische Kettenreaktion,
sondern wie eine Serie individueller Abdankungen.
Projiziert
man diesen letztgenannten generellen Unterschied zwischen den beiden Versionen
auf die unterschiedlichen politischen Situationen während der jeweiligen
Entstehungszeit, so entdeckt man deutliche Analogien: Die als Massenphänomen
erscheinende Verwandlung der Figuren der Erzählung entspricht der
Massenpsychose in Frankreich 1956/57, als während der angeblichen Schlacht um
Algier die gesamte Nation hysterisch in den Kampfruf „l'Algérie française!“
ausgebrochen und kollektiv in aggressiven Chauvinismus und Rassismus, eben den nationalmolletisme, verfallen war.
Dagegen entspricht die eher individuelle Verwandlung der Figuren im Stück der
Situation von 1958, als die Welle der Zustimmung für De Gaulle insgesamt zwar
fast ebenso breit und mächtig war wie die des nationalmolletisme, aber in sich differenzierter. Denn anders als
im Vorjahr, wo die Nation wie eine einzige große Herde reagiert hatte, blieben
jetzt die einzelnen politischen und sozialen Gruppen als solche erhalten,
folgten sie De Gaulle mit sehr unterschiedlicher Spontaneität und durchaus
unterschiedlichen Motiven und Argumenten.12)
Doch
vergleichen wir nun die beiden Texte im einzelnen unter dem Aspekt der
unterschiedlichen Gewichtung der Personen, der unterschiedlichen Detailliertheit
und Differenziertheit ihrer Zeichnung sowie der unterschiedlichen
Verwandlungsmodalitäten. Hierbei gehen wir am besten in der Reihenfolge vor, in
der die Personen zu Nashörnern werden.
Da
ist als erster Bœuf, einer der fünf Angestellten im Büro des Haupthelden
Bérenger. Bœufs Funktion ist in beiden Versionen zunächst einmal die, dem Leser
bzw. Zuschauer sichtbar zu machen, dass die scheinbar so tierischen Nashörner
in Wahrheit verwandelte Menschen sind. Sehen wir die betreffenden Passagen der
Erzählung genauer, so sind dort die ihn kennzeichnenden persönlichen Attribute
die, dass er – ganz im Sinne seines Namens – intellektuell beschränkt ist und
dass er seine Verwandlung schon am vorigen oder vorvorigen Tag auf einem Besuch
bei seiner Familie (d. h. bei den anderen "Ochsen") in der
Provinz, und zwar ganz offenbar der südfranzösischen, erlebt hat.13)
Nimmt man diese Punkte zusammen, nämlich die Beschränktheit Bœufs, seine
deutlich frühere und im Vergleich zu der der anderen Personen noch vereinzelt
wirkende Verwandlung sowie schließlich den Verwandlungsort ländliches
Südfrankreich, so drängt sich die Annahme auf, dass Ionesco mit ihm die
Poujadisten meint, deren Bewegung sich im Lauf des Jahres 1955 zwar wie ein
Strohfeuer von Südwesten her (Poujade kam aus Saint-Céré im Département Lot)
über Frankreich ausgebreitet hatte, im Ganzen aber noch als die Sache einer
dümmlich-unkritischen und deshalb besonders leicht verführbaren Minderheit
betrachtet werden konnte. Sieht man dagegen das Stück, so ist diese präzise
Deutung nicht mehr möglich, denn hier wird Bœuf erheblich vielfältiger und
dennoch zugleich unspezifischer gezeichnet. So bekommt er – indirekt über das
seiner Frau – ein bestimmtes Alter (etwa fünfzig) zugewiesen und einen genauer
definierten Status, nämlich den eines kleineren bis mittleren Angestellten, der
offenbar lange Zeit Kollege des jetzigen Chefs gewesen, aber nicht
weitergekommen ist und nun lustlos auf Platz drei der Bürohierarchie dem
Ruhestand entgegenharrt, wobei er seine Frustration mit Ausflügen aufs Land zu
seiner Familie, sprich an die Orte seiner Kindheit, kompensiert. Er verkörpert
hiermit allgemein den Typ des in seiner beruflichen und sonstigen Existenz
enttäuschten und nostalgisch rückwärtsgewandten Klein- oder Kleinstbürgers, d. h.
jene Millionenschar Zu-kurz-Gekommener, bei denen es nicht verwundert, wenn sie
als erste einem Propheten nachlaufen, der ihnen, wie De Gaulle, den Aufbruch zu
neuen Ufern verheißt.
Versucht
man, diese verallgemeinernde Umgestaltung Bœufs vom kleinbürgerlichen
Poujadisten der Erzählung zum frustrierten Kleinbürger des Stücks zu erklären,
so reflektiert sie offensichtlich eine Veränderung der historischen Situation,
und zwar die, dass der 1955/56 so virulente und auch 1957 noch sehr
gegenwärtige, ja rückblickend als Anfang des nationalmolletisme erscheinende Poujadismus sich 1958 weitgehend
totgelaufen hatte und, quasi mit den anderen rückwärtsgewandten
kleinbürgerlichen Strömungen und Gruppierungen zusammenfließend, in der neueren
Bewegung des Gaullismus aufgegangen war.
Die
zweite, sich verwandelnde Person ist Jean, der Freund Bérengers. Jean ist in
der Erzählung die neben Bérenger bedeutsamste Figur, wogegen er im Stück ein
wenig hinter dem dort stark aufgewerteten, noch zu besprechenden Dudard
zurücktritt. In beiden Versionen hat Jean zunächst die Funktion, den Prozess
der Nashornwerdung konkret an seinem Beispiel vorzuführen. Und hier wie dort
verkörpert er den Typ des ordnungsbesessenen, bornierten und intoleranten,
zugleich aber bildungsbeflissenen, aufstiegsorientierten und fortschrittsgläubigen
Kleinbürgers, d. h. er steht für jene soziale Schicht, die damals in
Frankreich bei den Wahlen Anfang 1956 überwiegend sozialistisch und
radikalsozialistisch gewählt hatte14),
aufgrund ihrer latenten Rechtstendenz aber durchaus als Reservoir für
faschistoide Bewegungen in Frage kam. Allerdings gibt es bei der jeweiligen
Verwandlung Jeans einen wichtigen Unterschied: In der Erzählung erscheint er
als jemand, dem zunächst eindeutig unwohl ist, als er sich zu verändern
beginnt, bis er ganz plötzlich den „Humanismus“, d. h. seine bisherigen
gemäßigt linken Überzeugungen15),
für obsolet erklärt und als brutales, aggressives Nashorn den sie
verteidigenden Bérenger attackiert. Im Stück dagegen ist von jenem Unwohlsein
Jeans nur noch wenig zu spüren. Vor allem aber hat er hier für seine jetzt eher
schrittweise Verwandlung allerlei Pseudo-Argumente, die ihm die Überzeugung
vermitteln, dass eigentlich die Nashörner die Gesunden sind und dass er mit
seinem Anschluss an sie den Aufbruch in eine neue Zeit mitvollzieht.
Appliziert
man unsere Deutungshypothese, lässt sich dieser Unterschied wiederum gut aus
der veränderten historischen Situation erklären. 1956/57, angesichts der
vermeintlichen Bedrohung von außen, ließ das progressistische Kleinbürgertum
innerhalb kürzester Zeit – wenn vielleicht auch mit zunächst schlechten
Gefühlen, denn schließlich hatte man ja eben noch die Frieden und Reformen in
Algerien versprechenden Sozialisten und Radikalsozialisten gewählt – seine politischen
Grundüberzeugungen fallen, um sich ebenso rasch und unreflektiert wie die neue
Regierung der aggressiven Hysterie des nationalmolletisme
hinzugeben, einer kollektiven Psychose, die als solche naturgemäß keine den
Anschein von Rationalität erweckende Ideologie oder gar eine Zukunftsvision
entwickelte. 1958 dagegen schloss sich dasselbe Kleinbürgertum samt der
überwiegenden Zahl seiner Politiker zwar durchaus ähnlich rasch der
progaullistischen Bewegung an, hatte dabei aber dank des Generals wort- und
visionenreicher Propaganda kaum ein schlechtes Gewissen, sondern die
Überzeugung, guten Argumenten zu folgen und die Anfänge eines neuen Frankreich
mitzutragen. Auch das verminderte Gewicht der Person Jeans im Stück erklärt
sich gut aus der Veränderung der Lage. War 1956/57 das progressistische
Kleinbürgertum, als die mit seinem Block von gut 30 % der Wählerstimmen
die Regierung tragende Schicht, gewissermaßen die Schlüsselgruppe für den
Durchbruch des nationalmolletisme und
damit der Massenhysterie gewesen, so stellte es 1958 } nur noch eine zwar
wichtige, aber nicht mehr zentrale Trägergruppe der neuen Bewegung dar.
Als
nächster zum Nashorn wird Bérengers Bürochef Papillon. Er verkörpert in beiden
Versionen den Typ des Bourgeois, politisch also den des klassischen gemäßigten
Rechten. In der Erzählung vermerkt Ionesco zu Papillons Verwandlung nur, dass
sie sich kurz nach der von Jean ereignet, d. h. man hat sie sich als
ähnlich dürftig reflektiert und ähnlich plötzlich vorzustellen wie jene. Im
Stück dagegen werden Begleitumstände genannt und Gründe zitiert. Hiernach räumt
Papillon zunächst seinen Posten und zieht sich mit dem Argument, er brauche
Ruhe, aufs Land zurück. Erst dann wird er Nashorn. Wieder entspricht dieser
Unterschied der jeweiligen politischen Lage: 1956/57 war die Bourgeoisie,
d. h. die klassische Rechte, kaum weniger spontan dem nationalmolletisme verfallen als das Kleinbürgertum. 1958 dagegen
zögerte sie, ehe sie den als allzu populistisch beargwöhnten De Gaulle
akzeptierte. Wie Papillon zunächst demissioniert und erst danach zum Nashorn
wird, musste auch der letzte Regierungschef der Vierten Republik, der
Christdemokrat Pflimlin16),
die Ausweglosigkeit der Situation erkennend zurücktreten, ehe er selbst, die
bürgerlichen Abgeordneten und die Bourgeoisie insgesamt nolens volens den neuen
starken Mann unterstützten.
Das
nächste Nashorn ist Bérengers Bürokollege Botard. Als ehemaliger
Volksschullehrer und aktiver Gewerkschafter verkörpert er in beiden Versionen
die dogmatische Linke, d. h. die Kommunisten und linken Sozialisten17).
