François Villon: Leben und Werk

Gert Pinkernell (Uni Wuppertal)

Liest man die „Biographie über François Villon“ von Paul Zech im Anhang seiner Villon-Nachdichtung Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon, so hat man den Eindruck, das Leben des Autors sei bestens bekannt. Doch sind in Wahrheit unsere Kenntnisse nur bruchstückhaft und ungleichmäßig. Sie stammen erstens aus sechs erhaltenen Pariser Dokumenten, die Villon in Zusammenhang mit Straftaten erwähnen, zweitens aus einem Sammelmanuskript des Herzogs und Lyrikers Charles d'Orléans (1394-1465), das neben dessen Werken auch Gedichte anderer Autoren, darunter vier von Villon, enthält, und drittens aus Angaben und Hinweisen Villons selbst, die sich direkt oder indirekt entnehmen lassen aus seinen Texten, insbesondere dem Testament, seinem 1461/62 verfassten Hauptwerk. Aus der Gesamtheit dieser Informationen lässt sich folgendes Mosaik zusammensetzen, das in vielen Punkten allerdings nur hypothetisch ist:

Villon wurde, laut seinen Angaben im Testament, 1431 (vielleicht am 31. März) geboren in Paris, als Sohn eines mittellosen, frühverstorbenen Vaters und einer 1462 noch lebenden ärmlichen Mutter. Schon als Junge - über die Gründe und Umstände sagt er nichts - wurde er aufgenommen von einem aus erhaltenen Dokumenten bekannten Guillaume de Villon, einem vermögenden Kirchenrechtsdozenten und Kaplan, der aus dem Dorf Villon in der Bourgogne stammte und im Stift der Kirche Saint-Benoît im Pariser Quartier Latin lebte.

Zweifellos ihm, den er im Testament (Vers 849) halb liebevoll, halb ironisch als seinen „mehr als Vater“ bezeichnet, verdankte Villon seine Bildung. Von ihm auch übernahm er, sichtlich nicht unerlaubt, den Nachnamen, den er (normalerweise ohne „de“) spätestens ab 1456 benutzte.

Die richtige Aussprache dieses Namens war übrigens seinerzeit [viljõ], heute also [vijõ].  Das von manchen bevorzugte [vilõ] ist unrichtig, denn in mehreren Texten, wo Villon seinen Namen als Reimwort im Refrain benutzt, reimt er ihn ausschließlich mit Wörtern auf –(i)llon, z.B. tourbillon, Roussillon, haillon. Zudem wird Guillaume in lateinisch verfassten Urkunden  „Guillelmus de Vilione“ genannt. Auch das o.g. Dorf Villon spricht sich heute [vijõ].

Der ursprüngliche Familienname Villons steht nicht fest. So heißt er in einer Begnadigungsurkunde von Januar 1456, deren Text vermutlich auf einem von ihm selbst verfassten Gnadengesuch beruht, „François des Loges, autrement dit de Villon“. In einer wenig später ausgestellten weiteren Begnadigungsurkunde zur selben Straftat wird er dagegen „Françoys de Monterbier“ genannt. Die in Literaturgeschichten und Lexika häufig als Faktum zu findende Angabe, er habe „de Montcorbier“ geheißen, ist eine bloße Vermutung, die darauf basiert, dass der „Monterbier“ der zweiten Begnadigungsurkunde identisch sein könnte mit einem „Franciscus de Moultcorbier“ alias „Montcorbier“, der in erhaltenen Studentenlisten der Pariser Universität 1449 als Baccalaureus und 1452 als Magister figuriert.

Nach einer vermutlich von Guillaume vermittelten ersten Bildung in Lesen, Schreiben und Latein absolvierte Villon die propädeutischen Studien an der Artistenfakultät und schloss sie ab mit dem Magistergrad (maistre). Danach begann er offenbar ein Fachstudium, vermutlich eher Theologie als Kirchenrecht oder Medizin. Erfolgreich beendet hat er es zu seinem späteren Bedauern aber nicht (vgl. Test., V. 201-208). Vielmehr muss er bald nach Beginn, vielleicht während des fast einjährigen Streiks der Pariser Professoren 1453/54, aus dem Tritt geraten sein und sank ab in das zahlenmäßig offenbar größere akademische Proletariat der Hauptstadt. Hierbei schloss er sich zumindest gelegentlich Kriminellengruppen an, wahrscheinlich sogar der gefürchteten Mafia der „Muschelbrüder“ (Coquillards), die in der Bourgogne, Champagne und Île de France operierte. Allerdings bezeichnet er sich Ende 1457 in einem Lobgedicht auf eine Fürstentochter (s.u.) als „Scholar“ (escolier), und noch 1462 nennt er sich so in seiner fiktiven Grabinschrift (Test., V. 1886). Auch scheint er 1461 gegenüber der Gerichtsbarkeit des Bischofs von Orléans auf seinen Status als Student der Universität Paris gepocht zu haben.

Unbekannt ist, ob er in seinen Studentenjahren schon Verse schrieb. Vielleicht jedoch stammen einige wenige der ins Testament eingestreuten Gedichte bereits aus der Zeit vor und um 1455. Nur ein fiktives Scherzobjekt dagegen ist sicher der lange als verlorenes Jugendwerk betrachtete Roman du Pet-au-diable (R. vom Teufelsfurz), den Villon im Test. (V. 858) erwähnt und mitsamt seiner ebenfalls fiktiven Bibliothek seinem Ziehvater Guillaume vermacht.

Die hierzulande vor allem dank Paul Zech verbreitete Vorstellung, dass Villon damals oder auch später in Pariser Tavernen und anderswo selbst verfasste und vertonte Lieder vorgetragen habe, ist weder durch eigene Angaben belegt, noch wird es in den ihn betreffenden Dokumenten erwähnt, noch lässt es sich aus seinen erhaltenen Texten erschließen. Die Zugehörigkeit vieler seiner Gedichte zur Gattung „Ballade“ beweist in diesem Sinne nichts, denn ab ca. 1400 wurden Balladen in der Regel nicht mehr vertont. Auch gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Villon musikalisch interessiert oder ausgebildet war.

Zweifellos nur Fiktion ist eine anonyme Verserzählung von ca. 1480, die sich auf diese Jahre zu beziehen scheint und berichtet, wie der „gute Magister François Villon“ trickreich Speise und Trank zu einem fröhlichen Mahl für sich und seine Kumpane ergaunert. Dieser lange Zeit ihm selber zugeschriebene Schwank hat jedoch bis weit ins 19. Jh. hinein sein Bild geprägt als einer Art französischen Eulenspiegels.

Das erste sichere biografische Datum ist der 5. Juni 1455. Am Abend dieses Tages verletzte Villon bei einer Messerstecherei vor der Kirche Saint-Benoît einen offenbar pfründelosen, vermutlich ebenfalls kriminellen Priester, der wenig später starb, nicht ohne expressis verbis auf eine Strafverfolgung Villons verzichtet zu haben. Dieser, der sich bei einem Barbier die vom Messer des Priesters aufgeschlitzte Lippe verbinden lassen musste, flüchtete hiernach aus Paris. Glaubt man einigen Passagen im Testament, die auf die anschließende Zeit im Exil anspielen könnten, hätte er sich nicht allzu weit von seiner Heimatstadt entfernt und keine größeren Entbehrungen erlitten.

Nachdem er in Abwesenheit verurteilt, d.h. vermutlich mit der in solchen Fällen üblichen Verbannungsstrafe belegt worden war, konnte er schon Anfang 1456 zurückkehren aufgrund der beiden erwähnten königlichen Gnadenbriefe, in denen der Tathergang als Notwehr dargestellt ist. Wer ihm die kurz nacheinander ausgestellten Urkunden verschafft hat, ist unbekannt. Vielleicht verdankte er die eine seinem Ziehvater Guillaume de Villon (unter dessen Namen er hier vielleicht zum ersten Mal figuriert) und die andere dessen Stiftsherrnkollegen Fournier, der ihm als Anwalt offenbar des öfteren behilflich war (vgl. Test. V. 1030). Oder waren auch die Muschelbrüder im Spiel?

Wahrscheinlich stammt aus der Zeit bald nach der Rückkehr Villons sein erstes halbwegs sicher datierbares Werk: die offensichtlich an ein Publikum von gebildeten jungen Kriminellen gerichtete witzig-spöttische Ballade des contre-vérités (B. der Antiwahrheiten), die aus einer Serie von Gaunerweisheiten besteht und eine ähnliche, aber hochmoralische Ballade von Alain Chartier (1385-1433) parodiert.

Ende 1456 gibt es einen weiteren Fixpunkt. Laut erhaltenen Dokumenten unternahm Villon „um Weihnachten“ mit vier Komplizen, darunter drei Klerikern (!), einen nächtlichen Einbruch in die Sakristei der Kapelle des Collège de Navarre im Quartier Latin, wobei ein Tresor geknackt und die stattliche Summe von 500 Talern erbeutet wurde.

Kurz darauf entfernte er sich erneut aus Paris. Zweifellos noch vor seinem Weggang schrieb er für dasselbe Publikum wie das der Ballade, d.h. seine Umgebung studierter junger Krimineller, sein mit gut 320 Versen erstes längeres Werk: das Lais (= Legat) bzw. Petit Testament. Es ist eine Kombination aus den Parodien einer höfischen Liebesklage, eines Testaments und eines Traumgedichts. Im ersten Teil nimmt der mit dem Autor identisch gedachte Ich-Erzähler witzig Abschied im Zorn von einer undankbaren Geliebten. Im Testament-Teil übermacht er boshaft-respektlose fiktive Hinterlassenschaften an allerlei real existierende, fast immer namentlich genannte Leute, vor allem Amtsträger aus Justiz, Polizei und Verwaltung sowie andere Pariser Honoratioren, die er auf diese Weise (indem er sie z.B. als verkappte Homosexuelle hinstellt) dem Gelächter der Kumpane präsentiert. Im Schlussteil, wo er im Jargon der Scholastik von einem Traum erzählt, spielt er verdeckt auf den erfolgreichen Einbruch an. Offenbar hatte das Lais die Funktion, die Erinnerung an den Autor während seiner Abwesenheit aus Paris lebendig zu halten.

Das Objekt seiner enttäuschten Liebe, über das Villon sich im Lais beklagt und sich später noch, im Testament, sehr boshaft äußert, hat sich trotz vieler hierzu angestellter Vermutungen nicht dingfest machen lassen. In letzter Zeit wird nicht mehr ausgeschlossen, dass es keine Frau war, sondern eher ein Mann.

Villon hatte im Lais (V. 43) en passant gesagt, er „gehe fort nach Angers“. Diese Angabe wird präzisiert durch ein erhaltenes Protokoll von Mai 1457, laut dem ein besuchsweise in Paris weilender Priester der Polizei berichtete, ein gewisser Tabary habe ihm von einem Einbruch ins Collège de Navarre erzählt sowie auch davon, dass ein Spezi namens Villon fort nach Angers sei, wo er in einem Kloster einen Onkel besuchen und dabei auskundschaften wolle, wie man dort einen reichen Mönch berauben könne. Ob Villon tatsächlich in Angers war und ob aus dem Coup etwas wurde, wissen wir nicht. Ebenso wenig wissen wir, ob er (wie manche Biografen vermuten) vielleicht deshalb dorthin wollte, weil er hoffte, den literaturbeflissenen Herzog René d'Anjou als Mäzen zu gewinnen.

