Gert Pinkernell, Überlegungen zum Roman Pedro Páramo von Juan Rulfo

(angestellt im Rahmen eines Hauptseminars an der Uni Wuppertal im WS 02/03)

 

Der Roman ist im Kern die Geschichte des Niederganges eines einst florierenden Dorfes. Den Anstoß gab, laut Aussage des Autors, ein Besuch in dem Dorf seiner Kindheit, das er ähnlich verlassen und heruntergekommen vorfand wie im Roman Juan Preciado das Heimatdorf Comala seiner Mutter vorfindet.

Dieser Niedergang von Comala ist, wie sich im Fortgang des Textes herausstellt, in der Hauptsache Schuld des Großgrundbesitzers und Willkürherrschers Pedro Páramo (der in literarischer Hinsicht den Typ des „bösen“ Caziquen der mexikanischen Caziquen-Romane repräsentiert). Jedoch sind viele oder gar alle anderen Dorfbewohner irgendwie mitschuldig: der Verwalter Fulgor Sedano, der sich von der Autorität Don Pedros als Chef beeindrucken lässt und sich zum willigen Handlanger seiner Machtergreifung und seiner Unrechthandlungen macht; der Padre Rentería, der sich der Selbstherrlichkeit Pedros nicht widersetzt, obwohl er das kraft seines Priesteramtes sollte und vielleicht könnte; der Notar und Anwalt Gerardo, der in der Hoffnung auf Bezahlung das Recht im Sinne Pedros beugen hilft und so zur Rechtlosigkeit im Dorf beiträgt; Pedros unehelicher Sohn Miguel, der sich als Vergewaltiger und Mörder über alle moralischen Schranken hinwegsetzt und das Unrecht in Comala vermehrt; die Bettlerin Dorotea, die Miguel bei der Überlistung und Nötigung der weiblichen Opfer hilft; die Haushälterin Damiana, die billigend duldet, dass Pedro seine Mägde als Sexualobjekte benutzt; die Gastwirtin Eduviges, die ihr Haus für Mordaktionen zur Verfügung stellt; der anonyme Schwager, der akzeptiert, dass Pedro der Familie seiner Schwester das Land wegnimmt; Pedros Jugendliebe Susana (!), die, nachdem sie sich von Pedro hat heiraten lassen, ihn durch ihr quasi egozentrisches Versinken in Träumereien affektiv verhungern und schließlich in lähmende Frustration und zerstörerisch wirkenden Groll versinken lässt; der Revolutionär Tilcuate, der sich von Pedro ködern lässt, zum Berufsrevolutionär degeneriert und verhindert, dass die Revolution (1910-1928) eventuell positive Veränderungen bewirkt.

Allerdings ist das „Böse“ und Negative, von Anbeginn an gegenwärtig um Pedro Páramo: Sein Großvater und sein Vater sind gewaltsam umgekommen. Er gibt die ihm quasi vererbte Gewalt nur an die nächste Generation weiter. Dass er das kann, und zwar sehr effizient, ist allerdings vor allem möglich dank der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in Mexiko. Denn das Land wird beherrscht von Großgrundbesitzern seines Schlages, die das Geld und die Macht monopolisieren und dabei „die Gesetze selber machen“, wie Pedro sagt. Der Roman ist insofern durchaus politisch engagiert, als er (wenn auch sehr verhalten) diese gesellschaftlich-politischen Verhältnisse kritisiert. Zwar ist die Handlung gegenüber der Entstehungszeit des Romans (ca. 1950) um einige Jahrzehnte zurückverlegt, doch hatten sich in Rulfos Augen die Machtstrukturen in Mexiko durch die Revolution offenbar nicht grundlegend verändert, als er seinen Roman konzipierte.

Die zeitliche Einordnung der „Handlung“ ist relativ gut erkennbar: Es sind die beiden Jahrzehnte vor der 1910 beginnenden mexikanischen Revolution. Pedro stirbt allerdings erst nach deren Ende 1928, denn in einer Art Zeitraffer wird an der Figur des Tilcuate ganz zum Schluss der Verlauf der Revolution bis zum Cristeros-Aufstand 1927/28 evoziert.