Auch bei seiner Verwandlung ist trotz der weitgehenden Identität der Figur in
Erzählung und Stück ein interessanter Unterschied zu konstatieren. In der
Erzählung nämlich hatte Ionesco das Nashornwerden Botards lediglich als
besonders überraschend dargestellt und ihm als wenig überzeugende
Rechtfertigung seines Umfallens die pseudo-progressive Phrase in den Mund
gelegt, dass man mit seiner Zeit gehen müsse. Auch im Stück fällt diese Phrase;
daneben aber werden zwei als zutreffend zu verstehende Gründe genannt, nämlich
einerseits die Ich-Schwäche Botards, die von seiner ideologischen Intransigenz
stets nur kaschiert worden sei, und andererseits sein ausgeprägter
Solidaritätssinn. Wiederum ist diese differenzierte Darstellung von Botards
Verwandlung im Stück historisch erklärbar. 1956/57, gegenüber der
vermeintlichen Gefahr von außen, hatte die eigentlich antikolonialistische und
antirassistische äußerste Linke ihr politisches Credo quasi einfach
fallengelassen und war dem allgemeinen Trend des nationalmolletisme gefolgt.18)
1958 dagegen war die Entscheidung vieler dezidiert linker Franzosen für den
rechten De Gaulle kein Akt des unreflektierten Mitlaufens, sondern eine
Reaktion der Ratlosigkeit aus dem Gefühl der eigenen Schwäche. Und um sich des
politischen Versagens nicht schämen zu müssen, erklärte man sein Votum für die
neue Verfassung zum Ausdruck von Staatsräson und Solidarität in einer schweren
Stunde der Nation.19)
Der
nächste Verwandelte in der Erzählung ist Bérengers Kollege Dudard. Im Stück
dagegen ist es der Logicien. Sehen wir zunächst den Letzteren. Sichtlich
verkörpert er in beiden Versionen den Typ des pseudokritischen, die drohende
Gefahr hinter scheinrationalem Gerede vernebelnden Intellektuellen; und hier
wie dort wird dieser ach so souveräne Geist kaum weniger rasch zum Nashorn als
die anderen, höchstens dass er sich als Ausweis seiner elitären Besonderheit
den Strohhut auf dem Kopf bewahrt. Liest man die Texte genauer, so sieht man,
dass das Gewicht des Logicien im Stück stark zugenommen hat. War er in der
Erzählung nur einer all derer, die der Rhinozeritis erliegen, so spielt er
jetzt unter anderem die wichtige Rolle desjenigen, dessen vermeintliche
Autorität andere, wie Bérenger, an sich irre werden lässt oder gar, wie Dudard,
in ihrer Tendenz zum Nashornwerden bestätigt. Projizieren wir die Figur des
Logicien auf die jeweilige historische Situation, so war 1957 für Ionesco die
Kategorie der Intellektuellen offenbar nur eine der vielen, die sich vom nationalmolletisme fortreißen ließen.20)
1958 dagegen erlebte er die Intellektuellen offenbar als eine besonders
gefährliche Spezies, nämlich als Leute, die mit ihren vermeintlich objektiven
Analysen und ihrer spitzfindigen Diskussion des Für und Wider auch noch dem
letzten Vernünftigen den Willen zum Widerstand raubten und ihn De Gaulle
nachlaufen ließen.21)
Doch
nun zu Dudard. Seine Figur hat sich von der Erzählung zum Stück am meisten
verändert. Denn in der Erzählung tritt er nur am Anfang auf, wo er neben seinem
älteren Chef Papillon den Typ des Bourgeois, nur in einer jüngeren,
zeitgemäßeren Spielart, verkörpert. Im Stück dagegen wird er neben Jean zur
wichtigsten Figur, wenn nicht wichtiger als dieser. Auch sein Profil hat sich
gewandelt. Er ist nicht einfach mehr nur der hoffnungsvolle junge Bourgeois,
sondern inkarniert den neuen bürgerlichen Typ des cadre und Technokraten, einen Typ, dem – wie Ionesco sichtlich
annimmt – in Gegenwart und Zukunft eine Schlüsselstellung zukommt. Um so
bedeutsamer sind die Modalitäten der jeweiligen Verwandlung. In der Erzählung
war zu jener nur die beiläufige Angabe zu finden, Dudard sei zugleich mit einem
Cousin von Daisy, also offenbar einem anderen jüngeren Mann, zum Nashorn
geworden. Im Stück dagegen lässt der Autor ihn vor seiner Verwandlung noch
einmal auftreten, und zwar in einem langen, völlig neu konzipierten Dialog mit
Bérenger. Hierin entwickelt er die ausschlaggebenden Motive des jungen
Technokraten, nämlich seine Anbetung der Effizienz, seine Wissenschafts- und
Zukunftsgläubigkeit und schließlich die ihm andressierte Loyalität gegenüber
den Chefs und Kollegen. D. h. es ist die typische Technokraten-Mentalität
aus apolitischem Effizienzdenken, Expertenhochmut und elitärem Korpsgeist, die
Dudard dazu bringt, sich dem neuen Trend anzuschließen.22)
Vergleicht
man insgesamt die unterschiedliche Bedeutsamkeit der einzelnen Verwandlungen in
den beiden Versionen, so wiegt in der Erzählung sichtlich die } des
progressistischen Kleinbürgers Jean am schwersten, weil sie den eigentlichen
Durchbruch der Seuche bezeichnet. Im Stück dagegen hat die Verwandlung des
Technokraten Dudard das größte Gewicht. Sie erschreckt Ionescos Helden Bérenger
am meisten, und dieses Erschrecken drückt natürlich das des Autors selber aus.
Wie
nun mag sich das enorm gewachsene Gewicht der Figur Dudards im Stück historisch
erklären? Die Antwort ist relativ einfach. 1956/57, zur Zeit des nationalmolletisme, waren die
Technokraten kaum in irgendeiner Form gesondert hervorgetreten. 1958 dagegen taten
sie dies deutlich, und zwar als eine vom neuen Regime sehr umworbene Gruppe.
Denn für seinen Traum von einem großen und modernen Frankreich brauchte De
Gaulle eine effiziente Funktionselite in Staat und Wirtschaft, Wissenschaft und
Technik. Die Technokraten ihrerseits ließen sich nach einem Augenblick der
Skepsis – denn sicher war der alte General zunächst nicht der Mann ihrer
Wünsche – schließlich nur zu gerne ködern durch die Aussicht auf eine
grundlegende Neuorientierung und Modernisierung des Landes, die ihnen
Machtzuwachs und Aufstiegschancen versprach.23)
Ionesco für seine Person muss diese opportunistische Reaktion der
Funktionselite als besonders gravierendes Moment erlebt haben, nämlich als die moralische
und intellektuelle Abdankung einer Schlüsselgruppe, die aufgrund ihrer Bildung
und ihrer Privilegien immun hätte sein sollen gegenüber der politischen
Verführung durch einen – wie es schien – wenig demokratischen Volkstribun.
Bleibt als sich zuletzt Verwandelnde
die Figur der Daisy. Sie scheint in Erzählung und Stück den damaligen, ganz
unpolitischen Normaltyp der Frau verkörpern zu sollen, mit allen Schwächen,
aber auch der einen Stärke des politikfernen Menschen, nämlich einer relativen
Resistenz gegen Propaganda-Parolen. Die Funktion Daisys ist in beiden Versionen
die gleiche: sie ist die letzte und natürlich enttäuschte Hoffnung Bérengers.
Doch während sie als Hoffnungsträgerin in der Erzählung eine gewichtige Rolle
spielt, indem sie Bérenger (und fast auch dem Leser) noch einmal Zuversicht
gibt, hat sie im Stück trotz der Länge ihres letzten Auftritts an Bedeutung
verloren. Denn nach der vorangegangenen Abdankung Dudards wird sich kein
Zuschauer mehr von Bérengers Illusionen ihr gegenüber anstecken lassen.
Wieder
lässt sich diese Veränderung, d. h. die Verminderung der Bedeutung Daisys
von der Erzählung zum Stück, historisch erklären. 1956, beim Ausbruch des nationalmolletisme, hatten sich Frauen
als besonders widerstandsfähig erwiesen. Sie hatten z. B. Kasernen
blockiert und Bahnhöfe besetzt, um das Ausrücken ihrer Söhne und Männer in den
Algerienkrieg zu verhindern. Erst später {324} waren auch sie ein Opfer der
Propaganda der Massenmedien geworden – so wie Daisy bezeichnenderweise nach dem
Einschalten des Radios zu wanken beginnt. 1958 dagegen war von einem spezifisch
weiblichen Widerstand gegen die Massenbewegung zugunsten De Gaulles nichts zu
spüren. Ionesco hätte lügen müssen, hätte er Daisy im Stück auch nur zur
vorübergehend ernstzunehmenden Hoffnungsträgerin gemacht.
Zum
Schluss ein Wort über den einzigen Nicht-Verwandelten, die Hauptperson
Bérenger. Ihn als Repräsentanten einer bestimmten Sozialkategorie zu deuten,
wie die anderen Figuren, ist kaum möglich. Zwar wird er eingeführt als kleiner
Angestellter, doch den typischen kleinen Angestellten verkörpert nicht er,
sondern Bœuf und mehr noch Jean. Ganz offensichtlich ist denn Bérenger auch
nicht als Typ konzipiert, sondern als etwas anderes: als die Identifikationsfigur
des Autors und damit auch als die Figur, die dem Leser/Zuschauer zur
Identifikation dargeboten wird.24)
Will man Bérenger dennoch soziologisch einordnen, so besetzt er sichtlich die
Position eines Marginalen. Und gerade diese Außenseiterstellung ist es, die ihn
befähigt, der Rhinozeritis bis zuletzt zu entgehen. Bekanntlich aber wird die
Marginalität vom marginalen Individuum kaum je als befriedigend erlebt, und so
lässt Ionesco sehr realistisch seinen Helden von ständigen Selbstzweifeln
geplagt sein. Diese Selbstzweifel kulminieren am Ende der beiden Versionen
darin, dass Bérenger als nunmehr letzter Mensch sich fragt, ob wirklich er es
ist, der recht hat, oder ob auch er nicht besser Nashorn werden soll. Dennoch
geben die jeweils letzten Worte den beiden Schlüssen eine unterschiedliche
Wendung. Zwar bekennt sich hier wie dort Bérenger zu seiner
Außenseiterposition, doch tut er es in der Erzählung mit dem fatalistischen
Seufzer, er könne nicht anders. Im
Stück dagegen will er nicht anders,
wenn er trotzig verkündet, er werde nicht kapitulieren. Mit anderen Worten:
der Schluss des Stücks ist deutlich optimistischer als der der Erzählung.
Auch
dieser Unterschied ist zweifellos Reflex der jeweils anderen historischen Lage.
Als Ionesco 1957 die Erzählung verfasste, war der Höhepunkt der Welle des nationalmolletisme zwar eigentlich schon
überschritten, aber angesichts der völlig verfahrenen Situation in Algerien wie
im Mutterland war nicht zu erkennen, wann und wie Frankreich je in einen
Zustand politischer Normalität zurückkehren könnte. D. h. die wenigen
kritischen oppositionellen Geister im Land sahen die Zukunft überaus schwarz,
und zwar zu Recht, wie bald der Putsch von Algier zeigen sollte. Im Dezember
1958 dagegen, als Ionesco die Schlusspassage {325} seines Stückes schrieb, war
der Horizont erheblich heller. Die Woge der Begeisterung der Massen, die auf De
Gaulles Machtergreifung gefolgt war, lief langsam aus und machte einer kühleren
Einschätzung Platz, diese aber blieb insgesamt optimistisch. Und gedämpft
optimistisch war nun auch die Sicht der kritischen Oppositionellen, die von De
Gaulle das Schlimmste befürchtet hatten, nun jedoch erlebten, dass der General
sich als passabler Demokrat verhielt. Wenn Ionesco also am Ende des Stücks
seinen Helden nicht kapitulieren lässt, so wohl aus der eigenen Hoffnung
heraus, dass die Dinge sich weniger schlimm als befürchtet entwickeln.25)
„Rhinocéros: Erzählung und Stück als
Reflexe ihrer Zeit“ hieß unser Thema, und wie sich gezeigt haben dürfte,
sprechen viele Indizien für meine These, dass die beiden in den Grundlinien von
Handlung und Personenkonstellation zwar übereinstimmenden, in zahlreichen
Details aber voneinander abweichenden Texte eine jeweils spezifische Antwort
sind auf die in gewissen Grundzügen zwar ähnlichen, im Einzelnen jedoch recht
unterschiedlichen Situationen Frankreichs zu ihren etwa anderthalb Jahre
auseinanderliegenden Entstehungszeiten. Mit anderen Worten: die beiden Texte
transportieren weniger – wie meist angenommen – die gleiche, nämlich entweder
historisch rückblickende oder aber generelle, überzeitliche und transnationale
Faschismus- bzw. Totalitarismus-Kritik; sie spiegeln vielmehr räumlich und
zeitlich jeweils wohlsituierbare Ängste des Autors: die Erzählung seine Angst
gegenüber der Massenhysterie des nationalmolletisme
im Frankreich von 1956/57, das Stück dagegen die Angst gegenüber der
zunächst als Vorbereitung einer Diktatur anmutenden progaullistischen
Massenbewegung von 1958.26)
Ganz en passant mag unsere Interpretation die Einsicht bekräftigt haben, dass
auch die der unmittelbaren Wirklichkeit häufig scheinbar so entrückten und
vermeintlich allenfalls aufs Allgemein-Menschliche abhebenden Stücke des
„absurden Theaters keineswegs im Elfenbeinturm entstanden sind, sondern wie
alle Literatur reale historische Verhältnisse, und zwar zeitgenössische,
spiegeln.