Er wird erst wieder greifbar Ende 1457 in Blois, wo er offenbar im letzten Augenblick vor der Vollstreckung eines Todesurteils bewahrt wurde durch eine Amnestie, die Herzog Charles d'Orléans zu Ehren der Geburt seiner Tochter Marie (19. Dez.) erlassen haben muss. Villon deutet dies an und bedankt sich - pro forma bei der Neugeborenen, de facto natürlich beim Vater - in seinem Dit de la naissance de Marie d'Orléans (Gedicht von der Geburt Maries von O.), einem zeremoniösen Lob- und Dankgedicht, das er als „Euer armer Scholar François“ unterzeichnet. Sichtlich verschaffte ihm dieses Gedicht, wie er in einem weiteren Dankgedicht, der Double ballade (Doppelballade), stolz andeutet, sogar Zutritt zum herzoglichen Hof. Hier beteiligte er sich jedenfalls an einem Dichterwettstreit über das paradoxe Thema „Durst angesichts einer Quelle“, wobei er in einer höchst kunstvollen Ballade seine psychologischen Probleme als plebejische Randfigur zwischen den Höflingen darstellt und den Herzog um mehr Unterstützung bittet.

Als er diese Ballade, ebenso wie vorher schon die beiden anderen Gedichte, eigenhändig in das genannte erhaltene Sammelmanuskript des Herzogs eintrug, las er darin und stieß auf einen Briefwechsel in halb französisch, halb lateinisch verfassten Balladen zwischen Charles und einem Günstling, einem gewissen Fredet. Er konnte es nicht lassen, auch seinerseits eine französisch-lateinische Ballade zu improvisieren, und zwar eine spöttische gegen Fredet, der offenbar in Blois anwesend war und den er anscheinend (oder der ihn?) als Rivalen empfand. Die Reaktion waren zwei erboste Gedichte von einem Pagen des Herzogs und von diesem selbst, worin Villon, ohne namentlich genannt zu werden, als Störenfried getadelt, d.h. vor die Tür gewiesen wird.

Zweifellos verließ er hiernach den herzoglichen Hof, sehnte sich aber sicher bald dorthin zurück, wo er zwar nicht glücklich, aber satt gewesen war. Entsprechend hat er offenbar versucht sich Charles wieder anzunähern, und zwar in Vendôme, wo jener Ende Sept./Anfang Okt. 1458 an einem Hochverratsprozess gegen seinen Schwiegersohn Herzog Jean d'Alençon teilnahm. Villons erste Bitte um Versöhnung mittels der zerknirschten Ballade des proverbes (B. der Sprichwörter) ließ Charles von einem Höfling durch eine andere Sprichwortballade zurückweisen. Dagegen scheint er einen zweiten Anlauf mittels der um Nachsicht werbenden Ballade des menus-propos (B. der Banalitäten) belohnt zu haben mit den sechs Talern, die Villon später (1461) in einer neuerlichen Bittballade an ihn erwähnt.

Nach dem mutmaßlichen Kontakt mit Charles in Vendôme verschwindet Villon für fast drei Jahre im Dunkeln. Ob er (wie manche Biografen vermuten) in dieser Zeit versucht hat, Herzog Jean de Bourbon, den er von Blois her gekannt haben dürfte, als Mäzen zu gewinnen, bleibt unbewiesen und ist wenig wahrscheinlich. Näher liegt die Vermutung, dass er sich wieder Banden bzw. den Muschelbrüdern angeschlossen hat.

Er wird erst wieder greifbar 1461. Glaubt man den Eingangsstrophen des Test. (V. 4-48), verbrachte er den ganzen Sommer dieses Jahres in einem Kerker des Bischofs von Orléans, Thibaut d'Aussigny, in Meung-sur-Loire. Über die Gründe seiner Haft, offenbar im Fundament des Turms der dortigen Burg, schweigt Villon sich aus, doch stellt er den Bischof als hart und ungerecht dar. Anscheinend verfasste er dort zwei Balladen, vielleicht anlässlich kurzer Besuche von Herzog Charles d'Orléans beim Bischof, der den Sommer über in oft Meung residierte. Die eine ist die scheinbar an Schausteller, Vaganten und Dirnen, tatsächlich aber wohl an den Bischof und den Herzog gerichtete Épître à ses amis (Brief an seine Freunde), wo Villon kläglich-komisch um Befreiung aus dem Kerker bittet. Die andere ist der Débat du cœur et du corps de Villon (Disput zwischen Herz und Leib Villons), ein Dialog des Autor-Ichs mit seinem Herzen als seinem besseren Selbst. Auch dieses Gedicht, in dem Villon halb noch trotzig in der Rolle des Ganoven spricht und halb schon reuig in der Rolle des ehrbaren Mannes, war sicher für den Bischof und den Herzog als Leser gedacht.

Er kam jedoch erst frei durch eine Amnestie des neugekrönten Königs Louis XI, der am 2. und 3. Okt. in Meung auf einer Reise Station machte und vielleicht einer Fürbitte von Herzog Charles nachkam, der ihn begleitete. Villon wendete sich hierauf dankbar und zweifellos auf eine Zuwendung hoffend an Louis mit der monarchistisch-patriotischen und zugleich Gelehrsamkeit demonstrierenden Ballade contre les ennemis de la France (B. gegen die Feinde Frankreichs). Aber Louis reagierte offenbar nicht, denn der explizite Dank, den Villon ihm später im Test. (56-72) abstattet, ist voll versteckter Spitzen, z.B. der, dass er ihm zwölf energische und streitbare Söhne wünscht - eine Schreckensvision für jeden Fürsten. Nach der mutmaßlichen Enttäuschung durch Louis wendete Villon sich umgehend an Herzog Charles mit einer witzig-verzweifelten Bittballade (die lange fälschlich unter dem Titel Requête au duc de Bourbon [Gesuch an den Herzog von Bourbon] figurierte). Er konnte sie ihm jedoch, wie ein Postskriptum auszusagen scheint, erst ein paar Tage später in Blois zukommen lassen, wo sie ihm ein Geldgeschenk eingetragen haben muss (vgl. Test., 101 f.).

Villon kehrte nun zurück nach Paris, blieb vermutlich aber zunächst vor den Toren der Stadt, denn der Einbruchdiebstahl im Collège de Navarre (1456) war ja ungesühnt. Sichtlich war er aber von dem Wunsch beseelt, ein neues Leben anzufangen. Dies jedenfalls zeigt die scheinbar an junge Kriminelle, tatsächlich aber an fromme und gebildete ältere Herren, d.h. vor allem wohl an Guillaume de Villon, gerichtete Ballade du bon conseil (B. vom guten Rat). Hierin stellt Villon sich selber als bekehrten und gebesserten Ex-Verbrecher dar, der junge Noch-Verbrecher ermahnt und der es deshalb verdient, dass er unterstützt und in Ehren wieder aufgenommen wird.

Sein Wunsch nach Reintegration muss aber frustriert worden sein. Seine Entwicklung von Gutwilligkeit zu Enttäuschung und Verzweiflung zeigt die pessimistische Ballade de Fortune (Fortuna-B.), wo er sich in der vielleicht nicht nur fiktiven Rolle eines Gipsarbeiters, der sich im Steinbruch und am Kalkofen „abnützt“, von der Schicksalsgöttin Fortuna eine Lektion in Fatalismus erteilen lässt.

Die nachfolgende Hinwendung zu Auflehnung und Trotz lässt sein wohl Ende 1461 begonnenes Hauptwerk erkennen, das Testament. Dessen berühmter, einerseits reumütiger, andererseits Gott und die Welt anklagender langer Anfangsteil scheint noch an potenzielle Helfer und Gönner gerichtet, vor denen sich Villon, sicher in der Hoffnung auf Hilfe, darstellt als ein zwar nicht unbeteiligtes, überwiegend aber schuldloses Opfer der Verhältnisse. Der sarkastisch-satirische Hauptteil und Schluss des Test. dagegen scheint überwiegend an dieselbe kriminelle Leser- bzw. Hörerschaft gerichtet wie das Lais. Denn Villon geißelt erneut mit seinen boshaften Legaten zahlreiche als dümmlich, sittenlos und korrupt vorgestellte Pariser Honoratioren, und dies in einer Weise, die vom normalen, den höheren Schichten angehörenden literarischen Publikum der Zeit kaum goutiert werden konnte. Eingestreut in das Testament sind 20 lyrische Texte, überwiegend Balladen, mit sehr unterschiedlicher Thematik. Die meisten von ihnen sind zweifellos zeitgleich mit den sie jeweils umgebenden Textpassagen verfasst, einige jedoch könnten schon älteren Datums sein. 

Wirklich fiel Villon zurück ins Kriminellenmilieu, das einzige, das ihn wieder aufzunehmen bereit war und ihm inzwischen offenbar (vgl. Test., 1054 ff.) eine heimliche Bleibe in der Stadt verschafft hatte, wo er wohl im Frühjahr oder Sommer 1462 das Testament abschloss.

Vermutlich stammen aus der Zeit kurz danach, d.h. Sommer/Herbst 62, sechs unter seinem Namen überlieferte sowie fünf ihm zuschreibbare Balladen im Rotwelsch der Pariser Gauner. Hierin warnt Villon in der Rolle eines Gauners die Kumpane vor Polizei, Justiz und dem Henker. Es sind schwer verständliche, düster-realistische Texte, die aber zugleich einen trotzigen Stolz verraten und mittels derer Villon sich vielleicht endgültig mit seiner kriminellen Umgebung zu identifizieren gedachte.

Anfang Nov. 62 saß er wegen eines offenbar kleineren Diebstahls im Pariser Stadtgefängnis. Er sollte schon entlassen werden, als die Geschädigten des Einbruchs ins Collège de Navarre von seiner Anwesenheit in Paris erfuhren. Er musste seine Beteiligung gestehen und kam erst frei gegen die (als Aktennotiz erhaltene) Verpflichtung, innerhalb von drei Jahren seine 120 Taler Anteil an der Beute zurück zu erstatten. Offenbar hatte Guillaume für ihn gebürgt, denn sichtlich lebte Villon hiernach bei ihm im Stift von Saint-Benoît.

Dies allerdings nur kurze Zeit. Laut einem erhaltenen Dokument war er eines Abends im November oder Dezember mit drei Kumpanen auf dem Heimweg von einem gemeinsamen Essen, als einer der drei die noch arbeitenden Angestellten eines Notars provozierte. Bei dem nachfolgenden Handgemenge kriegte der Notar einen Messerstich ab. Villon hatte sich zwar zu Beginn der Tätlichkeiten aus dem Staub gemacht, war aber erkannt worden und wurde am nächsten Tag verhaftet. Die Richter des Pariser Stadtgerichts, die vermutlich - und sei es per Hörensagen - vom Testament und dessen ehrenrührigen Anwürfen wussten, nutzten offenbar die Gelegenheit, Villon foltern zu lassen und zum Tod am Galgen zu verurteilen.

Zweifellos in der Todeszelle dichtete er zwei seiner besten, sichtlich seine Angst verarbeitenden und verdrängenden Texte: die Ballade des pendus (B. der Gehenkten), wo er fatalistisch in der Rolle des schon am Galgen Baumelnden die Passanten um Mitgefühl bittet, und das Quatrain (Vierzeiler), wo er voll schwarzem Humor an den Augenblick denkt, in dem „durch ein kurzes Stück Strick sein Hals erfahren wird, was sein Hintern wiegt“.

Allerdings hatte er zugleich Berufung eingelegt beim obersten Pariser Gerichtshof, dem Parlement. Dieses kassierte in der Tat am 5. Jan. 1463 das unangemessen harte Todesurteil, wandelte es aber „angesichts des schlimmen Lebenswandels besagten Villons“ um in zehn Jahre Verbannung aus Stadt und Grafschaft Paris. Villon schrieb daraufhin eine pompöse, die Grenzen der Geschmacklosigkeit, vermutlich aber auch der Parodie streifende Dankballade, in der er zugleich um drei Tage Aufschub zum Abschiednehmen und Geldbeschaffen bittet (Requête et louange à la cour = Gesuch und Lob an den Gerichtshof).

