Gert
Pinkernell: Überlegungen zu F. García Lorcas Stücken Bodas de sangre, Yerma und
La Casa de Bernarda Alba
Die nachfolgenden Überlegungen wurden angestellt und formuliert im Rahmen eines Seminars im Fach Romanistik/Hispanistik der Uni Wuppertal im WS 02/03. Grundlegender Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die o.g. Stücke der sog. Bauerntrilogie, die Anfang und Mitte der 1930er Jahre in einer politisch stark bewegten Zeit entstanden, die damalige enorme Polarisierung der spanischen Gesellschaft spiegeln und im Sinne der politisch „linken“ Position ihres Autors motiviert und engagiert sind, auch wenn es heute scheinen mag, als behandelten sie überzeitliche menschlich-allzumenschliche Probleme.
Bodas de sangre (Die Bluthochzeit)
A) Zu den Figuren des Stücks
(La Madre – die Mutter, el Novio – der Bräutigam, el Padre – der Vater, la
Novia – die Braut, Leonardo):
1) La Madre: Sie repräsentiert den Typ (wie Lorca ihn sieht) der
besitzenden und besitzstolzen Bäuerin. Ihr Lebensraum sind Haus und Familie,
ihr Lebensinhalt die damit verbundenen Pflichten und Aktivitäten. Ihr
Verhältnis zur "Liebe" ist bestimmt von der Vorstellung eines
Macho-Mannes und einer passiven, duldenden, treuen Frau, die für Nachwuchs
sorgt und die ihre Ehre und damit die Familienehre wahrt. Wo es um diese geht,
nimmt sie nur widerwillig von Gedanken an Blutrache Abstand und tut es am Ende
denn auch nicht mehr. Lorca zeichnet sie nicht ohne Sympathie, aber sehr aus
der Distanz. Identifikationsfigur für ihn und den Zuschauer/Leser ist sie
nicht.
2) El Novio: Er
repräsentiert dieselbe Sozialkategorie und dieselbe Mentalität wie seine
Mutter. So wie die Frau für den Fortbestand und die Ehre der Familie zuständig
ist, muss er als Mann ihren Besitz erhalten und arbeitend zu mehren versuchen.
Er "liebt" die Novia vor allem als Erbin größerer Ländereien und als
notwendige Ehepartnerin. Die Sexualität ist für ihn eine zur Ehe gehörige,
immerhin auch Lustgewinn versprechende Begleiterscheinung. Auch er ist nicht
ohne Sympathie, aber aus der Distanz gezeichnet.
3) El Padre: Er verkörpert
ebenfalls den typischen Bauern. Anders als die von Haus aus reiche Madre und
ihr ermordeter Mann ist er offenbar erst durch harte Arbeit wohlhabend
geworden. Diese Arbeit war offenbar (so soll der Zuschauer/Leser wohl vermuten,
ohne Konkretes zu erfahren) auch deshalb nötig, weil er aus Liebe eine
unvermögende Frau geheiratet hat, die ihm zwar in die Einöde gefolgt ist, ihn
aber später nicht mehr geliebt und das harte und entbehrungsvolle Leben an
seiner Seite nicht lange überstanden hat. Er erscheint als nicht eigentlich
unsympathisch, aber ziemlich beschränkt in seinem Besitz- und Standesdenken.
4) La Novia: Sie wird als
zwar äußerlich und auch im Wesen ihrer Mutter ähnlich vorgestellt, hat aber die
Mentalität ihres Vaters verinnerlicht und ist nicht nur bereit, sondern bewusst
auch willens, sich allen Normen ihres Milieus zu unterwerfen. So will sie den
Novio heiraten, um das zu erreichen, was sie für sich als richtig und
erstrebenswert betrachtet, nämlich das Leben einer reichen Bäuerin und ehrbaren
Gattin und Mutter. Zugleich allerdings hegt sie insgeheim den Wunsch nach einer
Leidenschaft in Freiheit, den sie in ihrem Verhältnis mit ihrem Ex-Geliebten
Leonardo entwickelt, dann aber unterdrückt hat. Tragischerweise folgt sie
diesem Wunsch spontan einen unbedachten Augenblick lang, ehe sie reumütig unter
das Joch (wie Lorca es sieht) der ihr anerzogenen Vorstellungen zurückkehrt und
für die kurzfristige Emanzipation ein Leben lang zu büßen bereit ist. Sichtlich
ist sie mit großer Anteilnahme gezeichnet und wirkt erheblich weniger typisiert
als die drei anderen Figuren, zur Identifikationsfigur wird sie jedoch nicht.