Anmerkungen:
1) Die betreffenden anderen Stücke sind Victimes du devoir (1953),
Amédée ou comment s'en débarasser (1954), Tueur sans gages (1958) und Le Piéton
de l'air (1963), denen jeweils die Erzählungen Une victime du devoir (1952),
Oriflamme (1954), La Photo du colonel (1955) und Le Piéton de l'air (1961)
vorausgegangen waren. (Abgedruckt
in E. I., La Photo du colonel,
Paris 1962)
2)
In der Erzählung bleibt der Hauptheld in seiner Eigenschaft als Ich-Erzähler
namenlos. Erst im Stück erhält er den Namen Bérenger, den bekanntlich auch die
Identifikationsfiguren mehrerer anderer Stücke Ionescos jener Jahre tragen.
3) Den einzigen
erwähnenswerten Beitrag liefert Étienne Frois in seinem Büchlein Ionesco
Rhinocéros (Paris 1970). Frois druckt die Erzählung als Anhang ab und nennt in
zwei kurzen Passagen (pp. 27-28 und 47) die augenfälligsten Unterschiede, die
für ihn jedoch nicht der Reflex einer veränderten Realität sind, sondern
Resultat von Gattungsgesetzlichkeiten (« au théâtre, il faut frapper fort », p. 28) sowie des Strebens nach einer größeren Klarheit der Aussage
(« [la pièce] est plus visiblement orientée vers
un message », ibid.), wobei dieses
Streben nach mehr Klarheit, d. h. – wie Frois es sieht – nach einer
eindeutiger positiven und stärker zur Identifikation anregenden Darstellung des
Helden Bérenger, vor allem ausgelöst sei durch zeitgenössische
Kritiker-Attacken, nämlich durch "la double influence de la controverse
londonienne [des Autors] avec l'Observer (juin-juillet 1958) et des critiques
suscitées par l'œuvre de Ionesco en général" (p. 27).
4) Vgl. z. B. die
prägnante, offenbar zum direkten oder indirekten Ausgangspunkt fast aller späteren
Interpretationen gewordene Formulierung von Martin Esslin: «Rhinozeritis ist nicht nur eine Krankheit, die Anhänger totalitärer
Ideologen der Rechten oder Linken überkommt, sie verkörpert den Hang zum
Konformismus überhaupt.» (Das Theater des Absurden.
Von Beckett bis Pinter. Erweiterte Neuausgabe, Reinbek 1985 [engl.
Originalfassung 1961], p. 143)
3) Im
Zusammenhang der Diskussion um die französische Erstaufführung am 22. 1. 1960
(die Uraufführung war schon am 30. 10. 1959 in Düsseldorf erfolgt) hatte sich
Ionesco verschiedentlich zur Bedeutung seines Stücks geäußert. Hierbei wurden offensichtlich Sätze wie "Rhinocéros est sans doute une pièce
antinazie" oder "Originairement, la 'rhinocérite' était bien un
nazisme" und "[la pièce] est la description [...] de la naissance
d'un totalitarisme" von den späteren Interpreten besonders willig
rezipiert. (Die betreffenden Äußerungen – Vorworte,
Interviews und kurze Zeitschriftenartikel – sind abgedruckt in E. I., Notes et contre-notes. Paris 1966, p. 277-292.)
6)
Ionesco: Rhinocéros", in J. v.
Stackelberg (Hrg.), Das französische
Theater, 2 Bde., Düsseldorf 1968, II, p. 341-357)
7) Bekanntlich hatte Ionesco von 1925 bis 1938 im
Heimatland seines Vaters, Rumänien, gelebt und war dort Zeuge des ihn mit Zorn
und Angst zugleich erfüllenden Aufstiegs des (1938 ermordeten)
Faschistenführers Codreanu und des Anwachsens von dessen "Eiserner
Garde" geworden, die er in einer wenig späteren Tagebuchnotiz sogar schon
mit Nashörnern verglichen hatte: "Les policiers sont rhinocéros. Les
magistrats sont rhinocéros. Les rhinocéros se demandent comment le monde a pu
être conduit par des hommes. Vous-mêmes, vous vous demandez : est-ce vrai que
le monde était conduit par des hommes ? Comment faire pour regagner la
France ? Là on peut encore se faire comprendre. On a l'impression
finalement que ce désir même est coupable. C'est comme un péché de ne pas être
rhinocéros." (Vgl. E. I., Présent
passé, passé présent, Paris 1968, p. 116). Manche
Interpreten sehen denn auch in dem von Ionesco in der Diskussion um Rhinocéros genannten Nazismus vor allem
oder einzig dessen rumänische Spielart, so z. B. Konrad Schoell in seinem
zum Standardwerk gewordenen Buch Das
französische Theater seit dem Zweiten
Weltkrieg (2 Bde., Göttingen 1970, II, p. 60) oder Guy Dumur in dem sehr
ausführlichen Ionesco-Artikel des von Jean-Pierre de Beaumarchais, Daniel Couty
und Alain Ray 1984 publizierten dreibändigen Dictionnaire des littératures en langue française. Doch so
offensichtlich es ist, dass Ionesco durch seine rumänischen Erlebnisse
sensibilisiert worden war, so wenig glaube ich, dass diese nach fast zwanzig
Jahren noch den Funken abzugeben imstande waren, an dem sich die Idee zuerst
zur Erzählung und dann zum Stück Rhinocéros
entzündete.
8) Von den zahlreichen
historiographischen und politologischen Werken, aus denen sich meine Kenntnis
der Epoche speist, erwähne ich nur das gut zugängliche und konzise Buch von
Jean-Pierre Rioux, La Quatrième République. 2.: L'expansion et l'impuissance
(Paris 1983) und die so persönlich gefärbte wie anregende Chronik La République
se meurt (Paris 21985) von Michel Winock. Deutschen
Studierenden sei als Einstieg empfohlen: Ernst Weisenfeld, Geschichte Frankreichs nach dem Krieg (München 1980 u. ö ).
9) Diese und die im folgenden
genannten Zahlen von Wahlergebnissen entnehme ich aus: La Vie politique en France depuis 1940 (Paris 51979)
von Jacques Chapsal und Alain Lancelot.
10) Ein anderer,
eindrucksvoller, wenn auch stark verschlüsselter Reflex auf jenen nationalmolletisme aus der Sicht eines
sich hoffnungslos marginalisiert fühlenden "Defaitisten" ist das
Stück Les Bâtisseurs d'Empire (1957)
von Boris Vian. (Vgl. hierzu meine Interpretation in ZRLG 1984, p. 448-472 (wieder abgedruckt in meinem Buch Interpretationen,
Heidelberg 1997). Ein expliziteres, weil offenbar schon aus einem gewissen
Abstand gezeichnetes Bild der Zeit gibt z. B. der schöne Roman von Claire
Etcherelli, Elise ou la vraie vie (Paris
1967).
11) Bekanntlich hatte De
Gaulle sich nach der Libération zunächst vor allem auf das christdemokratische
Mouvement républicain populaire (MRP)
gestützt, 1946 mit diesem aber wegen dessen Zustimmung zur neuen Verfassung der
Vierten Republik gebrochen und 1947 eine eigene politische Organisation
gegründet, das Rassemblement du Peuple
français. Diese zunächst als überparteiliche Sammlungsbewegung gedachte,
aber rasch zur Partei gewordene Organisation hatte sich mehr und mehr auf der
äußeren Rechten des damaligen Parteien-Spektrums situiert, ehe De Gaulle sie
1953 aus verschiedenen Gründen auflöste. Aus der Sicht der Franzosen von 1958
war der General also nicht zuletzt der Ex-Chef einer Ex-Rechtsaußen-Partei.
Rückblickend wird man ihn natürlich differenzierter, nämlich in die Tradition
des Bonapartismus einordnen, eine Tradition, die "rechte" Elemente
(das Eintreten für einen starken Staat) mit "linken" (Einsicht in die
Notwendigkeit sozialen Ausgleichs) verbindet.
12) Diese Unterschiede zeigten
sich noch einmal deutlich im Vorfeld der Volksabstimmung vom 28. 9. über die
neue Verfassung, wo die meisten Parteien und politischen Gruppen zwar zur
Zustimmung aufriefen (nur der PC propagierte geschlossen die Ablehnung), in Ton
und Tenor ihrer Plädoyers aber stark divergierten.
13) Die Handlung selbst spielt
in der Erzählung wie im Stück in einer wohl als mittelgroß oder größer und
sichtlich als südfranzösisch vorzustellenden Stadt. Diese nämlich hat Museum
und Theater und liegt in einer trockenen, scherzhaft "Klein-Kastilien"
genannten Gegend. Im weiteren Verlauf wird diese Lokalisierung allerdings ganz
unerheblich. Die Stadt verkörpert mehr und mehr Frankreich als Ganzes.
14) Für den deutschen Leser
sei daran erinnert, dass innerhalb des französischen Parteien-Spektrums der
Zeit die Radikalsozialisten, d. h. die Erben des traditionsreichen Parti radical et radicalsocialiste, eine
mittelgroße Partei (1956 rd. 15 % der Wählerstimmen) der linken Mitte mit
zunehmender Rechtstendenz war. Sie spaltete sich um 1970 in eine rechte und
eine linke Gruppierung, die einige Zeit in rechten bzw. linken Wahlbündnissen
überlebten, ehe sie aufgesogen wurden. Die Sozialisten, d. h. die damalige
Section française de l'Internationale
ouvrière (SFIO), repräsentierten in der Theorie zwar die proletarische
Linke, doch waren sie, da seit Kriegsende die Arbeiterschaft überwiegend
kommunistisch wählte, trotz ihres offiziellen Bekenntnisses zum Marxismus de
facto eine eher kleinbürgerliche und reformistische Partei der linken Mitte
geworden (1956 ebenfalls rd. 15 % der Stimmen). Sozialisten und
Radikalsozialisten hatten übrigens bei den Wahlen Anfang 1956 unter dem Namen Front Républicain gemeinsame
Kandidatenlisten aufgestellt.
15) Der Glaube an den
Schlüsselwert des "Humanismus" war bekanntlich lange Zeit ein
gemeinsamer Nenner zwischen Sozialisten, Radikalsozialisten sowie
Linkskatholiken. Man denke z. B. an die Szene in La Nausée, wo der kommunistische Sympathisant Sartre seinen Helden
Roquentin den Humanismus des autodidacte (des
SFIO-Mitglieds), aber auch anderer nicht-kommunistischer Linksintellektueller
satirisch ad absurdum führen lässt.