Eine wohl in eben diesen Tagen verfasste spöttische Ballade an den Gefängnisschreiber Garnier, der seiner Berufung offenbar keine Chancen beigemessen hatte und ihn am liebsten hätte hängen sehen, ist das letzte Lebenszeichen Villons. Hiernach verliert sich seine Spur. Vielleicht hat er bereits den ersten Winter als Vogelfreier nicht überlebt.

Seine Werke fanden zunächst, vermengt mit denen anderer Autoren, Eingang in Sammelhandschriften betuchter, meist Pariser Literaturliebhaber. Mehrere solcher Handschriften, von denen einige u.a. das Lais und/oder das Testament und/oder einzelne Gedichte überliefern, sind erhalten. 1489 erschien als Druck die erste eigenständige Villon-Ausgabe, die der Pariser Drucker Pierre Levet wohl aus diversen Sammelhandschriften zusammengetragen hatte. Sie bietet gut 90% der heute bekannten Textmenge und bildete die Grundlage für die rd. 20 Ausgaben, die bis 1542 gedruckt wurden. Offensichtlich hatte sich in den 25 Jahren seit Villons Verschwinden das Lesepublikum so weit verbreitert, dass es in Paris und anderswo genügend Leser gab, die seine Texte goutierten, und zwar vor allem wohl die Honoratioren-Satire von Testament und Lais. Nach 1550 erlosch das Interesse an Villon; er geriet weitgehend, wenn auch niemals völlig in Vergessenheit. Der Autor und Literaturtheoretiker Nicolas Boileau z.B. erwähnt ihn lobend um 1670. 1723 und 1742 erschien je eine Werkausgabe. Als Autor von Bedeutung wiederentdeckt wurde er zur Zeit der Romantik. 1832 erschien die erste Edition nach modernen Kriterien, 1834 widmete ihm daraufhin der Dichter Théophile Gautier eine vielbeachtete Studie in La France littéraire. Später beeinflusste Villon Lyriker wie Paul Verlaine und Arthur Rimbaud, die sich als „poètes maudits“ (fluchbeladene/verfemte Dichter) verstanden und sich mit ihm identifizierten.

Villons erhaltenes Gesamtwerk ist mit ca. 3300 Versen relativ schmal. Formal wirkt es, trotz seiner z.T. virtuosen Reimkunst, eher schlicht und konventionell. Es beeindruckt vor allem durch die ungewöhnliche Prägnanz, Lebendigkeit und Ausdruckskraft seiner Sprache und Bilder. Da die Texte fast allesamt prekäre Momente oder Krisenphasen einer bewegten Existenz verarbeiten und den Eindruck einer starken persönlichen Betroffenheit des Autors vermitteln, sprechen sie auch heutige Leser noch an. Villon gilt zu Recht als einer der besten mittelalterlichen Dichter Frankreichs.

Seine Präsenz im deutschsprachigen Raum beginnt mit dem Lyriker Richard Dehmel, der 1892/93 zwei Balladen als „Lied des vogelfreien Dichters“ und „Lied der Gehenkten“ nachdichtete. Offenbar kreierte er zugleich mit seiner Annahme, es handele sich um Liedtexte, das hierzulande verbreitete Image Villons als eines Liedermachers. Die erste, gut 80% der erhaltenen Textmenge umfassende und damit fast komplette Übertragung erschien 1907, verfasst von dem österreichischen Offizier Karl Klammer (alias K. L. Ammer). Sie hat nach 1918 zahlreiche expressionistische Autoren beeinflusst, z.B. Bert Brecht, Klabund, Jacob Haringer und vor allem Paul Zech. Dessen äußerst freie Villon-Nachdichtung von 1931, die in einer von ihm 1943 stark revidierten Version postum (1952 und 1962) neu aufgelegt wurde, sowie seine ebenso freie Villon-Biografie von 1946, deren Details keineswegs, wie Zech suggeriert, auf neuentdeckten Quellen beruhen, bestimmen das Bild der deutschen Leser von Villon und haben zahlreiche weitere, z.T. illustrierte, Gesamt- und Auswahl-Übertragungen nach sich gezogen, aber auch Villon-Romane, Villon-Stücke, Villon-Chansons u.ä. inspiriert. Eher noch größer war die Wirkung von Klaus Kinski, dem Anfang der 50er Jahre die Zechsche Version von 1931 in die Hände gefallen war. Seine eindrucksvollen Rezitationen fanden viele tausend Hörer und wurden von diversen anderen Villon-Darstellern nachgeahmt wie Wolfgang Neuss, Thomas Koppelberg, Ernst Stankovski, Markus Kiefer u.a.m.. Vor allem wohl dank dieser Rezitatoren ist Villon im deutschsprachigen Raum als Figur fast bekannter als in Frankreich.

Übrigens hat nur hierzulande die 1970 aufgestellte Hypothese eines französischen Linguisten Verbreitung gefunden, wonach das Lais und das Testament in Wahrheit von einem anonymen Pariser Gerichtsschreiber verfasst worden seien, der den Namen des stadtbekannten Tunichtgut Villon als Pseudonym benutzt habe. Da diese Hypothese zu einem besseren Verständnis von Lais und Testament nichts beiträgt und vor allem durch die Existenz der bei und für Herzog Charles d'Orléans verfassten Gedichte Villons widerlegt wird, ist sie vom Gros der europäischen und amerikanischen Forscher zu Recht nicht ernst genommen worden.

Ausgaben: François Villon, Poésies complètes, éd. [...] par Claude Thiry (Paris: Livre de poche/ Lettres Gothiques, 1991). François Villon, Das Kleine und das Große Testament, hrsg., übers. und kommentiert von Frank-Rutger Hausmann (Stuttgart: Reclam, 1988). (Die älteren Übertragungen von K. L. Ammer, Walter Küchler, Walter Widmer, Carl Fischer, Martin Remané und Ernst Stankovski sind ebenfalls, meist in Neuauflagen, im Handel erhältlich.)

Wissenschaftliche Literatur: Gert Pinkernell, François Villons LAIS. Versuch einer Gesamtdeutung (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1979). Rudolf Sturm, François Villon. Bibliographie und Materialien 1489-1988, 2 vol. (München/ London/ New York/ Paris: K. G. Saur, 1990). Wolfgang Pöckl, Formen produktiver Rezeption François Villons im deutschen Sprachraum (Stuttgart: Hans-Dieter Heinz Akademischer Verlag, 1990). Gert Pinkernell, François Villon et Charles d'Orléans, d'après les Poésies diverses de Villon (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1992). Gert Pinkernell, François Villon: biographie critique et autres études (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 2002)

Als Anhang folgt der Text meines Beitrags zu einem Wuppertaler Zech-Kolloquium im Oktober 2007. Er erscheint demnächst als Aufsatz in der germanistischen Fachzeitschrift Euphorion:

 

Gert Pinkernell (Wuppertal)

Paul Zech und seine Lasterhaften Lieder und Balladen des François Villon: ein „Betrug am Leser“?

 „Die Balladen und Lieder des François Villon sind ein unvergängliches Zeugnis der Weltliteratur. Nie zuvor und auch später nicht mehr sind in der französischen Dichtung Liebe und Hass, Tod und Vergänglichkeit, Hunger und Armut, Laster und Ausschweifung so unmittelbar frech, so derb, humorvoll und zugleich so erschütternd Sprache geworden. [...] Paul Zech, dem bekannten expressionistischen Dichter, haben wir die Nachdichtung der Balladen und Lieder Villons zu verdanken, die uns bis heute Geist und Stil dieser Verse unverwelkt und aggressiv bewahrt hat.“

So steht es auf dem Vorsatzblatt der Münchner dtv-Ausgabe der Lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon und ist damit seit 1962 gut 320.000-mal gedruckt.[1] Die Sätze prägen hierzulande nicht nur das Bild des originalen Villon, sondern auch das des Erfolgsbuchs von Zech. Wird dieses irgendwo genannt, so meist in der Annahme, es sei eine Übertragung, die den Inhalt der Villon’schen Texte passabel getreu und ihren Geist und Stil in kongenialer Weise wiedergibt.

Kaum ein Klischee jedoch ist falscher als dieses. Zwar verdient es Zechs Villon durchaus, dass man ihn als „frech“, „derb“ und sogar „erschütternd“ lobt, denn nicht umsonst haben ihn Generationen von Lesern und viele Rezitatoren samt ihren Hörern goutiert. Aber getreu und kongenial ist er nicht; er ist vielmehr das Produkt eines Autors, der sich hineinversetzt in einen anderen, fremdsprachlichen Autor, den er praktisch nur aus Übertragungen kennt und dessen übertragene Texte er fantasievoll und schöpferisch frei als Material für weitgehend eigene Werke benutzt.

Zech selber sah das durchaus etwa so und bezeichnete sein Werk auch nicht als Übersetzung oder Übertragung, sondern als „Nachdichtung“, doch wurde diese Feinheit sichtlich schon beim Erscheinen der Erstausgabe 1931 nicht weiter beachtet. Vielmehr wurde bereits damals vor allem das Label ‚Villon’ wahrgenommen, und dies änderte sich nicht bei den weiteren, sämtlich posthumen Editionen, obwohl die Angabe „Nachdichtung“ oder sogar „freie Nachdichtung“ verbunden mit Zechs Namen immer auf dem Titelblatt stand.[2] Seine nacheinander fünf Verlage waren es vermutlich aber zufrieden, dass er zurücktrat hinter Villon, denn sein eigener Marktwert als Autor begann schon Ende der zwanziger Jahre zu schrumpfen und nahm danach rasch weiter ab.[3] So taten sie nichts, was sein sehr lockeres Verhältnis zu den originalen Texten hätte deutlich machen und seine Eigenleistung hätte hervorheben können.

*

Doch soll das nicht unser Thema sein. Betrachten wir vielmehr das Verhältnis Zech–Villon und danach das Verhältnis Zech–Zech, d. h. das zwischen der Erstausgabe (die ich im Folgenden ‚Urversion’ nenne) und den späteren Fassungen bis hin zur dtv-Ausgabe, die mit bisher (2009) 29 Auflagen wohl zu den meistgedruckten deutschen Lyrik-Bänden der jüngeren Vergangenheit gehört. Hierbei sollen uns zum einen die Unterschiede im Aufbau der Textkorpora beschäftigen und zum anderen – naturgemäß nur exemplarisch – die Veränderungen im Wortlaut der Texte.