Ein zentrales Motiv von Rulfos Roman (mit autobiografischen Determinanten?) ist die frustrierte Liebe: vor allem die Pedros zu Susana, aber auch die Susanas zu Florencio. Mit Sicherheit autobiografisch bedingt sind die Motive der Vatersuche und der Heimatsuche, die Rulfo an der Figur Juan Preciados ausführt.

Die für europäische Leser verwirrende und surreale Vermischung scheinbar lebender und toter Figuren ist für Mexikaner akzeptabel. Für sie nämlich bleiben Tote sehr präsent.

Noch ein paar Überlegungen: Das Motiv des von seinen Einwohnern mehr oder weniger verlassenen Dorfes spielt auch in einigen der Erzählungen Rulfos eine Rolle (z.B. in "Luvina" oder "La Cuesta de las Comadres"). Es spiegelt offenbar eine Realität im Mexiko der ersten Hälfte des 20. Jh., wo nach Beginn einer gewissen Industrialisierung des Landes viele Dörfler in die Städte zogen wegen der dort besseren Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten und wegen der größeren persönlichen Freiheit. Ein zusätzlicher Faktor der Landflucht waren die fast pausenlosen Bürgerkriege zwischen 1910 und 1928 (gut geschildert in der Erzählung "El llano en llamas"), während derer man in den Städten deutlich sicherer lebte als auf dem Lande, wo Milizionäre und Soldaten brandschatzten, plünderten und mordeten. Es haben sich damals in der Tat viele Dörfer mehr oder weniger entvölkert, so dass Comala keinen untypischen Fall darstellt.

Rulfos Einstellung gegenüber der mexikanischen Revolution scheint übrigens sehr ambivalent zu sein. Sicher war er im Kopf eher "links", also z.B. für die Landreform und gegen die Macht und Willkür der Pedro Páramos in ihren Dörfern; im Bauch könnte er aber auch ein bisschen "rechts" gewesen sein, was sich an der insgesamt negativen, wenn auch nicht unfairen Darstellung der Revolutionäre zeigt und an der nicht nur abwertenden Gestaltung des Titelhelden, der ja auch ein Opfer der von Gewalt geprägten Verhältnisse in Mexiko ist und als frustrierter Liebender fast tragisch wirkt.

Die mexikanischen Verhältnisse, die einen Pedro Páramo und sein Handeln möglich machen, zugleich aber auch das Verhalten seiner Mittäter und Opfer determinieren, sind denn auch ein eindeutiger Kritikpunkt in Rulfos Texten, wo er die intellektuelle und mentale Rückständigkeit, die sozialpolitische Apathie und die Gewaltbereitschaft der gesamten Bevölkerung vorführt (und der katholischen Kirche eine Mitschuld daran zuweist). Insofern ist Rulfo durchaus ein politisch, und zwar deutlich "links" engagierter Autor, so wie es die meisten seiner Schriftsteller-Kollegen zu jener Zeit waren.

Ein weiterer interessanter Punkt, der vermutlich ebenfalls eine zeitgenössische Realität spiegelt, ist die Erfahrung der Frustration und Desillusionierung, die fast alle Figuren in "Pedro Páramo" und auch den meisten Erzählungen Rulfos kennzeichnet. Sie könnte die Grundstimmung im Mexiko der 30er und 40er Jahre spiegeln, wo man zwar eine Revolution gehabt hatte, nun aber erlebte, wie sich letztlich doch nicht viel verbessert hatte und wie aufgrund des 1947 einsetzenden Kalten Krieges die konservativen Kräfte im Land sogar wieder Oberwasser erhielten.

Von einigen Kritikern wurde übrigens die in „Pedro Páramo“ dargestellte Erfahrung der Desillusionierung als prototypisch für den mexikanischen Nationalcharakter überhaupt gesehen (eine Sicht, die heute wohl als obsolet gelten kann).