16) Die Richtigkeit meiner
teilweisen Gleichsetzung der Figur Papillons im Stück mit dem Christdemokraten
Pflimlin von 1958 wird bestärkt durch das Faktum, dass der Autor ihn im Stück
auf eine antiklerikale Äußerung Botards empört reagieren lässt (während er ihn
in der Erzählung an derselben Stelle indifferent schweigen ließ). Die Zeiten
übrigens, wo das christdemokratische MRP (Mouvement républicain populaire) als
eher links gelten konnte, waren 1958 längst vorbei. Die bei ihrer Gründung nach
der Libération noch für Verstaatlichungen, Planwirtschaft und Sozialgesetze eintretende Partei war jetzt eine
bürgerliche Partei eindeutig rechts von der Mitte. Ihre Reste wurden später
Bestandteil der UDF bzw. anderer „Unionen“, d. h. Mitte-rechts-Parteien.
17) Der
hohe gewerkschaftliche Organisierungsgrad der instituteurs sowie ihre dezidiert linke Einstellung waren
sprichwörtlich. Da sie damals schon mit 55 Jahren und mit nicht eben üppiger
Pension in den Ruhestand traten, suchten sie sich häufig, wie Botard, ein
Zubrot.
18) Ein
bezeichnendes Indiz hierfür ist der Umstand, dass bei keiner der
Beschlussfassungen der Assemblée Nationale zu Mollets Algerienpolitik die
kommunistische Fraktion gegen die Regierung stimmte.
19)
Analysen des Ergebnisses der Volksabstimmung vom 28. 9. ergaben, dass trotz der
anderslautenden Direktive der Parteiführung des PC ein großer Teil der
kommunistischen Wähler für die neue Verfassung gestimmt hatte.
20) De
facto war ihre Gruppe natürlich nicht so homogen, wie Ionesco sie zu sehen
scheint. Denn neben der großen Mehrheit derer, die in das allgemeine
"Algérie française"-Geschrei einstimmten, gab es sehr wohl eine
kleine, allerdings wenig koordinierte und zunehmend in ihren
Ausdrucksmöglichkeiten behinderte kritische Minorität.
21)
Vielleicht dachte Inesco im Stück speziell und voller Ingrimm an die vielen
Journalisten, Politologen u. ä., die in ihren Äußerungen säuberlich zu
unterscheiden versuchten zwischen ihrem Ja zu De Gaulle und ihrem Ja-Aber oder
gar Nein zu der neuen Verfassung, d. h. zu dem neuen Regime. Wenig später, 1961, wird er übrigens expressis verbis zur
Intellektuellenschelte schreiten, wenn er anlässlich der amerikanischen
Erstaufführung seines Stückes schreibt: "Personnellement, je me méfie des
intellectuels qui, depuis une trentaine d'années, ne font que propager les
rhinocérites et qui ne font que soutenir philosophiquement les hystéries
collectives dont les peuples entiers deviennent périodiquement la proie. Les
intellectuels ne sont-ils pas les inventeurs du nazisme ?" (Notes et Contre-notes, p. 291)
22) Zu
Beginn dieses Dialogs findet sich übrigens ein interessantes Detail zur Stützung
unserer Gesamtinterpretation: Bérenger, der überlegt, woher die Rhinozeritis
kommen könnte, richtet an Dudard und sich selbst die rhetorische Frage:
"Et si cela venait des colonies ?" Tatsächlich war ja die neue
progaullistische Bewegung mit dem Putsch der Generale zunächst in Algerien
ausgebrochen (das im Bewusstsein des Durchschnittsfranzosen letztlich doch
kein Teil des Mutterlandes war). In der Erzählung fehlt mit dem Dialog
Dudard-Bérenger auch die rhetorische Frage, doch hätte sie wohl kaum in dieser
Form gestellt werden können,
da der nationalmolletisme von 1956/57
für jedermann deutlich erkennbar in Frankreich selbst entstanden war.
23)
Zweifellos wäre noch Anfang 1958 eher Pierre Mendès-France der
Wunsch-Regierungschef der meisten Technokraten gewesen. Doch holte De Gaulle,
um ein Zeichen zu setzen, sogleich einige parteilose Fachleute als Minister und
Staatsskretäre in sein erstes Kabinett.
24)
Ähnlich sieht es auch Schoell (loc. cit.),
wenn er schreibt: "Bérenger stellt [...] den Individualisten, Ionesco
selbst, dar, der sich mühsam und unsicher unabhängig hält." Zu einer
Interpretation in unserem Sinn macht Schoell übrigens im Rahmen seiner
naturgemäß nur kurzen Ausführungen zum Stück noch keinen Ansatz.
25)
Auch Frois (p. 28) sieht und beschreibt den Unterschied zwischen den beiden
Schlusspassagen, begnügt sich jedoch mit eher akzidentellen, z. B.
psychologisierenden, Erklärungsversuchen.
26) Im Grunde müssten natürlich auch prinzipielle
Überlegungen den Interpreten zu der Annahme führen, dass Erzählung und Stück in
ihrer Eigenschaft als rasch konzipierte, innerhalb weniger Wochen oder
allenfalls Monate abgefasste und zur unmittelbaren Rezeption bestimmte Texte
vorzugsweise jeweils zeitgenössische Eindrücke spiegeln. Denn wann wohl reagieren
speziell Theaterautoren auf zeitlich und räumlich ferne Phänomene, die ja nicht
nur ihnen selbst, sondern vor allem auch ihrem Publikum wenig bedeuten? Im
übrigen hat Ionesco bekanntlich immer wieder sehr direkt auf politische
Veränderungen reagiert. Vgl. hierzu die Untersuchung von Emmanuel
Jacquart, "Ionesco's Political Itinerary" in: Moshe Lazar (Ed.), The Dream and the Play. Ionesco's Theatrical Quest (Malibu/Calif.
1982), p. 63-80.
Jean Anouilh (*23.6.1910 in Bordeaux; †3.10.1987 in Lausanne)
Er war zwischen 1932 und ca. 1980 ein
sehr erfolgreicher Dramatiker, dessen Stücke in den 1950er bis 70er Jahren auch
auf deutschen Bühnen häufig gespielt wurden. Seine Antigone gehörte bei
uns zum Repertoire fast aller Studententheater.
Anouilh wurde geboren als Sohn eines
Schneiders und einer Orchestermusikerin in Bordeaux. Sein erster Kontakt mit
der Welt der Bühne erfolgte 1919, als er in den Großen Ferien die
Theater-Aufführungen im Kasino des nahen Seebades Arcachon miterlebte, wo seine
Mutter im Kur-Orchester spielte. Im selben Jahr noch zog die Familie um nach
Paris. Hier besuchte er das Collège Chaptal (ein katholisches Gymnasium), wo er
den späteren Regisseur Jean-Louis Barrault als Mitschüler hatte.
Schon mit 12 machte er erste
Schreibversuche im Stile des Neo-Romantikers Edmond Rostand. Später las und sah
er Stücke von Paul Claudel, George Bernard Shaw und vor allem Luigi Pirandello.
Als Regisseur beeindruckte ihn Charles Dullin. 1927 faszinierte ihn die Hamlet-Inszenierung von Georges Pitoëff.
1928, nach einem vorzüglich abgelegten baccalauréat, begann er lustlos ein
Jurastudium, beschäftigte sich aber mehr mit Literatur und Theater. Als er im
selben Jahr das neue Stück Siegfried
von Jean Giraudoux (s.o.) wie eine Offenbarung erlebte, gab er das Studium auf
und nahm einen Job in einer Werbeagentur an (wo er „la précision et la
souplesse stilistique“ gelernt haben will). Daneben schrieb er 1929/30 seine
ersten aufführungsreifen Stücke, Humulus
le muet (=H. der Stumme) und La Mandarine. 1930 war er für einige Monate
Sekretär des Regisseurs Louis Jouvet an der Comédie des Champs Elysées, doch
harmonierte er nicht mit ihm. Er trat daraufhin seinen Militärdienst an, wurde
aber bald ausgemustert und kehrte zurück nach Paris. 1932 heiratete er die
Schauspielerin Monelle Valentin, mit der er kurz darauf eine Tochter bekam,
Catherine, die später ebenfalls Schauspielerin wurde und auch in Stücken des
Vaters auftrat.
Als im gleichen Jahr 32 sein neues
Stück L'Hermine (Der Hermelin) angenommen wurde und 90 Aufführungen
erreichte, beschloss er als freier Autor zu leben. 1933 wurde jedoch das ältere
La Mandarine ein Misserfolg.
Anouilh betätigte sich deshalb als Co-Autor von Filmdrehbüchern, um Geld zu
verdienen. 1935 war Y avait un prisonnier
(=es war einmal ein Gefangener) mit 65 Aufführungen wieder passabel
erfolgreich; Hollywood kaufte sogar die Filmrechte, doch wurde der Film nie
gedreht. Den Durchbruch Anouilhs brachte 1937 Le Voyageur sans bagages (=Reisender ohne Gepäck), in der
Inszenierung von G. Pitoëff. 1938 folgten, beide ebenfalls erfolgreich, La Sauvage (=die Wilde/Ungebärdige) und
das schon 1932 verfasste Le Bal
des voleurs (=der Ball der Diebe), das sein erstes auch im Ausland aufgeführtes
Stück wurde. Le Bal wurde inszeniert von André Barsacq, der in den
folgenden zehn Jahren der ständige Regisseur Anouilhs war.
1940 war Anouilh kurz Soldat und kurz
auch deutscher Kriegsgefangener. Nachdem schon Ende des Jahres im besetzten
Paris die Theater wieder eröffnet worden waren, konnte er 1941 Le Rendez-vous de Senlis (geschrieben
1937) aufführen lassen. Politisch stand er, wie zunächst die meisten Franzosen,
auf der Seite des neuen Staatschefs Pétain und seines rechtsgerichteten État
Français
und schrieb entsprechend hin und wieder für regimetreue Zeitschriften.
Ebenfalls 1941 verfasste das in der Gegenwart spielende, also nur
pseudo-antikisierende Stück Eurydice
(eine Art Replik auf das pseudo-antikisierende Stück Orphée von Jean Cocteau, 1926), das jedoch kein Erfolg wurde.
Im Spätsommer/Winter 41/42 konzipierte
er, nach dem Muster der antikisierenden Stücke Giraudoux’ La Guerre de Troie n'aura pas lieu und vor allem Électre, das tragödienartige Stück Antigone. Hierin personifiziert er in
Gestalt der Titelheldin sichtlich die ersten Widerständler und in Gestalt ihres
Gegenspielers Créon den Staatschef Pétain, wobei er Letzterem die besseren
Argumente in den Mund legt, der Ersteren paradoxerweise aber sehr viel
Sympathie entgegenbringt. Antigone wurde schon im Herbst 42 von
der deutschen Zensur genehmigt, kam aber, da Barsacq Bedenken hatte, erst im
Februar 44 auf die Bühne. Es war dann mit Huis
clos (1944) von Jean-Paul Sartre (s.o.) eines der meistgespielten Stücke im
Paris der letzten Monate der Besatzungszeit und sorgte für die Wiederaufnahme
auch anderer Stücke Anouilhs. (Zu Antigone vgl. meine Interpretation im
Anhang zu diesem Artikel.)
1945, nach der Libération, scheiterte
Anouilh mit dem Versuch, durch eine Unterschriftenaktion die Begnadigung des
jungen Autors Robert Brasillach zu errreichen, der wegen Kollaboration zum Tode
verurteilt worden war. Auch er selbst wurde als geheimer Sympathisant der
Kollaborateure verdächtigt. Der andauernde Erfolg der Antigone (700
Aufführungen bis 1947) half ihm jedoch darüber hinweg.