Zunächst kurz zu Villon: Er wurde geboren 1431 in Paris als Sohn armer Eltern, konnte dank einem Protektor studieren, glitt aber ab in kriminelle Kreise und saß mehrfach im Kerker. Er hinterließ nur gut 3300 Verse, als er 1463, zum Tode verurteilt, dann aber zur Verbannung aus Paris begnadigt, knapp 32-jährig spurlos verschwand.[4] Sein erstes datierbares Werk, das Kleine Testament, entstand im Winter 1456/57 in Paris. Es ist eine Summe aus drei Parodien: der eines höfischen Abschiedsgedichts, eines Testaments und einer Traumerzählung.[5] Sicher im Herbst 61 begann er in oder nahe Paris sein Hauptwerk, das Große Testament, einen in der Grundkonzeption wiederum parodistischen Text, dem er aber einen langen, teils elegischen, teils satirischen Vorspann voranstellt und in den er 20 Gedichte unterschiedlicher Thematik einfügt. Wohl 1462, ebenfalls in oder nahe Paris, verfasste er eine Reihe von Balladen im Rotwelsch der Gauner. Daneben sind aus dem Zeitraum 1456 bis 1463 16 Gedichte erhalten, die er aus diversem Anlass an diversen Orten schrieb, u. a. am Hof des Herzogs und großen Lyrikers Charles d’Orléans. Sein Schaffen lässt sich also gliedern in die vier Komplexe: das Kleine Testament, das Große Testament, die Rotwelschballaden und die verstreut entstandenen Gelegenheitsgedichte.[6]

Schon zu seinen Lebzeiten und vermehrt nach seinem Tod gelangten Texte Villons in Sammelhandschriften betuchter Literaturliebhaber. Vermutlich aus solchen stellte 1489 der Pariser Drucker Pierre Levet die erste Druckausgabe zusammen, die gut neun Zehntel des heute bekannten Gesamtwerks umfasst. Levet gliedert sein Textkorpus in die genannten vier Komplexe. Er bringt zuerst, als das längste und bekannteste Werk, das Große Testament, dann als eine Art Anhang dazu einen Block von acht Gelegenheitsgedichten, dann sechs Rotwelschballaden und zum Schluss das Kleine Testament.[7] Die Ausgabe war ein Erfolg und wurde häufig nachgedruckt. Um 1520 begannen die Drucker, an das Korpus Levets vermeintliche weitere Villon-Texte anzuhängen, insbesondere einige Schwänke ähnlich denen, die man von Till Eulenspiegel kennt. Auch die erste moderne Edition von 1832 orientiert sich an Levet und druckt dazu die angehängten apokryphen Texte mit. Sie nimmt aber als neuen Appendix auch drei im 18. Jh. entdeckte echte Texte auf, die zu den Gelegenheitsgedichten zählen. Die Villon-Ausgaben der nächsten Jahrzehnte innovieren kaum, d. h. sie folgen im Prinzip Levet und schleppen weiterhin die Apokryphen mit.

Eine Wende brachte 1892 die Edition von Auguste Longnon, die rasch maßgeblich wurde. Longnon scheidet die meisten, inzwischen als unecht anerkannten Apokryphen aus. Dagegen nimmt er etliche, z.T. erst kurz zuvor entdeckte, echte Texte neu auf. Seine Gliederung des Korpus ist ziemlich verwirrend. Er druckt zunächst, chronologisch ordnend, das Kleine und danach das Große Testament. Hieran hängt er einen Block von sieben Gelegenheitsgedichten, die auf die Kriminellenexistenz Villons verweisen. Dann lässt er einen Block von sechs Gelegenheitsgedichten unterschiedlicher Thematik folgen und hierauf einen wiederum homogenen Block von sieben Rotwelschballaden. Ans Ende stellt er vier ihm problematisch erscheinende Gedichte, die er als Villon „zugeschrieben“ bezeichnet (von denen aber drei mit großer Sicherheit echt sind).

Zech, und damit zu ihm, kannte Longnons Edition.[8] Sie vermittelte ihm offenbar die Vorstellung, dass zum einen die Gliederung des Korpus, sprich der Platz der einzelnen Texte darin, Ermessenssache sei, und dass zum anderen die Texttradition sich noch im Fluss befinde, man also Villon bestimmt noch mehr Gedichte zuschreiben könne.

Ein anderes für Zech bedeutsames Buch war die Lyrikanthologie, die 1501 der Pariser Drucker Antoine Vérard als Le Jardin de Plaisance herausgab. Dieser  „Garten Wohlgefallens“ enthält auch eine Serie von neun Villon-Gedichten, darunter insbesondere zwei, die aus dem Großen Testament entnommen sind, sowie, anonym und versprengt an anderer Stelle, ein weiteres Gedicht von Villon. Vérard und seine Anthologie könnten Zech auf die Idee gebracht haben, dass man die ins Große Testament eingefügten Gedichte dort auch herauslösen darf und dass in eventuellen anderen Anthologien nach Art des Jardin noch weitere Texte Villons zu finden sein müssten.[9]

Von zentraler Bedeutung für Zech jedoch waren drei andere Quellen. Die erste war die Villon-Edition von Wolfgang v. Wurzbach, 1903. Wurzbach druckt Villon im Original, fügt aber einen deutschen Kommentar hinzu und gibt eine auf dem Kenntnisstand der Zeit befindliche Einführung. Er eliminiert die Rotwelschballaden, die schon für Spezialisten schwierig und für normale Leser unverständlich sind, und er vereinigt die Gelegenheitsgedichte zu nur einem Komplex. Sein Korpus enthält so die drei Teile: 1. das Kleine und 3. das Große Testament und dazwischen die Gelegenheitsgedichte.

Die zweite Quelle und mit Abstand die wichtigste Textbasis Zechs war die erste umfassend angelegte deutsche Villon-Übertragung, die 1907 Karl Klammer pseudonym als K. L. Ammer publizierte. Klammer legt den Text von Wurzbach zugrunde und gliedert wie dieser in drei Teile: die Testamente und dazwischen einen Block Gelegenheitsgedichte. Ganz komplett ist Klammer jedoch nicht. Im Großen Testament überspringt er acht schwierige Strophen sowie vier manieristische Gedichte, die ihm offenbar als uncharakteristisch für Villon erschienen. Von den ebenfalls oft manieristischen Gelegenheitsgedichten überträgt er nur ein Drittel, nämlich sechs.[10]

Die dritte Quelle, und vielleicht sogar diejenige, die Zech den Anstoß gab zu seinem Villon, ist das 1928 erschienene Büchlein François Villon. Le [sic] Testament. Umdichtung von Jacob Haringer. Der heute kaum mehr bekannte österreichische Lyriker dichtet darin die ersten 41 Strophen (=328 Verse) des Großen Testamentes nach, wobei er sie zu 32 Strophen (=254 Versen) komprimiert und an der Stelle abbricht, wo Villon das erste Gedicht einfügt.[11]

Hatte übrigens Klammer 1907 den seltsamen Titel Des Meisters Werke gewählt, der an Wurzbachs Die Werke Maistre François Villons angelehnt war, so gab er der dritten Auflage 1930 den völlig unzutreffenden Titel Balladen.[12] Der Grund hierfür war sicher, dass Villon durch den Plagiatstreit um die Villon-Songs Bert Brechts in der Dreigroschenoper 1929 endgültig das Image eines Liederautors erhalten hatte[13] – ein Image, das vielleicht Richard Dehmel kreiert hat, der um 1892 zwei Villon-Balladen übertrug und sie als „Lieder“ (Lied der Gehenkten und Lied des vogelfreien Dichters) etikettierte, wohl in der irrigen Meinung, Villon habe seine Balladen zur Vertonung bestimmt oder gar selber vertont.[14]

*

Als Zech gegen 1930 den Villon begann,[15] hatte er bekanntlich gerade mit Plagiatsvorwürfen zu kämpfen gehabt.[16] Vielleicht deshalb beschloss er, sein Textkorpus völlig anders zu gliedern als Klammer. Zwar wählte auch er einen Titel, der dem Liedermacher-Image von Villon entsprach, nämlich: Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon, doch wollte er offenbar den Anschein einer Gesamtwerkübertragung vermeiden und den Eindruck erwecken, er konzentriere sich auf die lyrischen Texte Villons.

Das Inhaltsverzeichnis seines Büchleins listet quasi gleichberechtigt 37 Texte auf. Die meisten, nämlich 30, sind als „Ballade“ deklariert, 5 sind anderweitig als Gedichte erkennbar. Die Nummern 26, Das kleine Testament, und 35, Das große Testament, sind dies zwar nicht, wirken in der Liste aber so, als seien sie ebenfalls lyrische Texte.

Halten wir als erstes Fazit fest: Zech macht 1931 aus dem mehrteiligen, heterogenen Textkorpus Villons ein einteiliges, homogen wirkendes; und er überführt ein Korpus, das größtenteils nicht eigentlich aus Lyrik besteht, in ein scheinbar ausschließlich lyrisches.

*

Aber sehen wir nun etwas näher. Ich sagte, die beiden Testamente wirken im Inhaltsverzeichnis Zechs ganz so, als seien sie lyrische Texte. Schlägt man sie auf, findet man zwar Verse und Strophen, erkennt aber rasch ihren andersartigen Charakter als einer Mischung aus autobiografischen, reflektierenden und satirischen Passagen.

Legt man sie neben die Originale, konstatiert man als erstes, dass die Testamente Zechs erheblich kürzer sind als die von Villon. Sein Kleines ist nur ein Drittel so lang (112 statt der 320 Verse bei Villon und auch Klammer), sein Großes ist auf nicht einmal Viertel geschrumpft (gut 450 Verse statt 2023 bei Villon und knapp 1850 bei Klammer). Zech versucht dem Rechnung zu tragen, indem er beide Texte im Titel mit dem Zusatz „Bruchstück“ versieht.[17]

Vergleicht man genauer, so zeigt sich, dass Zech im Kleinen Testament den Hauptteil Villons, die Testamentparodie, sehr stark verkürzt, und den dritten Teil, die Traumerzählungsparodie, vollständig weglässt. Den ersten Teil dagegen, den Abschied im Zorn von der Geliebten, spinnt er fantasievoll aus, wobei er sichtlich auch eigene Frustrationen anklingen lässt. Den Parodie-Charakter des Villon’schen Textes, der schon bei Klammer kaum mehr sichtbar war, bringt er ganz zum Verschwinden. Mit dem Großen Testament verfährt er ähnlich. Auch hier kürzt er den Testament-Teil erheblich und verarbeitet, wiederum in oft sehr persönlich wirkender Weise, vor allem den elegisch-satirischen Eingangsteil, d. h. den Teil, den schon Haringer, wenn auch nur zu rd. zwei Fünfteln, „umgedichtet“ hatte. Ein anderer Grund für die Verkürzung des Großen Testaments ist der, dass Zech die darin eingefügten Gedichte (20 bei Villon und 16 bei Klammer) entfernt. Verschwunden sind sie aber nicht allesamt. 12 von ihnen, genauer: meist nur mühsam wiedererkennbare Pendants, sind selbständige Texte geworden und finden sich in der Reihe der 37 Texte wieder. Hierbei übernimmt Zech die bei Villon zu findende Abfolge nicht, sondern stellt nach eigenem Gutdünken um.

Betrachtet man nochmals das Inhaltsverzeichnis, fällt auf, dass 15 der 37 Titel mit einem Sternchen markiert sind. Hierzu sagt eine Fußnote Zechs: „Die mit einem * bezeichneten Balladen sind dem Jardin de Plaisance u. a. gleichzeitigen Sammelwerken entnommen und aus der Urform übertragen worden.“ Der Leser musste also denken, Zech habe neue Quellen entdeckt und aus ihnen bisher unbekannte Villon-Gedichte bezogen. Nur Leute vom Fach konnten wissen, dass die genannten Sammelwerke zwar in der Tat auch Texte von Villon enthalten, aber keinen, der nicht längst bekannt und bei Longnon zu finden war. Und nur sie wären imstande gewesen zu sagen, dass Zechs Sternchen-Gedichte auch in jenen Sammelwerken keine Vorlagen haben, also pure Zech-Texte sind.[18]

Bleibt noch ein Rest von ca. acht Titeln. Sechs von ihnen sind Pendants von Gelegenheitsgedichten Villons, und zwar fünf von solchen, die schon Klammer, und eines von einem, das schon Dehmel übertragen hatte. Zwei Gedichte sind undefinierbaren Ursprungs, d. h. eigene Produkte Zechs, nur ohne Stern.