5) Leonardo: Er ist als
einzige der handelnden Figuren des Stücks kein Typ, denn seine soziale und
mentalitätsmäßige Zuordnung bleibt sehr vage. So ist er offensichtlich kein
besitzender Bauer, sondern eher nur Tagelöhner, doch hat er andererseits ein
Pferd. Er ist Teil der bäuerlichen Welt seiner Gegend, doch hat er ihre Normen
und Werte nicht verinnerlicht, sondern stellt sie in Frage. Er ist ein von der
Leidenschaft Getriebener, dessen Versuch, sie in einer Ehe zu kanalisieren,
misslungen ist. Er trägt als einzige Figur einen Namen, Leonardo Félix, doch
ist dieser sprechende Name (lat. Leo=Löwe und felix=glücklich!) sichtlich
Ausdruck seiner zwiespältigen Natur und das Gegenteil eines guten Omens. Er ist
die einzige Figur im Stück, mit der sich der Autor zu identifizieren scheint,
doch bewirkt dies keine Identifikation auch beim Zuschauer/Leser, denn dieser
erlebt ihn als einen zwar tragischen, aber schroffen und destruktiven
Charakter. Leonardos Überzeugung, zu der er sich erst spät durchringen kann,
dass ein Individuum seine Leidenschaft nicht unmenschlich unterdrücken soll,
wird zudem nicht direkt von ihm dem Zuschauer/Leser übermittelt, sondern muss
von den Leñadores (Holzfällern) verkündet werden, die selber konturlose
Randfiguren bleiben. Sein Tod wirkt wie eine selbstgewählte Bestrafung für die
Übertretung der Norm. Ganz offenkundig liebt Lorca seinen Leonardo trotz
Identifikation mit ihm nur wenig. Das Verhalten, das er ihm zuweist, erscheint
ihm sichtlich selbst als problematisch. Die Vermutung drängt sich auf, dass
sich in Leonardos ambivalenter Einstellung gegenüber seiner Leidenschaft, in
seinen Versuchen, sie zu kontrollieren und zu unterdrücken, und in seinem
plötzlichen Drang, sie auszuleben, Lorcas eigenes gespaltenes Verhältnis zur
Sexualität spiegelt, das ihm im überwiegend konservativ denkenden Spanien der
Zeit durch seine Homosexualität aufgezwungen wurde.
B) Zu den Intentionen des
Autors
Erklärte, d.h. aus dem Text
deutlich abzuleitende Intention Lorcas ist die Kritik an der in seinen Augen
archaischen Mentalität der besitzenden Bauernschaft, d.h. an ihren
Zweckheiraten, ihrem rigiden, die Blutrache heimlich immer noch fordernden
Ehrenkodex, ihrem patriarchalischen Rollenverständnis von Mann und Frau, ihrem
Fixiertsein auf Familienkontinuität und Besitzvermehrung. Die Bauernfiguren
wiederum sollen zweifellos als typisch erscheinen für das konservative „rechte“
Spanien insgesamt, dem Lorca quasi als ein Aufklärer und Modernisierer den
Spiegel vorhält im Sinne seiner eigenen als fortschrittlich verstandenen
Vorstellungen. Diese „linken“ Vorstellungen, mit denen er dem Sozialismus, wenn
nicht Kommunismus jener Jahre nahe stand, werden nicht zuletzt in dem Punkt
explizit deutlich, wo er seinen Leonardo und die Novia vor allem deshalb nicht
zueinander finden lässt, weil die beiden sich durch den Klassenunterschied
zwischen armem Tagelöhner und reicher Bauerntochter getrennt wissen.
Yerma
A) Zu den Hauptfiguren des Stücks (Juan und Yerma)
Juan: Er ist der damals gar
nicht so seltene Typ des strebsamen Mannes kleinbürgerlicher Herkunft (hier in
Gestalt eines zu Wohlstand gelangten Bauern), der die erste Hälfte seines
Lebens nur auf Besitzerwerb und Statusverbesserung bedacht gewesen ist und der
dieser Zielsetzung auch treu bleibt, nachdem er sich relativ spät, um der Norm
zu genügen, doch noch verheiratet hat. Von der deutlich jüngeren und aus sehr
kleinen Verhältnissen stammenden Frau, die er sich „genommen“ hat, erwartet er
nicht viel mehr als einen gewissen Komfort, aber kaum so etwas wie
Partnerschaft, Liebe und/oder sexuelle Lust. Ihre Hoffnungen und Wünsche
ignoriert er bzw. findet er lästig, und einen
Anspruch ihrerseits auf affektive und sexuelle Befriedigung sieht er
nicht. Erst zuletzt, wo es zu spät ist, befreit er sich von seinen
materialistischen kleinbürgerlichen Wertvorstellungen und spricht von Liebe als
Mittel zum Lustgewinn und zu einer Art Emanzipation des Individuums.
Yerma: Ihr Name ist
sprechend, denn yerma bedeutet
„Brachland, Ödland“. Sie ist der Typ der kinderlosen jüngeren Frau, die unter
ihrer Kinderlosigkeit leidet, weil sich in ihren Augen der Rang einer Frau in
der Gesellschaft und auch ihr Selbstwertgefühl nur aus ihrer Eigenschaft als
möglichst kinderreiche Mutter ableitet. Sie erscheint einerseits zwar als
Repräsentantin einer archaischen bäuerlichen Mentalität, ist offenbar aber
(denn ihr Mann, der Bauer Juan, teilt ja ihre Vorstellungen nicht) vor allem
als Vertreterin der allgemeinen Mutterideologie zu sehen, die damals in den
meisten europäischen Gesellschaften noch wie selbstverständlich herrschte und
die in den 1920er/30er Jahren in vielen Staaten reaktiviert wurde von „rechten“
Vordenkern und Politikern, die nach dem Geburtenknick um 1900 eine
geburtenfördernde Politik forderten oder auch schon - durchaus nicht ohne
Erfolg - betrieben.