In der Folgezeit scheinen Privatleben
und Dramatikerexistenz bei Anouilh zu verschmelzen. Er schrieb fast jedes Jahr
ein neues Stück, das stets sofort in Paris, in der Provinz und auch im Ausland
aufgeführt wurde. 1952 war La Valse des
toréadors (Der Walzer der Toreros) ein Welterfolg. Andere sehr erfolgreiche
Stücke, neben vielen weiteren, weniger bekannt gewordenen, waren: L'Alouette (Jeanne oder die Lerche,
1953), das ironisch-pessimistisch die Geschichte von Jeanne d'Arc als Theater
im Theater behandelt; Pauvre Bitos ou Le
dîner des têtes (Armer Bitos, oder das Diner der Köpfe, 1956), das
den blinden Übereifer der Nachkriegsjustiz gegenüber den Kollaborateuren
geißelt und als Skandalon wirkte in einer Zeit, wo man den Mythos der
gemeinsamen Résistance aller Franzosen kultivierte; Becket ou l'Honneur de Dieu (B. oder die Ehre Gottes, 1959),
das mitten im Algerienkrieg verschlüsselt für die Gleichberechtigung und
Integration der Algerier warb und die schwierige Situation des neuen
Regierungschefs de Gaulle darstellt, der nach seiner Etablierung im Amt viele
seiner Wähler enttäuschte, als er eine politische Kehrtwendung vollzog und,
statt den Krieg zu verschärfen, den Ausgleich zu suchen begann.
1962 betätigte sich Anouilh mit seinen Fables, die sarkastisch Fabeln von Jean
de La Fontaine (1621-1695, s.o.) pastichieren, nicht ohne Erfolg in einem ganz
ungewohnten Genre. 1980 erhielt er als Auszeichnung für sein gesamtes Œuvre den
neugeschaffenen Grand Prix du Théâtre de
l'Académie Française.
1987, kurz vor seinem Tod in Lausanne,
wo er die letzten Jahre zurückgezogen verbrachte, publizierte er unter dem
seltsamen Titel La Vicomtesse d'Éristal
n'a pas reçu son balai mécanique (=Die Gräfin von É. Hat ihren Teppichkehrer
nicht bekommen), seine Memoiren aus den Jahren 1928 bis 1945.
Nachdem er jahrzehntelang die
französischen Bühnen beherrscht hat, scheint Anouilh gegenwärtig in jenes
„purgatoire“ der Schriftsteller eingetreten, aus dem das Wiederherauskommen
unsicher ist.
Als Anhang folgt
der Abschnitt zu Antigone
sowie auch die Einleitung meiner Studie „Alte Stoffe – neuer Sinn.
Zeithistorische Deutungen antikisierender Stücke“ (in: G. P.: Interpretationen, Heidelberg 1997)
Antikisierende,
also antike, meist mythologische Stoffe gestaltende Stücke tun zwar so (gemäß
der Konvention historischer Fiktionen generell), als würden sie Historie
vergegenwärtigen, in Wahrheit aber ist es umgekehrt: sie historisieren
Gegenwart. D. h. nur scheinbar stellen sie ein längst vergangenes Geschehen
dar, und nur scheinbar zeigen sie Konflikte und Probleme legendärer Personen.
Tatsächlich aber spiegeln sie aktuelles Geschehen, verarbeiten sie aktuelle
Konflikte und Probleme. Mit anderen Worten: antikisierende Stücke behandeln,
ganz wie andere literarische Werke auch, die Realität der eigenen
Entstehungszeit, diejenige Realität, die den Autor umgab, als er den Text
konzipierte, und die, wie er annehmen musste, nicht nur ihn bedrängte, sondern
auch sein potentielles erstes Publikum.
Wenn es aber
zutrifft, dass antikisierende Stücke historisierend verkleidete Spiegelbilder
von Realität der Entstehungszeit sind und dass sie vom zeitgenössischen
Publikum letztlich auch als solche Spiegelbilder erkannt werden sollen, dann
muss die Handlung jeweils deutliche Analogien zu aktuellen Geschehnissen zeigen
und müssen die Figuren in deutlicher Weise zeitgenössische Personen und
Personengruppen verkörpern.
Dass dies in der
Regel so ist und wie dies aussehen kann, sei im Folgenden gezeigt am Beispiel
von vier französischen Stücken, die Stoffe aus der griechischen Antike
gestalten, in Wahrheit aber die Realität ihrer Entstehungszeit spiegeln,
nämlich die Realität der 30er und 40er Jahre in Frankreich. Es sind Jean Giraudoux’ La Guerre de Troie n'aura pas lieu und Électre, Jean-Paul Sartres Les
Mouches und Jean Anouilhs Antigone.
[Die hier
fortgelassenen Abschnitte zu Giraudoux und Sartre findet man als Anhang zu den
betreffenden Autoren-Artikeln.]
Schließen wir mit
Anouilh und seinem ebenfalls im Sommer 41, vermutlich nur kurz nach Les Mouches, konzipierten, aber auch
erst Jahre später, nämlich Anfang 44 uraufgeführten Stück Antigone. Wieder stammt der Stoff aus der Antike, aus der
Antigone-Tragödie von Sophokles. Dieser hatte das Problem behandelt, ob ein
Herrscher das Recht hat, die Staatsraison über die Götter zu stellen und ein
Individuum für die Erfüllung einer religiösen Pflicht zu bestrafen. Anouilh
fasst das Problem umgekehrt an. Seine Frage ist, ob ein Einzelner das Recht
hat, im Namen einer selbstgesetzten, wenn auch ideologisch verbrämten Pflicht
sich gegen die Gebote eines Staatschefs aufzulehnen, der das allgemeine Wohl im
Auge hat.
Der Ort der
Handlung des Stücks, das antike Theben, ist, so wieder unsere
Ausgangshypothese, das Frankreich der Zeit, d. h. das Frankreich von
Marschall Pétain, der sich 1941 auf dem Gipfel seiner Macht befand und große
Popularität genoss. Créon als der König von Theben steht dann für den
Staatschef Pétain. Allerdings ist der Pétain verkörpernde Créon Anouilhs ein
völlig anderer Typ als der ebenfalls Pétain verkörpernde Égisthe von Sartre.
Créon nämlich ist kein Usurpator, der sich widerrechtlich an die Macht gebracht
hat; vielmehr ist er jemand, der sich von der Politik schon längst
zurückgezogen hatte, in einer großen Not des Vaterlandes aber pflichtbewusst
die Staatsgeschäfte übernommen hat, das Schlimmste hat verhindern können und
nun energisch für Ordnung zu sorgen versucht. Eben dies war die Sicht Pétains
von sich selbst, und es war zunächst auch die Sicht der großen Mehrheit der Franzosen,
die 1940 höchst erleichtert waren, als mitten im Chaos der Niederlage der
84jährige Weltkrieg I-Held Pétain an die Staatsspitze trat, einen
Waffenstillstand mit den Deutschen erreichte und die Zügel in Frankreich fest
in die Hand nahm.
Créon gegenüber
steht seine fast noch jugendliche Nichte Antigone. Sie hat soeben bei Beginn
der Handlung sich gegen ihn aufgelehnt und hat in einer nächtlichen heimlichen
Einzelaktion ihren Bruder Polynice bestattet – gegen das Verbot, im Sinne einer
selbstgesetzten Pflicht. Sie hat damit jedoch, wie sie am Ende erkennt, nichts
Positives bewirkt, sondern nur die allgemeine Ruhe gestört und sich selbst
sowie auch zunächst unbeteiligte Dritte ins Unglück gestürzt. Projizieren wir
ihre Figur auf die Realität des Spätsommers 41, so verkörpert sie ganz offenbar
die ersten Widerständler, Überzeugungstäter, hinter denen nicht zu Unrecht
junge Kommunisten vermutetet wurden, die nach dem Angriff Hitlers auf Russland
im Juni ihrerseits Ende August mit Attentaten begonnen hatten auf deutsche
Soldaten und die damit fortfuhren, trotz der scharfen Strafandrohungen Pétains
sowie auch des Zorns der Mehrheit der Franzosen, die in ihnen Terroristen
sahen, die rücksichtslos den prekären Frieden gefährdeten und Repressalien der
Besatzungsmacht provozierten. Tatsächlich war nach Auskunft Anouilhs das
auslösende Moment für das Stück ein Plakat der Regierung, das die Bevölkerung
zur Distanzierung von den Terrorakten aufrief und zur Denunziation der
Attentäter.
Neben Antigone
steht ihre ältere Schwester Ismène. Sie ist besonnener, und sie versteht Créon
und sein Verbot, obwohl sie im Prinzip ähnlich denkt wie Antigone. Sie will
zunächst nicht handeln: Sie fürchtet nicht nur die Strafe Créons, sondern auch
die Wut des Volkes. Erst am Ende des Stücks tritt sie entschlossen auf
Antigones Seite. Wenn Antigone die radikalen jungen Kommunisten inkarniert,
dann soll Ismène, als ihre ältere und weniger radikale Schwester wohl junge
Leute der gemäßigten Linken verkörpern, also in erster Linie Sozialisten, von
denen Anouilh ganz offenbar vermutete, dass sie in der Gegenwart des Jahres 41
zwar noch die Politik Pétains akzeptierten, sich irgendwann jedoch auf ihre
linke Zugehörigkeit besinnen und den aktiveren Kommunisten nachfolgen würden.
Ebenfalls auf Seiten
Antigones steht Créons Sohn Hémon, der sich lange eher für Ismène interessiert,
dann jedoch mit Antigone verlobt hat. Er wird von ihr jetzt aber nicht nur
nicht ins Vertrauen gezogen, sondern sieht sich geradezu ausgeschlossen von
ihrer Aktion. Gleichwohl stellt er sich später hinter sie und lässt sich nicht
durch seinen Vater von ihr abtrünnig machen. Hémon als Sohn von Créon muss in
der Logik unserer Deutung einen eigentlich rechten Typus verkörpern, allerdings
mit linken Tendenzen. Vermutlich dachte Anouilh an die damals durchaus
zahlreichen jungen Bourgeois mit zunächst nur vage sozialistischen, dann aber
dezidiert kommunistisch gewordenen Sympathien – Leute, von denen er vermutlich
nicht wenige kannte und von denen er sich vorstellen konnte, dass auch sie sich
eines Tages den Attentätern zumindest moralisch anschließen würden, ohne
allerdings von diesen immer akzeptiert zu werden.
Aber sehen wir
weiter: Der frühere König Œdipe, der sich quasi selbst vernichtet hat und der
von Créon als ideologisiert und realitätsfern dargestellt wird, steht offenbar
für das vorangehende Volksfront-Regime, das sich ähnlich von innen her
aufgelöst hatte, weil es oft mehr ideologisch als pragmatisch regierte.
Étéocle und
Polynice, die feindlichen Brüder, repräsentieren zweifellos die beiden
feindlichen Armeen, die sich 1941 im Namen Frankreichs bekriegten. Étéocle, der
brave, im Land gebliebene Bruder, der allerdings zur Zeit von Œdipe am liebsten
Hochverrat begangen hätte, ist die Pétain-treue reguläre Armee, deren Loyalität
zur Volksfront-Zeit tatsächlich zweifelhaft gewesen war. Polynice, der böse,
ins Ausland gegangene und von dorther Theben attackierende Bruder, verkörpert
die in England aufgestellten Truppen De Gaulles. Beide Armeen hatten sich im
September 1940 in West-Afrika und im Juni 41 in Syrien erbitterte Kämpfe
geliefert, Kämpfe, die in der französischen Presse als "Bruderkriege"
hingestellt wurden.