Vermerken wir also als weiteres Fazit: Zech kürzt in der Urversion die beiden Testamente erheblich. Er nimmt die im Großen enthaltenen Gedichte heraus, schreibt gut die Hälfte davon um und eliminiert den Rest. Von den Gelegenheitsgedichten lässt er sogar mehr als die Hälfte verschwinden. Die somit insgesamt knapp 20 Villon-Gedichte, die er nicht verarbeitet hat, ersetzt er durch 17 eigene Produkte und ordnet das gesamte Korpus neu. Die Rotwelschballaden lässt er, ganz wie Wurzbach und Klammer, beiseite. Vielleicht sollten die vier Räuberballaden, die sich unter den Sternchen-Gedichten finden, ein Ersatz für sie sein.

Die Urversion kam, wie erwähnt, Anfang 31 heraus. Sie wurde 1947, kurz nach Zechs Tod, praktisch unverändert nachgedruckt von seinem Sohn Rudolf in dessen ephemären kleinen (West-) Berliner Verlag.[19] Sie war es, die um 1950 Klaus Kinski in die Hände fiel und ihm die Texte lieferte für seine eindrucksvollen Rezitationen, die zum Erfolg des Zech’schen Buches sehr viel beigetragen haben und die Figur Villons in Deutschland fast bekannter werden ließen, als sie es in Frankreich ist.[20]

*

Bekanntlich hatte Zech die Manie, auch seine schon gedruckten Werke verbessern zu wollen. So auch den Villon. Die neue Fassung liegt vor als von Zech selbst getipptes Schreibmaschinenskript. Sie trägt den Titel FRANÇOIS VILLON. Das Kleine und das Grosse Testament, auch die Balladen und lasterhaften Lieder. In freier deutscher Nachdichtung von Paul Zech mitsamt dem Zusatz Neue veränderte und vermehrte Ausgabe. Am Ende des Vorworts ist die ‚Neuausgabe’ (wie ich sie im Folgenden nenne) datiert: „Buenos Aires, Sommer 1943“. Zech hat sie handschriftlich durchkorrigiert sowie hier und dort leicht revidiert.[21]

Wie man weiß, hatte im April 31 der Villon-Kenner Joseph Chapiro in einer Rezension den Vorwurf erhoben, Zech habe Villon gewissenlos verfälscht und geradezu „Betrug am Leser“ verübt.[22] Man sollte also vermuten, dass er beim Überarbeiten größere Treue zum Originaltext angestrebt hat. Das ist aber nicht der Fall und hätte ihn bestimmt auch überfordert, denn das ältere Französisch beherrschte er wohl höchstens so weit, dass er sich per Intuition ein Bild vom Inhalt kürzerer Texte machen konnte. Zwar hat er die Neuausgabe durchaus „verändert und vermehrt“, doch sichtlich ohne Rückgriff aufs Original. Vielleicht auch deshalb hielt er es für geboten, die Bezeichnung „Nachdichtung“ von 1931 noch durch ein zugefügtes „frei“ zu präzisieren.

Betrachten wir den Titel genauer. Wie man sieht, sind die beiden Testamente nun bereits hier aufgeführt, und zwar sogar als Hauptbestandteile des Ganzen, neben denen die „Balladen und Lieder“ fast wie ein Appendix wirken. Zech scheint sich damit der Dreiteilung des Villon’schen Textkorpus anschließen zu wollen, wie sie Wurzbach eingeführt und Klammer von dort übernommen hatte.

Das Inhaltsverzeichnis, gleich danach, präsentiert jedoch ein viergeteiltes Korpus mit den Komplexen: Das Kleine Testament, Die Balladen aus dem Großen Testament, Das Große Testament und Die späteren Balladen und lasterhaften Lieder.

Als Erstes fällt auf, dass im Unterschied zur Urversion die Testamente nun als andersgeartete, nämlich offenbar längere, in sich homogene Texte erscheinen. Dies wird indirekt auch daran sichtbar, dass unter den beiden anderen Überschriften, Die Balladen aus dem Großen Testament und Die späteren Balladen und Lieder, jeweils eine Reihe Einzeltitel aufgelistet sind (15 bzw. 22).

Weiter fällt auf, dass die Gedichte von Komplex 2 als aus dem Großen Testament entnommen deklariert sind (tatsächlich sind sie überwiegend Pendants von dort zu findenden Texten) und dass die Gedichte von Komplex 4 als „später“ figurieren. Hier finden sich Pendants von Gelegenheitsgedichten Villons, vor allem aber Zechs Sternchen-Gedichte, nunmehr ohne Stern und ohne die Fußnote.

Blättert man die Neuausgabe durch, so stellt man fest, dass nicht nur die Gliederung des Ganzen sich geändert hat, sondern dass auch, wie angegeben, die Textmenge deutlich vermehrt ist.

So sind mehrere Gedichte ohne erkennbares Vorbild bei Villon hinzugekommen und vier Gedichte mit einem solchen, wobei die Letzteren sich an der 1937 erschienenen Übertragung Martin Löpelmanns inspirieren.[23] Vor allem aber sind die Testamente gewachsen. Das Große hat statt vorher 57 Strophen nunmehr 67. Das Kleine ist sogar von 14 auf 44 Strophen erweitert und damit länger als das Original, dessen dritter Teil, die Traumerzählung, gleichwohl erneut nicht berücksichtigt ist. Hinter den Titeln beider Testamente steht denn auch nicht mehr „Bruchstück“, sondern „Auswahl“.

Auch Sprache und Stil zeigen mancherlei Veränderungen. Insgesamt ist eine Tendenz zur Moralisierung erkennbar. Hierauf komme ich später zurück.

Halten wir fest: Zech gibt der Neuausgabe einen Titel, der dem Inhalt genauer entspricht. Er verlängert beide Testamente und er vermehrt auch die Zahl der Gedichte. Diese teilt er auf in zwei Komplexe, wobei er die völlig eigenen Produkte meist in den zweiten einordnet und mit dessen Obertitel „Die späteren Balladen und lasterhaften Lieder“ suggeriert, es handele sich um neuentdeckte spätverfasste Werke Villons, z. B. aus dessen eventuell noch längerem Leben als Verbannter. Denn das betrachtet Zech als gegeben und malt es, in der Biografie, die er der Urversion beigab, liebevoll aus mit einer Reihe frei erfundener Episoden.[24]

*

Wie erwähnt, wurde die Urversion 1947 nachgedruckt von Rudolf Zech, dem die Existenz der Neuausgabe hierbei offenbar unbekannt war.[25] Nur fünf Jahre später, 1952, erschien mit Copyright von ihm im thüringischen Rudolstadt eine weitere Ausgabe des Villon, übrigens hübsch illustriert von Karl Stratil. Sie heißt: Die lasterhaften Lieder. Die Balladen. Aus dem Kleinen und Großen Testament. In freier Nachdichtung von Paul Zech.[26]

Vergleicht man die Rudolstädter Fassung mit der Urversion, so stellt man eine starke Veränderung fest. Vergleicht man sie dagegen mit der Neuausgabe, sieht man rasch, woher sie stammt, nämlich von dort. Sichtlich verfügte Rudolf Zech inzwischen über ein Exemplar der Neuausgabe und hatte es dem Verlag als Druckvorlage gegeben. Die Übereinstimmung zwischen Rudolstadt und der Neuausgabe gilt uneingeschränkt aber nur für die ersten drei Viertel des Textes. Zwar beruht  auch das letzte Viertel sichtlich auf der Neuausgabe, doch finden sich hier immer wieder Gedichte, in denen teilweise oder sogar ganz der Text der Urversion wiederhergestellt ist. Anscheinend hatte jemand im Verlag den späten Einfall gehabt, Zech mit sich selbst zu verbessern (und hatte dabei auch den neuen Titel in Richtung auf den alten von 1931 verändert).[27]

*

Wie nun steht es mit der dtv-Ausgabe 1962, die hierzulande der Villon schlechthin geworden ist?

Schon der erste Blick zeigt, dass auch sie sich deutlich unterscheidet von der Urversion. Sie ist aber auch nicht identisch mit der Neuausgabe und nicht mit Rudolstadt, obwohl sie im Wortlaut der Texte eng mit diesen beiden verwandt ist, und zwar am enger mit der Neuausgabe, weil sie nicht partiell zur Urversion zurückkehrt.

Konstatieren wir kurz, dass ihr Titel fast dem der Urversion gleicht und sehen wir erneut vor allem das Inhaltsverzeichnis. Es listet, ganz wie die Neuausgabe (und wie Rudolstadt), vier Komplexe auf, die allerdings umgestellt sind. Denn statt der alternierenden Reihenfolge Testament-Gedichte-Testament-Gedichte ist die Reihenfolge nun umschließend, nämlich Gedichte-Testament-Testament-Gedichte. Auch die Überschriften der Gedichtkomplexe haben sich gegenüber der Neuausgabe verändert. Die erstere lautet nun Die gesammelten frühen Lieder und Balladen statt Die Balladen aus dem Großen Testament und die zweite, nur leicht modifiziert, heißt Die gesammelten späteren Lieder und Balladen. In der Überschrift von 1 ist also die Angabe „aus dem Großen Testament“ getilgt und durch „früh“ ersetzt, sichtlich in Analogie zu „später“ aus der Überschrift von 4. Beide Überschriften sind durch das parallele Attribut „gesammelt“ erweitert, was eine gewisse Ordnung suggerieren zu sollen scheint. Vergleicht man die Titellisten darunter mit der Neuausgabe, so sieht man, dass etliche Gedichte innerhalb ihrer Komplexe umgestellt und auch welche von einem in den anderen verschoben worden sind.

Die dtv-Ausgabe zeigt somit eine Fassung, deren Texte zwar im Wortlaut fast identisch mit der Neuausgabe sind, aber anders angeordnet als dort: Sie erscheint  insgesamt als komponiert im Sinne einer stimmig wirkenden Chronologie der Werke und einer inneren Entwicklung des Schaffens. Da die neue Struktur organisch und wohlüberlegt wirkt (auch wenn sie dem originalen Villon nicht entspricht), möchte ich vermuten, dass sie von Zech selber stammt. Dieser hatte im Mai 46, ein halbes Jahr vor seinem Tod, die Villon-Biografie von 1931 erweitert und die Fassung hergestellt, die später in das dtv-Bändchen einging.[28] Hierbei könnte er auch die Neuausgabe nochmals überarbeitet haben, insbesondere indem er vielleicht den mutmaßlichen zweiten Durchschlag des Handexemplars zerschnitt und neu zusammenfügte.[29]

Halten wir abschließend fest: Zechs Villon von 1931 und auch die Fassungen von 1943 und 1962 sind letztlich eigenständige Werke, für die das französische Original nur mittelbarer Ausgangspunkt war.

*

Betrachten wir nunmehr ein paar Textbeispiele, beginnend mit dem kürzesten Gedicht Villons, dem wegen seines Galgenhumors berühmten ‚Vierzeiler’.

Der Originaltext lautet (orthografisch leicht modernisiert und wortgetreu von mir übersetzt):

Je suis François, dont il me poise, / Ich bin François, was mich bekümmert,
Né de Paris emprés Pontoise. / gebürtig aus Paris nahe Pontoise.
Et de la corde d’une toise / Und von dem Strick von einer Elle [Länge]
Sçaura mon col que mon cul poise. / wird mein Hals erfahren, was mein Hintern wiegt.