B) Zu Lorcas Intentionen
Als „linker“
Intellektueller, der für die Emanzipation des Individuums wirbt, akzeptiert
Lorca weder die lustfeindliche, kleinbürgerliche Strebsamkeit Juans, noch die
Kindersucht Yermas. Vielmehr kritisiert er beides, indem er Juan als Gefangenen
seines Besitzstrebens und Yerma als Gefangene der Mutterideologie zeigt. D.h.
er lässt (obwohl er sie beide durchaus nicht lieblos darstellt) weder die
Titelheldin, noch ihrem Mann zur Identifikationsfigur werden, sondern lässt sie
beide scheitern. Seine Wortführer sind die Nebenfiguren Maria, La Vieja (die Alte)
und La Muchacha (das Mädchen) 2, die von einer Zweierbeziehung vor allem
sexuellen Lustgewinn für sich und den Partner erwarten, woraus dann als
Abfallprodukt Kinder entspringen mögen oder auch nicht.
Interessant ist, dass Lorca
die in seinen Augen richtige Einstellung explizit nur von Nebenfiguren und nur en passant vertreten lässt. Offenbar war
er sich der Berechtigung seiner Position nicht eben sicher. In der Tat war sie
war seinerzeit auch bei der politischen Linken marginal und bei ihm selbst (was
er vermutlich ahnte) zum Teil durch seine Homosexualität bedingt. Er konnte
nicht wissen, dass die Entwicklung in den meisten westlichen Gesellschaften in
diesem Punkt in seine Richtung gehen würde, wenn auch erst Jahrzehnte später.
Das Stück stellt eine Episode aus der Geschichte eines (nicht sehr repräsentativen) Hauses ohne Männer dar, d.h. eines Hauses von Frauen, die unter dem Druck eines „falschen Bewusstseins“, das vor allem von der Mutter Bernarda, einer reichen Bäuerin, verkörpert wird, jeder Lebensfreude, insbesondere der Freuden der Liebe, entsagen bzw. entsagen sollen und sich hierbei gegenseitig kontrollieren und quälen.
Identifikationsfigur des
Autors ist offenbar weitgehend Adela, die jüngste der fünf Töchter, die
Bernarda aus zwei Ehen hat. Adela folgt ihrer Leidenschaft für den jungen
Großbauern Pepe und gibt sich seinen und ihren Lustwünschen hin. Sie weiß
allerdings, dass ihr dies verboten ist, nicht zuletzt deshalb, weil Pepe ihre
älteste (Halb-)Schwester, die eine reiche Erbin ist, heiraten soll und auch
will. Adela entlastet sich in dieser Konfliktsituation mit der Vorstellung der
Leidenschaft, die sie „fortreißt“, und des Mannes, der über sie „regiert“.
Intention Lorcas ist
offenbar, dem Leser zu zeigen,
-
dass
die Individuen ihre Wünsche nach Lustgewinn nicht bis zur Selbstaufgabe
unterdrücken sollen;
-
dass
die Gesellschaft, z.B. in Gestalt der Eltern, nicht das Recht hat, den
Individuen jeglichen Lustgewinn zu versagen;
-
dass
allzuviel Kontrolle der Gefühle zerstörerisch wirkt;
-
dass
der Drang, die eigenen Gefühle und die Anderer zu kontrollieren und zu
unterdrücken, oft einem „falschen“ Bewusstsein entspringt, das seinerseits
gezüchtet wird durch ungerechte Besitzverhältnisse, die den einen alles, den
anderen gar nichts oder wenig lassen;
-
dass,
denn Adela endet ja tragisch, das Prinzip einer freieren Liebe nicht
realisierbar ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen in
Spanien;
-
dass
diese Verhältnisse gemäß Lorcas politisch linken Vorstellungen reformiert oder
gar revolutioniert werden müssten;
-
dass
eine solche Veränderung (so eine verbreitete Illusion unter den damaligen
Links-Intellektuellen) auch eine Emanzipation der Individuen zur Folge hätte.
Interessant ist auch die
Figur der Dienstmagd La Poncia, die zwar ihre Herrin Bernarda, von der sie
ausgenutzt wird, hasst, aber dennoch deren Interessen durchsetzen hilft. Sie
scheint den Typ des lohnabhängigen, „entfremdeten“ (wie Karl Marx und seine
Adepten sagten) Arbeitnehmers verkörpern zu sollen, der ohne ideologische
Aufklärung und ohne politische Nachhilfe nicht imstande ist, das quasi richtige
Bewusstsein zu erlangen und damit seine eigenen Interessen zu erkennen und zu
verfolgen.