Eurydice, die
strickende, schweigende und sich am Ende selbst entleibende Gattin Céons,
inkarniert offensichtlich das im Prinzip Pétain-treue Frankreich, d. h.
die arbeitende und sprichwörtlich schweigende Mehrheit, die am Ende jedoch, wie
Anouilh es pessimistisch voraussieht, in Loyalitätskonflikte zwischen
Regierenden und Widerständlern geraten und hierauf mit einem wie auch immer
gearteten kollektiven Selbstmord reagieren könnte.
Der kleine Page
vom Ende des Stücks, der Créon zur Kabinettsitzung führt, ihn stützt und nur zu
gerne rasch erwachsen wäre, scheint Pierre Laval zu repräsentieren, den
umtriebigen Adlatus Pétains und designierten Amtsnachfolger.
Die Wächter
schließlich, ehemalige Frontsoldaten (deren genuin französische Namen deutlich
auf die Gegenwartsbezogenheit des Stücks verweisen), verkörpern zweifellos die
neuaufgestellte Sonderpolizei des Pétain-Regimes, die sich vor allem aus
politisch zuverlässigen Ex-Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg rekrutierte.
Nicht vertreten im Stück sind die
Deutschen. Der Autor blendet sie aus, ganz wie auch das offizielle Frankreich
so tat, als seien sie ein Randphänomen. Dennoch scheinen die Besatzer indirekt
durchaus präsent im Text, und zwar in Form der übergroßen Rücksicht Créons auf
den Zorn des Volkes und auf das Gesetz. Denn eigentlich müsste Créon, so wie
Anouilh ihn überwiegend darstellt, eher unabhängig sein, sowohl vom Volk als
auch vom Gesetz. Wenn er trotzdem wie gefesselt erscheint, so vermutlich weil
Anouilh ihn in derselben Lage sah wie Pétain. Der nämlich hatte keinen
Handlungsspielraum bei den Attentätern, so man sie fing. Er musste sie
strengstens bestrafen, weil er die Bevölkerung gegen sie aufgebracht und die
Gesetze gegen sie verschärft hatte. Beides aber hatte er getan mit Blick auf
die deutschen Besatzer, denen er keinen Anlass bieten wollte zur Einmischung in
innere französische Dinge wie die Justiz.
Sehen wir kurz
noch die Handlung des Stücks. Sie zeigt vor allem Antigone: Antigone, die mit
einer heimlichen Einzelaktion eine Pflicht erfüllt zu haben glaubt und nun halb
ängstlich, halb tapfer die Folgen erwartet; Antigone, die im Dialog mit Créon
erkennen muss, dass ihre Pflichtvorstellung unzutreffend war, die sich aber
trotzig gegen diese Einsicht auflehnt; Antigone, die schließlich begreift, dass
nicht sie Recht hatte, sondern Créon, und die mit ihrem Freitod ihren Irrtum
sühnt.
Sieht man diese
Handlung, so ist eigentlich kein Zweifel daran möglich, dass Anouilh auf Créons
Seite steht und nicht auf Seiten Antigones. Auch in dem langen Dialog, der das
zentrale Drittel des Stücks ausfüllt, steht er hinter Créon, dem er die
deutlich besseren Argumente in den Mund legt, und zwar in rationaler wie in
menschlicher Hinsicht. Dennoch hegt Anouilh ganz offensichtlich tiefe
Sympathien auch für Antigone. Die rührenden kindlichen Züge, die er ihr gibt,
ihr jugendlicher Idealismus und Opfermut, aber auch ihre Ängste zeigen
deutlich, dass die Figur ihm keineswegs gleichgültig ist.
Wie erklärt sich
diese Ambivalenz der Gefühle des Autors gegenüber Créon und Antigone?
Vermutlich ist sie Reflex einer Ambivalenz seiner Einstellung gegenüber Pétain und
den Widerständlern. Ohne Zweifel war Anouilh politisch für Pétain und sah auch
er in ihm den Retter Frankreichs, den er unterstützen wollte. Insgeheim jedoch,
so scheint es, hatte er Sympathien auch für die Widerständler, deren
Idealismus, selbst wenn er fehlgeleitet schien, ihn fasziniert haben muss, und
zwar vielleicht stärker, als ihm bewusst war.
Die
Rezeption des Stücks bestärkt eine solche Vermutung. Schon bei der Uraufführung
1944 nahm das Publikum Partei für Antigone. Dies könnte man noch daraus
erklären, dass inzwischen sich die Lage stark verändert hatte in Frankreich, wo
der Stern Pétains im Sinken war und der der Résistance im Steigen. Aber auch
spätere Leser und Interpreten haben offensichtlich die geheime Faszination des
Autors auf sich übertragen lassen und haben meistens mehr Interesse für die
Idealistin Antigone entwickelt als für den Realisten Créon – sicher gegen die
Intentionen des Autors; denn dieser wollte ohne Zweifel warnen vor den
Antigones, d. h. den ideologisch fixierten Widerständlern des Spätsommers
41, und warnen vor den negativen Folgen, die ihre Attentate für ganz Frankreich
haben würden.
Albert Camus (* 7.11.1913 in Mondovi/Algerien; † 4.1.1960 durch
Autounfall nahe Villeblevin/Dép. Yonne)
Der
als Erzähler, Dramatiker, politischer Publizist und philosophischer Essayist
tätige Camus zählt zu den bekanntesten Autoren Frankreichs im 20. Jh. In
Deutschland wird er vor allem als Philosoph wahrgenommen.
Er wurde geboren in einer Familie mit spanischen, genauer
mallorquinischen Wurzeln mütterlicherseits und südfranz. Wurzeln
väterlicherseits. (Seine eigene Annahme, die Camus stammten aus dem Elsass, hat
sich als unzutreffend erwiesen.) Sein Geburtsort Mondovi (nahe Bone, dem
heutigen Annaba), war ein Zentrum der Weinproduktion, und sein Vater, ein
ungelernter, aber offenbar tüchtiger Fuhrmann, war kurz zuvor von seiner im
Weinanbau und -export tätigen Firma aus Algier dorthin geschickt worden, um als
Kellermeister eines Weingutes zu arbeiten.
Nachdem der Vater 1914 gleich nach Beginn des Ersten
Weltkrieges zur franz. Armee eingezogen und in der Marneschlacht tödlich
verwundet worden war, zog die Mutter mit Albert und seinem älteren Bruder
Lucien zurück zu ihrer verwitweten Mutter nach Algier, in das
Kleine-Leute-Viertel Belcourt. Hier trug sie, zusammen mit ihrem
unverheirateten, sprechbehinderten Bruder, einem Böttchergesellen, zuerst als
Fabrikarbeiterin und später als Putzfrau zum Unterhalt der Familiengemeinschaft
bei, die unter der Fuchtel der strengen Großmutter stand.
1924 erhielt Camus’ Grundschullehrer mühsam die Erlaubnis
von Mutter und Großmutter, den begabten Jungen für die Aufnahmeprüfung des
Gymnasiums vorzubereiten. Camus bestand und pendelte hinfort zwischen der
ärmlichen Welt von Belcourt und dem bürgerlichen Milieu der Schule, wo er seine
Herkunft vor den Klassenkameraden versteckte und sich seiner Mutter schämte,
die nicht nur Analphabetin, sondern auch leicht hör- und sprechbehindert war.
Um seinen Status in der Klasse zu verbessern, war er sehr sportlich und spielte
als tollkühner Torwart in im Fußballverein Racing universitaire.
Nach dem ersten Teil des „baccalauréat“ (1930) erkrankte er
an Tuberkulose und musste für lange Monate in ein Sanatorium in Südfrankreich.
Nach seiner Rückkehr wurde er von einer kinderlosen Schwester seiner Mutter und
ihrem Mann aufgenommen, einem wohlhabenden und literarisch interessierten
Metzgermeister und Freimaurer. Hier fühlte er sich wohl, las, schrieb und
entwickelte Dandy-Allüren. Seine Mutter sah er, ähnlich wie Meursault in L’Étranger,
nur selten.
1932 legte er den zweiten Teil des „bac“ ab. Sein Traum wäre
die École Normale Supérieure in Paris gewesen, die Elitehochschule für die
Lehramtsfächer, doch gab es in ganz Algerien keine „classes préparatoires“ zur
Vorbereitung auf die Zulassungsprüfung (concours).
Camus begann also ein Studium der Philosophie an der neu
eröffneten Universität von Algier. Hier schloss er Freundschaft mit einem
jungen Philosophieprofessor, Jean Grenier, der später eines der ersten Bücher
über ihn schrieb.
1934, mit 21, d.h. eben volljährig, verheiratete er sich mit
der 19-jährigen Simone Hié, der hübschen, aber auch extravaganten (und
morphiumsüchtigen) Ex-Verlobten eines Freundes. Simone war zwar gutbürgerlicher
Herkunft, doch hatte ihr Vater die Familie verlassen, was mitsamt ihren
Extravaganzen ihren Wert auf dem Heiratsmarkt ausreichend minderte, um sie für
Camus erreichbar zu machen. Dass seine Tante und der Onkel diesen Wert sogar
für Null erachteten und vehement gegen die Heirat waren, störte Camus wenig,
seine Mutter informierte er gar nicht erst.
Er zog zu den Hiés und schrieb für Simone kleine Texte über
seine Jugend, die er zu einem ersten Büchlein zusammenfasste: L'Envers et
l'endroit/ Licht und Schatten (gedruckt 1937).
Als nach 1933 auch in Frankreich die politische Rechte
starken Auftrieb bekam und 1935 Sozialisten, Kommunisten und die halblinken
Radikalsozialisten ein Abwehrbündnis bildeten, die „Volksfront“, wurde auch
Camus politisiert und trat, wie viele andere junge Intellektuelle, der Kommunistischen
Partei bei.
Diese setzte ihn ein, um im
arabisch-berberischen muslimischen Bevölkerungsteil von Algier
antikolonialistische und prokommunistische Propaganda zu betreiben sowie
Mitglieder zu werben. Letzteres erwies sich zwar als fast unmöglich, weil der
marxistische Atheismus die Muslime konsternierte, doch erhielt Camus Einblick
in die sozialen und psychologischen Probleme der damals etwa 8 Millionen
„Eingeborenen“, die beherrscht wurden von etwa 800.000 „weißen“
Algerienfranzosen, d.h. den Nachkommen französischer, spanischer und
italienischer Einwanderer sowie der französisierten und naturalisierten
einheimischen Juden (wobei diese Algerienfranzosen, „les pieds noirs“,
keineswegs allesamt zur wohlhabenden Oberschicht zählten).
Als im Frühsommer 1936 die Volksfront die Wahlen gewann und
in ganz Frankreich neue kulturvermittelnde Einrichtungen gegründet wurden, um
das Bildungsniveau der „Werktätigen“ zu heben, gründete Camus mit anderen
jungen Linken in Algier ein Théâtre du travail (Theater der Arbeit).
Hier wirkte er als Mitverfasser und –regisseur eines ersten Stücks: Révolte
dans les Asturies, das einen Streik spanischer Bergarbeiter von 1934
verarbeitete, aber vor der Aufführung verboten wurde. Mehr nebenbei, denn er
war inzwischen auch Mitglied der Schauspieltruppe von Radio Algier, schloss
Camus sein Studium ab mit dem Diplôme d'études supérieures. Seine Examensarbeit
galt den antiken nordafrikanischen Philosophen Plotin und Augustinus.