Wie man sieht, imaginiert sich das lyrische Ich aus der Gegenwart der Todeszelle in die Zukunft des Moments der Urteilsvollstreckung. Die Verben der beiden Hauptsätze stehen entsprechend das erste im Präsens und das zweite im Futur. Betrachten wir zunächst die Übertragung Klammers. Sie lautet:

Ich bin Franzose, was mich bitter kränkt,
geboren in Paris, das bei Pontoise liegt,
an einem klafterlangen Strick gehenkt,
und spür am Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.

Klammer versucht zwar, halbwegs getreu zu übertragen. Der fatalistische Humor Villons gelingt ihm aber nicht. Vor allem begeht er den Lapsus, dass er das Ich aus der Todeszelle an den Galgen transferiert und damit, wenig realistisch, die zwei Zeitebenen des Originals zusammenzieht zu der einen Gegenwart des soeben Gehenkten. Zech macht daraus 1931:

Ich bin Franzos, was mir verdammt nicht passt,
geboren zu Paris, das klein und hässlich unten liegt.
Ich hänge nämlich meterlang von einem Ulmenast
herab und spür am Hals: wie schwer mein Podex wiegt.

Ich sagte: Zech macht daraus. In der Tat ist ziemlich deutlich, dass er nicht von Villon ausgeht, sondern von Klammer. Von sich aus hätte er wohl kaum den Einfall gehabt, den Namen François, der ihm sonst, zu „Franz“ verdeutscht, so wichtig ist, als Vokabel zu betrachten und mit „Franzose“ wiederzugeben.[30] Und sicher ist es kein Zufall, dass er den Lapsus Klammers wiederholt und die zwei Zeitebenen des Originals auf nur eine reduziert. Sein eigener Beitrag besteht vor allem aus dem veränderten, deftigen Ton, den er seinen Zeilen gibt. Dass er aus dem „Hintern“ Klammers einen „Podex“ macht, wirkt hierbei unfreiwillig komisch.

1943 in der Neuausgabe (und 1952) ist der Text deutlich weniger deftig. Er lautet:

Ich bin Franzose, was mir gar nicht passt,
geboren zu Paris, das jetzt tief unten liegt;
ich hänge nämlich meterlang von einem Ulmenast
herab und spür am Hals, wie schwer mein Podex wiegt.

Der dtv-Text 1962 ist identisch, nur dass der „Podex“ aufgepeppt ist. In der letzten Zeile liest man nun: „und spür am Hals, wie schwer mein Arsch hier wiegt.“

*

Sehen wir ein weiteres Beispiel. Es sind die jeweils ersten 20 Verse einer Bettelballade, die auf jener beruht, die Villon vermeintlich an den Herzog von Bourbon, tatsächlich aber an Charles d’Orléans gerichtet hat. Der Originaltext lautet (wieder orthographisch modernisiert und von mir übersetzt):

Le mien seigneur et prince redouté, / Mein Oberherr und gefürchteter Fürst,
Fleuron de lys, royale géniture, / Lilienspross, königliche Zeugung,
François Villon, que Travail a dompté, / F. V., den ‘Mühsal’ gezähmt hat,
A coups orbes, à force de batture, / mit stumpfen Hieben, durch Prügel,
Vous supplie par cette écriture / fleht Euch an mit diesem Schreiben,
Que lui fassiez quelque grâcieux prêt. / dass Ihr ihm irgendeine gnädige Leihgabe macht.
De s’obliger en toutes cours est prêt, / Sich zu verpflichten in allen Gerichtshöfen ist er bereit,
Si doute avez que bien ne vous contente. / falls Ihr zweifelt, dass er Euch nicht gut zufrieden stellt.
Sans y avoir dommage n’intérêt, / Ohne dadurch Schaden oder Nutzen/Zins zu haben,
Vous n’y perdrez seulement que l’attente. / verliert Ihr dabei einzig nur die Wartezeit.

De prince n’a un denier emprunté / Von keinem Fürsten hat er je einen Groschen geliehen
Hors de vous seul, votre humble créature. / außer von Euch allein, Eure demütige Kreatur.
De six écus que lui avez prêté, / Was die sechs Taler betrifft, die Ihr ihm geliehen habt,
Lesquels il mit piéçà en nourriture, / welche er längst in Nahrung umgesetzt hat,
Tout se paiera ensemble, c’est droiture. / alles wird zusammen bezahlt, das ist Rechtschaffenheit.
Mais ce sera légèrement et prêt. / Aber es wird leicht sein und rasch.
Car se de glan rencontre la forêt / Denn, falls er [sc.
Villon] den Wald „beeichelt“ antrifft
D’entour Patay et châtaignes ont vente, / um Patay herum und Kastanien Verkaufszeit haben,
Payez vous tient sans délai ni arrêt. / hält er Euch für ohne Aufschub und Anhalt bezahlt.
Vous n’y perdrez etc.

Bei Klammer findet man:

O Gnaden, königliche Herrlichkeit,
Fleuron de lys, aus Fürstenblut entsprungen,
François Villon, den jüngst bei einem Streit
Die Not zu einem blinden Schuss gezwungen,
Er bittet demutsvoll in dieser Schrift,
Dass Ihr in Eurer Huld ihm etwas leiht.
Und hofft auf Dank, sofern ihm je ein Dienst gelungen.
Und ohne dass Euch weitrer Schaden trifft,
Verliert Ihr höchstens nur die Wartezeit.

Noch keinen Fürsten hat er angegangen,
Nur Euch, als tiefergebner Untertan.
Die sieben Taler, die er einst von Euch empfangen,
Die legte er schon längst in Essen an.
Er zahlt auf einmal alles, wie es billig.
Doch nicht zu rasch und leichtsinnig, verzeiht:
Wenn bei Patay der Tannwald Eicheln trägt
Und man Kastanien zum Verkauf dort legt!
Und zahlt er Euch dann ungesäumt und willig,
Verliert Ihr höchstens etc.

Klammer, so zeigt sich, überträgt passabel getreu und behält auf jeden Fall den Gestus des demütigen Bittstellers bei. Die Zeilen 3 und 4 hat er allerdings schlicht nicht verstanden. Villon stellt sich dort als jemand dar, der von „Travail“, also „Mühsal“, „gezähmt“ worden sei, und zwar durch „stumpfe Hiebe“ (die nur innere Wunden hinterlassen) und durch „Prügel“. Klammer dagegen vermutet in den Hieben und Prügeln eine Anspielung auf eine Rauferei Villons mit einem Schuss in Notwehr.

Lesen wir Zechs Urversion (wo der Text als Nr. 21 von den 37 figuriert):

... mein sehr verehrter Landesherr - : zuvor
ergebenen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,
kein Kardinal und kein Minister oder so.
Ich heiße kurz: VILLON. Mein Weib geht auf den Strich
und ich: ich schreibe manchmal ein Gedicht; (d.h. für mich
privatim nur.) Ansonsten bin ich froh,
wenn mir kein Paster, dems nach meiner Seele juckt,
auf die polierten Stiebel spuckt.

Nun ist nach einer netten kleinen Sauferei,
am Hafen unten, jemand, dem ich ein Geweih
auf die gesalbten Locken setzte, obendrein
noch frech geworden mit Pistol und Schwert.
Da habe ich mich eben notgewehrt,
und stach es einfach ab, das Schwein.
Nun soll ich hier in diesem Affenstall
den Lohn empfangen für den Sündenfall.

Mir ist es wirklich scheißegal, wo ich
verrecken tu. Nur das ist widerlich,
dass man kein Geld im Beutel hat.
Ich hänge sozusagen in der Luft.
[...]

Zech, so stellt man fest, verändert einmal mehr den Ton des Gedichts und lässt sein Alter Ego Villon deftig-proletarisch reden. Trotz des enormen Unterschieds zwischen seinem Text und dem von Klammer ist dennoch sichtbar, dass er wieder einmal nicht Villon, sondern Klammer nachgedichtet hat. Denn nur von ihm, aus seiner fälschlichen Vermutung eines Streites samt Schuss, konnte Zech die fantasievolle Story mit der Rauferei samt Totschlag in Notwehr entwickeln, die er lustvoll und lebendig ausführt, weit über Klammer hinaus und völlig jenseits von Villon.

1943, in der Neuausgabe, wird daraus (als Nr. 3 der „späteren Lieder“):

Mein sehr verehrter Landesherr: zuvor
ergebenen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,
kein Kardinal und kein Minister oder so,
Ich heiße kurz: Villon, bin unbeweibt
(was allerdings nicht heißt, dass sich kein Weib
mehr an mir reibt,
wenns ihr so ist nach solchem Zeitvertreib).
Ansonsten bin ich froh,
wenn mir kein Paster, dems nach Seelen juckt,
auf die polierten Stiefel spuckt.

Nun hat nach einer kleinen Sauferei,
am Hafen unten, jemand ein Geschrei
um seinen Hut gemacht, der flog ihm wohl vom Kopf
und aus der Scheide auch zugleich das Schwert.
Da habe ich mich eben notgewehrt,
mehr war er auch nicht wert, der Tropf.
Nun soll ich hier in diesem Affenstall
den Lohn empfangen für den Sündenfall.

Der Affenstall an sich, der stachelt mich
nicht allzu sehr; nur das ist widerlich,
dass man kein Geld im Beutel hat.
Ich hänge sozusagen in der Luft.
[...]

Wie man rasch erkennt, hat Zech dem Text der Urversion zahlreiche Zähne gezogen. Kein Weib mehr, das „auf den Strich geht“, kein vornehmer Herr, dem „ein Geweih aufgesetzt“ wird, kein „Schwein“, das „einfach abgestochen“ wird, und kein Villon mehr, dem es „scheißegal“ ist, wo er „verreckt“. Anscheinend reagiert hier Zech besonders deutlich auf den Vorwurf Chapiros, er habe Villon verproletarisiert und fäkalisiert.

1952, in der Rudolstädter Version, beginnt das Gedicht (als Nr. 2 der „späteren Lieder“):

Mein sehr verehrter Landesherr: zuvor
ergebnen Gruß. Ich bin zwar kein berühmter Mohr,
kein Kardinal und kein Minister oder so.
Ich heiße kurz: Villon. Mein Weib geht auf den Strich
und ich: ich schreibe manchmal ein Gedicht;
(d.h. für mich privatim nur.
Ansonsten bin ich froh,
wenn mir kein Paster, dems nach meiner Seele juckt,
auf die polierten Stiebel spuckt. (usw. ebenfalls wie 1931)

Hier haben wir also einen der Fälle, wo der Lektor/Redaktor zur Urversion zurückgekehrt ist. Immerhin steht das Gedicht fast an derselben Stelle wie in der Neuausgabe, nämlich ziemlich weit vorn unter den „späteren Liedern“.

1962, bei dtv, zeigt es praktisch unverändert den Text der Neuausgabe. Es hat aber nicht nur die Stelle gewechselt, sondern auch den Komplex und rangiert jetzt als Nr. 18 der „frühen Lieder“.[31]

*

Allerdings sind nicht alle Texte des Zech’schen Villon so stark verändert worden wie die eben vorgeführten. Einer der meistrezitierten, das hübsche Sternchen-Gedicht von der Mäusefrau, weist in der Neuausgabe und später nur 4 moralisierte Zeilen auf (2 weitere sind ganz getilgt), und auch sein Platz im Ganzen ist so gut wie konstant. Dasselbe gilt für die ebenfalls relativ bekannte Ballade von den Vogelfreien, die wie erwähnt, auf Dehmel beruht. Auch sie ist in allen Versionen identisch, und zwar einschließlich Titel, und wird nur etwas hin und her verschoben.

Einen Sonderfall bildet Zechs bekanntester Text überhaupt, übrigens auch ein Sternchen-Gedicht ohne Vorbild bei Villon, nämlich die Ballade mit dem Erdbeermund. Zech hat sie 1943 nicht aus der Urversion in die Neuausgabe übernommen (schwer zu sagen, ob aus Versehen oder mit Absicht); sie ist jedoch in der Rudolstädter Fassung und in der dtv-Ausgabe wieder vorhanden, textgleich mit der Urversion und nur im Titel leicht verändert.

*

Da die partielle Abhängigkeit Zechs von Haringer wenig bekannt ist und die noch partiellere von Löpelmann bisher offenbar gar nicht, füge ich auch hierzu je ein Beispiel an.

Betrachten wir zunächst die ersten beiden Strophen aus Haringers und Zechs Großem Testament:[32]

Bei Haringer lesen wir (die eigenwillige Interpunktion ist von ihm):

Und als ich hinstarb dreißig Jahr,
der Schanden tiefste trank -
kein kleiner Gott, kein großer Narr,
vom ärgsten Hunger krank,
o Bischof, Hund! dein Straßensegn
du Judas ist mir nit,
ich bin dein Sklav nit und dein Reh,[33]
verflucht was um dich blüht.

Vergeß dir nie dein Kerkerschwarz,
da draußen Sommer quoll,
dein Wasserfraß du ekler Ratz,
und Ferne, Fraun und Gold...
Geb Gott dir Herr was du mir gabst,
unnütz daß ich dir fluch,
was du mich gnädig liebend labst
sei auch dein Gnadenkrug.

Zech macht hieraus in der Urversion:

Als mich das Blut durchkochte dreißig Jahr
und Tag und Nacht nur Gram und Schande war,
da bin ich auch kein großer Gott gewesen
und auch kein kleiner Narr im Jahrmarktszelt.
Mich haben Gottes harte Reiserbesen
Vom Mutterleib verstoßen in die Welt.
Doch du, Herr Bischof, Hund, du kannst mich nit
verfluchen, weil ich bitter Strafen litt.

Ich bin noch lange nicht dein Sklave hier,
du Judas, bin auch nicht dein Hundetier.
Vergeß dir nie die schwarze Kerkerzelle,
als draußen Sommer war mit Feuermohn und Wein
und Frauen manchmal nackend auf der Schwelle
zu meinem Herzen lagen. Ach du Stein:
Gott wird dir zahlen, wie du mich so hart
geschlagen hast und bis aufs Blut genarrt.

Einmal mehr, so stellt man fest, ist die Nachdichtung der Nachdichtung nur schwer als solche erkennbar, denn Zech schafft es auch hier, sich von der Vorlage sehr weit zu lösen und einen eigenständigen Text aus ihr zu entwickeln. Dennoch sind die Indizien deutlich. So basiert z. B. Zechs Antithese „großer Gott“ vs. „kleiner Narr“ sichtlich auf dem Vers „kein kleiner Gott, kein großer Narr“, mit dem Haringer sehr frei Villons V. 3 übertragen hatte, wo das Ich sich als „ne du tout fol, ne du tout sage / weder ganz töricht, noch ganz weise“ bezeichnet. Auch gibt es für Zechs Apostrophe des Bischofs als „Hund“ oder „Judas“ sowie für das „Hundetier“ (in das sich Haringers „Reh“ verwandelt hat) und für die „Frauen“ kein Vorbild bei Villon oder Klammer. Wieder kann nur Haringer die Quelle sein.

Die Neuausgabe weicht übrigens nur geringfügig von der Urversion ab, wobei die Änderungen Zechs sichtlich ohne Rückgriff auf Haringer oder Villon oder auch Klammer erfolgt sind. So lauten nun die Verse 4-6: „auch nie als Narr von einem König angestellt./ Mich haben harte Besen/ vom Mutterleib hineingefegt in diese Welt.“ Und in V. 13 liegen die Frauen nicht mehr „nackend“ sondern, dezenter, „bettelnd“ auf der Schwelle des Herzens. Die dtv-Ausgabe zeigt dieselben Änderungen, macht aber zusätzlich aus „kein großer Gott“ (V. 3) „kein großes Licht“ und aus „Gott“ im vorletzten Vers „der Satan“, was ebenfalls weder von Haringer, noch von Villon oder Klammer gedeckt ist.[34]

Zum Schluss ein Beispiel der Benutzung Löpelmanns. Dort liest man (S. 111) als Strophe 2 der Ballade Villon an seine Freundin (die bei Klammer fehlt):

An andrer Tür hätt’ besser ich gepocht,
O ja, das hätte Ehre mir gebracht;
Mich drum zu bringen hätte nichts vermocht.
So schleich’ als Vagabund ich durch die Nacht.
Hallo! Ihr beiden Strolche, habet acht!
Was soll’s? Verrecken wehrlos da im Schlamm,
Falls Mitleid es nicht sanfter fügt und macht:
Solch Armen wegzuweisen ohne Scham.

Zech macht hieraus in der Neuausgabe (Rudolstadt und dtv sind identisch):

Es standen manche Türen mir einst offen,
man ging vorüber, blindlings, wie besoffen
und nüchtern auf die eine, zugeschloßne zu.
Man hat geklopft und wurde eingelassen,
man stand schon vor dem ersten Kuß auf Du und Du.
Und jetzt muß ich mir einen Wanderstab verpassen
und Mitleid suchen bei den Kettenhunden
und wieder Anschluß bei den Vagabunden.
Wie kann man jemand, der mehr gab als nahm,
so von sich weisen ohne Scham.

Wieder hat Zech die Vorlage sehr stark verändert, wobei sein Text erheblich lebendiger wirkt. Dennoch ist nicht an nur der letzten Zeile erkennbar, dass er von Löpelmann ausgeht. Im französischen Originaltext nämlich gibt es z. B. keinerlei Tür, an die geklopft wird wie bei Löpelmann und, nach ihm, bei Zech. Auch Vagabunden findet man dort nicht, Zech kann sie nur von Löpelmann haben. Dieser missverstand ganz offenbar den Vers Villons „Haro, haro! le grant et le mineur / Alarm, Alarm! den großen und den kleinen“ und deutete die Wörter „den großen und den kleinen“ als Benennung zweier Personen, die er etwas ratlos zu „Strolchen“ erklärt, welche ihrerseits den „Vagabund“ gezeugt zu haben scheinen.[35]

*

Ich schließe mit zwei Fragen, die sich aber kaum beantworten lassen: 1) Wieso ist Zechs Villon, der sicher eines seiner besten Bücher war und nicht zu Unrecht sein erfolgreichstes wurde, kaum je als das Originalwerk betrachtet und gewürdigt worden, das es ist? Und 2) Tun wir gut, dies nachzuholen, d. h. tun wir gut, den Irrtum aufzuklären, der da meint, es handele sich um eine Übertragung? Das Ergebnis könnte sein, dass es Zechs Villon ergeht wie einst Macphersons Ossian. Der wurde gelesen und bewundert, solange er als Übertragung galt, und er verschwand in der Versenkung, als die Wahrheit ans Licht kam, dass er ein Originalwerk war.

 

Literaturverzeichnis

Bieber, Hedwig: „Paul-Zech-Bibliographie“. In: Hüser, Fritz (Hrsg.): Paul Zech. 18. Februar 1881 – 7. September 1946. Dortmund/Wuppertal 1961. S. 39-81.

Dehmel, Richard: Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch. München 1893.

Lewis, Ward B.: Poetry and Exile. An Annotated Bibliography of the Works and Criticism of Paul Zech. Frankfurt 1975.

Pinkernell, Gert: François Villons Lais. Versuch einer Gesamtdeutung. Heidelberg 1979.

ders.: François Villon et Charles d’Orléans. Heidelberg 1997.

ders.: François Villon. Biographie critique et autres études sur Villon. Heidelberg 2002.

ders.: „Erstaunliche Metamorphosen. François Villon und seine deutschen Titel“. In: G. P.: Biographie critique, S. 151-163.

Pöckl, Wolfgang: Formen produktiver Rezeption François Villons im deutschen Sprachraum. Stuttgart 1990.

Sturm, Rudolf: François Villon. Bibliographie und Materialien. 1489-1988. 2 Bde., München 1990.

Villon, François: Œuvres complètes. Publiées […] par Auguste Longnon. Paris 1892.

ders.: Poésies complètes. Présentation, édition et annotation de Claude Thiry. Paris: Le Livre de poche, 1991.

ders.: Die Werke Maistre François Villons. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Wolfgang von Wurzbach. Erlangen 1903.

ders.: Des Meisters Werke. Ins Deutsche übertragen von K. L. Ammer [=Karl Klammer]. Leipzig 1907, 2. Aufl. 1918, 3. Aufl. 1930. Ab 1955 in ca. 10 Auflagen nachgedruckt von Reclam-Leipzig unter dem Titel Die sehr respektlosen Lieder des François Villon. 1987 aufgenommen vom Zürcher Diogenes-Verlag unter dem Titel Lieder und Balladen.

ders.: Le Testament. Umdichtung von Jacob Haringer. Crimmitschau (Privatdruck) 1928 (vorh. in der Bayerischen Staatsbibliothek).

ders.: Dichtungen. Französisch und deutsch, übertragen [...] von Martin Löpelmann. München 1937 u. ö.

Zech, Paul: Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn FRANÇOIS VILLON in deutscher Nachdichtung von Paul Zech. Weimar 1931. Nachdruck Berlin-West 1947.

ders.: François Villon. Die lasterhaften Lieder. Die Balladen. Aus dem Kleinen und Großen Testament. In freier Nachdichtung von Paul Zech. Rudolstadt 1952. Lizenzausgabe Stuttgart 1959.

ders.: Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Nachdichtung von Paul Zech. Mit einer Biographie über Villon. München: dtv, 1962 u. ö.

ders.: Ausgewählte Werke. In Zusammenarbeit mit Dieter Breuer hrsg. von Bert Kasties. 4 Bde. Aachen: Shaker, 1999 ff.

 



[1] Bibliographische Daten findet man am Schluss der Studie. Diese selbst basiert auf meinem Beitrag zu einem Wuppertaler Zech-Kolloquium im Okt. 2007.

[2] Buchhandel und Bibliotheken führen Zechs Werk in aller Regel und von Anbeginn an unter ‚Villon’.

[3] Vgl. hierzu die vorzügliche Zech-Vita von Bert Kasties in Zech, Werke I, S. 11-42, hier: S. 28 f. Kasties, der viele neue Fakten bringt, ist inzwischen hier und dort überholt durch die Recherchen Alfred Hübners, die ihren Niederschlag bisher aber nur in Ausstellungskatalogen und Vorträgen gefunden haben.

[4] Zu Leben und Schaffen Villons vgl. z.B. meine Villon-Seite unter www.pinkernell.de/romanistikstudium oder meine (französisch verfasste) Biographie.

[5] Zum Kl. Testament oder Legat vgl. Verf., Lais.

[6] Eine vorzügliche und leicht zugängliche Ausgabe ist die von Claude Thiry. Das Gros der Gelegenheitsgedichte behandele ich in.: F. V. et Charles d’Orléans und Biographie.

[7] Laut dem Literaturverzeichnis am Ende der Urversion (S. 149 f.) verfügte Zech über den Druck von Levet, vermutlich in der Facsimile-Ausgabe von 1924.

[8] Er verfügte wohl auch über die ca. fünf anderen Editionen des 19. Jh.. Im o. g. Literaturverzeichnis listet er jedenfalls sechs Editionen von 1832 bis 1892 auf, die „im Besitz des Herausgebers“ seien.