Im Spätsommer 1936 bereiste er mit seiner Frau Simone Norditalien,
Österreich und die Tschechoslowakei. In Prag bemerkte er, dass sie sich bei
Ärzten prostituierte, um an Morphium zu kommen. Er war zutiefst getroffen und
brach mit ihr.
Zurück in Algier fand er eine Parteiführung vor, die soeben
auf Anweisung der kommunistischen Mutterpartei in Moskau jegliche
antikolonialistische Propaganda eingestellt hatte, weil diese die
Verteidigungskraft Frankreichs hätte schwächen können gegenüber dem
aufrüstenden Deutschland, vor dem auch Stalin Angst zu bekommen begann.
Camus, dem inzwischen die politische und soziale
Gleichberechtigung der „Arabes“, d.h. der autochthonen Algerier, am Herzen lag,
war empört von diesem Kurswechsel seiner Partei und wollte weiter im alten
Sinne agitieren, wurde aber mit Parteiausschluss bestraft. Ebenso empört und
enttäuscht war er 1937 über das Scheitern eines Gesetzesvorhabens im franz.
Parlament, wonach zumindest die gebildete und teilweise französisierte
autochthone Elite in Algerien das volle franz. Bürgerrecht erhalten sollte
(denn die drei algerischen Départements waren offiziell ja Teil Frankreichs).
Ein weiterer, persönlicher, Schlag war, dass er wegen seiner Tuberkulose nicht
zu den Rekrutierungsprüfungen für Gymnasialprofessoren, die „agrégation“,
zugelassen wurde, d.h. von der erhofften Laufbahn als beamteter
Philosophielehrer ausgeschlossen wurde.
In dieser Situation vielfacher Enttäuschung begann er einen
ersten Roman um einen tuberkulosekranken jungen Mann, der einen reichen Krüppel
ermordet und bestiehlt, um dann selber zu sterben: La Mort heureuse/ Der
glückliche Tod. Dieses ihm vielleicht allzu persönlich und unreif
erscheinende Werk stellte er aber nicht fertig, vielmehr benutzte er es ab 1938
als Steinbruch für einen neuen Roman: L'Étranger/ Der Fremde. Dieser
relativ kurze Roman wird heute in der Regel, quasi vom Ende her und im Lichte
seiner Rezeption nach dem Krieg, gelesen als ein Text mit vorwiegend
philosophischer Aussage im Sinne des Existentialismus. Dagegen wird die
ursprüngliche politische Motivation des Romans kaum mehr erkannt, nämlich dass
die Handlung um einen jungen Algerienfranzosen spielt, der zufällig einen
jugendlichen Araber, von dem er sich vage bedroht fühlt, erschießt, für sein
Vergehen dann aber quasi exemplarisch einzustehen und auch zu büßen bereit ist.
Der Untersuchungsrichter allerdings, der ihm zunächst, als einem „Weißen“,
Brücken bauen will, behandelt ihn, als er sie nicht betritt, als tumben Toren;
und der die Kolonialjustiz vertretende Staatsanwalt nutzt die Gelegenheit,
seinerseits das Exempel eines Todesurteils ohne Ansehen der Rasse an ihm zu
statuieren. Der Name des Protagonisten, Meursault, lässt sich entsprechend
lesen als „meurs, sot!“, d.h. „stirb, du Tor!“ (Deutungsvorschlag
von mir, G.P.).
Obwohl nur mühsam von einem
Hilfsassistentenjob im meteorologischen Institut von Algier lebend, schlug
Camus 1938 eine Lehrerstelle in einer Kleinstadt im tiefen Algerien aus. Ein
Grund hierfür war sicher, dass er sich gerade mit seiner späteren zweiten Frau
liiert hatte, der ein knappes Jahr jüngeren Mathematik-Studentin und dann
-Lehrerin Francine Faure (die sich offenbar ähnlich rasch entschloss ihn zu
heiraten, wie im Étranger Meursaults Freundin Marie die Initiative
ergreift).
Über einen Freund, Pascal Pia, bekam Camus einen Posten als
Reporter bei dem neuen, linksgerichten Blatt Alger républicain. Eine
seiner Spezialitäten dort wurden (wie es sich im Étranger
widerspiegelt)
Gerichtsreportagen, zumal von Prozessen gegen Araber und Berber, die in einer von
den “Weißen“ dominierten Justiz gar zu leicht die volle Härte des Gesetzes zu
spüren bekamen.
Eher nebenher verfasste er eine erste Version seines ersten
vollständig eigenen Stücks: Caligula, ein Drama um die Sinnsuche eines
jungen Mannes.
Neben seinen in der Phase existenzieller Enttäuschung
verfassten literarischen Texten, hatte er auch einen philosophischen Text
begonnen, den Essay Le Mythe de Sisyphe. Hier sieht er das menschliche
Dasein als fundamental absurd, aber dennoch wert (inzwischen gab es mit
Francine und seinem Reporter-Job ja auch wieder einige Lichtblicke in seinem
Leben), angenommen und gelebt zu werden.
Im Sommer 1939 schrieb er eine Artikelserie über eine
Hungersnot im Hinterland Algiers, worin er den Behörden vorwarf, sie täten
nichts, weil die Hungernden nur Berber waren.
Als Anfang September 39 der Zweite Weltkrieg ausbrach und
eine Zensur eingeführt wurde, hatten Camus und seine Zeitung ständig Ärger mit
der neuen Behörde. Anfang 1940 wurde die Zeitung aus verschiedenen Gründen eingestellt.
Camus ging daraufhin (ohne aus Algerien, wie man hier und dort liest,
ausgewiesen zu sein) nach Paris, wo er, erneut über Pia, einen Job bei einer
Zeitung bekam. Inwischen war er endlich geschieden und hatte sich verheiratet
mit Francine, die ihm nach Frankreich folgte.
Unmittelbar vor Beginn des deutschen Angriffs am 10. Mai,
des „blitz allemand“, stellte er den Étranger fertig, der sich während
der Zwischenzeit mit zusätzlichen Themen, insbes. den Lehren des Sisyphe,
aufgeladen hatte, die die ursprüngliche politische Intention fast verdecken.
Kurz bevor die deutschen Truppen in Paris einmarschierten, flüchtete Camus mit
der Redaktion seiner Zeitung nach Clermont-Ferrand und dann weiter nach Lyon,
wo er den Waffenstillstand (22. Juni) und die Anfänge des neuen État Français
unter Marschall Pétain erlebte.
Hiernach kehrte er, wie schon vor ihm Francine, nach
Algerien zurück, und zwar in ihre Heimatstadt Oran, wo sie die Vertretung einer
Lehrerstelle erhalten hatte und er dann stundenweise Unterricht an
Privatschulen gab. Eine Typhusepidemie, die zu dieser Zeit in Oran ausbrach,
bildete wenig später den Hintergrund für seinen Roman La Peste/ Die Pest.
Im Winter 1941/42 beendete er Le Mythe de Sisyphe. Der
Essay, der den Sinn der menschlichen Existenz in der Bejahung ihrer Tragik und
in deren Überwindung durch Pflichterfüllung zu sehen scheint, traf bei seiner
Publikation in Paris im Oktober offenbar die Stimmung im besetzten Frankreich,
wo man die gerade erlittene Niederlage durch eine Flucht in die tägliche
Pflicht zu kompensieren neigte. Camus wurde bekannt, zumal auch der im Juni
endlich herausgekommene Étranger gut einschlug (der nun jedoch nicht
mehr als ein algerisch-politisch motivierter Roman gelesen wurde, sondern als
Meditation über den Sinn der menschlichen Existenz).
Im Herbst 1942 hatte Camus einen Tuberkulose-Rückfall und
ging zu einer Kur in ein Sanatorium in Südfrankreich. Da in der selben Zeit
Algerien von anglo-amerikanischen Truppen eingenommen worden war und die
Deutschen am 11. November auch den bisher unbesetzten Süden samt der
Mittelmeer-Küste ihrer direkten Kontrolle unterstellt hatten, konnte Camus nach
dem Ende der Kur nicht nach Oran zurück. Er ging deshalb nach Paris, wo er bei seinem
Verlag Gallimard einen Posten als Lektor bekam. Er erlebte nun hautnah die
Verhältnisse im besetzten Frankreich mit, wo sich nach dem Desaster der
deutschen Truppen in Stalingrad die Stimmung veränderte. In diesem Umfeld
begann er seinen längstes Werk, den Roman La Peste. Dieser spiegelt
sichtlich seine persönliche Situation, d.h. das Getrenntsein von seiner Frau
sowie seinen Willen sich politisch zu engagieren, aber auch die allgemeine Lage
im Land, dessen Menschen überwiegend noch willig oder gleichmütig mit dem
Pétain-Régime und den deutschen Besatzern kollaborierten, teils aber schon, wie
bald auch Camus selbst, in der Widerstandsbewegung aktiv wurden, der
Résistance.
Ebenfalls in dem
für ihn sehr bewegten Jahr 1943 schrieb Camus das völlig unpolitisch wirkende
Stück Le Malentendu/ Das Missverständnis, dessen Fabel er schon in L’Étranger
erwähnt. Vor allem begann er seine Mitarbeit an dem im Untergrund
erscheinenden Résistance-Blatt Le Combat, dessen Chefredakteur er 1944
wurde, nach der Räumung von Paris durch die Deutschen im August. Kurz zuvor,
Ende Juni, war Le Malentendu aufgeführt aber bald wieder abgesetzt
worden.
Nachdem im
Herbst 44 seine Frau es geschafft hatte, ihm nach Paris zu folgen, wurden sie
Anfang Sept. 45 Eltern von Zwillingen, Catherine und Jean. Ende des Monats war
die Uraufführung von Caligula, mit Gérard Philippe in der Titelrolle.
Trotz seiner Aktivität als Widerständler versuchte Camus
nach dem Kriegsende, mit seinen vier Lettres à un ami allemand/ Briefe an
einen deutschen Freund (1945) an einer deutsch-franz. Versöhnung zu
arbeiten. Im Frühjahr 46 reiste er per Schiff zu Vorträgen nach New York, wo
ihn die Wirtschaftskraft der USA beeindruckte, und kehrte über Québec zurück
Anfang 1947 kam endlich La Peste heraus, schlug gut ein und wurde im Mai mit
dem begehrten „Prix de la critique“ ausgezeichnet. Sichtlich wirkte es wie ein
Hohes Lied der Pflichterfüllung, speziell unter Männern, und half den Franzosen
die Zeit Pétains und der Besatzung zu verklären, in der sie, gemäß dem rasch
entstehenden Mythos, angeblich allesamt erklärte oder doch wenigstens heimliche
Widerständler gewesen waren.
Mit La Peste rückte Camus, eben 33 Jahre alt, in die
erste Reihe der zeitgenössischen Autoren. Hiernach wurde er zusammen mit
Jean-Paul Sartre, mit dem ihn kurz ein freundschaftliches Verhältnis verband,
einer der Vordenker des Existentialismus im geistig so lebendigen Paris der
Nachkriegszeit. In dieser Zeit entstand sein bekanntestes philosophisches Werk,
die Essay-Sammlung L'Homme révolté (1947-1951). Sie erntete viel
Beifall, allerdings auch heftige Polemik, insbesondere die von Sartre, der
inzwischen mit dem Kommunismus sympathisierte und Camus den Verrat linker
Ideale vorwarf.