[9] Zech kannte das Vérards Buch vermutlich in der Facsimile-Ausgabe von 1910. Er führt es zwar nicht im Literaturverzeichnis auf, nennt es aber in einer Fußnote (S. 152). Hier verweist er auch auf andere „gleichzeitige Sammelwerke“, die er aber sichtlich nicht kennt.

[10] Sieht man ab von den Rotwelschballaden, verarbeitet Klammer knapp 90% des restlichen Villon’schen Werks. Eine instruktive Darstellung seiner Übertragung gibt Wolfgang Pöckl: Rezeption, S. 149-161. Dort auch die plausible These, dass Klammer (neben den bereits von Wurzbach getilgten Rotwelschballaden) vor allem solche Gedichte wegließ, die nicht seinem Bild Villons als eines Dichters aus dem Volk entsprachen. Auch in Frankreich übrigens ist wenig geläufig, wie perfekt Villon bei Bedarf die Manier der zeitgenössischen Hofdichter beherrschte.

[11] Zu Haringers Villon vgl. Pöckl (S. 164-167), der offenbar als Erster Zechs Abhängigkeit von Haringer erkannte.

[12] Zu den häufigen Wandlungen der Titel der deutschen Villon-Versionen vgl. meine Studie Metamorphosen.

[13] Auch dieser in Zeitschriften und Zeitungen ausgetragene Streit dürfte ein Motiv für Zech gewesen sein, sich näher mit Villon sowie der Übertragung Klammers zu befassen, an der sich Brecht inspiriert hatte.

[14] Vgl. Dehmel, Liebe. Entgegen der mutmaßlichen Vorstellung Dehmels hatte sich die Ballade in Frankreich gegen 1400 von der Musik abgekoppelt und zu einer Gattung entwickelt, deren Inhalte beliebig waren und sich nur noch in Ausnahmefällen zur Vertonung eigneten. Der hierzulande verbreitete Glaube, Villon habe in Kneipen oder anderswo selbstverfasste und -vertonte Lieder vorgetragen, ist weder durch Aussagen von ihm selbst, noch durch Dokumente, noch durch die Existenz entsprechender Texte in seinem Werk belegbar. Die ins Große Testament als Legate eingefügten Liedtexte „lay“ (V. 978 ff.) und „bergeronnette“ (1784 ff.), werden den damit Bedachten nur zum Schein zwecks Vertonung bzw. zum Singen vermacht.

[15] Am Ende der „Notwendigen Anmerkung“, mit der er seine Einführung abschließt, gibt Zech an (S. 52), er habe seinen Villon schon im Sommer 1914 begonnen. In dem 1947 erschienenen Nachdruck (s. u.) der Urversion ist diese zweifellos falsche Behauptung getilgt. Ebenfalls nur ein Phantom scheint die Auswahl von Villon-Balladen zu sein, die Hedwig Bieber (Bibliographie, S. 47) für 1911 als Privatdruck Zechs verzeichnet. Die ersten Lebenszeichen des Villon sind wohl die Ballade vom Appell an den Reichstag und die Notwendige Nachschrift, die 1930 in der Zeitschrift Der Bücherwurm agedruckt wurden. Mehr als zweifelhaft dagegen ist, ob die 1925 gedruckte Ballade vom Schatten, der nicht weichen will als Villon-Übertragung gedacht war, wie Bieber meint (ebd., S. 61); Teil der Urversion wurde sie nicht.

[16] Zu Zechs Plagiataffären vgl. Kasties in Zech, Werke I, S. 27.

[17] Zu Beginn der o. g. „Notwendigen Anmerkung“ (S. 50) schreibt Zech, er habe das Kleine Testament um neun und das Große um elf Strophen gekürzt. Beide Zahlen sind erheblich zu niedrig, die letztere auch dann, wenn man von der schon verminderten Textmenge Klammers ausgeht.

[18] In seiner Einführung (S. 37 f.) spricht Zech übrigens geheimnisvoll von noch weiteren Texten Villons, die er kenne: „Es gibt einige (allerdings nicht jedem zugängliche und allen bekömmliche) Balladen Meister Villons, da wird das Aufeinanderprallen der Fleische mit solch einer schamlos-brutalen Bildhaftigkeit gegenständlich gemacht, die letzten Fundamente der Zeugungsgewalt so erschlossen, daß man glauben könnte, hier rast sich ein auserwähltes Erdenmenschenpaar so aus, als wäre es dem grauenhaft aufgespannten Akt um die Pflanzung des Jahrtausend-Menschen zu tun.“ Unnötig zu sagen, dass die gedachten Balladen nur in Zechs Kopf existieren.

[19] Neu ist lediglich ein fünfseitiger Vorspann, der Zechs eigenen, fast 50-seitigen Einführungstexten vorangeht und „G.-K.“ (wer könnte das sein?) gezeichnet ist.

[20] Aufnahmen der Rezitationen Kinskis zeigen, dass er Zechs Texte kaum verändert hat. Einige der wenigen Abweichungen sind sichtlich gewollt, der Rest erklärt sich (denn Kinski rezitierte frei) als Gedächtnisfehler. Auch die zahlreichen anderen deutschsprachigen Villon-Rezitatoren halten sich übrigens meistens an Zech.

[21] Das als Heft gebundene Skript von 130 Blättern trägt auf der Titelseite rechts oben Zechs Vermerk „Handexemplar“. Es liegt in der Berliner Akademie der Künste. Dem Papier ist anzusehen, dass Zech mindestens einen, eher sogar zwei Durchschläge angefertigt hat. Einer davon, ebenfalls als Heft gebunden und parallel zum „Handexemplar“ korrigiert und revidiert, liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Er trägt Zechs Vermerk „Exemplar No. 2“. Zu einem eventuellen Exemplar Nr. 3 siehe unten. Anscheinend bin ich der Erste, der sich mit der ‚Neuausgabe’ näher befasst hat. Der Zech-Bibliograph Ward B. Lewis verzeichnet sie zwar, hält sie aber für ein Manuskript der Urversion (Bibliography, S. 128).

[22] Vgl. das Kapitel „François Villon im Spiegel von fünf Jahrhunderten“ in: Rudolf Sturm, Villon, Bd. II, S. 23-167, hier S. 156. Vor allem wohl auf Chapiro, der aus Russland stammte, reagiert Zech im Vorwort zur Neuausgabe mit seinem Hieb auf „sehr östlich geborene Skorpione“, die mit ihrem „Kauderdeutsch“ über ihn „hergefallen“ seien. Chapiro brachte, etwas später im Jahr 31, sein Buch Der arme Villon heraus, das lange Zeit die einzige seriöse deutschsprachige Monographie zu Villon blieb (und auch eine Prosaübersetzung seiner Werke enthält).

[23] Es sind die Ballade an eine treulose Freundin, die Ballade von den allgemeinen Redensarten, das Rondell und die Ballade von den Lästerzungen. Die beiden Letztgenannten konnte Zech auch bei Klammer finden, doch bestach ihn vielleicht, dass Löpelmann in seinem Vorwort behauptet, er übertrage nicht nur vollständiger als Klammer, sondern auch getreuer. Löpelmann, dessen eher hölzerne Version bis 1951 mehrfach nachgedruckt wurde, dann aber in Vergessenheit geriet, hatte Zechs Urversion übrigens scharf kritisiert als „schamlose Schweinerei, die mit Villon eigentlich nichts zu tun hat, von dem Wehrlosen nur das Etikett leiht, um auf dem Saumarkt fette Geschäfte zu machen“ (Vorwort, S. 5).

[24] Zechs hübsche, sehr fantasievolle Villon-Biografien sowie die anderen Begleittexte der einzelnen Versionen wären eine eigene Studie wert.

[25] Laut brieflicher Auskunft Alfred Hübners erhielt Rudolf Z. erst ab demselben Jahr 47 nach und nach die Manuskripte aus dem Nachlass des Vaters, die dieser einem Freund, Kurt Meurer, übermacht hatte.

[26] Sie wurde 1959 in Stuttgart als Lizenzausgabe nachgedruckt.

[27] Wer das war, ließ sich nicht eruieren. Der Verlag (Greifen-Verlag) scheint aber eigenmächtig gehandelt zu haben. Denn in einem Brief an ihn von 1968 verlangt Rudolf Zech, dass bei einer eventuellen Neuauflage „einige Passagen innerhalb des Textes entsprechend der Neufassung letzter Hand zu berücksichtigen wären“. (Brief liegt im Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt.)

[28] Die Neuausgabe enthielt keine Biografie. Rudolstadt übernahm, mit geringen Retuschen, die der Urversion.

[29] Natürlich ist nicht auszuschließen, dass die beschriebene Neukomposition von fremder Hand stammt, z. B. von einem Lektor/Redaktor beim dtv. Doch ist kaum vorstellbar, dass ein Außenstehender einen so tiefen Eingriff gewagt hätte, der sich weder als Korrektur rechtfertigte noch als wünschenswerte Verbesserung aufdrängte. Rudolf Zech, der 1962 dem dtv das Copyright überließ, kommt wohl auch nicht in Frage, denn sonst hätte er sicher vom Greifen-Verlag Veränderungen nicht nur einiger Textpassagen verlangt. Leider blieben meine Bemühungen, die Druckvorlage der dtv-Ausgabe aufzuspüren, ohne Erfolg.

[30] François als „Franzose“ zu verstehen wäre in der Tat sprachlich möglich. Wie die meisten Interpreten glaube aber auch ich, dass Villon (mit welcher Absicht auch immer) hier seinen Vornamen meint.

[31] Auch Pöckl zitiert in seinem Zech-Kapitel (S. 167-177) die hier besprochene Ballade als besonders augenfälliges Beispiel der inhaltlichen und stilistischen Abweichungen Zechs von Villon. Er berücksichtigt aber nur die dtv-Version und bezieht Klammers Text in seine Überlegungen nicht ein. Offenbar ist ihm (wie lange Zeit auch mir) die Abhängigkeit Zechs von Klammer entgangen.

[32] Obwohl weder Haringer noch Zech von Klammer auszugehen scheinen, sei zum Vergleich auch dessen Version angeführt: „Ich war grad dreißig Jahre alt/ und hatte Strafen mannigfalt/ und Leid auf mich heraufbeschworen/ und jedes Schamgefühl verloren./ Das alles danke ich den Händen/ des Bischofs Thibault d’Aussigny:/ Statt daß sie milde Segen spenden,/ verfolgen sie und strafen sie!// Was geht er mich denn schließlich an?/ Er hat mir nie was Guts getan,/ ist nicht mein Herr, mein Bischof nicht,/ ich schuld ihm keine Lehenspflicht./ Nur Brot und Wasser gab’s zu schmausen,/ vor Hitz und Hunger starb ich schier,/ selbst reich, wußt er mit mir zu knausen./ Sei Gott mit ihm wie er mit mir.“

[33] Wie man sah, sagt Klammer nichts von Sklaven oder Rehen. Er überspringt nämlich Villons V. 12, „Je ne suis son serf ne sa biche / Ich bin weder sein Leibeigener/Hirsch noch sein Reh“, vielleicht weil er darin die Anspielung auf eine tatsächliche oder von Villon unterstellte Homosexualität des Bischofs erkannte. Die Tatsache, dass Haringer den Vers verarbeitet hat, zeigt, dass er den Originaltext zumindest gut kannte.

[34] Gut vorstellbar, dass es sich hier um Änderungen eines Münchner Redaktors/Lektors handelt.

[35] Die Zeile ist allerdings auch schwierig, denn sie spielt mit dem Ausdruck le grand haro „großer Alarm in höchster Not“, zu dem Villon per Analogie einen haro mineur, einen „kleineren Alarm“, kreiert.