Weniger Erfolg, vielleicht weil sie zu wenig schwarz-weiß
waren, hatte Camus mit seinen politischen Stücken dieser Jahre. So war Ende
1948 das im Spanien der Franco-Diktator spielende L’État de siège/ Belagerungszustand in der Inszenierung von Jean-Louis Barrault
eine komplette Enttäuschung. Ebenso Ende 1949 das im zaristischen Russland
spielende Les Justes/ Die Gerechten, das die immer wieder aktuelle
Problematik der politisch motivierten Selbstmordattentate behandelt, deren
Sinnhaftigkeit Camus in Frage stellt, aber nicht völlig verneint (womit er sich
wohl der Political Correctness zur
Zeit unmittelbar nach Okkupation und Résistance beugt).
Im Juli und August 1949 führte ihn eine Vortragsreise durch
Argentinien, Uruguay, Chile und Brasilien, wo er Mühe hatte, sich von dem
Etikett „Existentialist“ zu befreien, das man ihm anhängte.
Sein erzählerisches Schaffen kam in diesen Jahren praktisch
zum Erliegen, zumal ihn seine Tuberkulose häufig am Arbeiten hinderte. Erst
1951 begann er die Serie von sechs, überwiegend in Algerien spielenden
Erzählungen, die 1957 gesammelt als L'Exil et le Royaume/ Das Exil und das
Königreich erschienen und z.T. sein Gefühl einer zunehmenden Vereinsamung
im Pariser Literaturbetrieb spiegeln. 1956 publizierte er den kurzen Roman La
Chute/ Der Fall, die Geschichte eines Scheiterns, die ursprünglich als ein
Teil von L’Exil gedacht war und von manchen als sein bestes Werk
betrachtet wird.
Ähnlich wie Sartre versuchte auch Camus in der gesamten
Nachkriegszeit, als Journalist auf die Politik einzuwirken, und zwar als ein
humanitärer, gemäßigt linker Pazifist. Insbesondere brandmarkte er die
Unnachgiebigkeit der französischen Regierungen gegenüber den
Freiheitsbestrebungen der Kolonialvölker und die Grausamkeiten der
Kolonialtruppen bei ihrer Bekämpfung. (Seine Zeitschriftenartikel gab er ab
1950 regelmäßig auch in Sammelbänden mit dem Titel Actuelles heraus.)
Da er über den Parteien zu stehen bemüht war, geriet er
häufig zwischen die Fronten. So scheiterte er z.B. 1956 kläglich bei seinen
Vermittlungsversuchen in Algerien, wo Ende 1954 Unruhen begonnen hatten, die
sich zum Bürgerkrieg entwickelten. Denn sein Plädoyer für eine Emanzipation der
„Arabes“ war den meisten Franzosen viel zu radikal, wogegen seine Vorstellung
von einem letztlich doch französischen Algerien für die große Mehrheit der autochthonen
Algerier inakzeptabel geworden war.
1957 erhielt Camus den Literaturnobelpreis.
Am 4. Januar 1960 kam er bei einem Unfall im Auto des mit
ihm befreundeten Neffen seines Verlegers Gallimard ums Leben, mitten in der
Arbeit an Le Premier Homme/Der erste Mensch, einem autobiografischen
Roman um seine Kindheit und frühe Jugend als Sohn eines Vaters, den er nur vom
Hörensagen schemenhaft kannte (1994 postum als Fragment erschienen).
Nachdem
Camus lange Zeit mit Sartre auf eine Stufe gestellt worden war, gilt er
inzwischen wohl als weniger bedeutend. Er ist und bleibt jedoch eine sehr
wichtige und überwiegend sympathische Figur des franz. Geisteslebens im 20. Jh.
Seine Bücher,
vor allem sein Roman L'Étranger, werden (laut Le Monde vom
25.12.07) nach wie vor in mehr als 100.000 Exemplaren jährlich gedruckt.
(Stand: Aug.
11)
Boris Vian (* 10.3.1920 in Ville d’Avray; † 23.6.1959 in Paris)
Er
zählt zwar nicht zu den ganz Großen, spielte aber durchaus eine Rolle im Literaturbetrieb
der Nachkriegszeit und wurde und wird als interessante Figur, als „le prince
(=Fürst) de Saint-Germain“, geliebt und verehrt.
Vian verlebte seine Kindheit in dem Pariser Villenvorort
Ville-d’Avray als jüngerer Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten. Als dieser in
der Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre Pleite ging, musste die Familie
in das Gärtnerhaus des Anwesens umziehen; die Villa wurde von den Eltern des
späteren Violinvirtuosen Yehudi Menuhin gemietet, der so Vians Spielkamerad wurde.
Er seinerseits lernte Trompete spielen. Als Heranwachsender erlitt er eine
Infektionskrankheit, von der eine Schädigung des Herzmuskels zurückblieb.
Nachdem er zunächst das Lycée Hoche in Versailles besucht hatte, wechselte er
auf das Lycée Condorcet, eines der besten Pariser Gymnasien, wo er auch die classe préparatoire für die École
Centrale des Arts et Manufactures absolvierte, die renommierte staatliche
Pariser Technische Hochschule. Hier bestand er 1939 die Aufnahmeprüfung
(concours) und begann ein Ingenieur-Studium.
Im Juni 1940 flüchteten die Vians vor dem „blitz allemand“
in ihr Ferienhaus an der Atlantikküste, wo auch andere betuchte Pariser
Familien Zuflucht gesucht hatten. Auf den Partys, mit denen sich die jungen
Leute hier die Zeit vertrieben, lernte Vian Michelle Léglise kennen, mit der er
sich 1941 verheiratete (und in den nächsten Jahren zwei Kinder bekam). Nach der
Rückkehr ins besetzte, aber wieder halbwegs normal funktionierende Paris und
der Ablegung des Diploms (1942) erhielt er einen Posten bei der Association
française de Normalisation, einer Parallel-Institution zum VDI (Verein
Deutscher Ingenieure). Hier erfuhr er, was Bürokratie ist, hatte daneben aber
Muße für literarische Aktivitäten, z.B. Lyrik (Cent sonnets) oder auch zwei
Romane, Trouble dans les Andains und Vercoquin et le Plancton, die erst nach dem Kriegsende gedruckt erschienen.
Nach der Libération im Spätsommer 44 gewann er Anschluss an
Pariser Intellektuellen-Kreise und gehörte u.a. einige Zeit zum engeren Zirkel
um Sartre (bis dieser ihn durch ein Techtelmechtel mit seiner Frau und
autoritäres Gehabe verdross). 1947 gab er seinen Angestellten-Posten auf und
schrieb als Journalist für verschiedene Zeitschriften, insbes. Sartres Les Temps modernes, wo er eine
regelmäßige ironische Chronique du
menteur verfasste. Daneben betätigte er sich als Übersetzer aus dem
Amerikanischen sowie als Kritiker für Jazz-Musik. Abends spielte er häufig
Trompete in einem Jazz-Keller in Saint-Germain.
1947 wurde er schlagartig bekannt durch den Wirbel um den
1946 publizierten kurzen Roman J’irai
cracher sur vos tombes, die angebliche Übersetzung eines angeblichen
afro-amerikanischen Autors namens Vernon Sullivan. Vian hatte diese Imitation
der amerikanischen Sex and crime-Romane der Zeit in kürzester Zeit aufgrund
einer Wette verfasst, musste aber erleben, dass das Buch trotz seines
offenkundigen Pastiche-Charakters und seiner Übertreibungen ernst genommen
wurde und ihm eine Anklage und Verurteilung wegen Unmoral eintrug. Als er den
Skandalerfolg von J’irai nutzte und drei weitere (allerdings nur noch
mäßig erfolgreiche) „Sullivans“ nachschob (1947, 1948 und 1950), drohte dies
sein Image in einer bestimmten Richtung festzulegen.
Ebenfalls 1946 erschien sein heute bekanntestes und
sicherlich auch bestes Werk, der schöne kleine Roman L’Écume des jours/ Der Schaum der Tage. Die mit einem Touch Surrealismus verfremdete
elegisch-tragische Liebesgeschichte blieb zunächst erfolglos, vielleicht auch
wegen der Sullivan-Affaire, wurde in den 60er/70er Jahren jedoch Kultbuch einer
ganzen Generation.
Vians weitere Romane, L’Automne
à Pékin (1946), L’Herbe rouge (1950)
und L’Arrache-cœur (1954) sowie seine
Erzählungen hatten auch auf längere Sicht keinen Erfolg, vermutlich weil sie
wenig Handlung aufweisen und mit Wortspielereien und sonstigen Gags
überfrachtet sind.
Fast erfolglos blieben auch seine ersten Stücke: L’Équarrissage [Abdeckerei] pour tous
(1947, Urauff. 1950), eine groteske Tragödie, mit der Vian auf den Beginn des
Kalten Krieges reagiert und vor einem dritten Weltkrieg warnt; oder Le Goûter [Gabelfrühstück] des généraux
(1950, Urauff. 1951), wo er die irrationalen und lächerlichen Motive geißelt,
mit denen die franz. Regierung und Generalität das Land in Kolonialkriege,
besonders den Indochina-Krieg (1946-54), hineingestürzt hatten. Einen gewissen
Erfolg, wenn auch erst nach Vians Tod, erzielte nur Les bâtisseurs d’Empire/ Die Reichserbauer (1957, Urauff. postum
1959), ein scheinbar absurdes, de facto aber ebenfalls politisches Stück, das
die Auswirkungen des Ende 1954 ausgebrochenen Algerienkriegs auf Frankreich
selbst verarbeitet, wo viele gemäßigt linke Intellektuelle einen scharfen
Rechtsruck, wenn nicht gar einen rechten Militärputsch befürchteten, der im Mai
1958 fast auch eingetreten wäre. (Vgl. hierzu meine u.g. Studie).
Um 1950 verfasste Vian zahlreiche Gedichte zum Thema
Partnerschaftsprobleme (1952 wurde er geschieden, 1954 verheiratete er sich
neu). Sie erschienen gesammelt in Cantilènes
en gelée (1949) und Je voudrais pas
crever (1953). Gedichte schrieb er aber auch zur Politik im Frankreich der
Vierten Republik, das um 1945 eine enorme Aufbruchstimmung erlebt hatte, dann
aber ab ca. 1950 unter dem Druck der pausenlosen Kolonialkriege in einer
Dauerkrise versank, die die Franzosen zugleich frustrierte und polarisierte.
Einen neuerlichen Skandalerfolg erzielte Vian in diesem Kontext 1956 durch das
von ihm selbst gesungene Chanson Le
Déserteur, in dem er angesichts der Teilmobilisierung der franz. Armee für
den Algerienkrieg zur Fahnenflucht aufrief und so den Zorn aller patriotischen
Franzosen sowie der Justiz auf sich zog.
1959 starb Vian plötzlich während einer Voraufführung des
Films, der eher gegen seinen Willen, weil von seinem Drehbuch abweichend, nach
dem Roman J’irai cracher sur vos tombes gedreht
worden war. Er hatte sich widerstrebend von Bekannten mitschleppen lassen und
sich offenbar so erregt, dass sein geschädigtes Herz versagte.
Nach seinem Tod geriet er zunächst ein wenig in
Vergessenheit, zählt heute aber wieder zu den interessantesten Intellektuellen
der französischen Nachkriegszeit. Laut Le Monde vom 25.12.07 werden
seine Bücher in mehr als 100.000 Exemplaren jährlich gedruckt.
Anm.: Zu Les
bâtisseurs d’Empire vgl. meine Studie « Boris Vians Tragigroteske Les Bâtisseurs d’Empire als Chronik der Ära Mollet
(1956/57) ». In Romanistische Zeitschrift für
Literaturgeschichte 1984, S. 448-472, wieder abgedruckt in G.P., Interpretationen,
Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 1992